Du stirbst nicht
Kathrin Schmidt erhielt den Deutschen Buchpreis 2009 für ihren vierten, stark autobiografisch geprägten Roman "Du stirbst nicht", in dem sie die atemberaubende Geschichte einer Heilung erzählt.
Nach einer...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Du stirbst nicht “
Kathrin Schmidt erhielt den Deutschen Buchpreis 2009 für ihren vierten, stark autobiografisch geprägten Roman "Du stirbst nicht", in dem sie die atemberaubende Geschichte einer Heilung erzählt.
Nach einer Hirnblutung findet sich Helene Wesendahl im Krankenhaus wieder, doch ihre Erinnerung und ihre Sprache lassen sie im Stich. Erst durch Rehamaßnahmen gewinnt sie ihre Sprache wieder - und auch ihre Erinnerung kehrt bruchstückhaft zurück. Was da zutage tritt, konfrontiert sie mit einem Leben, das Helene fremd erscheint. Und als ihr bewusst wird, dass sie den Mann, der sie jetzt pflegt, eigentlich verlassen wollte, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Lese-Probe zu „Du stirbst nicht “
Du stirbst nicht von Kathrin Schmidt1
Wimpernschläge
oder
in the twinkling of an eye
ES KLAPPERT UM SIE HERUM. Als ihre Schwester heiratete, hatte die Mutter das Silberbesteck in eine Blechschüssel gelegt, auf eine Alufolie. Heißes Salzwasser darüber. Das saubere Besteck wurde nach einiger Zeit aus der Schüssel genommen und abgetrocknet: Es hatte genauso geklappert. Wer heiratet denn? Sie versucht die Augen zu öffnen. Fehlanzeige. Mehr als Augenöffnen versucht sie nicht. Ist genügsam. Sie kann aber sehr deutlich die Stimme ihrer Mutter hören. Ah, also doch das Besteck! Was sagt ihre Mutter?
Die rechte Hand ist aber viel kälter als die linke, sagt sie, und der rechte Fuß genauso.
Warum hat die Mutter eine kalte rechte Hand?, fragt sie sich. Muss lächeln, als sie sich vorstellt, sie überprüfe die Temperatur ihrer Füße.
Sie lacht!, sagt ihre Mutter.
Sie verzieht nur das Gesicht.
Hat das ihr Vater gesagt? Aber ja, das war unzweifelhaft die Stimme ihres Vaters! Jetzt möchte sie doch die Augen öffnen. Was hat sie in der Küche ihrer Eltern zu suchen, wo mit Besteck geklappert und die Hand- und Fußtemperatur untersucht wird und sie ihre Augen nicht öffnen kann?
O, where do you come from? From London?
Das hat sie zu ihrer Tochter gesagt. Hat sie? Ein Auge kann sie öffnen. Sie tut es. Vierzehn ist das Mädchen und heute auf eine Sprachreise nach England gefahren. Warum ist sie schon wieder da? Sie heult. Aus irgendeinem Grund heult sie. Deshalb hat sie ja auch englisch sprechen wollen, um sie aufzumuntern. Es scheint nichts zu nützen, dass sie fröhlich ist. Das Mädchen hat Kummer. Aber welchen? Wen könnte sie fragen? Der Blick wandert. Da! Neben der Tochter steht ihr Mann. My husband, sagt sie. Darüber wird aber doch hoffentlich gelacht werden …
Nichts.
Wenigstens
... mehr
lächelt der Mann. Je länger sie ihn anschaut, umso seltsamer findet sie sein Lächeln. Angepflockt hängt es zwischen den Wangenknochen wie eine Salzgurke.
Salt cucumber, sagt sie.
Gibt es das überhaupt auf Englisch?
… geboren am 3. 12. 1972, wohnt in Hückelhoven …
Halt! Das ist sie aber nicht! Warum kann sie das nicht so laut ausrufen, wie sie möchte? Verdammt, das muss doch gehen!
Nun regen Sie sich aber mal schön ab, wir kommen ja gleich zu Ihnen!
Wer hat das gesagt? Der junge Mann da? Sie kann, glaubt sie, beide Augen gleichzeitig öffnen. Es geht ein bisschen schwer, irgendetwas scheint auf den Lidern zu liegen. Der junge Mann lächelt, aber das beruhigt sie kaum. Das ist sie doch nicht! Sie ist vierzehn Jahre älter und wohnt doch nicht in Hückelhoven!
