Ein Haus für Fünf
Ein tragischer Unfall macht die drei Kinder der McGuires zu
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Produktinformationen zu „Ein Haus für Fünf “
Ein tragischer Unfall macht die drei Kinder der McGuires zu
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Ein Haus für Fünf von Susan WiggsAus dem Amerikanischen von Marion Balkenhol
1
Freitag, 14.45 Uhr
Hey, Miss Robinson, wollen Sie wissen, wie Sie Ihren Pornostarnamen rauskriegen?«, fragte Russell Clark, der zum Schulbus hüpfte.
»Ich glaube, ich werde den Tag auch ohne diese Information überstehen.« Lily Robinson legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, damit er nicht vom überdachten Bürgersteig in den strömenden Regen sprang.
»Ach, kommen Sie, es ist leicht. Sie sagen den Namen Ihrer Straße und ...«
»Nein, danke, Russell«, sagte Lily in dem Tonfall, der ausdrückte »jetzt reicht's«. Sie hoffte nur, dass er in Wirklichkeit nicht wusste, was ein Pornostar war. »Das gehört sich nicht, und du sollst doch heute Nachmittag der Ordner sein.«
»Huch!« Nachdem man ihn an das Privileg erinnert hatte, richtete Russell sich kerzengerade auf und marschierte schnurstracks weiter, um pflichtgemäß dreiundzwanzig Drittklässler unter das Vordach am Parkplatz zu führen. »Ich fahre heute nach Echo Ridge«, sagte er und ging auf den Bus Nummer vier zu. »Ich habe eine Golfstunde.«
»Bei dem Regen?«
»Es klart wieder auf, jede Wette. Wiedersehen, Miss Robinson. « Russell lief zum Bus und hüpfte wie beim Hinkekästchen- Spiel über die Pfützen auf dem Parkplatz.
... mehr
Lily verabschiedete sich vom Rest ihrer Schulkinder für den Tag und sah ihnen hinterher, wie sie sich, einer Schar aufgescheuchter Hühner gleich, auf Busse und Fahrgemeinschaften verteilten. Charlie Holloway und ihre beste Freundin Lindsey Davenport standen als Letzte in der Reihe, hielten sich an den Händen und schnatterten, während sie darauf warteten, dass Mrs Davenport vorfuhr.
Als Charlie Lilys Blick begegnete, ließ sie den Kopf hängen und schaute zur Seite. Lily hatte Mitleid mit der Kleinen, die sich schmerzhaft bewusst war, dass ihre Eltern nach der Schule zu einer Besprechung kommen würden. Charlie wirkte klein und zerbrechlich und versuchte, sich in ihren gelben Regenmantel zu verkriechen. Lily hätte sie gern beruhigt und ihr gesagt, sie müsse sich keine Sorgen machen.
Aber Charlie gab ihr keine Chance. »Da ist deine Mom«, sagte sie und zog Lindsey an der Hand. »Tschüs, schönes Wochenende!«, rief sie Lily zu, und die Mädchen schossen auf den blauen Volvo-Kombi zu.
Lily lächelte und winkte. Sie bemühte sich, nicht bekümmert zu wirken, doch als sie die beiden so sah, beste Freundinnen, die zusammen wegsprangen, wurde sie an ihre beste Freundin aus der Kindheit erinnert - Charlies Mutter Crystal. Das Elterngespräch würde nicht leicht werden.
»Hey, was ist los?«, fragte Greg Duncan, der Sportlehrer. Nach Schulschluss trainierte er das Golfteam der Highschool, obwohl er dafür bekannt war, im Hauptberuf Schürzenjäger zu sein.
»Du solltest nicht merken, dass irgendetwas los ist«, sagte Lily.
Grinsend sprang er an ihre Seite, ein großer, freundlicher Bernhardiner-Typ, samtbraune Augen, riesige Pranken, eine silberne Trillerpfeife an einer Schnur um den Hals. »Ich weiß genau, was nicht stimmt«, sagte er. »Du bist heute Abend nicht verabredet.«
Da wären wir wieder, dachte Lily. Sie mochte Greg sehr, wirklich, aber er ging ihr mit seiner Aufmerksamkeitsheischerei auf die Nerven. Er war zu sehr Kerl, so wie ein Bernhardiner zu sehr Rüde ist. Zweimal geschieden, hatte er sich mit den meisten Frauen, die sie kannte, verabredet und neuerdings ein Auge auf sie geworfen. »Falsch«, sagte sie und grinste zurück. »Ich habe Pläne.«
»Lügnerin. Du versuchst nur, meine Gefühle zu schonen.«
Schuldig im Sinne der Anklage, dachte Lily.
»Baggert er dich wieder an?« Edna Klein, die Direktorin, trat zu ihnen unter das Vordach. Edna war in den Sechzigern, hatte hüftlanges silbergraues Haar, stechende blaue Augen und glich einer Woodstock-Oma. Sie trug Birkenstock- Sandalen mit Socken, Silberschmuck mit Türkisen und wohnte in einer Gemeinde namens Cloud Mountain. Doch niemand unterstand sich, sie nicht ernst zu nehmen. Neben ihrer äußeren Erscheinung als Urweib hatte sie einen Doktortitel aus Berkeley vorzuweisen, drei Ehen, vier erwachsene Kinder und zehn Jahre Nüchternheit bei den Anonymen Alkoholikern. Wenn es um die Leitung einer Schule ging, war sie ein vollendeter Profi, war den Lehrern eine Hilfe, ermutigte die Schüler und flößte den Eltern Vertrauen ein.
»Belästigung am Arbeitsplatz«, stellte Lily fest. »Ich überlege mir noch, ob ich eine Beschwerde einreiche.«
»Ich bin derjenige, der sich beschweren muss«, sagte Greg. »Seit dem Valentinstag grabe ich diese Frau nun an, und das Einzige, was ich von ihr kriege, ist ein Kinobesuch im Monat.«
»Wenigstens lasse ich dich den Film aussuchen. Hellraiser III war für mich ein echter Höhepunkt.«
»Du bist ein herzloses Weib, Lily Robinson«, sagte er und machte sich auf den Weg zur Turnhalle. »Schönes Wochenende, die Damen!«
»Er bellt den falschen Baum an«, sagte Lily zu Edna.
»Stehst du allen Männern so ablehnend gegenüber oder nur Trainer Duncan?«
Lily lachte. »Was ist denn schon dabei, dass ich dreißig werde? Plötzlich scheinen sich alle für mein Liebesleben zu interessieren.«
»Klar, Liebes. Weil wir alle wollen, dass du eins hast.«
Ständig wurde Lily gefragt, ob sie jemanden habe, mit dem sie öfter ausgehe, oder ob sie Kinder haben wolle. Anscheinend wollten alle wissen, wann sie sich niederließ. Sie begriffen nichts. Sie hatte sich eingerichtet. Ihr Leben war genau so, wie sie es sich gewünscht hatte. Beziehungen waren Lily unheimlich. Sich auf eine emotionale Beziehung einzulassen, war, als würde man zu einem betrunkenen Fahrer ins Auto steigen. Man hatte eine wilde Fahrt vor sich, die unweigerlich damit endete, dass jemand verletzt wurde.
»Ich mische mich ein, nicht wahr?«, gab Edna zu.
»Kann man so sagen.«
»Ich kann nicht anders. Ich hätte gern, wenn du mit jemandem zusammen wärst, Lily.«
Lily nahm ihre Brille ab und polierte mit einem Zipfel ihres Pullovers die Gläser. Die Welt verwandelte sich in ein schmieriges, verregnetes Graugrün, die übliche Farbskala eines Frühlings in Oregon. »Warum will denn niemand glauben, dass ich zufrieden bin, so wie die Dinge liegen?«
»Zufriedenheit und Glück sind zweierlei.«
Lily setzte die Brille wieder auf, und die Welt wurde wieder klarer. »Wenn ich zufrieden bin, bin ich glücklich.«
»Eines Tages, meine Liebe, wirst du feststellen, dass du mehr willst«, sagte Edna.
»Heute nicht«, entgegnete Lily und dachte an die bevorstehende Besprechung.
Ein paar Schulkinder sammelten sich um sie und verabschiedeten sich. Edna nahm sich die Zeit, jedes Kind persönlich anzusprechen, und alle drehten sich mit strahlendem Lächeln auf dem Gesicht um.
Eine leichte, nagende Unzufriedenheit überfiel Lily. Zufriedenheit und Glück sind zweierlei. Schwer genug, sich selbst glücklich zu machen, ganz zu schweigen von einem anderen, dachte sie. Doch wenn sie sich so umsah, musste sie zugeben, dass sie Tag für Tag erlebte, wie andere es machten. Eine Mutter brachte ihr kleines Kind zum Lachen, ein Mann schenkte seiner Frau Blumen, ein Kind öffnete eine Dose für Schulbrote und fand eine liebevolle Notiz von zu Hause.
Doch das Glück war nie von Dauer. Das wusste Lily.
Sie verweilte noch ein paar Minuten, während die Kinder ins Wochenende entlassen wurden. Sie liefen zu ihren Müttern, wurden in die Arme geschlossen, wiesen stolz Papiere oder Kunstwerke vor, und ihr fröhliches Geschnatter erntete liebevolles Lächeln. Während sie ihnen zusah, kam Lily sich vor wie eine Touristin, die eine andere Kultur beobachtet. Diese Menschen waren nicht wie sie. Sie wussten, wie es war, mit einem anderen Menschen verbunden zu sein. Im Gegensatz dazu fühlte Lily sich eigenartig distanziert und unbeschwert, so leicht, dass sie sich wegtreiben lassen konnte.
Während sie auf die Holloways wartete, überprüfte Lily den Konferenztisch, niedrig, rund und glänzend, von winzigen Stühlen umgeben.
Die Pulte standen in geraden Reihen, die Stühle umgekehrt darauf, damit die nächtliche Putzkolonne aufwischen konnte. Der Geruch nach Kreidestaub und Flüssigreiniger und das trockene Aroma oft benutzter Bücher vermischte sich mit dem unbeschreiblichen Geruch kleiner Kinder - wie nach verbranntem Zucker.
Zwei Dinge legte sie auf den Tisch: einen braunen Aktenordner, dick angefüllt mit Stichproben von Charlies Arbeit, und die notwendige Schachtel mit Papiertüchern, die Lily kistenweise bei Costco kaufte. Ein Raum voller Acht- bis Neunjähriger hatte sie für gewöhnlich schnell verbraucht.
