Die Totenleserin
Cambridge 1170: Um entsetzliche Kindermorde aufzuklären, wird aus Salerno ein Totenarzt gerufen - auch wenn diese Kunst alles andere als gottgefällig ist. Keiner ahnt, dass es sich dabei um eine junge Frau handelt, die Beste ihres Fachs. Mit ihrer...
Cambridge 1170: Um entsetzliche Kindermorde aufzuklären, wird aus Salerno ein Totenarzt gerufen - auch wenn diese Kunst alles andere als gottgefällig ist. Keiner ahnt, dass es sich dabei um eine junge Frau handelt, die Beste ihres Fachs. Mit ihrer direkten Art, Aberglaube und Vorurteilen entgegenzutreten, irritiert sie die Mächtigen der Stadt. Der Steuereintreiber des Königs dagegen hat andere Gründe, auf Adelia aufmerksam zu werden.
Ein ebenso spannender wie ungewöhnlicher Historischer Roman um eine Pathologin und eine Serie unheimlicher Morde im Mittelalter.
Ein kleiner Junge wird tot aufgefunden, angeblich von den Juden gekreuzigt. Als drei weitere Kinder sterben, droht in Cambridge ein Aufruhr. Heinrich II., König von England, muss den wahren Mörder finden und sendet nach einem Totenarzt.
Ausgebildet an der berühmten Hochschule von Salerno ist Adelia eine der wenigen Medizinerinnen ihrer Zeit - von ihrem Vater hat sie im Verborgenen sogar das Handwerk der Pathologie gelernt. Doch um als Frau überhaupt ermitteln zu können, muss sie im kalten, barbarischen England ihre wahre Identität verbergen. Undurchsichtige Stadtväter versuchen die Aufklärung der Morde zu vereiteln, das nahe gelegene Kloster ist nur am schwunghaften Reliquienhandel mit den Gebeinen des toten Jungen interessiert - und auch Sir Roland, der Steuereintreiber des Königs, scheint verdächtige Ziel zu verfolgen. Zugleich weckt er in Adelia Gefühle, die sie vollkommen verwirren. Wem kann sie vertrauen?
Ein kleiner Junge wird tot aufgefunden, angeblich von den Juden gekreuzigt. Als drei weitere Kinder sterben, droht in Cambridge ein Aufruhr. Heinrich II., König von England, muss den wahren Mörder finden und sendet nach einem Totenarzt.
Ausgebildet an der berühmten Hochschule von Salerno ist Adelia eine der wenigen Medizinerinnen ihrer Zeit - von ihrem Vater hat sie im Verborgenen sogar das Handwerk der Pathologie gelernt. Doch um als Frau überhaupt ermitteln zu können, muss sie im kalten, barbarischen England ihre wahre Identität verbergen. Undurchsichtige Stadtväter versuchen die Aufklärung der Morde zu vereiteln, das nahe gelegene Kloster ist nur am schwunghaften Reliquienhandel mit den Gebeinen des toten Jungen interessiert - und auch Sir Roland, der Steuereintreiber des Königs, scheint verdächtige Ziel zu verfolgen. Zugleich weckt er in Adelia Gefühle, die sie vollkommen verwirren. Wem kann sie vertrauen?
Die Totenleserinvon Ariana Franklin
LESEPROBE
In Doverwurde ein alter Mann hastig durch eine Burg geführt, schneller, als es seinRheuma erlaubte. Es war eine riesige Burg, sehr kalt, und in ihren Mauern halltenwilde Geräusche. Trotz seiner raschen Schritte blieb dem alten Mann kalt - denner hatte Angst. Der Hofmeister brachte ihn zu einem Mann, der allen Angst machte.
Sie gingen über lange, steinerne Korridore, mitunter an offenen Türen vorbei,aus denen Licht und Wärme, Stimmengewirr und die Klänge einer Gambe drangen,und an anderen, die geschlossen waren und hinter denen nach der Vorstellung desalten Mannes gottlose Dinge geschahen.
Burgdiener, die nicht schnell genug auswichen, wurden rüde beiseite gestoßen,und so zogen die beiden Männer in ihrer Hast eine Spur von zu Boden gefallenenTabletts, umgekippten Nachttöpfen und unterdrückten Schmerzensschreien hintersich her.
