Die Spur der Tränen
Mein Leben in der Fremde. Originalausgabe
Wie in ihrem ersten Buch "Tränenmond" beschreibt die in Deutschland lebende Marokkanerin Ouarda Saillo anhand ihrer eigenen Erfahrungen die gesellschaftliche Realität in Marokko. Und erzählt von ihrem nicht immer einfachen Weg, in...
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Produktinformationen zu „Die Spur der Tränen “
Wie in ihrem ersten Buch "Tränenmond" beschreibt die in Deutschland lebende Marokkanerin Ouarda Saillo anhand ihrer eigenen Erfahrungen die gesellschaftliche Realität in Marokko. Und erzählt von ihrem nicht immer einfachen Weg, in Deutschland akzeptiert zu werden.
Doch Ouarda Saillo hat gelernt zu kämpfen.
Lese-Probe zu „Die Spur der Tränen “
Die Spur der Tränen von Ouarda Saillo LESEPROBE Der Tod meines Vaters
Mein Vater starb am 17.Dezember 2001, zweiundzwanzig Jahre nachdem er meine Mutter auf dem Dach unseres Hauses in Agadir ermordet hatte. Er hatte sie erstochen, er hatte sie mit Sand erstickt, und er hatte sie verbrannt. Wie mein Vater den Tod fand, scheint niemand zu wissen. Wir wissen nur, dass er in Taroudant starb, einem malerischen Ort am Fuß des Antiatlas, und nicht in Essaouira am Atlantik, wo er seine Gefängnisstrafe verbüßte.
Ich war weit von ihm entfernt, als es passierte, unendlich weit. Bis nach Europa war ich geflohen vor dem, was mein Vater uns angetan hatte. Meinen Körper hatte ich in Sicherheit gebracht. Aber mein Herz war noch immer verwundet.
Seit neun Jahren lebte ich in München. Ich hatte geheiratet, ich war geschieden, ich hatte ein Kind bekommen. Jetzt war ich fast achtundzwanzig Jahre alt und besuchte wieder die Schule, um Kindergärtnerin zu werden. Es sah aus, als hätte ich die Schatten der Vergangenheit hinter mir gelassen.
Doch dann klingelte das Telefon: meine kleine Schwester Asia aus Marokko.
Ich hörte ihre vertraute Stimme.
»Ouarda? Ouarda, setz dich hin.« Meine Beine zitterten. »Möge Allah uns gnädig sein«, sagte Asia.
... mehr
Ich fühlte meine Beine nicht mehr. Ich fühlte gar nichts mehr. Nur Schmerz. Einen Schmerz, der in meinem Innern wühlte, einen Schmerz, der das Herz aus meiner Brust reißen wollte. Einen Schmerz, der unerträglich war.
Ich wusste, was Asia sagen würde. Und als sie es sagte, lag ich auf der Straße, und mein Körper zitterte und wollte nicht mehr damit aufhören.
»Ouarda, unser Vater …« Ihre Stimme wurde leiser. »Unser Vater. Er ist tot.«
Fremde Menschen schoben mich in ein Taxi. Es fuhr mich nach Hause, zu meinem Mann, zu meinem Sohn. Ich liebte sie, aber jetzt konnte ich die Liebe nicht spüren. Wie kann man überhaupt etwas spüren, wenn man sich selbst nicht mehr spürt?
Ich wusste, dass dieser Moment mein Leben verändern würde wie jener damals, als die verbrannte Leiche meiner Mutter an mir vorbeigetragen wurde und ich die Hand meiner kleinen Schwester so fest umklammerte, dass meine Knöchel schmerzten. Nun war ich wieder mit dem Tod konfrontiert. Er hatte mich bis nach Europa verfolgt.
Jetzt zog er mir den Boden unter den Füßen weg, stahl mir die Sicherheit der Entfernung und des Erwachsenseins und machte mich wieder zu dem Kind, das ich war, als er mir die Mutter genommen hatte.
In meinem Kopf breitete sich das Summen aus, das ihn auch damals erfüllte, als ich mit Tränen in den Augen durch Agadir stolperte, jene Stadt am Meer, in der ich aufgewachsen bin.