I don’t … I don’t …
Warum kommt sie nicht weiter mit dem Satz? Jetzt sagt der junge Mann den anderen Männern in blauen Kitteln, dass es beinahe so klinge, als ob sie englisch zu sprechen versuche, seit sie hin und wieder wach werde. Die Männer lachen. Sie sucht nach einer Frau. Hinter den Männern steht eine, aber die scheint mit irgendetwas beschäftigt zu sein.
Einer der Männer beugt sich über sie.
Können Sie mich hören?
Sie wird dem doch nicht sagen, ob sie ihn hören kann. Soll er ruhig weiter so brüllen.
Augen zu.
Die Stimme kennt sie. Das ist Inga. Sie scheint jemanden mitgebracht zu haben. Treten Sie ruhig ein!, sagt ein Bass, aber Fallgeräusche folgen, darauf ein schadenfrohes Lachen. Warum nur kann sie die Augen nicht öffnen! Sie muss sich zusammenreimen, was da passiert ist. Ihre Freundin Inga wollte sie besuchen, wurde zum Eintreten ermuntert, aber eine tiefe Fallgrube muss hinter der Tür sein. Sie sind hineingestürzt. Unruhig wird sie. Liegt sie eigentlich?
Warum? Sie versucht erfolglos, Arme, Beine oder Kopf anzuheben. Das macht sie aber jetzt noch unruhiger, merkt sie. Was ist der Freundin passiert, deren Stimme sie doch so genau gehört hat? Ah, da ist sie ja wieder, regt sich natürlich auf. Bestimmt war es nicht leicht, aus der Grube heraufzukommen, was? Treten Sie ruhig ein!, sagt der Bass.
Nach einer Weile wundert sie sich aber doch: Wo bleibt Inga denn? Sie wird doch wohl nicht schon wieder in die Grube gefallen sein?
Sie fährt! Wie der kleine Häwelmann kommt sie sich vor. Kleine Häwelfrau. Das ist schön. Das könnte immer so weitergehen. Nur das Licht blendet. Dass der Mond aus der Nähe so hell ist, hätte sie eigentlich wissen müssen. Hatte aber zuvor nie daran gedacht.
Sie fährt.
Sie fährt!
Wieder kann sie nur ein Auge öffnen. Welch Glück, eine Frau! Die lächelt und scheint neben ihr zu fahren, der Oberkörper ist im Gegensatz zu ihrem aufrecht. Sie möchte ihr sagen, dass sie sich doch auch hinlegen soll, es ist schön, so zu fahren. Sie hat etwas im Mund. Sie kann den Mund gar nicht schließen. Sie möchte die Frau fragen, was sie da in ihrem Mund stecken sieht, aber die Frau nimmt ihren Arm und schließt ihn an einen Schlauch. Ein Netz?
Durch das sie fremdgesteuert wird? Himmel, die Angst.
Sie möchte sich wehren, aber das Auge klappt zu.
Die Steinscheibe drin ist, wird wieder dunkler, was bis dahin unangenehm hell war. Schummerstündchen. Sie sieht gerade noch ein dünnes, langes, bewegliches Plastikrohr über sich. Wo geht es hin, wo kommt es her? Schade, dass sie den Kopf nicht bewegen kann, sie kann das Rohr einfach nicht verfolgen. Dunkle, braunrote Flüssigkeit bewegt sich darin vorwärts, kollernde Tropfen.
Seit einiger Zeit wirtschaftet eine laute junge Frau um sie herum. Sie redet ununterbrochen. Mit wem redet sie nur so viel? Ist hier noch jemand? Sie kann doch den Kopf nicht drehen, stimmt ja … Nun muss sie die Augen aber wirklich aufmachen, denn irgendetwas verändert sich, sie wird aufgerichtet, angehoben, hingesetzt. Ihr wird schlecht. Da muss sie wohl etwas ganz Komisches gegessen haben.
Der Wortschwall der Frau kommt immer näher.
… Hören Sie mich, Helene? Na ja, ist schwer zu sagen, was?