Sie ging an der Fensterreihe entlang und richtete die Rollos aus, damit alle gleichmäßig auf halber Höhe hingen. Die Scheiben waren mit Enten in Gummischuhen verziert, die die Kinder aus Papier ausgeschnitten hatten. Auf jeder Ente war eine der täglichen Schreibübungen zu lesen: »April kühl und nass, füllt dem Bauern Scheune und Fass.« Draußen fuhr ein gezackter Blitz über den Himmel und unterstrich das alte Sprichwort.
Sie verzog das Gesicht, drehte sich zum Kalender auf dem Schwarzen Brett um und zählte still die Freitage ab. Noch neun Wochen bis zum Ende des Schuljahrs. Neun Wochen, dann Sonne und blauer Himmel und die Reise, die sie schon seit Monaten plante. Eine Fahrt nach Europa war für eine Lehrerin in einer Kleinstadt in Oregon ein hochfliegendes, unvernünftiges Ziel, doch vielleicht war es gerade deshalb so reizvoll. Jahr für Jahr sparte Lily Geld und brach in ein neues Land auf, und diese Reise würde ihre ehrgeizigste sein.
Sie riss sich von den Sommergedanken los und konzentrierte sich lieber auf die Vorbereitung eines schwierigen Gesprächs. Sie überprüfte das Klassenzimmer, wie immer vor Elterngesprächen. Lily war sehr daran gelegen, den Leuten den Eindruck zu vermitteln, dass ihre Kinder den Tag in einer sauberen, ordentlichen und reizvollen Umgebung verbrachten.
In der Mitte der Stirnwand des Raums hing eine dunkle Schiefertafel. Man hatte Lily eine Weißwandtafel angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Sie schrieb lieber mit festen, beherrschten Zügen auf der glatten, zeitlosen dunklen Oberfläche. Ihr gefiel, wie kühl sich die Tafel unter ihrer Hand anfühlte, wenn sie sie berührte, wie ihre Fingerspitzen einen feuchten Abdruck hinterließen, der sich kurz darauf in nichts auflöste. Das Geräusch von Kreide auf einer altmodischen Tafel erinnerte sie immer an den Ort, an dem sie sich als Kind immer sicher gefühlt hatte - ein Klassenzimmer.
Das war ihre Welt, der Platz, an den sie einfach gehörte. Ein anderes Leben konnte sie sich nicht vorstellen.
Nach einem Blick auf die Uhr ging sie zur Tür und machte sie auf. Auf ihrem Namensschild stand »Ms Robinson - Raum 105«. Es war umringt von den Namen aller Kinder, sauber auf einen gelben Pappstern gedruckt mit einem Foto.
Lily mochte Kinder - die Kinder anderer Leute. Ein Jahr ihres Lebens hatte sie sich um sie zu kümmern und sie zu erziehen, und sie war mit ganzem Herzen dabei. Dank ihres Berufs konnte sie sagen, sie habe Kinder, und zwar gleich vierundzwanzig an der Zahl. Und im Herbst würde sie vierundzwanzig andere bekommen. Sie gaben ihr alles, was sie sich von einer eigenen Familie wünschen konnte - Freude und Lachen, Gefühlsausbrüche und Tränen, Triumph und Stolz. Manchmal brachen sie ihr das Herz, aber meistens gaben sie ihr einen Grund zu leben.
Sie liebte ihre Schulkinder von September bis Juni, und wenn das Schuljahr zu Ende ging, schickte Lily sie zur Tür hinaus und gab sie ihren Familien zurück, schwerer und größer geworden, in Multiplikations- und Divisionstabellen gründlich geschult, im Lesen dem Klassenstand entsprechend oder besser. Im Herbst wandte sie ihre Aufmerksamkeit den nächsten Schulkindern zu. So ging es Jahr für Jahr. Für sie war es die höchste Befriedigung auf Erden, und das Beste war, es bot ihr Sicherheit.
Eigene Kinder zu haben war eher nicht so sicher. Sie waren ewig ein Teil ihrer Eltern und setzten sie höchstem Freudentaumel und tiefsten, bitteren Sorgen aus. Manche Menschen waren für ein solches Leben gemacht, andere nicht. Viele waren nicht dafür geeignet, verliebten sich aber und bekamen trotzdem Kinder. Dann hörte die Liebe für gewöhnlich auf, und jeder, der in Hörweite war, wurde verletzt. Charlie Holloways Eltern waren so ein Fall, überlegte Lily.
»Meine Lieblingssachen« war heute die Aufgabe im Kreativen Schreiben gewesen. Die Kinder hatten drei Minuten Zeit gehabt, möglichst viel aufzuschreiben, was sie am liebsten mochten. Lily machte alle Übungen mit, denn sie nahm ihre Schulkinder stets ernst. Auf diese Weise hielt sie ihr Interesse und ihre Aufmerksamkeit wach. Ihre Liste, hastig, aber ordentlich auf einen großen Flipchart geschrieben, enthielt:
Japanische Satsumas
Schneetage
Physik-Experimente
Singende Kinder
Kurze Serien im Fernsehen
Kriminalromane
Erster Schultag
Ausflugsrestaurants
Besichtigungen
Geschichten, die gut ausgehen
Sie riss das Papier ab und zerknüllte es zu einer Kugel. Es zeigte zu viel von ihr. Dabei würde ihre Liste Crystal Holloway nicht überraschen. Sie kannten sich, seitdem Lily so alt war wie Charlie, vielleicht sogar noch länger. Crystal war damals eine Kaugummi knallende Babysitterin gewesen, zehn oder zwölf Jahre alt.
Ein langer Weg, den wir bisher gemeinsam zurückgelegt haben, dachte Lily. Diese Situation jedoch war neu für sie beide. Eltern mitzuteilen, dass ihr Kind die dritte Klasse nicht schaffen würde, war hart genug. Dass Lily und Crystal beste Freundinnen waren, machte es nur noch schlimmer. Weil sie das Beste für Charlie tun wollte, würde Lily ihrer liebsten Freundin ein paar schwierige Dinge sagen müssen.
Hinzu kam, dass die geschiedenen Holloways sich nicht ausstehen konnten.
Eigentlich war der Gedanke, Crystals Kinder zu unterrichten, höchst erfreulich. Lily war ihre Lieblingstante, und als sie geboren wurden - zuerst Cameron, dann Charlie und zuletzt Ashley -, hatte Lily neben Crystal vor Freude geweint.
Cameron war gescheit, wollte es allen recht machen und begriff theoretische Zusammenhänge ebenso gut wie praktische Tipps für seinen Golfschwung, die ihm sein prominenter, Golf spielender Vater gab. Cameron war inzwischen fünfzehn und der beste Spieler im Golfteam der Highschool.
Mit Charlie war es anders. Seit dem ersten Schultag hatte sie Schwierigkeiten mit Grundbegriffen und verweigerte sich. Das ganze Jahr über hatte Lily sich mit Derek und Crystal getrennt getroffen. Sie hatten eine Nachhilfe organisiert und behaupteten, in der schulfreien Zeit mit Charlie Lesen zu üben. Doch trotz aller Bemühungen hatte Charlie sich nicht verbessert. Anscheinend steckte sie in einer rätselhaften Blockade, die nicht an Lernschwächen oder nachweisbaren Störungen festzumachen war. Sie war einfach ... festgefahren.
Wieder schaute Lily auf die Uhr und strich ihren lila Baumwollpullover über den Hüften glatt. Die Holloways mussten jede Minute kommen.
»Wie wäre es mit einer Flasche Wasser für deine Besprechung? «, fragte Edna und streckte den Kopf zur Tür herein.
»Danke. Ich glaube, sie verspäten sich vielleicht bei dem Wetter.«
Edna schaute auf die Fenster, schüttelte sich übertrieben und zog sich ihren selbst gestrickten Cowichan-Schal fester um die Schultern. Sie stellte ein Sechserpack Wasser auf den Tisch.
»Um ehrlich zu sein, ich freue mich nicht auf das, was da kommt«, sagte Lily.
Edna betrachtete Charlies Schulfoto in der Mitte ihres gelben Sterns. Sie sah aus wie Pippi Langstrumpf mit ihren rotblonden Zöpfen, den Sommersprossen und einer Zahnlücke vorn. »Sie verkraftet die Scheidung nicht gut, oder?«
»Es war ziemlich chaotisch. Derek und Crystal sind erst seit einem Jahr geschieden, und die Trennung hat alle überrumpelt. Obwohl«, fügte sie hinzu und erinnerte sich an ihre eigene Familie, »eine unglückliche Ehe natürlich nie an den Kindern vorbeigeht.«
Als sie ihr geisterhaftes Spiegelbild in den Fenstern des Klassenzimmers sah, fiel Lily der Tag ein, an dem Crystal ihr vor knapp drei Jahren die Neuigkeit von der Trennung erzählt hatte. Ihr Bauch hatte sich unter der dritten Schwangerschaft gewölbt, und ihre Wangen hatten geglüht. Bis zu dem Zeitpunkt hatte Lily geglaubt, Crystal führe ein zauberhaftes Leben. Sie war eine ehemalige Miss Oregon USA, aus der eine hingebungsvolle Ehefrau und Mutter mit prächtigen Kindern und einem ausgesprochen erfolgreichen Mann geworden war. Ihr Leben sah aus wie ein Traum, weshalb Lily schockiert war, als Crystal ihr verkündete, ihre Ehe sei am Ende.
»Sie haben die Trennung unter den gegebenen Umständen erwartungsgemäß gut über die Bühne gebracht«, fügte sie hinzu und bemühte sich, beiden Eltern gegenüber gerecht zu sein. Crystal hatte das Sorgerecht haben wollen, doch Derek war wegen dieser Sache vor Gericht gegangen und hatte sie gezwungen, dem gemeinsamen Sorgerecht zuzustimmen. Seitdem der Sorgerechtsplan im Vorjahr endgültig festgelegt worden war, sollten die Kinder immer abwechselnd eine Woche bei einem Elternteil verbringen. Der Sommer würde zwischen ihnen aufgeteilt, fünf Wochen bei Crystal, anschließend fünf bei Derek.
Edna zögerte und warf Lily einen prüfenden Blick zu. »Das wird schwer für dich, nicht wahr?«
»Du kennst meine Meinung über Derek als Ehemann. Als Ex macht er sich viel besser, aber ich habe ihn immer für einen guten Vater gehalten. Ich verspreche dir, ich werde das Hauptaugenmerk auf Charlie richten.«
»Wenn du willst, bleibe ich gern zu der Besprechung hier«, schlug Edna vor.
