Die spinnen, die Deutschen
Die spinnen, die Deutschen von Thomas Baumann
LESEPROBE
Eigenschaften- Werwiewas-wiesoweshalbwarum denn nicht?
»Wirhaben gewisse Eigenschaften,
um dieuns die Welt beneidet.«
JürgenKlinsmann
Daskomplette Selbstbild der Deutschen ist Unsinn. Jedes Mal, wenn eine derangeblich so typischen deutschen Tugenden zum Vorschein tritt, meldet sichjemand zu Wort und kreischt lauthals: »Da! Guck mal, wie deutsch der sichverhält! Das ist doch typisch deutsch, oder?« Und allenicken und sagen, ja wirklich, sieh mal an, lange nicht gesehen, so was sodermaßen typisch Deutsches.
Angeblichsind wir gründlich, diszipliniert, ordentlich, fleißig, pünktlich,perfektionistisch, gewissenhaft, autoritätshörig, pflichtbewusst, ernst,kleinlich, antipartyrambazamba. Zudem erwiesen sichin einer vergleichenden Studie mit Briten und Amerikanern »die Deutschen« alshärtere Diskutanten, aber auch als schneller beleidigt. Passt das in einKlischee? Wir männlichen Deutschen wechseln öfter die Unterwäsche alsFranzosen. Dabei sind es doch die Nachbarn, die behaupten, mehr derkörperlichen Liebe zugetan zu sein. Oder ist das gar kein Widerspruch? WelchesKlischee stimmt denn nun? (Bitte beides ankreuzen, zu Ihrer eigenenSicherheit.)
DieBundesbank vermisst derzeit 14 Milliarden D-Mark, die auch Jahre nach derEuro-Einführung nicht umgetauscht wurden. Nicht 14 Millionen 14 Milliarden!
Man mussalso zweierlei trennen: Wie sind wir im Vergleich zu anderen Nationen? Und wiehaben wir uns entwickelt oder verändert? All dies wissenschaftlich zuuntersuchen, das sollen Wissenschaftler tun, und ich kann ihnen dabei nur vielSpaß wünschen. Na, nehmen wir doch mal Sie, liebe Leser. Sind IhreFingernägel gereinigt und geschnitten? Sitzen Sie in diesem Moment in einemstudentischen Saustall voller anmutig gestapelter Pizzaschachteln (nach Farbesortiert) oder in einer Katalogküche vom Otto-Versand? Blättern Sie in diesemBuch nur ziellos herum, oder lesen Sie es ordentlich von der ersten bis zurletzten Seite? Lesen Sie immer zur selben Uhrzeit? Oder haben Sie heute den Anfangverpasst, weil Sie auf dem Heimweg getrödelt haben, in irgendwelcheninternationalen Spielhallen herumgehangen und heimlich mexikanisches Biergetrunken haben? Keineswegs, denn Sie sind eine Deutschlehrerin, die darauf achtet,dass ich den Konjunktiv richtig verwende, die Kommas korrekt setze; Sie machenbei Unklarheiten rote Striche an den Rand und hauen mir am Schlusspflichtbewusst die Fehler-Abrechnung um die Ohren. Wir sind lustig, wir sind irre,wir sind unberechenbar, originell, abwechslungsreich, international, tolerantund total bescheuert und das Gegenteil manchmal auch - ehrlich!
Hinweis des
Herstellers:
Hilft nichtbei
defekten
Klingeln!
Bei unsbekommt man in öffentlichen Automaten auf der Straße nicht nur Kaugummis undPlastikschmuck, bei uns können selbst Grundschüler recht problemlos Sachenkaufen wie Zigaretten, Kondome und Fahrradschläuche. Wozu brauchen dieFahrradschläuche?
Gesternentschuldigte sich der Kontoauszugsdrucker meiner Bank bei mir, dass er wegenWartungsarbeiten kommenden Samstag 12-18 Uhr unpässlich sein werde, und verwiesmich an seinen Kollegen drei Straßen weiter. Ich hab s sofort in meinenKalender eingetragen.