Auf jeden Fall müssen wir bald beginnen, Sie öfter in die Senkrechte zu manövrieren. Das war der erste Versuch heute, hören Sie? Hören Sie? Ich glaube, sie hört …
War das zu ihr gesprochen? Sie weiß es nicht. Möchte schlafen. Ist geschafft.
Dass sie Helene heißt, glaubt sie merkwürdigerweise.
Was hält der Mann da in der Hand? Sieht aus wie ihr Herzschrittmacher. Tatsächlich, er hält ihr den Herzschrittmacher vor die Nase und sagt, dass sie ihn endlich gefunden und herausgenommen haben. Warum nehmen die ihr denn den Herzschrittmacher ab? Sie bringt die Frage nicht heraus.
Der Mann lacht sich eins, er lacht sich ins Fäustchen, er hat sie in der Hand, ihren Herzschlag. Sie muss sich wehren, nur nicht einschlafen. Bestimmt wird nachts eingeheizt, ja, gestern war es doch schon so heiß nachts, dass sie dachte, es brennt. Bestimmt haben sie ihr den Herzschrittmacher deshalb abgenommen, weil sie als Einzige noch am Leben ist und sie sich darüber gewundert haben!
Wer so einen Herzschrittmacher hat, dessen Herz schlägt und schlägt, selbst wenn der Körper schon hinüber ist. So freundlich lächeln sie dich alle an hier, dabei ist es ein Mörderverein, umbringen wollen sie dich wie all die anderen, sie muss das unbedingt ihrem Mann sagen. Er wird doch hoffentlich noch vor der Nacht kommen. Wo ist sie eigentlich?
Ganz schön lange hält sie die Augen nun schon geöffnet, aber wo sie ist, will ihr einfach nicht aufgehen.
Das sind doch schon wieder ihre Eltern! Sie möchte sich aufsetzen, fragen, wer geheiratet hat. Warum hast du eine kalte rechte Hand, Mama? Es geht nicht. Aufsetzen nicht und fragen nicht.
Zusammennehmen.
Mund zupressen. Augen öffnen.
Wirklich, es sind ihre Eltern! Ihr Vater sieht aus wie damals, als ihre Schwester mit dem Roller den Geißenberg hinuntergefahren war. Wie lange ist das jetzt her? Sie rechnet. Haben wir 2002? Die Schwester ist 1961 geboren und war etwa sechs Jahre alt bei der Rollertour. Also 1967. Das ergibt fünfunddreißig Jahre. So lange! Warum hat sie sich gemerkt, wie der Vater aussah? Vati, sei nicht traurig!, hat sie damals geflüstert, und er hat sie gedrückt und vor Freude geweint, als der Arzt ihnen die Schwester wieder mitgegeben hatte nach Hause. Nein, sie wollten sie nicht im Krankenhaus behalten.
Im Krankenhaus? Das Haus, in dem sie sich aufhält, könnte doch auch …
Die Mutter unterbricht sie. Fragt die Frau neben ihr, wann sie wieder etwas essen kann. Typisch, essen interessiert sie immer. Sie hat doch keinen Hunger!
Das dauert noch, sagt die Frau. Vorläufig wird sie über die Sonde versorgt, sehen Sie? Über die Sonde, siehst du. Zufrieden schließt sie die Augen.
Ein junger Mann links, einer rechts. Sie schauen sie an, kommen ihr bekannt vor, sie will ihnen jedoch nicht in die Augen schauen.
Na ja, eigentlich möchte sie aber doch wissen, wer sie sind. Sie lächeln, reden leise miteinander, über ihren Kopf hinweg. Sie überlegt. Möchte den, der links von ihr steht, bitten, ihr das --- ein Stück tiefer zu ziehen, damit es mehr im Kreuz liegt, aber sie findet das verdammte Wort nicht, wie heißt das denn nur? Sie macht den Jungen Zeichen, allen beiden, was sie möchte, nämlich dass sie ihr das --- ein Stück tiefer ziehen. Sie scheinen sie nicht zu verstehen. Womit hat sie ihnen eigentlich Zeichen gegeben? Mit den Händen? Die linke Hand liegt fest, ein Schlauch steckt darin. Ist sie etwa immer noch am Netz, wird sie etwa immer noch ferngesteuert? Sie möchte die Angst mit der rechten Hand mitteilen, aber die liegt einfach da und lässt sich nicht bewegen. Seltsam. Warum kann sie die Hand nicht bewegen? Bestimmt haben die über das Netz alle ihre Bewegungen unter Kontrolle.