Das war allerdings eine Versuchung. Ruhig, konzentriert und reif wie sie war, brachte Edna immer Ausgeglichenheit und Weisheit mit an den Tisch. Seit Lilys College-Abschluss arbeiteten sie zusammen und hatten eine starke Vertrauensbasis aufgebaut. Dennoch konnte Ednas unbestrittene Autorität auch von Nachteil sein, wenn sie die Rolle der Klassenlehrerin überschattete.
»Danke. Bei dieser Besprechung bin ich wohl besser dran, wenn ich mich allein mit den Eltern beschäftige.« Lily straffte die Schultern.
»Gut. Ich muss noch etwas nachsehen. Auf dem Parkplatz steht ein Wagen mit brennenden Scheinwerfern. Danach bin ich in meinem Büro. Sag Bescheid, wenn du mich brauchst.«
Blitze zuckten vom Himmel und ließen die Lampen flackern, dann folgte ein Donnerschlag, der im Gebäude widerhallte.
Wieder allein in ihrem Klassenzimmer massierte Lily sich die Kehle, doch der Druck dort wollte nicht weichen. Sie fühlte sich zwischen ihrer Loyalität zu einer Freundin und den Bedürfnissen einer Schülerin hin und her gerissen. Ihr Leben lang hatte sie nur eine wahre Freundin gehabt - Crystal. Sie standen sich näher als Schwestern. Crystal war der Grund, warum Lily überhaupt nach Comfort gezogen war. Vor allen anderen hütete sie ihr Herz.
2
Freitag, 15.15 Uhr
Derek Holloway traf zuerst ein, ein Wirbelwind in dunklem Regenmantel und Südwester. »Entschuldige die Verspätung «, sagte er und setzte den tropfnassen Hut ab.
»Gib ihn mir, und den Mantel auch.« Lily hielt die triefenden Kleidungsstücke von sich ab, trug sie in die Garderobe und hängte sie über das Stiefelregal. Die Jacke war laut Etikett aus Goretex, Größe L. Das Markenzeichen - Legends Golf Clubs - war vorn auf die Brust genäht. Vermutlich einer seiner Sponsoren, dachte sie.
Seine Körperwärme und der faszinierende holzige Geruch nach Rasierwasser hingen im Mantelfutter, und sie schalt sich, dass sie es überhaupt bemerkte. Alles nur Biologie, beteuerte sie sich. Derek Holloway war ein Halunke, ein Idiot, der seine schwangere Frau betrogen hatte. Dass er ein stattlicher Mann mit einem umwerfenden Lächeln war, der gut roch, war keine Entschuldigung dafür, obwohl manche Frauen glaubten, es sei ein Grund, ihm zu verzeihen.
»Tut mir leid für den Boden.« Er zog ein paar braune Papiertücher aus dem Spender über dem Waschbecken und legte sie auf die nasse Spur.
»Kein Problem.« Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es nicht gezwungen aussah. Man könnte ja auch in freundlichem Ton beginnen. Sie mochte nicht daran denken, dass Crystal vor nicht allzu langer Zeit beinahe weinend zusammengebrochen wäre aufgrund der Bedingungen, die Derek ihr im Scheidungsprozess aufgezwungen hatte. Feindseligkeit, sagte sich Lily, wäre nicht gerade in Charlies Interesse.
»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«, fragte sie. »Ich habe Wasser, und im Lehrerzimmer gibt es Kaffee und alkoholfreie Getränke.«
»Nein, danke.«
Die kleinen Möbel im Raum ließen ihn noch größer erscheinen, als er war, und das war schon ziemlich groß. Er war makellos gekleidet in Wollhose mit Bügelfalte und Pullover mit V-Ausschnitt aus feinstem Cashmere. Er sah kaum anders aus als vor sechzehn Jahren, als er Crystal geheiratet hatte. Er wirkte reifer und war im Laufe der Jahre kultivierter geworden, sein persönlicher Stil war ausgefeilter. Und natürlich war seine Anspruchshaltung mit seinem Erfolg als Golfprofi gestiegen. Als einer der Spitzenspieler in der PGA zweifelte er anscheinend nicht daran, dass er alles verdiente, was ihm über den Weg lief, einschließlich der Frauen, die sich ihm an den Hals warfen, wenn er unterwegs war.
»Hier sind ein paar Kunstwerke von Charlie.« Sie deutete auf einen Plastikkorb, auf den in sauberen Buchstaben »Charlene« gedruckt war. »Du kannst sie dir anschauen, solange wir auf Crystal warten.« Sie hatte ihn seit der letzten Begegnung, in der es um Charlie ging, nicht gesehen. Bei dieser Besprechung hatte er sich einverstanden erklärt, eine Nachhilfelehrerin einzustellen - was auch geschehen war - und die Schwierigkeiten seiner Tochter an die erste Stelle seiner Prioritätenliste zu setzen - was nicht eingetreten war.
Er schaute auf seine Armbanduhr, eine Rolex, wahrscheinlich ebenfalls ein Geschenk von einem Sponsor. »Immer kommt sie zu spät.«
Ja, glaubte er denn, Lily würde ihm zustimmen? »Das Wetter ist entsetzlich«, bemerkte sie. »Ich bin sicher, sie kommt bald.« Obwohl sie sorgsam darauf achtete, es sich nicht anmerken zu lassen, war auch Lily verärgert. Bei dieser Besprechung ging es um die Tochter der beiden. Lily hatte sie nicht leichten Herzens kommen lassen. Crystal konnte wenigstens pünktlich sein.
»Das ist hübsch«, sagte sie, als Derek die Pastellzeichnung eines Koalabärs betrachtete, dessen Junges sich an seinen Rücken klammerte. »Den hat sie nach unserem Ausflug in den Zoo von Portland gezeichnet. Charlie hat wirklich einen Blick fürs Detail. Ist ihre Neugier erst einmal geweckt, entgeht ihr nichts.«
Er nickte und schaute sich die nächste Zeichnung an. Es war eine Leiter, die an der Längsseite des Blattes entlanglief, und ein kleines Brett mit einer Gestalt auf der Kante, die kurz davor stand, in einen noch kleineren Wassereimer zu springen. »Und das?«
»Vokabelarbeit. Das Wort des Tages war wagen, glaube ich.« Die anderen Kinder hatten wagen auf ihre Zeichnungen geschrieben, Charlie jedoch nicht. Sie vermied es, überhaupt irgendetwas zu schreiben oder zu lesen. »Sie ist sehr schlau«, sagte Lily. »Sie hat Erfindergeist und verwendet raffinierte Denkmuster.«
Dann nahm er das Bild von einem Haus in die Hand, das von stacheligem grünem Gras und blühenden Blumen umgeben war, blauer Himmel und Sonnenschein im Hintergrund. Das Haus hatte vier Fenster in einer Reihe. Alle Fenster waren schwarz bekritzelt.
Als Lily von Charlie wissen wollte, warum sie die Fenster schwarz bekritzelt habe, hatte das kleine Mädchen mit den Schultern gezuckt. »Damit man nicht sieht, was drinnen ist.« Sie versuchte immer, so knapp wie möglich zu antworten.
Derek fragte nicht nach der Zeichnung, sondern ging zur nächsten über, einer bemerkenswert lebhaften Studie von einem kleinen, braunweißen Hund mit einem schwarzen Fleck um ein Auge. »Und die hier?«
»Auch Wortschatz. Das Wort Wunsch.«
»Sie hat mich um einen Hund angebettelt«, sagte er. »Vielleicht jetzt im Sommer.«
Sag ihr einfach nicht vielleicht, solange du nicht ja meinst, dachte Lily. Charlie hatte genug Unsicherheit in ihrem Leben.
Endlich traf Crystal mit einem Wust aus Hast und Entschuldigungen ein.
»Mein Gott, es tut mir so leid.« Sie sprach schnell, während Lily ihr Mantel, Hut und Regenschirm abnahm. »Die Straßen sind ein einziger Albtraum. Auf dem Highway bin ich fast umgekommen, weil ich versucht habe, rechtzeitig hier zu sein.«
Als Lily aus der Garderobe trat, schenkte Crystal ihr das handelsübliche Lächeln einer Schönheitskönigin. Trotz des Wetters wirkte ihr Make-up wie frisch aufgetragen. Lily kannte Crystal und vermutete, dass sie sich im Auto Zeit genommen hatte, Haare und Gesicht zu richten.
»Hallo, Derek.« In einer Wolke aus Gucci Rush segelte Crystal an ihrem Ex-Mann vorbei, setzte sich, einen wehenden Hermès-Schal um die Schultern, die wohlgeformten Beine an den Knöcheln übereinandergeschlagen, und nahm trotz des unbequemen niedrigen Stuhls eine sittsame Haltung ein. Crystal hatte immer schon die Macht ihrer Schönheit zu nutzen gewusst.
Derek und sie nebeneinander sahen aus, als wären sie einer Zahnpastawerbung entsprungen. Doch die Tatsache, dass sie wie die amerikanische Erfolgsgeschichte schlechthin wirkten, hatte ihre Ehe nicht gerettet.
Lily setzte die Brille auf. Obwohl es eine Fiorelli war, mit handgearbeitetem Gestell im Anwaltsstil, wusste sie, dass sie darin bescheuert aussah. Sie sollte aufhören, ihr Geld für modische Brillen auszugeben, denn sobald sie eine aufsetzte, hätte es jede Billigmarke sein können. Ihr ernstes Gesicht hatte etwas an sich, das Designer-Gestelle in Schnäppchen aus dem Supermarkt verwandelte. Sie hatte es mit Kontaktlinsen versucht, jedoch jedes Mal eine Allergie bekommen, sobald sie welche einsetzte.
Sie drückte eine Hand fest auf den Aktenordner vor sich, holte tief Luft und schaute von Crystal zu Derek, dem die zu kleinen Stühle ebenso unbequem waren wie ihr. Lily erwischte Crystal in einem unbedachten Moment, und ihr Gesichtsausdruck war verblüffend. Sie betrachtete Derek mit rohem, unverhohlenem Verlangen, ihr schönes Gesicht zeigte den verständnislosen Schmerz eines verwundeten Tiers.
Lily litt mit ihrer Freundin, gleichzeitig aber stieg leichte Empörung in ihr auf. Heute ging es um Charlie, nicht um Crystal und Derek und um das, was sie sich von der Liebe hatten antun lassen.
Mit beherrschten, exakten Bewegungen reichte Lily ihnen jeweils eine Kopie des ORAT-Ausdrucks. »Diese Darstellung zeigt die Ergebnisse des Oregon Reading Abilities Test«, erklärte sie. »Den Lesetest bekommt in Oregon jedes Kind der dritten Klasse im März.« Mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts fuhr sie an der grauen Linie auf der Tabelle entlang. »Das ist der Durchschnittswert für den gesamten Staat. Die rote Linie darüber ist der Durchschnitt der Laurelhurst- Schüler.« Laurelhurst war eine private Eliteschule, deshalb lagen die Testergebnisse immer weit über der Norm.