Eine letzte Wendeltreppe, und sie gelangten auf eine lange Galerie mit einerReihe von Schreibtischen an der Wand und einem wuchtigen Tisch in der Mitte.Die mit grünem Filz ähnlichem Stoff bezogene Tischplatte war in Quadrateeingeteilt, auf denen unterschiedlich große Häufchen von Zählperlen lagen.Dreißig oder noch mehr Schreiber erfüllten den Raum mit dem Kratzen von Federnauf Papier. Bunte Kugeln flirrten und klickten auf den Drähten ihrer Abakusse hin und her, so dass es sich anhörte wie auf einemFeld mit emsigen Grillen.
Der einzige untätige Mensch im ganzen Raum war ein Mann, der auf einerFensterbank saß.
»Aaron aus Lincoln, Mylord«, verkündete derHofmeister.
Aaron aus Lincoln sank auf ein schmerzendes Knie und berührte die Stirn mit denFingern der rechten Hand, die er sodann mit der Handfläche nach obenausstreckte, um dem Mann auf der Fensterbank seine Ehrerbietung zu zeigen.
»Wisst Ihr, was das da ist?«
Aaron blickte unbeholfen nach hinten auf den riesigen Tisch, antwortete abernicht. Er wusste, was es war, doch die Frage des Königs war rein rhetorischgewesen.
»Jedenfalls kein Spieltisch, so viel steht fest«, sagte Henry II.
»Das ist meine Staatskasse. Die Quadrate verkörpern meine englischen Countys, und die Zählperlen darauf zeigen, wie viel Abgabensie an das königliche Schatzamt zahlen müssen. Steht auf.«
Er zog den alten Mann hoch, führte ihn zum Tisch und zeigte auf eines derQuadrate. »Das ist Cambridgeshire.«Er ließ Aaron los. »Unter Einsatz Eures beträchtlichen finanziellenSachverstandes, Aaron, was schätzt Ihr, wie viele Perlen liegen da wohl?«
»Nicht genug, Mylord?«
»Wahrhaftig nicht«, sagte Henry. »Cambridge ist ein einträgliches County - normalerweise. Ein bisschen flach, aber es bringtstattliche Mengen an Korn und Vieh hervor und zahlt pünktlich an das Schatzamt- normalerweise. Auch seine große jüdische Bevölkerung zahlt pünktlich an dasSchatzamt - normalerweise.
Würdet Ihr sagen, dass die Anzahl der Zählperlen, die im Augenblick da liegen,keine wahrheitsgetreue Darstellung seines Wohlstands ist?«
Wieder gab der alte Mann keine Antwort.
»Und warum ist das so?«, fragte Henry.
Aaron sagte matt: »Ich denke mir, wegen der Kinder, Mylord.Der Tod von Kindern ist immer bedauerlich «
»Fürwahr.« Henry hievte sich auf die Tischkante undließ die Beine baumeln. »Und wenn er sich noch dazu auf die Wirtschaftauswirkt, dann ist er eine Katastrophe. Die Bauern von Cambridge sind imAufstand, und die Juden sind wo sind sie?«
»Sie haben in der dortigen Burg Zuflucht gesucht, Mylord.«
»In dem, was davon übrig ist«, bestätigte Henry. »Ja, das haben sie,wahrhaftig. In meiner Burg. Wo sie von meiner Mildtätigkeit leben, mein Essen essen und es gleich an Ort und Stelle wieder ausscheißen,weil sie Angst haben, die Burg zu verlassen.