Und die Jungen? Gehören die zu den Netzbetreibern?
Sie sieht sie sich nun doch genauer an. Erleichterung: Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts. Sie glaubt, sie lacht. Ihre Söhne! Warum hat sie die beiden denn nicht früher angeschaut? Dann hätte sie doch schon viel länger ihre Freude gehabt! Einer von ihnen studiert. Wo studiert er eigentlich? In Weimar. Oboe. Ja, Oboe. Der Oboensohn hält ihr eine CD vor die Nase, selbst gebrannt, irgendetwas steht darauf, sie kann es aber nicht erkennen. Er schiebt die CD in ein kleines Gerät und ihr die Kopfhörer ins Ohr.
Ahhh, das tut gut, das ist aber schöne Musik. Oboe. Bestimmt sieht sie selig aus, muss sie denken. Jetzt denkt sie also darüber nach, wie sie aussieht. Wie sieht sie aus? Sie weiß es nicht mehr, sie hat kein Bild von sich. Die haben ihr das Bild von sich geklaut! Das ist die Vorhölle, die vor der richtigen Hölle kommt, und die richtige Hölle kommt nachts, wenn es dunkel ist. Irgendwie müssen ihre Söhne das aber wissen, die dürfen sie nicht hierlassen, nicht einfach wieder weggehen! Hört ihr? Hallo, wo seid ihr? Sie schaut auf, erschöpft: Die Jungen sind weg. Ahnen nichts von der Gefahr.
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Salt cucumber, sagt sie.
Gibt es das überhaupt auf Englisch?
… geboren am 3. 12. 1972, wohnt in Hückelhoven …
Halt! Das ist sie aber nicht! Warum kann sie das nicht so laut ausrufen, wie sie möchte? Verdammt, das muss doch gehen!
Nun regen Sie sich aber mal schön ab, wir kommen ja gleich zu Ihnen!
Wer hat das gesagt? Der junge Mann da? Sie kann, glaubt sie, beide Augen gleichzeitig öffnen. Es geht ein bisschen schwer, irgendetwas scheint auf den Lidern zu liegen. Der junge Mann lächelt, aber das beruhigt sie kaum. Das ist sie doch nicht! Sie ist vierzehn Jahre älter und wohnt doch nicht in Hückelhoven!
I don’t … I don’t …
Warum kommt sie nicht weiter mit dem Satz? Jetzt sagt der junge Mann den anderen Männern in blauen Kitteln, dass es beinahe so klinge, als ob sie englisch zu sprechen versuche, seit sie hin und wieder wach werde. Die Männer lachen. Sie sucht nach einer Frau. Hinter den Männern steht eine, aber die scheint mit irgendetwas beschäftigt zu sein.
Einer der Männer beugt sich über sie.
Können Sie mich hören?
Sie wird dem doch nicht sagen, ob sie ihn hören kann. Soll er ruhig weiter so brüllen.
Augen zu.
Die Stimme kennt sie. Das ist Inga. Sie scheint jemanden mitgebracht zu haben. Treten Sie ruhig ein!, sagt ein Bass, aber Fallgeräusche folgen, darauf ein schadenfrohes Lachen. Warum nur kann sie die Augen nicht öffnen! Sie muss sich zusammenreimen, was da passiert ist. Ihre Freundin Inga wollte sie besuchen, wurde zum Eintreten ermuntert, aber eine tiefe Fallgrube muss hinter der Tür sein. Sie sind hineingestürzt. Unruhig wird sie. Liegt sie eigentlich?
Warum? Sie versucht erfolglos, Arme, Beine oder Kopf anzuheben. Das macht sie aber jetzt noch unruhiger, merkt sie. Was ist der Freundin passiert, deren Stimme sie doch so genau gehört hat? Ah, da ist sie ja wieder, regt sich natürlich auf. Bestimmt war es nicht leicht, aus der Grube heraufzukommen, was? Treten Sie ruhig ein!, sagt der Bass.
Nach einer Weile wundert sie sich aber doch: Wo bleibt Inga denn? Sie wird doch wohl nicht schon wieder in die Grube gefallen sein?