Lily räusperte sich. »Die blaue Linie zeigt, wie Charlie bei dem Test abgeschnitten hat.« Die Linie bewegte sich erbärmlich zwischen den niedrigsten Prozentzahlen, hier und da liebäugelte sie sogar mit dem Wert null. Lily beobachtete die Gesichter der Holloways, sah die erwartete Überraschung und Enttäuschung. Auch sie war enttäuscht gewesen - aber nicht überrascht. Als Charlies Lehrerin in der dritten Klasse hatte sie vom ersten Tag an das Ringen des Kindes erkannt. Sie hatte versucht, die Holloways in früheren Besprechungen vorzubereiten, doch die Realität war einfach nicht zu ihnen durchgedrungen. Vielleicht würde wenigstens das heute gelingen.
Crystal warf Lily einen verwirrten Blick zu. Sie wirkte zerbrechlich, als würde sie neuerdings alles verletzen. Derek sah einfach nur wütend aus, vielleicht abwehrend. Beides waren klassische Reaktionen liebender Eltern. Niemand wollte erleben, dass sein Kind Schwierigkeiten hatte, und sobald dies geschah, war der Misserfolg des Kindes nicht nur kränkend, er griff die Eltern in ihrer Persönlichkeit an.
»Wie ihr wisst«, sagte Lily, »bin ich kein Fan von genormten Prüfungen. Die hier wurde vom Bundesstaat vorgegeben. Dieser Test sagt also eigentlich nicht mehr über Charlie aus, als wir bereits wissen.«
»Sie kann immer noch nicht lesen.« Dereks Stimme war beinahe anklagend. Seine großen Hände, braun gebrannt nach einer gerade absolvierten Golfrunde in Schottland, legten sich schwer auf die Tischplatte. »Weißt du, ich bin es allmählich gestrichen leid, mir das anzuhören. Ich zahle der Nachhilfelehrerin, wie viel, hundert Dollar die Stunde? Und wir sehen immer noch keine Ergebnisse. Was für eine Lehrerin bist du?«
»Derek.« Crystal streckte eine Hand aus, als wollte sie seinen Ärmel berühren, besann sich dann aber anscheinend eines Besseren. Sie faltete die Hände fest zusammen, ihre makellose Maniküre glitzerte.
»Ich werfe euch nicht vor, dass ihr frustriert seid«, sagte Lily. »Ich glaube, das sind wir alle, Charlie eingeschlossen. Glaubt mir, ich weiß, wie hart alle in diesem Jahr gearbeitet haben.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. Es stimmte, zusätzlich zur Einstellung einer Nachhilfelehrerin hatten die Holloways Charlie endlosen Tests unterworfen, angefangen von einer Untersuchung beim Kinderarzt über psychologische Gutachten bis hin zu einer Reihe von Prüfungen bei einem Lesespezialisten in Portland. Die Ergebnisse waren nicht schlüssig. Es gab keine wissenschaftliche Bezeichnung für die Art von Blockade, die Charlie offenbar durchlebte. Lily hätte gern geglaubt, dass die Hausaufgaben, die Charlie mit jedem Elternteil machen sollte, sorgfältig betreut wurden. Aber sie wusste es besser. Crystal und Derek liebten ihre Tochter, doch angesichts ihrer Lebensumstände hatten sie ihre Schularbeit nicht vorrangig behandelt.
»Ich weiß, wir alle haben uns größere Fortschritte erhofft«, fügte sie hinzu. »Doch das ist nicht der Fall. In Anbetracht der Tatsache, dass das Schuljahr in neun Wochen zu Ende geht, müssen wir über Charlies Alternativen für den Sommer und für das kommende Jahr sprechen.«
Crystal nickte und unterdrückte aufsteigende Tränen mit einem Blinzeln. »Ich denke, wir sollten sie zurückstellen.«
»Oh, jetzt geht es also darum, sie durchrasseln zu lassen. Ist ja toll«, sagte Derek.
Lily biss sich auf die Lippe und wahrte eine reglose Miene. Derek hatte offensichtlich Probleme mit Versagen. Aber hier ging es um Charlie, nicht um ihn. Es ging nicht einmal um Crystal, der direkt vor Lilys Augen das Herz brach. Das Drängen auf Zurückstellung war häufig die panische, reflexartige Reaktion eines Elternteils. Da ihnen umfassende Kenntnis über die Alternativen fehlte, zogen manche Eltern die Wiederholung einer Klasse vor, ohne sich bewusst zu sein, wie eine solche Extremsituation das Kind belasten konnte. »In diesem Fall glaube ich nicht, dass eine Zurückstellung die Lösung ist.«
»Du willst sie also genauso fördern, wie man es seit der ersten Klasse mit ihr gemacht hat?« Crystals Tränen verdunsteten in der Hitze der Wut. »Das war eine große Hilfe, das kann ich dir sagen. Eine große Hilfe!«
Lily musste schlucken, als sie die Wut ihrer Freundin spürte. Eine Eltern-Lehrer-Besprechung war das reine Seelentheater. Alle Beteiligten waren entblößt, die Emotionen unverfälscht und ehrlich. Die Identität eines Elternteils war zum größten Teil in einem Kind verborgen: Liebe, Stolz, Selbstwertgefühl, Bestätigung. Eine ungerechte Bürde für einen kleinen Menschen, doch jedes Kind trug sie mit sich herum, die hochfliegenden, scheinbar unerreichbaren Erwartungen der Eltern.
»Ich habe verschiedene Alternativen für Charlie ausgearbeitet «, teilte Lily ihnen mit und reichte ihnen jeweils ein Päckchen. »Die könnt ihr euch zu Hause durchsehen. Vorerst wollen wir davon ausgehen, dass wir in diesem Sommer ein paar Fortschritte sehen und Charlie hier in Laurelhurst in die vierte Klasse geht.«
»Mit anderen Worten«, sagte Derek steif, »es kann auch sein, dass sie hier nicht mehr erwünscht ist.«
Hinter Lilys linkem Auge flackerte leichtes Kopfweh auf wie ein angerissenes Streichholz. Laurelhurst war eine national anerkannte, unabhängige Schule; die Warteliste war so lang, dass man Kinder schon Jahre vorher anmelden musste. Ein Mann wie Derek - erfolgreich, kultiviert, privilegiert - betrachtete jede andere Schule als minderwertig. »Hier geht es darum, was für Charlie das Beste ist, nicht darum, was ich mir wünsche. Wir sollten uns wirklich auf den Sommer konzentrieren. Ich hoffe, dass intensives Üben im Chall Reading Institute in Portland Charlie tatsächlich weiterbringen wird.« Das Programm bedeutete einen großen Zeit- und Geldaufwand für die gesamte Familie, doch die Erfolgsrate war beispiellos.
»Das dauert zehn Wochen!«, sagte Crystal und betrachtete die Broschüre. Sie sah Lily entsetzt an und schlug einen abgenutzten Terminkalender mit Ledereinband auf. »Wir haben im Juni eine zehntägige Disney-Kreuzfahrt gebucht. Im Juli macht sie Reiterferien. Und im August ...«
»Im August sind die Kinder bei mir«, sagte Derek. »Wir haben auf Molokai eine Ferienwohnung gebucht.«
Lily war darin geschult, sich während eines Elterngesprächs zurückzuhalten und ihre Worte sorgfältig auszuwählen. In diesem Fall war es besonders schwierig, die Bedürfnisse des Kindes geltend zu machen. Wie leicht wäre es doch, einfach zu sagen: »Klingt großartig! Ich wünsche euch einen schönen Sommer.« Im nächsten Jahr wäre Charlie dann das Problem einer anderen Lehrkraft.
Doch Charlie war Lilys Hauptsorge, ungeachtet dessen, was sie für Crystal empfand. Das Ergebnis der heutigen Besprechung konnte durchaus ihre lebenslange Freundschaft auf die Probe stellen. Doch die Zukunft eines Kindes stand auf dem Spiel, und Lily war entschlossen, Charlie unter allen Umständen zu retten.
»Ich hoffe, mich den ganzen Sommer über auf Charlies Bedürfnisse zu konzentrieren«, sagte sie.
»Hast du nicht zugehört? Es handelt sich um eine Disney- Kreuzfahrt«, sagte Crystal gereizt. »Da geht es nur um Kinder und Spaß. Das habe ich ihnen das ganze Jahr über versprochen. Und ein Reitcamp, das ist für Charlie genau richtig. Du glaubst ja nicht, welche Hebel ich in Bewegung setzen musste, um sie da reinzukriegen. Es ist in Sundance, mein Gott! Wahrscheinlich musste sie Demi Moores Kinder verdrängen, um in diesem Sommer dort einen Platz zu bekommen. «
»Wie viel soll denn dieses Reitlager kosten?«, fragte Derek.
»Wahrscheinlich weniger als dein verdammtes Haus auf Molokai«, fuhr Crystal ihn an.
»Ich stottere noch immer deine Weihnachtsreise nach Sun Valley ab.«
»Ich kenne deinen Rang in der PGA. Das kann ich auf ESPN herausfinden. Du kannst dir Sun Valley leisten.«
»Aber ich kann mir die Art nicht leisten, wie du mein Geld ausgibst. Du hast dem Begriff ›Unterhalt‹ eine völlig neue Bedeutung gegeben.«
Lily saß teilnahmslos dabei und biss sich auf die Lippe, bis es wehtat. Wenn ein Paar über Geld stritt, ging es nie um Geld. Es ging um Macht und Selbstwertgefühl und Verurteilung; das hatte Lily von ihren eigenen Eltern gelernt, während sie nachts wach im Dunkeln lag wie eine Schiffbrüchige, die auf hoher See trieb und dem tosenden Sturm ausgesetzt war.
In den acht Jahren ihrer Lehrertätigkeit hatte sie zahlreiche Elterngespräche geführt. Sie hatte viele Kabbeleien überstanden, und sie hielt es für das Beste, wenn man sie zu Ende spielen ließ, bis sie ihre Heftigkeit verloren hatten. So, wie man einem Dampftopf erlaubt, ein wenig Dampf abzulassen, um drinnen Raum für etwas anderes zu schaffen - in diesem Fall für Lilys Informationen über Charlie.