Wir stellenan einer normalen Kreuzung in der Stadt ein halbes Dutzend Verkehrsschilderauf. Na und? Was dagegen? Wir mögen halt Schilder. Wir haben vieleverschiedene, und die meisten sehen sehr gut aus. Und wenn man sehr, sehr vieleSchilder aufstellt, wird am Ende gar keines beachtet, schon aufgefallen?
WirDeutschen bauen unser größtes Bankenviertel gleich neben die größtevorstellbare Junkie- und Drogenmeile. Oder kamen die Drogen erst mit den Bänkern? Davon wollen wir malnicht ausgehen.
Wir sindungeheuer undiszipliniert, wenn im Supermarkt eine neue Kasse aufmacht. Wirsind alles andere als gründlich, wenn es um das Ausmisten alter Gesetze geht.Und unsere Ordnungsliebe? Suchen Sie mal nach Ordnung an der Gepäckausgabe amFlughafen, wenn ein Urlaubsbomber zurückkommt. Was sich da abspielt, heißt inanderen Kulturen Orgie.
Oderschauen Sie mal auf eine durchschnittliche Festplatte! Wie viele Ordner namens»Neuer Ordner« nebeneinander und übereinander gestapelt sind, wie viele Dateienwie Altreifen wahllos in die Gegend gepfeffert sind mit Namen »Dok1«. Das wirdnur durch der Deutschen mp3-Sammlung übertroffen, in der es vor »Track 1« nurso wimmelt. Vor die sagenhafte Pünktlichkeit hat der Deutsche die Gleitzeitgesetzt, sodass die Verspätungen einfach nicht mehr auffallen. Und wenn unserFleiß so berauschend wäre, wie es das Klischee aus dem Preußen des 19.Jahrhunderts immer noch daherleiert, hätten uns in vielen Wirtschaftsfeldern nichtdie Asiaten von der Strecke geschubst.
Wie es umden Kampfgeist der Bundeswehr bestellt ist, will man gar nicht wissen und fühltsich dabei eigentlich umso wohler. Über Korrektheit brauchen wir nicht zureden, wenn wir an das Verhalten beim Autoparken in der Innenstadt von Münchenoder Frankfurt denken. Gewissenhaft handeln wir, wenn wir unsereSteuererklärung pünktlich abgeben, was wir aber an Phantasiezahlen hineingemalthaben
Übrigens:Der Verein für Zweitnormalität e.V. kämpft für zeitversetzt lebende, langschlafende Menschen und gegen deren Benachteiligungen bei Öffnungszeiten,Briefträgern und frühen Telefonanrufen und räsoniert: »Ausschlafen ist einLuxus, den sich vor allem der abhängig beschäftigte, zeitversetzt und lang schlafendeMensch nur gegen seine Natur mit verfrühtem Zubettgehen erkaufen kann.Ständiges Zuspätkommen, unnötig schlechte Leistungenund permanenter Gewissensdruck sind die Folgen.« DemSprichwort »Der frühe Vogel fängt den Wurm« entgegnen die Zweitnormalen: »Wergern Würmer isst, muss eben morgens früh raus!«
Entsprechendsieht auch unser Verhältnis zur Obrigkeit aus, der wir längst nicht mehr sohörig sind wie zu Heinrich Manns Zeiten. Wir rufen sie nur, wenn wir unserRecht wollen, darum sprang der Song »Maschendrahtzaun« fieberhaft auf Platz 1 derCharts. Alle Eigenschaften, die als »deutsche Tugenden« subsumiert werden,dürfen nur noch an einer Stelle gefordert und gelobt werden: im Sport. EineFußballmannschaft kann alle denkbaren Hautfarben, Namen, Ethnienund Nabelpiercings haben, solange sie kämpft, diszipliniertaufspielt, die Ordnung hält, so lange ist sie deutsch.