Sie fährt! Wie der kleine Häwelmann kommt sie sich vor. Kleine Häwelfrau. Das ist schön. Das könnte immer so weitergehen. Nur das Licht blendet. Dass der Mond aus der Nähe so hell ist, hätte sie eigentlich wissen müssen. Hatte aber zuvor nie daran gedacht.
Sie fährt.
Sie fährt!
Wieder kann sie nur ein Auge öffnen. Welch Glück, eine Frau! Die lächelt und scheint neben ihr zu fahren, der Oberkörper ist im Gegensatz zu ihrem aufrecht. Sie möchte ihr sagen, dass sie sich doch auch hinlegen soll, es ist schön, so zu fahren. Sie hat etwas im Mund. Sie kann den Mund gar nicht schließen. Sie möchte die Frau fragen, was sie da in ihrem Mund stecken sieht, aber die Frau nimmt ihren Arm und schließt ihn an einen Schlauch. Ein Netz?
Durch das sie fremdgesteuert wird? Himmel, die Angst.
Sie möchte sich wehren, aber das Auge klappt zu.
Die Steinscheibe drin ist, wird wieder dunkler, was bis dahin unangenehm hell war. Schummerstündchen. Sie sieht gerade noch ein dünnes, langes, bewegliches Plastikrohr über sich. Wo geht es hin, wo kommt es her? Schade, dass sie den Kopf nicht bewegen kann, sie kann das Rohr einfach nicht verfolgen. Dunkle, braunrote Flüssigkeit bewegt sich darin vorwärts, kollernde Tropfen.
Seit einiger Zeit wirtschaftet eine laute junge Frau um sie herum. Sie redet ununterbrochen. Mit wem redet sie nur so viel? Ist hier noch jemand? Sie kann doch den Kopf nicht drehen, stimmt ja … Nun muss sie die Augen aber wirklich aufmachen, denn irgendetwas verändert sich, sie wird aufgerichtet, angehoben, hingesetzt. Ihr wird schlecht. Da muss sie wohl etwas ganz Komisches gegessen haben.
Der Wortschwall der Frau kommt immer näher.
… Hören Sie mich, Helene? Na ja, ist schwer zu sagen, was?
Auf jeden Fall müssen wir bald beginnen, Sie öfter in die Senkrechte zu manövrieren. Das war der erste Versuch heute, hören Sie? Hören Sie? Ich glaube, sie hört …
War das zu ihr gesprochen? Sie weiß es nicht. Möchte schlafen. Ist geschafft.
Dass sie Helene heißt, glaubt sie merkwürdigerweise.
Was hält der Mann da in der Hand? Sieht aus wie ihr Herzschrittmacher. Tatsächlich, er hält ihr den Herzschrittmacher vor die Nase und sagt, dass sie ihn endlich gefunden und herausgenommen haben. Warum nehmen die ihr denn den Herzschrittmacher ab? Sie bringt die Frage nicht heraus.
Der Mann lacht sich eins, er lacht sich ins Fäustchen, er hat sie in der Hand, ihren Herzschlag. Sie muss sich wehren, nur nicht einschlafen. Bestimmt wird nachts eingeheizt, ja, gestern war es doch schon so heiß nachts, dass sie dachte, es brennt. Bestimmt haben sie ihr den Herzschrittmacher deshalb abgenommen, weil sie als Einzige noch am Leben ist und sie sich darüber gewundert haben!
Wer so einen Herzschrittmacher hat, dessen Herz schlägt und schlägt, selbst wenn der Körper schon hinüber ist. So freundlich lächeln sie dich alle an hier, dabei ist es ein Mörderverein, umbringen wollen sie dich wie all die anderen, sie muss das unbedingt ihrem Mann sagen. Er wird doch hoffentlich noch vor der Nacht kommen. Wo ist sie eigentlich?
Ganz schön lange hält sie die Augen nun schon geöffnet, aber wo sie ist, will ihr einfach nicht aufgehen.
Das sind doch schon wieder ihre Eltern! Sie möchte sich aufsetzen, fragen, wer geheiratet hat. Warum hast du eine kalte rechte Hand, Mama? Es geht nicht. Aufsetzen nicht und fragen nicht.
Zusammennehmen.
Mund zupressen. Augen öffnen.
