Die vierte Schwester / Jackson Brodie Bd.1
In einer heißen Sommernacht verschwindet die kleine Olivia spurlos. Die Familie, deren absoluter Liebling sie war, zerbricht an diesem Unglück. Dreißig Jahre später taucht Olivias Lieblingsspielzeug auf. Was ist damals passiert?
Mit "Die vierte...
In einer heißen Sommernacht verschwindet die kleine Olivia spurlos. Die Familie, deren absoluter Liebling sie war, zerbricht an diesem Unglück. Dreißig Jahre später taucht Olivias Lieblingsspielzeug auf. Was ist damals passiert?
Mit "Die vierte Schwester" gewinnt Kate Atkinson ihre emotionale Kraft zurück - und hat den bislang besten Roman geschrieben. Sunday Telegraph
Die Schwestern betrauen den Privatdetektiv Jackson mit dem Fall. Nach und nach lernt Jackson die drei Schwestern näher kennen und sieht, dass das Verschwinden Olivias das Drama ihres Lebens ist. All ihre Träume und Sehnsüchte haben sich verflüchtigt, die kleine Schwester dagegen ist ständig anwesend. Jackson kennt dieses Gefühl. Auch er hat seine Schwester plötzlich verloren. Obwohl er nicht glaubt, dass er den Fall lösen kann, trägt er pflichtbewusst seine Ermittlungsergebnisse zusammen und entdeckt durch einen Zufall den Schlüssel zu dem tragischen Verlust der drei Schwestern.
Die vierte Schwester von Kate Atkinson
LESEPROBE
Abends hatten siekeinen Appetit und stocherten in dem winterlichen Lammeintopf herum, den zukochen Rosemary so viel Zeit gekostet hatte. Victor kam, blinzelte imTageslicht wie ein Höhlenbewohner, aß seinen Teller leer und bat um mehr, undRosemary fragte sich, wie er aussehen würde, wenn er tot wäre. Sie schaute zu,wie er aß, die Gabel in einem roboterhaften Rhythmus hob und senkte, seineHände, so groß wie Paddel, um das Besteck geschlungen. Er hatte die Hände einesBauern, das war ihr mit als Erstes an ihm aufgefallen. Ein Mathematiker sollteschlanke, elegante Hände haben. Sie hätte es seinen Händen ansehen müssen. Ihrwar schlecht, und sie hatte Krämpfe. Vielleicht würde sie das Baby verlieren.Was für eine Erleichterung das wäre.
Rosemary standunvermittelt vom Tisch auf und verkündete: Schlafenszeit. Normalerweisehätte es Widerstand gegeben, aber Julias Atem ging schwer und ihre Augen warenrot von zu viel Sonne und Gras - sie hatte alle möglichen sommerlichenAllergien -, und Sylvia schien eine Art Sonnenstich zu haben, ihr war schlechtund zum Weinen, und sie sagte, der Kopf täte ihr weh, aber das hielt sie nichtdavon ab, hysterisch zu werden, als Rosemary sie früh ins Bett schickte.
Fast jeden Abendhatten die ältesten drei sie in diesem Sommer gefragt, ob sie draußen im Zeltschlafen dürften, und jeden Abend antwortete Rosemary mit Nein und erklärte, essei schlimm genug, dass sie aussähen wie Zigeunerinnen, sie müssten nicht auchnoch wie Zigeuner leben und es spiele keine Rolle, dass Zigeuner in Wohnwagenlebten - wie Sylvia nicht müde wurde, klarzustellen. Rosemary tat ihr Bestes,nicht die Kontrolle über ihre Familie zu verlieren, auch wenn kaum Aussicht aufErfolg bestand mit einem Mann, der bei den täglichen Anforderungen derMahlzeiten, der Hausarbeit und der Erziehung der Kinder keine Hilfe war und dersie nur geheiratet hatte, um jemanden zu haben, der ihn versorgte. Und siefühlte sich noch schlechter, als Amelia sagte: »Gehts dir nicht gut, Mami?«,denn Amelia war die am meisten Vernachlässigte von allen. Weshalb Rosemaryseufzte, zwei Paracetamol und eine Schlaftablette nahm - wahrscheinlich eintödlicher Cocktail für das Baby in ihrem Bauch - und zu ihrem am häufigstenvergessenen Kind sagte: »Wenn du willst, kannst du heute Nacht mit Olivia imZelt schlafen.«
Es war aufregend,aufzuwachen und von taunassem Gras und dem Geruch von Leinwand umgeben zu sein- auf jeden Fall besser als Julias Atem, der über Nacht immer sauer zu werdenschien. Olivias undefinierbarer Duft war gerade noch wahrnehmbar. Amelia ließdie Augen gegen das Licht geschlossen. Die Sonne schien schon hoch am Himmel zustehen, und sie wartete darauf, dass Olivia sie weckte und unter das alteFederbett kroch, das als Schlafsack diente, aber es war Rascal und nicht Olivia,der sie schließlich weckte, indem er ihr das Gesicht leckte.