Die»Steirische Völkertafel« listete vor fast dreihundert Jahren angeblich typischeEigenschaften der damals wichtigsten Völker Europas auf, und wenn man liest,dass Spanier hochmütig, ehrbar und gläubig sein sollen, Russen boshaft, dummund verschlafen, wenn Klischees also so fest ins Gedächtnis des»Allgemein-Wissens« gebohrt sind, lohnt sich das Hinsehen auf den Deutschen:»Offenherzig, gewitzt, macht Kleidung anderen nach, verschwenderisch, liebt denTrunk, hat Gicht, Kriegstugend: unüberwindlich, braver Kirchgänger, liebsterZeitvertreib: Trinken, vergleichbares Tier: Löwe, Sein Lebensende: im Wein.«
WiesoGicht, fragen Sie? Sie gilt als eine typische Folgeerscheinung der Trunksucht.
Es fehlt indieser Aufzählung der Neid, denn kaum irgendwo wird um den Lohn so einStaatsgeheimnis gemacht. Selbst die Hans-Böckler-Stiftungschaffte es in monatelanger Anstrengung gerade mal, 80 000 Personen zu bewegen,anonym ihr Gehalt preiszugeben, um eine Vergleichsliste zu erstellen. Das istgerade mal 1 Prozent der DGB-Mitglieder.
Es fehltweiterhin in dieser Aufzählung unsere Debattierfreude. Diskussionen umsDosenpfand oder Rauchverbot, Streitereien um neue Postleitzahlen oder eineVolkszählung, die LKW-Maut, die PKW-Maut, der Anlass kann kaum nichtig genugsein.
Und esfehlt nun, ich wollte die Bundeswehr betrachten. Ich kommunizierte mit einemOberstleutnant der Presseabteilung mit der Absicht, mich einmal in einenOffizierslehrgang hineinzusetzen und zu horchen, welche Werte dort vermitteltwerden. Die entscheidenden Stellen in unserem mehrere Wochen dauerndenSchriftverkehr lauten »Anfrage an den Presse- und Informationsstab desBundesministeriums weitergeleitet« und »abschließende Billigung nicht er- folgenkann« und »kann mir nur vorstellen, dass ein Übertragungsfehler vorliegt« undschließlich: »Es gibt keinen neuen Sachstand.«
Wir werdendie nächsten fünf Kriege verlieren, so viel ist sicher. Von Deutschland gehtkeine Gefahr mehr aus. Vorwarnzeit bei Anflug einer Luft-Boden-Rakete fünfMonate und drei Wochen. Wir bitten höflichst alle Nationen und/ oder TerroristInnen, die gegen uns Krieg zu führen gedenken, dieseszu beachten, ansonsten kann ihr Angriff nicht rechtzeitig und ordnungsgemäßbearbeitet werden. Hinweis:
DieseMitteilung wurde vollautomatisch erstellt und richtet sich in erster Linie ansich selbst. Vielen Dank. Der Direktor. Die Langsamkeit ist leider real. AuchBestatter und Fleißweltmeister Johann Heinrich Karl Thieme, der in einer Rekorddauervon 50 Arbeitsjahren 23 311 Gräber gegraben hat, ist real. Und die reinlichen 46000 Hamburger, die zum Frühjahrsputz 350 Tonnen Müll sammelten. Leider real. Wassagt der Fachmann, verkörpert durch den Verlegersohn und Herausgeber des Buchs»Das Beste an Deutschland «, Florian Langenscheidt? Er sagt: »Wir müssen den emotionalenTurnaround schaffen. Was unser Land braucht, istSelbstliebe, nicht Selbsthiebe.«
Mitemotionalen Turnarounds und anderem Mumpitz haben wirleben gelernt. Denn viel toleranter ist dieses Volk geworden, das noch niewirklich ein Volk war. Wir sind seit langer Zeit ein Vielvölkerstaat.
Auch vordem Ausländerzuzug waren unsere Haare rot, blond, schwarz und braun, unsereAugen braun, grau, blau, grün, unsere Körper groß, klein, untersetzt, dünn,fett und schlank, stark behaart, anämisch, gebückt, winzig, und ein bisschengelispelt haben wir auch schon immer.
© PiperVerlag
- Autor: Thomas Baumann
- 2008, 2. Aufl., 252 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 12,1 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492250343
- ISBN-13: 9783492250344
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