Und das alles bedeutet, dass sie mir kein Geld einbringen, Aaron.«
»Nein, Mylord.«
»Und die aufgebrachten Bauern haben den Ostturm niedergebrannt, in dem sich dasVerzeichnis sämtlicher Schulden an die Juden und damit an mich befindet - ganzzu schweigen von den Steuerverzeichnissen -, weil sie glauben, dass die Judenihre Kinder quälen und töten.«
Zum ersten Mal ertönte zwischen den Hinrichtungstrommeln im Kopf des Alten einePfeife der Hoffnung. »Aber Ihr nicht, Mylord?«
»Was nicht?«
»Glaubt Ihr nicht, dass die Juden die Kinder töten?«
»Ich weiß es nicht, Aaron«, sagte der König leichthin. Ohne den alten Mann ausden Augen zu lassen, hob er eine Hand. Ein Schreiber kam angelaufen und schobein Stück Pergament hinein. »Hier habe ich einen Bericht von einem gewissenRoger aus Acton. Darin heißt es, dass das einregelmäßiger Brauch bei euch ist. Laut dem wackeren Roger foltern die Juden zuOstern mindestens ein Christenkind zu Tode, indem sie es in ein Fass stecken,das innen mit Nägeln gespickt ist. Das haben sie schon immer getan und werdenes auch weiterhin tun.«
Er blickte kurz auf das Pergament. »Sie stecken das Kind in das Fass undschließen den Deckel, so dass die Nägel ihm ins Fleisch dringen. Dann fangendiese Teufel das herausrinnende Blut in Behältnissenauf, um es in ihr rituelles Backwerk zu mischen.«
Henry II blickte auf: »Nicht sehr angenehm, Aaron.« Erkonsultierte wieder das Pergament. »Oh, und lachen tut ihr auch noch dabei.«
»Ihr wisst, dass das nicht wahr ist, Mylord.«
Der König nahm den Einwurf des Alten so wenig zur Kenntnis, als wäre er nur einweiteres Klicken auf einem Abakus gewesen.
»Aber dieses Jahr Ostern, Aaron, dieses Jahr Ostern habt ihr begonnen, sie zukreuzigen. Jedenfalls behauptet unser wackerer Roger aus Acton,dass man das Kind, das gefunden wurde, gekreuzigt hat - wie hieß das Kind nochgleich?«
»Peter aus Trumpington, Mylord«,antwortete der Oberschreiber prompt.
»Dass Peter aus Trumpington gekreuzigt wurde und dassdaher vermutlich auch die anderen zwei vermissten Kinder das gleiche Schicksalereilt hat. Kreuzigung, Aaron.« Der König sprach das ungeheure und schrecklicheWort ganz sanft aus, aber es hallte die kalte Galerie entlang und gewann aufseinem Weg mehr und mehr an Kraft. »Es gibt bereits Bestrebungen, den kleinenPeter zum Heiligen zu machen, als hätten wir nicht schon genug davon. Bis jetztwerden zwei Kinder vermisst, und ein ausgebluteter, zerfetzter kleiner Körperwurde in meinem Sumpfland gefunden, Aaron. Das ist ziemlich viel Backwerk.«
Henry sprang vom Tisch, schritt die Galerie entlang und ließ, dicht gefolgt vondem alten Mann, das Feld mit den Grillen hinter sich. Der König zog einenHocker unter einem Fenster hervor und stieß ihn mit dem Fuß in Aarons Richtung.»Setzt Euch.«
Auf dieser Seite war es ruhiger. Feuchtkalte Luft drang durch die unverglastenFenster herein und ließ den alten Mann frösteln.
Aaron war der eleganter Gekleidete der beiden. Henry II sah aus wie ein Jägermit einem Hang zur Nachlässigkeit. Die Höflinge seiner Königin salbten sich dasHaar mit Ölen und dufteten nach Blumenessenzen, doch Henry roch nach Pferd undSchweiß. Seine Hände waren ledrig, sein rotes Haarkurz geschoren und sein Kopf so rund wie eine Kanonenkugel. Und doch, so dachteAaron, sah jeder in ihm sogleich den, der er war: Gebieter über ein Reich, dassich von den Grenzen Schottlands bis zu den Pyrenäen erstreckte.
Aaron liebte ihn beinahe und hätte ihn wirklich lieben können, wenn der Mannnicht so erschreckend unberechenbar gewesen wäre. Wenn der König in Wut geriet,biss er in Teppiche, und Menschen starben.
»Gott hasst euch Juden, Aaron«, sagte Henry. »Ihr habt Seinen Sohn getötet.«
Aaron schloss die Augen und wartete.
»Und Gott hasst mich.«
Aaron öffnete die Augen.