Ihre Kopfschmerzen verstärkten sich. Sie waren wie eine Pfeilspitze, die sich in eine weiche Stelle hinter ihrem Auge bohrte. Weder Crystal noch Derek schienen es zu bemerken. Lily hatte zu oft mit einem Paar zusammengesessen, das sich bei dem uralten Tauziehen um die zerbrechlichste Beute überhaupt ankeifte - ein Kind.
Manchmal musste Lily ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um den gerechten Zorn im Zaum zu halten und nicht zu platzen. Hört euch doch mal selbst zu! Glaubt ihr, das hilft eurem Kind? Dabei hatte sie ihnen noch nicht alles über Charlie gesagt. Ein kleiner Teufel gab ihr den verlockenden Gedanken ein, sich zurückzuhalten und Charlies Geheimnis für sich zu behalten, doch das konnte Lily nicht. Das kleine Mädchen hatte einen Hilfeschrei ausgestoßen.
»Können wir wieder auf Charlie zurückkommen?«, fragte sie. »Bitte.« Sie nutzte eine Pause im Streit und sagte: »Wir müssen noch über etwas anderes sprechen.«
Crystal und Derek funkelten sich wütend an und legten den Streit scheinbar zu den Akten. Derek biss die Zähne zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, als er herumfuhr, um Lily anzusehen. Crystal schürzte die Lippen und schlug ihren Terminkalender zu. Auch sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Lily. Wie ihre Differenzen auch aussehen mochten, die Liebe für ihre Kinder war ihnen noch gemeinsam, und sie versuchten, Charlie zuliebe ihren eigenen Kleinkram beiseitezulegen.
Lily bemühte sich nach Kräften, die rasenden Kopfschmerzen zu ignorieren, und betrachtete die beiden. »Wir haben viel über Charlies geistige Herausforderungen gesprochen «, sagte sie. »Neuerdings habe ich bei ihr auch Veränderungen im Verhalten festgestellt.«
»Was meinst du mit Veränderungen im Verhalten?« Derek blieb abwehrend, was Lily nicht überraschte.
Sie wollte nichts beschönigen. »In den letzten beiden Wochen hat sie gestohlen.«
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Lily verabschiedete sich vom Rest ihrer Schulkinder für den Tag und sah ihnen hinterher, wie sie sich, einer Schar aufgescheuchter Hühner gleich, auf Busse und Fahrgemeinschaften verteilten. Charlie Holloway und ihre beste Freundin Lindsey Davenport standen als Letzte in der Reihe, hielten sich an den Händen und schnatterten, während sie darauf warteten, dass Mrs Davenport vorfuhr.
Als Charlie Lilys Blick begegnete, ließ sie den Kopf hängen und schaute zur Seite. Lily hatte Mitleid mit der Kleinen, die sich schmerzhaft bewusst war, dass ihre Eltern nach der Schule zu einer Besprechung kommen würden. Charlie wirkte klein und zerbrechlich und versuchte, sich in ihren gelben Regenmantel zu verkriechen. Lily hätte sie gern beruhigt und ihr gesagt, sie müsse sich keine Sorgen machen.
Aber Charlie gab ihr keine Chance. »Da ist deine Mom«, sagte sie und zog Lindsey an der Hand. »Tschüs, schönes Wochenende!«, rief sie Lily zu, und die Mädchen schossen auf den blauen Volvo-Kombi zu.
Lily lächelte und winkte. Sie bemühte sich, nicht bekümmert zu wirken, doch als sie die beiden so sah, beste Freundinnen, die zusammen wegsprangen, wurde sie an ihre beste Freundin aus der Kindheit erinnert - Charlies Mutter Crystal. Das Elterngespräch würde nicht leicht werden.
»Hey, was ist los?«, fragte Greg Duncan, der Sportlehrer. Nach Schulschluss trainierte er das Golfteam der Highschool, obwohl er dafür bekannt war, im Hauptberuf Schürzenjäger zu sein.
»Du solltest nicht merken, dass irgendetwas los ist«, sagte Lily.
Grinsend sprang er an ihre Seite, ein großer, freundlicher Bernhardiner-Typ, samtbraune Augen, riesige Pranken, eine silberne Trillerpfeife an einer Schnur um den Hals. »Ich weiß genau, was nicht stimmt«, sagte er. »Du bist heute Abend nicht verabredet.«
Da wären wir wieder, dachte Lily. Sie mochte Greg sehr, wirklich, aber er ging ihr mit seiner Aufmerksamkeitsheischerei auf die Nerven. Er war zu sehr Kerl, so wie ein Bernhardiner zu sehr Rüde ist. Zweimal geschieden, hatte er sich mit den meisten Frauen, die sie kannte, verabredet und neuerdings ein Auge auf sie geworfen. »Falsch«, sagte sie und grinste zurück. »Ich habe Pläne.«
»Lügnerin. Du versuchst nur, meine Gefühle zu schonen.«
Schuldig im Sinne der Anklage, dachte Lily.
»Baggert er dich wieder an?« Edna Klein, die Direktorin, trat zu ihnen unter das Vordach. Edna war in den Sechzigern, hatte hüftlanges silbergraues Haar, stechende blaue Augen und glich einer Woodstock-Oma. Sie trug Birkenstock- Sandalen mit Socken, Silberschmuck mit Türkisen und wohnte in einer Gemeinde namens Cloud Mountain. Doch niemand unterstand sich, sie nicht ernst zu nehmen. Neben ihrer äußeren Erscheinung als Urweib hatte sie einen Doktortitel aus Berkeley vorzuweisen, drei Ehen, vier erwachsene Kinder und zehn Jahre Nüchternheit bei den Anonymen Alkoholikern. Wenn es um die Leitung einer Schule ging, war sie ein vollendeter Profi, war den Lehrern eine Hilfe, ermutigte die Schüler und flößte den Eltern Vertrauen ein.
»Belästigung am Arbeitsplatz«, stellte Lily fest. »Ich überlege mir noch, ob ich eine Beschwerde einreiche.«
»Ich bin derjenige, der sich beschweren muss«, sagte Greg. »Seit dem Valentinstag grabe ich diese Frau nun an, und das Einzige, was ich von ihr kriege, ist ein Kinobesuch im Monat.«
»Wenigstens lasse ich dich den Film aussuchen. Hellraiser III war für mich ein echter Höhepunkt.«
»Du bist ein herzloses Weib, Lily Robinson«, sagte er und machte sich auf den Weg zur Turnhalle. »Schönes Wochenende, die Damen!«
»Er bellt den falschen Baum an«, sagte Lily zu Edna.
»Stehst du allen Männern so ablehnend gegenüber oder nur Trainer Duncan?«
Lily lachte. »Was ist denn schon dabei, dass ich dreißig werde? Plötzlich scheinen sich alle für mein Liebesleben zu interessieren.«
»Klar, Liebes. Weil wir alle wollen, dass du eins hast.«
Ständig wurde Lily gefragt, ob sie jemanden habe, mit dem sie öfter ausgehe, oder ob sie Kinder haben wolle. Anscheinend wollten alle wissen, wann sie sich niederließ. Sie begriffen nichts. Sie hatte sich eingerichtet. Ihr Leben war genau so, wie sie es sich gewünscht hatte. Beziehungen waren Lily unheimlich. Sich auf eine emotionale Beziehung einzulassen, war, als würde man zu einem betrunkenen Fahrer ins Auto steigen. Man hatte eine wilde Fahrt vor sich, die unweigerlich damit endete, dass jemand verletzt wurde.
»Ich mische mich ein, nicht wahr?«, gab Edna zu.
»Kann man so sagen.«
»Ich kann nicht anders. Ich hätte gern, wenn du mit jemandem zusammen wärst, Lily.«
Lily nahm ihre Brille ab und polierte mit einem Zipfel ihres Pullovers die Gläser. Die Welt verwandelte sich in ein schmieriges, verregnetes Graugrün, die übliche Farbskala eines Frühlings in Oregon. »Warum will denn niemand glauben, dass ich zufrieden bin, so wie die Dinge liegen?«
»Zufriedenheit und Glück sind zweierlei.«
Lily setzte die Brille wieder auf, und die Welt wurde wieder klarer. »Wenn ich zufrieden bin, bin ich glücklich.«
»Eines Tages, meine Liebe, wirst du feststellen, dass du mehr willst«, sagte Edna.
»Heute nicht«, entgegnete Lily und dachte an die bevorstehende Besprechung.
Ein paar Schulkinder sammelten sich um sie und verabschiedeten sich. Edna nahm sich die Zeit, jedes Kind persönlich anzusprechen, und alle drehten sich mit strahlendem Lächeln auf dem Gesicht um.
Eine leichte, nagende Unzufriedenheit überfiel Lily. Zufriedenheit und Glück sind zweierlei. Schwer genug, sich selbst glücklich zu machen, ganz zu schweigen von einem anderen, dachte sie. Doch wenn sie sich so umsah, musste sie zugeben, dass sie Tag für Tag erlebte, wie andere es machten. Eine Mutter brachte ihr kleines Kind zum Lachen, ein Mann schenkte seiner Frau Blumen, ein Kind öffnete eine Dose für Schulbrote und fand eine liebevolle Notiz von zu Hause.
Doch das Glück war nie von Dauer. Das wusste Lily.
Sie verweilte noch ein paar Minuten, während die Kinder ins Wochenende entlassen wurden. Sie liefen zu ihren Müttern, wurden in die Arme geschlossen, wiesen stolz Papiere oder Kunstwerke vor, und ihr fröhliches Geschnatter erntete liebevolles Lächeln. Während sie ihnen zusah, kam Lily sich vor wie eine Touristin, die eine andere Kultur beobachtet. Diese Menschen waren nicht wie sie. Sie wussten, wie es war, mit einem anderen Menschen verbunden zu sein. Im Gegensatz dazu fühlte Lily sich eigenartig distanziert und unbeschwert, so leicht, dass sie sich wegtreiben lassen konnte.
Während sie auf die Holloways wartete, überprüfte Lily den Konferenztisch, niedrig, rund und glänzend, von winzigen Stühlen umgeben.
Die Pulte standen in geraden Reihen, die Stühle umgekehrt darauf, damit die nächtliche Putzkolonne aufwischen konnte. Der Geruch nach Kreidestaub und Flüssigreiniger und das trockene Aroma oft benutzter Bücher vermischte sich mit dem unbeschreiblichen Geruch kleiner Kinder - wie nach verbranntem Zucker.
Zwei Dinge legte sie auf den Tisch: einen braunen Aktenordner, dick angefüllt mit Stichproben von Charlies Arbeit, und die notwendige Schachtel mit Papiertüchern, die Lily kistenweise bei Costco kaufte. Ein Raum voller Acht- bis Neunjähriger hatte sie für gewöhnlich schnell verbraucht.