Doch nun blieben meine Augen trocken, und das Summen verwandelte sich in eine fordernde, dröhnende Stimme, die meinen Schädel zu spalten drohte: »Geh nach Hause! Geh nach Hause! Geh nach Hause!«
Ich hatte keine Chance. Ich musste Deutschland verlassen. Ich musste mein Kind und meinen Mann zurücklassen, ich musste dorthin gehen, wo der Tod war. Ich musste nach Hause. Ich musste Schmerz und Trauer erleiden, wo sie am stärksten waren. Ich musste mich von meinem alten Leben verabschieden. Erst dann konnte ich ein neues beginnen.
Ohne nachzudenken, machte ich mich auf den Weg.
Die Schatten der Vergangenheit
Die Reise zurück war beschwerlich. Es gab keine Direktflüge nach Agadir. Ich musste in Frankfurt, Paris und in Casablanca umsteigen. Mit jeder Station kam ich meiner eigenen, schrecklichen Vergangenheit näher.
Die Welt veränderte sich. Oder war ich anders geworden? Die Menschen nahmen mich scheinbar nicht mehr wahr. In den Gängen der Flughäfen wichen sie mir nicht aus, an den Gates wurde ich ignoriert, als sei ich unsichtbar. Ich war kaum in der Lage, auf mich aufmerksam zu machen. Dazu fehlte mir die Kraft.
In Paris ging ich auf die Flughafentoilette und betrachtete mich im Spiegel. Ein fremdes Gesicht schaute mich an. So bleich, so durchsichtig, so unendlich traurig. Ich musste weinen, als ich mich sah.
Später, in der Warteschlange am Gate, schaute ich zu Boden. Ich hatte mich verkrochen in meiner verwundeten Seele. Die Schatten der Vergangenheit hüllten mich ein.
In der Erinnerung sah ich meinen Vater vor mir, bei unserer letzten Begegnung in der Gefängniskantine von Essaouira, seinen ausgemergelten Körper, seinen kraftlosen Blick, den Mund ohne Zähne. Ich fühlte seine verzweifelte Umarmung, die mich nicht tröstete, ich roch seinen schlechten Atem, der mich nicht abstieß. Ich zitterte. Ich war traurig, und ich war wütend, weil er gegangen war, ohne mit mir zu reden über das, was geschehen war.
Vater war zu früh gestorben. So wie er mir vor über zwanzig Jahren die Mutter genommen hatte, so hatte er mir jetzt die Möglichkeit genommen, mich zu verabschieden. Ich wollte ihm verzeihen, bevor er starb. Ich wollte ihn lieben. Ich wollte ihn hassen. Ich wollte, dass er mich kennenlernt, dass er mich versteht. Ich wollte ihm meine Trauer zeigen, meine Wut, meine Einsamkeit. Ich hatte nur diesen Vater. Und wieder ließ er mich im Stich.
Plötzlich spürte ich einen fremden Blick in meinem Rücken. Ich drehte mich um – und zuckte zusammen. Die Augen meines Vaters blickten mich an. Sie gehörten einem alten Mann, den ich nicht kannte. Ich starrte zurück, ohne etwas zu sehen. Wieder musste ich weinen. Als ich die Tränen weggewischt hatte, war der Mann verschwunden. Das Entsetzen in meinem Gesicht hatte ihn in die Flucht getrieben.
Auf dem Weg von Paris nach Casablanca, als das Flugzeug Europa verließ, das Mittelmeer überquerte und Afrika am Horizont auftauchte, war ich mir plötzlich sicher, dass Vater nicht einfach so aus dem Leben gegangen war. Er musste uns etwas hinterlassen haben! Eine Botschaft? Einen Brief? Vielleicht einen letzten Satz, der mir Ruhe geben würde?