Die Stimme des Königs erhob sich zu einem Klagegesang, der die Galerie wie einePosaune der Verzweifl ungerfüllte. »Gütiger Gott, vergib diesem unglückseligen und reuigen König. Duweißt, dass Thomas Becket sich mir in allemwidersetzt hat, so dass ich in meiner Raserei seinen Tod herbeiwünschte. Peccavi, peccavi, denn einigeRitter missverstanden meinen Zorn, sie brachen auf und töteten ihn, mir zumGefallen. Für diese Missetat hast Du in Deiner Gerechtigkeit Dein Antlitz vonmir abgewendet. Ich bin ein Wurm, mea culpa, mea culpa,mea culpa. Ich winde michin Deinem Zorn, während Erzbischof Thomas eingegangen ist in Deine Herrlichkeitund sitzet zur Rechten Deines barmherzigen Sohnes Jesus Christus.«
Gesichter wandten sich ihnen zu. Schreibfedern verharrten über Zahlenkolonnen, Abakusse standen still. Henry hörte auf, sich auf die Brustzu schlagen. Im Plauderton sagte er: »Und ich könnte mir denken, dass er demHerrn genauso auf den Sack geht wie mir.« Er beugtesich vor, legte Aaron aus Lincoln einen Finger unter das Kinn und hob es sachtean. »In dem Augenblick, als diese Bastarde Becketerschlugen, bin ich verwundbar geworden. Die Kirche sinnt auf Rache, sie willmeine Leber, warm und dampfend, sie will Wiedergutmachung und muss siebekommen, und unter anderem verlangt sie etwas, was sie schon immer verlangthat, nämlich die Vertreibung der Juden aus der Christenheit.«
Die Schreiber hatten sich wieder ihrer Arbeit zugewandt.
Der König wedelte mit dem Dokument in seiner Hand vor der Nase des Juden. »Dasist eine Petition, Aaron, mit der Forderung, alle Juden aus meinem Reich zuvertreiben. In diesem Augenblick ist eine Abschrift, gleichfalls von Master Acton verfasst, mögen die Höllenhunde seine Eier fressen,auf dem Weg zum Papst. Das ermordete Kind in Cambridge und die beidenvermissten sollen als Vorwand dienen, um die Vertreibung Eures Volkes zuverlangen, und jetzt, wo Becket tot ist, werde ichmich dem nicht widersetzen können, denn sonst wird sich Seine Heiligkeit dazuüberreden lassen, mich zu exkommunizieren und über mein gesamtes Königreich dasInterdikt zu verhängen. Versteht Ihr, was ein Interdikt bedeutet? DasKönigreich wird zurück in die Dunkelheit gestoßen, Neugeborenen wird die Taufeverweigert, es gibt keine kirchlichen Trauungen mehr, die Toten bleiben ohneden Segen der Kirche unbestattet.
Und jeder kleine Hosenscheißer kann mein Recht als Herrscher in Frage stellen.«
Henry stand auf und schritt auf und ab, blieb dann stehen, um die Ecke einesWandteppichs gerade zu zupfen, die der Wind umgeschlagen hatte. Mit dem Rückenzu Aaron stehend, sagte er: »Bin ich nicht ein guter König, Aaron?«
»Das seid Ihr, Mylord.« Die richtige Antwort. Und dieWahrheit.
»Und bin ich nicht gut zu den Juden, Aaron?«
»Das seid Ihr, Mylord. Wahrlich, das seid Ihr.« Wieder die Wahrheit. Henry besteuerte die Juden, wie einBauer seine Kühe molk, und doch war kein anderer Monarch auf Erden ihnengegenüber gerechter oder sorgte in seinem engen kleinen Königreich für so vielOrdnung, dass die Juden hier sicherer waren als fast in jedem anderen Land derbekannten Welt. Aus Frankreich, Spanien, aus den Kreuzzugsländern, aus Russlandkamen sie her, um die Privilegien und die Sicherheit zu genießen, die dasEngland des Plantagenets ihnen bot.
Wohin könnten wir gehen, dachte Aaron. Herr, Herr, schicke uns nicht zurück indie Wüste. Wenn wir unser Gelobtes Land nicht mehr haben können, dann lass unszumindest unter diesem Pharao leben, der uns schützt.