Wirklich, es sind ihre Eltern! Ihr Vater sieht aus wie damals, als ihre Schwester mit dem Roller den Geißenberg hinuntergefahren war. Wie lange ist das jetzt her? Sie rechnet. Haben wir 2002? Die Schwester ist 1961 geboren und war etwa sechs Jahre alt bei der Rollertour. Also 1967. Das ergibt fünfunddreißig Jahre. So lange! Warum hat sie sich gemerkt, wie der Vater aussah? Vati, sei nicht traurig!, hat sie damals geflüstert, und er hat sie gedrückt und vor Freude geweint, als der Arzt ihnen die Schwester wieder mitgegeben hatte nach Hause. Nein, sie wollten sie nicht im Krankenhaus behalten.
Im Krankenhaus? Das Haus, in dem sie sich aufhält, könnte doch auch …
Die Mutter unterbricht sie. Fragt die Frau neben ihr, wann sie wieder etwas essen kann. Typisch, essen interessiert sie immer. Sie hat doch keinen Hunger!
Das dauert noch, sagt die Frau. Vorläufig wird sie über die Sonde versorgt, sehen Sie? Über die Sonde, siehst du. Zufrieden schließt sie die Augen.
Ein junger Mann links, einer rechts. Sie schauen sie an, kommen ihr bekannt vor, sie will ihnen jedoch nicht in die Augen schauen.
Na ja, eigentlich möchte sie aber doch wissen, wer sie sind. Sie lächeln, reden leise miteinander, über ihren Kopf hinweg. Sie überlegt. Möchte den, der links von ihr steht, bitten, ihr das --- ein Stück tiefer zu ziehen, damit es mehr im Kreuz liegt, aber sie findet das verdammte Wort nicht, wie heißt das denn nur? Sie macht den Jungen Zeichen, allen beiden, was sie möchte, nämlich dass sie ihr das --- ein Stück tiefer ziehen. Sie scheinen sie nicht zu verstehen. Womit hat sie ihnen eigentlich Zeichen gegeben? Mit den Händen? Die linke Hand liegt fest, ein Schlauch steckt darin. Ist sie etwa immer noch am Netz, wird sie etwa immer noch ferngesteuert? Sie möchte die Angst mit der rechten Hand mitteilen, aber die liegt einfach da und lässt sich nicht bewegen. Seltsam. Warum kann sie die Hand nicht bewegen? Bestimmt haben die über das Netz alle ihre Bewegungen unter Kontrolle.
Und die Jungen? Gehören die zu den Netzbetreibern?
Sie sieht sie sich nun doch genauer an. Erleichterung: Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts. Sie glaubt, sie lacht. Ihre Söhne! Warum hat sie die beiden denn nicht früher angeschaut? Dann hätte sie doch schon viel länger ihre Freude gehabt! Einer von ihnen studiert. Wo studiert er eigentlich? In Weimar. Oboe. Ja, Oboe. Der Oboensohn hält ihr eine CD vor die Nase, selbst gebrannt, irgendetwas steht darauf, sie kann es aber nicht erkennen. Er schiebt die CD in ein kleines Gerät und ihr die Kopfhörer ins Ohr.
Ahhh, das tut gut, das ist aber schöne Musik. Oboe. Bestimmt sieht sie selig aus, muss sie denken. Jetzt denkt sie also darüber nach, wie sie aussieht. Wie sieht sie aus? Sie weiß es nicht mehr, sie hat kein Bild von sich. Die haben ihr das Bild von sich geklaut! Das ist die Vorhölle, die vor der richtigen Hölle kommt, und die richtige Hölle kommt nachts, wenn es dunkel ist. Irgendwie müssen ihre Söhne das aber wissen, die dürfen sie nicht hierlassen, nicht einfach wieder weggehen! Hört ihr? Hallo, wo seid ihr? Sie schaut auf, erschöpft: Die Jungen sind weg. Ahnen nichts von der Gefahr.
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
... weniger
Autoren-Porträt von Kathrin Schmidt
Bibliographische Angaben
- Autor: Kathrin Schmidt
- 348 Seiten, Maße: 13,7 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996906
- ISBN-13: 9783828996908
Kommentare zu "Du stirbst nicht"
0 Gebrauchte Artikel zu „Du stirbst nicht“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Du stirbst nicht".
Kommentar verfassen