In Casablanca rief ich Asia an. »Hat Vater etwas gesagt, bevor er starb? Gibt es eine Nachricht für uns?« »Nein«, sagte Asia, und meine Hoffnung starb, »es gibt keine Nachricht. Vater hat gar nichts hinterlassen außer den Briefen unserer Schwester Rabiaa, die sie ihm geschickt hat. Das Gefängnis hat mir ein ganzes Paket davon übergeben.«
Ich konnte meine Schwester kaum verstehen, weil mich eine Gruppe von Frauen und Männern umringte, die von der Reise nach Mekka zurückkam. Eigentlich war es nicht die Zeit für den Hadsch, die große Pilgerfahrt, zu der jeder Muslim verpflichtet ist. Die findet im heiligen zwölften Monat des islamischen Jahres statt, dem dhu l’hiddscha. Jetzt war aber erst shawwal, der zehnte Monat. Trotzdem hatte diese Gruppe die Heiligtümer in Saudi-Arabien besucht. Eine Pilgerreise außerhalb des zwölften Monats nennt man umrah, kleine Reise. Sie ist freiwillig, unterliegt aber denselben strengen Regeln wie der Hadsch.
Die Männer trugen deshalb lange Bärte, wie es sich für Gläubige auf dem Weg zum Allerheiligsten der Muslime gehört, denn man darf auf der Pilgerfahrt weder Haare noch Fingernägel schneiden. Tücher umhüllten ihren Leib, weil man den schwarzen Stein, die Kaaba, nicht mit gesäumter Kleidung anbeten soll. Die Tücher waren weiß wie Bettlaken und erinnerten mich an die Stoffbahnen, in welche man die Toten vor der Beerdigung hüllt. © Ehrenwirth Verlag
Ich wusste, was Asia sagen würde. Und als sie es sagte, lag ich auf der Straße, und mein Körper zitterte und wollte nicht mehr damit aufhören.
»Ouarda, unser Vater …« Ihre Stimme wurde leiser. »Unser Vater. Er ist tot.«
Fremde Menschen schoben mich in ein Taxi. Es fuhr mich nach Hause, zu meinem Mann, zu meinem Sohn. Ich liebte sie, aber jetzt konnte ich die Liebe nicht spüren. Wie kann man überhaupt etwas spüren, wenn man sich selbst nicht mehr spürt?
Ich wusste, dass dieser Moment mein Leben verändern würde wie jener damals, als die verbrannte Leiche meiner Mutter an mir vorbeigetragen wurde und ich die Hand meiner kleinen Schwester so fest umklammerte, dass meine Knöchel schmerzten. Nun war ich wieder mit dem Tod konfrontiert. Er hatte mich bis nach Europa verfolgt.
Jetzt zog er mir den Boden unter den Füßen weg, stahl mir die Sicherheit der Entfernung und des Erwachsenseins und machte mich wieder zu dem Kind, das ich war, als er mir die Mutter genommen hatte.
In meinem Kopf breitete sich das Summen aus, das ihn auch damals erfüllte, als ich mit Tränen in den Augen durch Agadir stolperte, jene Stadt am Meer, in der ich aufgewachsen bin.
Doch nun blieben meine Augen trocken, und das Summen verwandelte sich in eine fordernde, dröhnende Stimme, die meinen Schädel zu spalten drohte: »Geh nach Hause! Geh nach Hause! Geh nach Hause!«
Ich hatte keine Chance. Ich musste Deutschland verlassen. Ich musste mein Kind und meinen Mann zurücklassen, ich musste dorthin gehen, wo der Tod war. Ich musste nach Hause. Ich musste Schmerz und Trauer erleiden, wo sie am stärksten waren. Ich musste mich von meinem alten Leben verabschieden. Erst dann konnte ich ein neues beginnen.
Ohne nachzudenken, machte ich mich auf den Weg.
Die Schatten der Vergangenheit
Die Reise zurück war beschwerlich. Es gab keine Direktflüge nach Agadir. Ich musste in Frankfurt, Paris und in Casablanca umsteigen. Mit jeder Station kam ich meiner eigenen, schrecklichen Vergangenheit näher.
Die Welt veränderte sich. Oder war ich anders geworden? Die Menschen nahmen mich scheinbar nicht mehr wahr. In den Gängen der Flughäfen wichen sie mir nicht aus, an den Gates wurde ich ignoriert, als sei ich unsichtbar. Ich war kaum in der Lage, auf mich aufmerksam zu machen. Dazu fehlte mir die Kraft.
In Paris ging ich auf die Flughafentoilette und betrachtete mich im Spiegel. Ein fremdes Gesicht schaute mich an. So bleich, so durchsichtig, so unendlich traurig. Ich musste weinen, als ich mich sah.