Henry nickte. »Wucherei ist eine Sünde, Aaron. Die Kirche missbilligt sie,lässt nicht zu, dass Christen ihre Seele damit beflecken. Überlässt das euchJuden, die ihr keine Seele habt. Das hindert die Kirche natürlich nicht daran,von euch Geld zu leihen. Wie viele ihrer Kathedralen sind eigentlich mit eurenDarlehen erbaut worden?«
»Lincoln, Mylord.« Aaron begann, sie an seinenzitternden, arthritischen Fingern abzuzählen. »Peterborough,St. Albans, dann noch mindestens neun Zisterzienserabteien, des Weiteren «
»Ja, ja. Entscheidend ist jedenfalls, dass ein Siebtel meiner jährlichenEinnahmen aus der Besteuerung von euch Juden stammt. Und die Kirche will, dassich euch loswerde.« Der König stapfte auf und ab, underneut dröhnten abgehackte angevinische Silben durchdie Galerie. »Sorge ich denn nicht dafür, dass dieses Königreich einen niegekannten Frieden erlebt? Herrgott, was meinen die denn, wie ich das anstelle?«
Verstörte Schreiber ließen ihre Federn fallen und nickten. Jawohl, Mylord. Das tut Ihr, Mylord.
»Das tut Ihr, Mylord«, sagte Aaron.
»Jedenfalls nicht mit Beten und Fasten, so viel steht fest.« Henry hatte sichwieder beruhigt. »Ich brauche Geld, um meine Armee auszurüsten, meine Richterzu bezahlen, die Aufstände auf dem Festland niederzuschlagen und meiner Frauihre sündhaft teuren Gewohnheiten zu ermöglichen. Frieden ist Geld, Aaron, undGeld ist Frieden.« Er packte den alten Mann vorn anseinem Umhang und zog ihn nah an sich heran.
»Wer ermordet diese Kinder?«
»Wir nicht, Mylord. Mylord,wir wissen es nicht.«
Einen kurzen eindringlichen Moment lang spähten fürchterliche blaue Augen mitkurzen, fast unsichtbaren Wimpern in Aarons Seele.
»Nein, wir wissen es nicht«, sagte der König. Der alte Mann wurde losgelassen,kurz gehalten, als er taumelte, und sein Umhang mit raschen Händen wiederOrdnung gebracht, doch das Gesicht des Königs blieb dicht vor ihm, und seineStimme war ein zartes Flüstern. »Aber ich denke, wir sollten das besserherausfinden, was? Und zwar schnell.«
Als der Hofmeister Aaron aus Lincoln zur Treppe geleitete, rief Henry ihm nach:»Ihr Juden würdet mir fehlen, Aaron.«
Der Alte wandte sich um. Der König lächelte oder zumindest bleckte er seinelückenhaften, starken, kleinen Zähne zu einer Art Lächeln. »Aber bei weitemnicht so sehr, wie ich euch Juden fehlen würde«, sagte er.
© DroemerKnaur Verlag
Übersetzung:Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Interview mit Ariana Franklin
In Ihrem Buch "Die Totenleserin" geht es um denmysteriösen Tod von Kindern, um Beschuldigungen von Juden, dafür verantwortlichzu sein - angesiedelt im mittelalterlichen England. Wie kamen Sie auf die Ideezu diesem Buch? Gibt es ein historisches Vorbild für diese Geschichte?
Sie hingen ihrerReligion an, sie waren anders - dafür wurden die Juden, die in der Diasporalebten und sich im Mittelalter im christlichen Europa ansiedelten, gefürchtetund gehasst. Und sie mussten leiden. Es war ihnen nicht gestattet, Land zubesitzen (auch wenn sie es oft taten). Und so betrieben sie das Geschäft mitdem Zins und wurden erfolgreiche Geldverleiher - eine Beschäftigung, mit dersie sich keine Freunde machten. In England, während der Regentschaft HeinrichsII., genossen sie Schutz - teils, weil ihre Gewinne vom König stark besteuertwurden, teils, weil Henry Plantagenet ein Mann der Aufklärung war.
Aber nicht einmal ervermochte es, mit den Vorurteilen und Mythen aufzuräumen, Juden würden das Blutchristlicher Kinder in ihren religiösen Handlungen während des Pessachfestsverwenden. Das hatte zur Folge, dass immer, wenn ein Junge verschwand, diejüdische Gemeinschaft dafür verantwortlich gemacht wurde. Und dann kam es zuRachehandlungen. Wer sich mit jüdischer Geschichte beschäftigt, findet Belegedafür in Frankreich, Deutschland, Polen, England...
Fürmeine Geschichte habe ich ein historisches Beispiel gewählt - den Tod des achtJahre alten William aus Norwich im Jahre 1144. Dieser Tod wurde den Judenangelastet, die ohne jeden Zweifel unschuldig waren. Ich fürchte, es gibt nochvielmehr Beispiele...