Sie ging an der Fensterreihe entlang und richtete die Rollos aus, damit alle gleichmäßig auf halber Höhe hingen. Die Scheiben waren mit Enten in Gummischuhen verziert, die die Kinder aus Papier ausgeschnitten hatten. Auf jeder Ente war eine der täglichen Schreibübungen zu lesen: »April kühl und nass, füllt dem Bauern Scheune und Fass.« Draußen fuhr ein gezackter Blitz über den Himmel und unterstrich das alte Sprichwort.
Sie verzog das Gesicht, drehte sich zum Kalender auf dem Schwarzen Brett um und zählte still die Freitage ab. Noch neun Wochen bis zum Ende des Schuljahrs. Neun Wochen, dann Sonne und blauer Himmel und die Reise, die sie schon seit Monaten plante. Eine Fahrt nach Europa war für eine Lehrerin in einer Kleinstadt in Oregon ein hochfliegendes, unvernünftiges Ziel, doch vielleicht war es gerade deshalb so reizvoll. Jahr für Jahr sparte Lily Geld und brach in ein neues Land auf, und diese Reise würde ihre ehrgeizigste sein.
Sie riss sich von den Sommergedanken los und konzentrierte sich lieber auf die Vorbereitung eines schwierigen Gesprächs. Sie überprüfte das Klassenzimmer, wie immer vor Elterngesprächen. Lily war sehr daran gelegen, den Leuten den Eindruck zu vermitteln, dass ihre Kinder den Tag in einer sauberen, ordentlichen und reizvollen Umgebung verbrachten.
In der Mitte der Stirnwand des Raums hing eine dunkle Schiefertafel. Man hatte Lily eine Weißwandtafel angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Sie schrieb lieber mit festen, beherrschten Zügen auf der glatten, zeitlosen dunklen Oberfläche. Ihr gefiel, wie kühl sich die Tafel unter ihrer Hand anfühlte, wenn sie sie berührte, wie ihre Fingerspitzen einen feuchten Abdruck hinterließen, der sich kurz darauf in nichts auflöste. Das Geräusch von Kreide auf einer altmodischen Tafel erinnerte sie immer an den Ort, an dem sie sich als Kind immer sicher gefühlt hatte - ein Klassenzimmer.
Das war ihre Welt, der Platz, an den sie einfach gehörte. Ein anderes Leben konnte sie sich nicht vorstellen.
Nach einem Blick auf die Uhr ging sie zur Tür und machte sie auf. Auf ihrem Namensschild stand »Ms Robinson - Raum 105«. Es war umringt von den Namen aller Kinder, sauber auf einen gelben Pappstern gedruckt mit einem Foto.
Lily mochte Kinder - die Kinder anderer Leute. Ein Jahr ihres Lebens hatte sie sich um sie zu kümmern und sie zu erziehen, und sie war mit ganzem Herzen dabei. Dank ihres Berufs konnte sie sagen, sie habe Kinder, und zwar gleich vierundzwanzig an der Zahl. Und im Herbst würde sie vierundzwanzig andere bekommen. Sie gaben ihr alles, was sie sich von einer eigenen Familie wünschen konnte - Freude und Lachen, Gefühlsausbrüche und Tränen, Triumph und Stolz. Manchmal brachen sie ihr das Herz, aber meistens gaben sie ihr einen Grund zu leben.
Sie liebte ihre Schulkinder von September bis Juni, und wenn das Schuljahr zu Ende ging, schickte Lily sie zur Tür hinaus und gab sie ihren Familien zurück, schwerer und größer geworden, in Multiplikations- und Divisionstabellen gründlich geschult, im Lesen dem Klassenstand entsprechend oder besser. Im Herbst wandte sie ihre Aufmerksamkeit den nächsten Schulkindern zu. So ging es Jahr für Jahr. Für sie war es die höchste Befriedigung auf Erden, und das Beste war, es bot ihr Sicherheit.
Eigene Kinder zu haben war eher nicht so sicher. Sie waren ewig ein Teil ihrer Eltern und setzten sie höchstem Freudentaumel und tiefsten, bitteren Sorgen aus. Manche Menschen waren für ein solches Leben gemacht, andere nicht. Viele waren nicht dafür geeignet, verliebten sich aber und bekamen trotzdem Kinder. Dann hörte die Liebe für gewöhnlich auf, und jeder, der in Hörweite war, wurde verletzt. Charlie Holloways Eltern waren so ein Fall, überlegte Lily.
»Meine Lieblingssachen« war heute die Aufgabe im Kreativen Schreiben gewesen. Die Kinder hatten drei Minuten Zeit gehabt, möglichst viel aufzuschreiben, was sie am liebsten mochten. Lily machte alle Übungen mit, denn sie nahm ihre Schulkinder stets ernst. Auf diese Weise hielt sie ihr Interesse und ihre Aufmerksamkeit wach. Ihre Liste, hastig, aber ordentlich auf einen großen Flipchart geschrieben, enthielt:
Japanische Satsumas
Schneetage
Physik-Experimente
Singende Kinder
Kurze Serien im Fernsehen
Kriminalromane
Erster Schultag
Ausflugsrestaurants
Besichtigungen
Geschichten, die gut ausgehen
Sie riss das Papier ab und zerknüllte es zu einer Kugel. Es zeigte zu viel von ihr. Dabei würde ihre Liste Crystal Holloway nicht überraschen. Sie kannten sich, seitdem Lily so alt war wie Charlie, vielleicht sogar noch länger. Crystal war damals eine Kaugummi knallende Babysitterin gewesen, zehn oder zwölf Jahre alt.
Ein langer Weg, den wir bisher gemeinsam zurückgelegt haben, dachte Lily. Diese Situation jedoch war neu für sie beide. Eltern mitzuteilen, dass ihr Kind die dritte Klasse nicht schaffen würde, war hart genug. Dass Lily und Crystal beste Freundinnen waren, machte es nur noch schlimmer. Weil sie das Beste für Charlie tun wollte, würde Lily ihrer liebsten Freundin ein paar schwierige Dinge sagen müssen.
Hinzu kam, dass die geschiedenen Holloways sich nicht ausstehen konnten.
Eigentlich war der Gedanke, Crystals Kinder zu unterrichten, höchst erfreulich. Lily war ihre Lieblingstante, und als sie geboren wurden - zuerst Cameron, dann Charlie und zuletzt Ashley -, hatte Lily neben Crystal vor Freude geweint.
Cameron war gescheit, wollte es allen recht machen und begriff theoretische Zusammenhänge ebenso gut wie praktische Tipps für seinen Golfschwung, die ihm sein prominenter, Golf spielender Vater gab. Cameron war inzwischen fünfzehn und der beste Spieler im Golfteam der Highschool.
Mit Charlie war es anders. Seit dem ersten Schultag hatte sie Schwierigkeiten mit Grundbegriffen und verweigerte sich. Das ganze Jahr über hatte Lily sich mit Derek und Crystal getrennt getroffen. Sie hatten eine Nachhilfe organisiert und behaupteten, in der schulfreien Zeit mit Charlie Lesen zu üben. Doch trotz aller Bemühungen hatte Charlie sich nicht verbessert. Anscheinend steckte sie in einer rätselhaften Blockade, die nicht an Lernschwächen oder nachweisbaren Störungen festzumachen war. Sie war einfach ... festgefahren.
Wieder schaute Lily auf die Uhr und strich ihren lila Baumwollpullover über den Hüften glatt. Die Holloways mussten jede Minute kommen.
»Wie wäre es mit einer Flasche Wasser für deine Besprechung? «, fragte Edna und streckte den Kopf zur Tür herein.
»Danke. Ich glaube, sie verspäten sich vielleicht bei dem Wetter.«
Edna schaute auf die Fenster, schüttelte sich übertrieben und zog sich ihren selbst gestrickten Cowichan-Schal fester um die Schultern. Sie stellte ein Sechserpack Wasser auf den Tisch.
»Um ehrlich zu sein, ich freue mich nicht auf das, was da kommt«, sagte Lily.
Edna betrachtete Charlies Schulfoto in der Mitte ihres gelben Sterns. Sie sah aus wie Pippi Langstrumpf mit ihren rotblonden Zöpfen, den Sommersprossen und einer Zahnlücke vorn. »Sie verkraftet die Scheidung nicht gut, oder?«
»Es war ziemlich chaotisch. Derek und Crystal sind erst seit einem Jahr geschieden, und die Trennung hat alle überrumpelt. Obwohl«, fügte sie hinzu und erinnerte sich an ihre eigene Familie, »eine unglückliche Ehe natürlich nie an den Kindern vorbeigeht.«
Als sie ihr geisterhaftes Spiegelbild in den Fenstern des Klassenzimmers sah, fiel Lily der Tag ein, an dem Crystal ihr vor knapp drei Jahren die Neuigkeit von der Trennung erzählt hatte. Ihr Bauch hatte sich unter der dritten Schwangerschaft gewölbt, und ihre Wangen hatten geglüht. Bis zu dem Zeitpunkt hatte Lily geglaubt, Crystal führe ein zauberhaftes Leben. Sie war eine ehemalige Miss Oregon USA, aus der eine hingebungsvolle Ehefrau und Mutter mit prächtigen Kindern und einem ausgesprochen erfolgreichen Mann geworden war. Ihr Leben sah aus wie ein Traum, weshalb Lily schockiert war, als Crystal ihr verkündete, ihre Ehe sei am Ende.
»Sie haben die Trennung unter den gegebenen Umständen erwartungsgemäß gut über die Bühne gebracht«, fügte sie hinzu und bemühte sich, beiden Eltern gegenüber gerecht zu sein. Crystal hatte das Sorgerecht haben wollen, doch Derek war wegen dieser Sache vor Gericht gegangen und hatte sie gezwungen, dem gemeinsamen Sorgerecht zuzustimmen. Seitdem der Sorgerechtsplan im Vorjahr endgültig festgelegt worden war, sollten die Kinder immer abwechselnd eine Woche bei einem Elternteil verbringen. Der Sommer würde zwischen ihnen aufgeteilt, fünf Wochen bei Crystal, anschließend fünf bei Derek.
Edna zögerte und warf Lily einen prüfenden Blick zu. »Das wird schwer für dich, nicht wahr?«
»Du kennst meine Meinung über Derek als Ehemann. Als Ex macht er sich viel besser, aber ich habe ihn immer für einen guten Vater gehalten. Ich verspreche dir, ich werde das Hauptaugenmerk auf Charlie richten.«
»Wenn du willst, bleibe ich gern zu der Besprechung hier«, schlug Edna vor.