Später, in der Warteschlange am Gate, schaute ich zu Boden. Ich hatte mich verkrochen in meiner verwundeten Seele. Die Schatten der Vergangenheit hüllten mich ein.
In der Erinnerung sah ich meinen Vater vor mir, bei unserer letzten Begegnung in der Gefängniskantine von Essaouira, seinen ausgemergelten Körper, seinen kraftlosen Blick, den Mund ohne Zähne. Ich fühlte seine verzweifelte Umarmung, die mich nicht tröstete, ich roch seinen schlechten Atem, der mich nicht abstieß. Ich zitterte. Ich war traurig, und ich war wütend, weil er gegangen war, ohne mit mir zu reden über das, was geschehen war.
Vater war zu früh gestorben. So wie er mir vor über zwanzig Jahren die Mutter genommen hatte, so hatte er mir jetzt die Möglichkeit genommen, mich zu verabschieden. Ich wollte ihm verzeihen, bevor er starb. Ich wollte ihn lieben. Ich wollte ihn hassen. Ich wollte, dass er mich kennenlernt, dass er mich versteht. Ich wollte ihm meine Trauer zeigen, meine Wut, meine Einsamkeit. Ich hatte nur diesen Vater. Und wieder ließ er mich im Stich.
Plötzlich spürte ich einen fremden Blick in meinem Rücken. Ich drehte mich um – und zuckte zusammen. Die Augen meines Vaters blickten mich an. Sie gehörten einem alten Mann, den ich nicht kannte. Ich starrte zurück, ohne etwas zu sehen. Wieder musste ich weinen. Als ich die Tränen weggewischt hatte, war der Mann verschwunden. Das Entsetzen in meinem Gesicht hatte ihn in die Flucht getrieben.
Auf dem Weg von Paris nach Casablanca, als das Flugzeug Europa verließ, das Mittelmeer überquerte und Afrika am Horizont auftauchte, war ich mir plötzlich sicher, dass Vater nicht einfach so aus dem Leben gegangen war. Er musste uns etwas hinterlassen haben! Eine Botschaft? Einen Brief? Vielleicht einen letzten Satz, der mir Ruhe geben würde?
In Casablanca rief ich Asia an. »Hat Vater etwas gesagt, bevor er starb? Gibt es eine Nachricht für uns?« »Nein«, sagte Asia, und meine Hoffnung starb, »es gibt keine Nachricht. Vater hat gar nichts hinterlassen außer den Briefen unserer Schwester Rabiaa, die sie ihm geschickt hat. Das Gefängnis hat mir ein ganzes Paket davon übergeben.«
Ich konnte meine Schwester kaum verstehen, weil mich eine Gruppe von Frauen und Männern umringte, die von der Reise nach Mekka zurückkam. Eigentlich war es nicht die Zeit für den Hadsch, die große Pilgerfahrt, zu der jeder Muslim verpflichtet ist. Die findet im heiligen zwölften Monat des islamischen Jahres statt, dem dhu l’hiddscha. Jetzt war aber erst shawwal, der zehnte Monat. Trotzdem hatte diese Gruppe die Heiligtümer in Saudi-Arabien besucht. Eine Pilgerreise außerhalb des zwölften Monats nennt man umrah, kleine Reise. Sie ist freiwillig, unterliegt aber denselben strengen Regeln wie der Hadsch.
Die Männer trugen deshalb lange Bärte, wie es sich für Gläubige auf dem Weg zum Allerheiligsten der Muslime gehört, denn man darf auf der Pilgerfahrt weder Haare noch Fingernägel schneiden. Tücher umhüllten ihren Leib, weil man den schwarzen Stein, die Kaaba, nicht mit gesäumter Kleidung anbeten soll. Die Tücher waren weiß wie Bettlaken und erinnerten mich an die Stoffbahnen, in welche man die Toten vor der Beerdigung hüllt. © Ehrenwirth Verlag
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ouarda Saillo
- 2008, 333 Seiten, 35 farbige Abbildungen, Maße: 12,5 x 20,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Inge Leo
- Verlag: Ehrenwirth
- ISBN-10: 3431037488
- ISBN-13: 9783431037487
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