Von Olivia warnichts zu sehen, nur die leere Hülle der Bettdecke, als wäre sie herausgezogenworden, und Amelia war enttäuscht, dass Olivia aufgestanden war, ohne sie zuwecken. Sie ging barfuß über das taunasse Gras - Rascal folgte ihr auf denFersen - und versuchte, die Hintertür zu öffnen, die jedoch verschlossen war -offenkundig hatte ihre Mutter nicht daran gedacht, Amelia einen Schlüssel zugeben. Was sind das für Eltern, die ihre eigenen Kinder aussperren?
Alles war still,und es schien noch früh zu sein, aber Amelia wusste nicht wirklich, wie spät eswar. Sie fragte sich, ob Olivia irgendwie ins Haus gelangt sein konnte, weilsie im Garten nicht zu finden war. Sie rief ihren Namen und erschrak, als siedas Zittern in ihrer Stimme hörte; ihr war nicht klar gewesen, dass sie sichSorgen machte, bis sie sich hörte. Lange Zeit klopfte sie an die Hintertür,aber niemand öffnete, und dann lief sie den Weg am Haus entlang - das kleineGartentor stand offen, ein Grund mehr zur Beunruhigung für Amelia - und auf dieStraße, wo sie erneut, lauter: »Olivia!« rief. Rascal, der sich Spaß erhoffte,begann zu bellen.
Die Straße warleer, abgesehen von einem Mann, der in sein Auto stieg. Er warf Amelia einenneugierigen Blick zu. Sie war barfuß und trug einen von Sylvia geerbtenSchlafanzug und nahm an, dass sie merkwürdig aussah, aber das war jetzt kaumvon Bedeutung. Sie lief zur Vordertür und klingelte, drückte den Finger auf denKnopf, bis - ausgerechnet - ihr Vater die Tür aufriss. Sie hatte ihnoffensichtlich geweckt, sein Gesicht war so zerknittert wie sein Schlafanzug,sein wirres Haar stand nach allen Seiten vom Kopf ab, er starrte sie wütend an,als hätte er keinen blassen Schimmer, wer sie war. Und als er sie als eineseiner Töchter erkannte, war er noch verwirrter.
»Olivia«, sagtesie, und diesmal war ihre Stimme nur noch ein Flüstern.
Am Nachmittagspaltete ein Blitz den tief hängenden Himmel über Cambridge und kündigte dasEnde der Hitzewelle an. Zu diesem Zeitpunkt war das Zelt im Garten derMittelpunkt eines Kreises, der im Verlauf des Tages größer und größer gewordenwar und immer mehr Leute in sich hineingezogen hatte - zuerst die Lands, diedurch die Straßen liefen, durch Unterholz und Hecken krochen und Olivias Namenschrien, bis sie heiser waren. Mittlerweile war die Polizei an der Suchebeteiligt, und Nachbarn kontrollierten ihre Gärten, Keller und Schuppen. DerKreis wurde größer, als Polizeitaucher den Fluss absuchten und völlig fremdeMenschen freiwillig Wiesen und Wälder durchforsteten. Polizeihubschrauberüberflogen bis zu den Grenzen der Grafschaft Dörfer und Felder, Lastwagenfahrerwaren dazu aufgerufen, die Augen auf den Autobahnen offen zu halten, und dieArmee durchkämmte die Moore, aber niemand - weder Amelia, die im Garten heulte,bis ihr schlecht war, noch die Soldaten, die im Regen auf Händen und Knien überden Midsummer Common krochen - fanden eine Spur von Olivia, kein Haar, keineHautschuppe, keinen rosa Kaninchenschuh und keine blaue Maus.
© Droemer-KnaurVerlag
Übersetzung:Anette Gruber
1996 erhält sie für ihren ersten Roman (Behind the Scenes at the Museum, deutsch: Familienalbum) den angesehenen Whitbread Award.Anette Grube studierte Amerikanistik und Politik. Seit 1988 arbeitet sie als literarische Übersetzerin. Sie hat u. a. Werke von Doris Lessing, T. C. Boyle, Kate Atkinson, Vikram Seth und Arundhati Roy ins Deutsche übertragen. Sie lebt in Berlin.
- Autor: Kate Atkinson
- 2005, 397 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Grube, Anette
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342619550X
- ISBN-13: 9783426195505
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