Das war allerdings eine Versuchung. Ruhig, konzentriert und reif wie sie war, brachte Edna immer Ausgeglichenheit und Weisheit mit an den Tisch. Seit Lilys College-Abschluss arbeiteten sie zusammen und hatten eine starke Vertrauensbasis aufgebaut. Dennoch konnte Ednas unbestrittene Autorität auch von Nachteil sein, wenn sie die Rolle der Klassenlehrerin überschattete.
»Danke. Bei dieser Besprechung bin ich wohl besser dran, wenn ich mich allein mit den Eltern beschäftige.« Lily straffte die Schultern.
»Gut. Ich muss noch etwas nachsehen. Auf dem Parkplatz steht ein Wagen mit brennenden Scheinwerfern. Danach bin ich in meinem Büro. Sag Bescheid, wenn du mich brauchst.«
Blitze zuckten vom Himmel und ließen die Lampen flackern, dann folgte ein Donnerschlag, der im Gebäude widerhallte.
Wieder allein in ihrem Klassenzimmer massierte Lily sich die Kehle, doch der Druck dort wollte nicht weichen. Sie fühlte sich zwischen ihrer Loyalität zu einer Freundin und den Bedürfnissen einer Schülerin hin und her gerissen. Ihr Leben lang hatte sie nur eine wahre Freundin gehabt - Crystal. Sie standen sich näher als Schwestern. Crystal war der Grund, warum Lily überhaupt nach Comfort gezogen war. Vor allen anderen hütete sie ihr Herz.
2
Freitag, 15.15 Uhr
Derek Holloway traf zuerst ein, ein Wirbelwind in dunklem Regenmantel und Südwester. »Entschuldige die Verspätung «, sagte er und setzte den tropfnassen Hut ab.
»Gib ihn mir, und den Mantel auch.« Lily hielt die triefenden Kleidungsstücke von sich ab, trug sie in die Garderobe und hängte sie über das Stiefelregal. Die Jacke war laut Etikett aus Goretex, Größe L. Das Markenzeichen - Legends Golf Clubs - war vorn auf die Brust genäht. Vermutlich einer seiner Sponsoren, dachte sie.
Seine Körperwärme und der faszinierende holzige Geruch nach Rasierwasser hingen im Mantelfutter, und sie schalt sich, dass sie es überhaupt bemerkte. Alles nur Biologie, beteuerte sie sich. Derek Holloway war ein Halunke, ein Idiot, der seine schwangere Frau betrogen hatte. Dass er ein stattlicher Mann mit einem umwerfenden Lächeln war, der gut roch, war keine Entschuldigung dafür, obwohl manche Frauen glaubten, es sei ein Grund, ihm zu verzeihen.
»Tut mir leid für den Boden.« Er zog ein paar braune Papiertücher aus dem Spender über dem Waschbecken und legte sie auf die nasse Spur.
»Kein Problem.« Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es nicht gezwungen aussah. Man könnte ja auch in freundlichem Ton beginnen. Sie mochte nicht daran denken, dass Crystal vor nicht allzu langer Zeit beinahe weinend zusammengebrochen wäre aufgrund der Bedingungen, die Derek ihr im Scheidungsprozess aufgezwungen hatte. Feindseligkeit, sagte sich Lily, wäre nicht gerade in Charlies Interesse.
»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«, fragte sie. »Ich habe Wasser, und im Lehrerzimmer gibt es Kaffee und alkoholfreie Getränke.«
»Nein, danke.«
Die kleinen Möbel im Raum ließen ihn noch größer erscheinen, als er war, und das war schon ziemlich groß. Er war makellos gekleidet in Wollhose mit Bügelfalte und Pullover mit V-Ausschnitt aus feinstem Cashmere. Er sah kaum anders aus als vor sechzehn Jahren, als er Crystal geheiratet hatte. Er wirkte reifer und war im Laufe der Jahre kultivierter geworden, sein persönlicher Stil war ausgefeilter. Und natürlich war seine Anspruchshaltung mit seinem Erfolg als Golfprofi gestiegen. Als einer der Spitzenspieler in der PGA zweifelte er anscheinend nicht daran, dass er alles verdiente, was ihm über den Weg lief, einschließlich der Frauen, die sich ihm an den Hals warfen, wenn er unterwegs war.
»Hier sind ein paar Kunstwerke von Charlie.« Sie deutete auf einen Plastikkorb, auf den in sauberen Buchstaben »Charlene« gedruckt war. »Du kannst sie dir anschauen, solange wir auf Crystal warten.« Sie hatte ihn seit der letzten Begegnung, in der es um Charlie ging, nicht gesehen. Bei dieser Besprechung hatte er sich einverstanden erklärt, eine Nachhilfelehrerin einzustellen - was auch geschehen war - und die Schwierigkeiten seiner Tochter an die erste Stelle seiner Prioritätenliste zu setzen - was nicht eingetreten war.
Er schaute auf seine Armbanduhr, eine Rolex, wahrscheinlich ebenfalls ein Geschenk von einem Sponsor. »Immer kommt sie zu spät.«
Ja, glaubte er denn, Lily würde ihm zustimmen? »Das Wetter ist entsetzlich«, bemerkte sie. »Ich bin sicher, sie kommt bald.« Obwohl sie sorgsam darauf achtete, es sich nicht anmerken zu lassen, war auch Lily verärgert. Bei dieser Besprechung ging es um die Tochter der beiden. Lily hatte sie nicht leichten Herzens kommen lassen. Crystal konnte wenigstens pünktlich sein.
»Das ist hübsch«, sagte sie, als Derek die Pastellzeichnung eines Koalabärs betrachtete, dessen Junges sich an seinen Rücken klammerte. »Den hat sie nach unserem Ausflug in den Zoo von Portland gezeichnet. Charlie hat wirklich einen Blick fürs Detail. Ist ihre Neugier erst einmal geweckt, entgeht ihr nichts.«
Er nickte und schaute sich die nächste Zeichnung an. Es war eine Leiter, die an der Längsseite des Blattes entlanglief, und ein kleines Brett mit einer Gestalt auf der Kante, die kurz davor stand, in einen noch kleineren Wassereimer zu springen. »Und das?«
»Vokabelarbeit. Das Wort des Tages war wagen, glaube ich.« Die anderen Kinder hatten wagen auf ihre Zeichnungen geschrieben, Charlie jedoch nicht. Sie vermied es, überhaupt irgendetwas zu schreiben oder zu lesen. »Sie ist sehr schlau«, sagte Lily. »Sie hat Erfindergeist und verwendet raffinierte Denkmuster.«
Dann nahm er das Bild von einem Haus in die Hand, das von stacheligem grünem Gras und blühenden Blumen umgeben war, blauer Himmel und Sonnenschein im Hintergrund. Das Haus hatte vier Fenster in einer Reihe. Alle Fenster waren schwarz bekritzelt.
Als Lily von Charlie wissen wollte, warum sie die Fenster schwarz bekritzelt habe, hatte das kleine Mädchen mit den Schultern gezuckt. »Damit man nicht sieht, was drinnen ist.« Sie versuchte immer, so knapp wie möglich zu antworten.
Derek fragte nicht nach der Zeichnung, sondern ging zur nächsten über, einer bemerkenswert lebhaften Studie von einem kleinen, braunweißen Hund mit einem schwarzen Fleck um ein Auge. »Und die hier?«
»Auch Wortschatz. Das Wort Wunsch.«
»Sie hat mich um einen Hund angebettelt«, sagte er. »Vielleicht jetzt im Sommer.«
Sag ihr einfach nicht vielleicht, solange du nicht ja meinst, dachte Lily. Charlie hatte genug Unsicherheit in ihrem Leben.
Endlich traf Crystal mit einem Wust aus Hast und Entschuldigungen ein.
»Mein Gott, es tut mir so leid.« Sie sprach schnell, während Lily ihr Mantel, Hut und Regenschirm abnahm. »Die Straßen sind ein einziger Albtraum. Auf dem Highway bin ich fast umgekommen, weil ich versucht habe, rechtzeitig hier zu sein.«
Als Lily aus der Garderobe trat, schenkte Crystal ihr das handelsübliche Lächeln einer Schönheitskönigin. Trotz des Wetters wirkte ihr Make-up wie frisch aufgetragen. Lily kannte Crystal und vermutete, dass sie sich im Auto Zeit genommen hatte, Haare und Gesicht zu richten.
»Hallo, Derek.« In einer Wolke aus Gucci Rush segelte Crystal an ihrem Ex-Mann vorbei, setzte sich, einen wehenden Hermès-Schal um die Schultern, die wohlgeformten Beine an den Knöcheln übereinandergeschlagen, und nahm trotz des unbequemen niedrigen Stuhls eine sittsame Haltung ein. Crystal hatte immer schon die Macht ihrer Schönheit zu nutzen gewusst.
Derek und sie nebeneinander sahen aus, als wären sie einer Zahnpastawerbung entsprungen. Doch die Tatsache, dass sie wie die amerikanische Erfolgsgeschichte schlechthin wirkten, hatte ihre Ehe nicht gerettet.
Lily setzte die Brille auf. Obwohl es eine Fiorelli war, mit handgearbeitetem Gestell im Anwaltsstil, wusste sie, dass sie darin bescheuert aussah. Sie sollte aufhören, ihr Geld für modische Brillen auszugeben, denn sobald sie eine aufsetzte, hätte es jede Billigmarke sein können. Ihr ernstes Gesicht hatte etwas an sich, das Designer-Gestelle in Schnäppchen aus dem Supermarkt verwandelte. Sie hatte es mit Kontaktlinsen versucht, jedoch jedes Mal eine Allergie bekommen, sobald sie welche einsetzte.
Sie drückte eine Hand fest auf den Aktenordner vor sich, holte tief Luft und schaute von Crystal zu Derek, dem die zu kleinen Stühle ebenso unbequem waren wie ihr. Lily erwischte Crystal in einem unbedachten Moment, und ihr Gesichtsausdruck war verblüffend. Sie betrachtete Derek mit rohem, unverhohlenem Verlangen, ihr schönes Gesicht zeigte den verständnislosen Schmerz eines verwundeten Tiers.
Lily litt mit ihrer Freundin, gleichzeitig aber stieg leichte Empörung in ihr auf. Heute ging es um Charlie, nicht um Crystal und Derek und um das, was sie sich von der Liebe hatten antun lassen.