Die Aufklärung des Falls wird von einer Frau inMännerkleidern betrieben. Was ist das für eine Person?
Nun,Adelia trägt keine Männerkleidung. Aber sie hat einen "Männerberuf": Sie istÄrztin, die Autopsien vornehmen kann. Ich fand es toll, eine solche Heldin füreine Geschichte, die im 12. Jahrhundert spielt, erfinden zu können. Schließlichwar die Medizin im Mittelalter eine Domäne der Männer, die eifersüchtigdarüber wachten, dass keine Frau in sie eindrang. Tat es doch eine Frau, dannwurde sie zur Hexe erklärt. Aber es gab da diese wunderbare Medizinschule inSalerno (damals zum Königreich Sizilien gehörig). Auch wenn die Kirche dagegenwar, durften Frauen hier praktizieren. Zudem durften hier Untersuchungen vonToten durchgeführt werden - auch das war gegen kirchliches Recht. Dass wirdavon wissen, ist der "Trotula" zu verdanken - einer Abhandlung über "weiblicheMedizin", geschrieben von einer Frau. Vor dem Hintergrund dieserbeeindruckenden, liberalen Institution verhalf ich einer begabten jungen Frau"zum Leben". Sie hat wissenschaftliche Kenntnisse und einen investigativenGeist. Und ich schicke sie nach England, damit sie das Geheimnis um dievermissten Kinder aufklärt. Gute Idee, oder?
"Die Totenleserin" ist in erster Linie ein spannender,unterhaltsamer Roman. Wollen Sie ihn auch als Parabel für Toleranz undAufklärung verstanden wissen? Gibt es aktuelle Bezüge?
Das will ich hoffen! Beijedem Wort, das ich zu Papier brachte, fühlte ich, dass sich wenig geändert hatund die Welt noch immer von Vorurteilen erfüllt ist. Wir stecken noch immer inmittelalterlich zu nennender Ignoranz.
Sie haben für Ihren neuen Roman ein Pseudonym gewählt.Auch deutsche Leser könnten Sie unter dem Namen Diana Norman kennen, mit demSie schon als Autorin historischer Romane in Erscheinung getreten sind. WollenSie uns verraten, warum Sie ein Pseudonym gewählt haben?
Oh,es freut mich zu hören, dass die historischen Romane von Diana Norman auch inDeutschland gelesen werden - besonders deshalb, weil ich großen Respekt vorIhrem Land habe. Mit "Totenleserin" habe ich mich von dem früheren Genreentfernt. Denn dieser Roman ist eher ein Thriller. Deshalb dachten mein Agentund mein Verleger, ich sollte einen neuen Namen annehmen. Ariana Franklin istder Name meiner Mutter, und deshalb habe ich ihn gewählt.
Ist es denkbar, dass Ihre Heldin wieder in Erscheinungtritt, vielleicht an einem anderen Ort ermittelt? Können Sie uns schon etwasüber Ihre nächsten Pläne verraten?
Schön, dass Sie danachfragen! "Totenleserin" kommt überall auf der Welt so gut an, dass mein Verlegermich schon um eine Fortsetzung gebeten hat. Und ich hatte das ohnehin geplant.Das 12. Jahrhundert ist eine wahre Fundgrube - mit vielen Parallelen zurGegenwart. Außerdem - ich hoffe, das klingt nicht prätentiös! - habe ich michein bisschen verliebt in die ernste, kluge, hartnäckige Adelia und ihreFreunde. Ein Buch mit neuen Abenteuern habe ich schon fast fertig. Ich denke,ich werde es "The Serpent in the Garden" ("Die Schlange im Garten", M.V.)nennen. Darin geht es um den mysteriösen Tod der edlen Rosamund, einer Person,die es wirklich gegeben hat. Sie ist die Mätresse Heinrich II. und soll derLegende nach von dessen Frau, Königin Eleanor, vergiftet worden sein. Hat siees getan oder nicht? Adelia wird es herausfinden!
Die Fragen stellteMathias Voigt, Literaturtest.
- Autor: Ariana Franklin
- 2007, 476 Seiten, Maße: 14,8 x 21,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426197391
- ISBN-13: 9783426197394
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