Mit beherrschten, exakten Bewegungen reichte Lily ihnen jeweils eine Kopie des ORAT-Ausdrucks. »Diese Darstellung zeigt die Ergebnisse des Oregon Reading Abilities Test«, erklärte sie. »Den Lesetest bekommt in Oregon jedes Kind der dritten Klasse im März.« Mit dem Radiergummiende ihres Bleistifts fuhr sie an der grauen Linie auf der Tabelle entlang. »Das ist der Durchschnittswert für den gesamten Staat. Die rote Linie darüber ist der Durchschnitt der Laurelhurst- Schüler.« Laurelhurst war eine private Eliteschule, deshalb lagen die Testergebnisse immer weit über der Norm.
Lily räusperte sich. »Die blaue Linie zeigt, wie Charlie bei dem Test abgeschnitten hat.« Die Linie bewegte sich erbärmlich zwischen den niedrigsten Prozentzahlen, hier und da liebäugelte sie sogar mit dem Wert null. Lily beobachtete die Gesichter der Holloways, sah die erwartete Überraschung und Enttäuschung. Auch sie war enttäuscht gewesen - aber nicht überrascht. Als Charlies Lehrerin in der dritten Klasse hatte sie vom ersten Tag an das Ringen des Kindes erkannt. Sie hatte versucht, die Holloways in früheren Besprechungen vorzubereiten, doch die Realität war einfach nicht zu ihnen durchgedrungen. Vielleicht würde wenigstens das heute gelingen.
Crystal warf Lily einen verwirrten Blick zu. Sie wirkte zerbrechlich, als würde sie neuerdings alles verletzen. Derek sah einfach nur wütend aus, vielleicht abwehrend. Beides waren klassische Reaktionen liebender Eltern. Niemand wollte erleben, dass sein Kind Schwierigkeiten hatte, und sobald dies geschah, war der Misserfolg des Kindes nicht nur kränkend, er griff die Eltern in ihrer Persönlichkeit an.
»Wie ihr wisst«, sagte Lily, »bin ich kein Fan von genormten Prüfungen. Die hier wurde vom Bundesstaat vorgegeben. Dieser Test sagt also eigentlich nicht mehr über Charlie aus, als wir bereits wissen.«
»Sie kann immer noch nicht lesen.« Dereks Stimme war beinahe anklagend. Seine großen Hände, braun gebrannt nach einer gerade absolvierten Golfrunde in Schottland, legten sich schwer auf die Tischplatte. »Weißt du, ich bin es allmählich gestrichen leid, mir das anzuhören. Ich zahle der Nachhilfelehrerin, wie viel, hundert Dollar die Stunde? Und wir sehen immer noch keine Ergebnisse. Was für eine Lehrerin bist du?«
»Derek.« Crystal streckte eine Hand aus, als wollte sie seinen Ärmel berühren, besann sich dann aber anscheinend eines Besseren. Sie faltete die Hände fest zusammen, ihre makellose Maniküre glitzerte.
»Ich werfe euch nicht vor, dass ihr frustriert seid«, sagte Lily. »Ich glaube, das sind wir alle, Charlie eingeschlossen. Glaubt mir, ich weiß, wie hart alle in diesem Jahr gearbeitet haben.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. Es stimmte, zusätzlich zur Einstellung einer Nachhilfelehrerin hatten die Holloways Charlie endlosen Tests unterworfen, angefangen von einer Untersuchung beim Kinderarzt über psychologische Gutachten bis hin zu einer Reihe von Prüfungen bei einem Lesespezialisten in Portland. Die Ergebnisse waren nicht schlüssig. Es gab keine wissenschaftliche Bezeichnung für die Art von Blockade, die Charlie offenbar durchlebte. Lily hätte gern geglaubt, dass die Hausaufgaben, die Charlie mit jedem Elternteil machen sollte, sorgfältig betreut wurden. Aber sie wusste es besser. Crystal und Derek liebten ihre Tochter, doch angesichts ihrer Lebensumstände hatten sie ihre Schularbeit nicht vorrangig behandelt.
»Ich weiß, wir alle haben uns größere Fortschritte erhofft«, fügte sie hinzu. »Doch das ist nicht der Fall. In Anbetracht der Tatsache, dass das Schuljahr in neun Wochen zu Ende geht, müssen wir über Charlies Alternativen für den Sommer und für das kommende Jahr sprechen.«
Crystal nickte und unterdrückte aufsteigende Tränen mit einem Blinzeln. »Ich denke, wir sollten sie zurückstellen.«
»Oh, jetzt geht es also darum, sie durchrasseln zu lassen. Ist ja toll«, sagte Derek.
Lily biss sich auf die Lippe und wahrte eine reglose Miene. Derek hatte offensichtlich Probleme mit Versagen. Aber hier ging es um Charlie, nicht um ihn. Es ging nicht einmal um Crystal, der direkt vor Lilys Augen das Herz brach. Das Drängen auf Zurückstellung war häufig die panische, reflexartige Reaktion eines Elternteils. Da ihnen umfassende Kenntnis über die Alternativen fehlte, zogen manche Eltern die Wiederholung einer Klasse vor, ohne sich bewusst zu sein, wie eine solche Extremsituation das Kind belasten konnte. »In diesem Fall glaube ich nicht, dass eine Zurückstellung die Lösung ist.«
»Du willst sie also genauso fördern, wie man es seit der ersten Klasse mit ihr gemacht hat?« Crystals Tränen verdunsteten in der Hitze der Wut. »Das war eine große Hilfe, das kann ich dir sagen. Eine große Hilfe!«
Lily musste schlucken, als sie die Wut ihrer Freundin spürte. Eine Eltern-Lehrer-Besprechung war das reine Seelentheater. Alle Beteiligten waren entblößt, die Emotionen unverfälscht und ehrlich. Die Identität eines Elternteils war zum größten Teil in einem Kind verborgen: Liebe, Stolz, Selbstwertgefühl, Bestätigung. Eine ungerechte Bürde für einen kleinen Menschen, doch jedes Kind trug sie mit sich herum, die hochfliegenden, scheinbar unerreichbaren Erwartungen der Eltern.
»Ich habe verschiedene Alternativen für Charlie ausgearbeitet «, teilte Lily ihnen mit und reichte ihnen jeweils ein Päckchen. »Die könnt ihr euch zu Hause durchsehen. Vorerst wollen wir davon ausgehen, dass wir in diesem Sommer ein paar Fortschritte sehen und Charlie hier in Laurelhurst in die vierte Klasse geht.«
»Mit anderen Worten«, sagte Derek steif, »es kann auch sein, dass sie hier nicht mehr erwünscht ist.«
Hinter Lilys linkem Auge flackerte leichtes Kopfweh auf wie ein angerissenes Streichholz. Laurelhurst war eine national anerkannte, unabhängige Schule; die Warteliste war so lang, dass man Kinder schon Jahre vorher anmelden musste. Ein Mann wie Derek - erfolgreich, kultiviert, privilegiert - betrachtete jede andere Schule als minderwertig. »Hier geht es darum, was für Charlie das Beste ist, nicht darum, was ich mir wünsche. Wir sollten uns wirklich auf den Sommer konzentrieren. Ich hoffe, dass intensives Üben im Chall Reading Institute in Portland Charlie tatsächlich weiterbringen wird.« Das Programm bedeutete einen großen Zeit- und Geldaufwand für die gesamte Familie, doch die Erfolgsrate war beispiellos.
»Das dauert zehn Wochen!«, sagte Crystal und betrachtete die Broschüre. Sie sah Lily entsetzt an und schlug einen abgenutzten Terminkalender mit Ledereinband auf. »Wir haben im Juni eine zehntägige Disney-Kreuzfahrt gebucht. Im Juli macht sie Reiterferien. Und im August ...«
»Im August sind die Kinder bei mir«, sagte Derek. »Wir haben auf Molokai eine Ferienwohnung gebucht.«
Lily war darin geschult, sich während eines Elterngesprächs zurückzuhalten und ihre Worte sorgfältig auszuwählen. In diesem Fall war es besonders schwierig, die Bedürfnisse des Kindes geltend zu machen. Wie leicht wäre es doch, einfach zu sagen: »Klingt großartig! Ich wünsche euch einen schönen Sommer.« Im nächsten Jahr wäre Charlie dann das Problem einer anderen Lehrkraft.
Doch Charlie war Lilys Hauptsorge, ungeachtet dessen, was sie für Crystal empfand. Das Ergebnis der heutigen Besprechung konnte durchaus ihre lebenslange Freundschaft auf die Probe stellen. Doch die Zukunft eines Kindes stand auf dem Spiel, und Lily war entschlossen, Charlie unter allen Umständen zu retten.
»Ich hoffe, mich den ganzen Sommer über auf Charlies Bedürfnisse zu konzentrieren«, sagte sie.
»Hast du nicht zugehört? Es handelt sich um eine Disney- Kreuzfahrt«, sagte Crystal gereizt. »Da geht es nur um Kinder und Spaß. Das habe ich ihnen das ganze Jahr über versprochen. Und ein Reitcamp, das ist für Charlie genau richtig. Du glaubst ja nicht, welche Hebel ich in Bewegung setzen musste, um sie da reinzukriegen. Es ist in Sundance, mein Gott! Wahrscheinlich musste sie Demi Moores Kinder verdrängen, um in diesem Sommer dort einen Platz zu bekommen. «
»Wie viel soll denn dieses Reitlager kosten?«, fragte Derek.
»Wahrscheinlich weniger als dein verdammtes Haus auf Molokai«, fuhr Crystal ihn an.
»Ich stottere noch immer deine Weihnachtsreise nach Sun Valley ab.«
»Ich kenne deinen Rang in der PGA. Das kann ich auf ESPN herausfinden. Du kannst dir Sun Valley leisten.«
»Aber ich kann mir die Art nicht leisten, wie du mein Geld ausgibst. Du hast dem Begriff ›Unterhalt‹ eine völlig neue Bedeutung gegeben.«
Lily saß teilnahmslos dabei und biss sich auf die Lippe, bis es wehtat. Wenn ein Paar über Geld stritt, ging es nie um Geld. Es ging um Macht und Selbstwertgefühl und Verurteilung; das hatte Lily von ihren eigenen Eltern gelernt, während sie nachts wach im Dunkeln lag wie eine Schiffbrüchige, die auf hoher See trieb und dem tosenden Sturm ausgesetzt war.
In den acht Jahren ihrer Lehrertätigkeit hatte sie zahlreiche Elterngespräche geführt. Sie hatte viele Kabbeleien überstanden, und sie hielt es für das Beste, wenn man sie zu Ende spielen ließ, bis sie ihre Heftigkeit verloren hatten. So, wie man einem Dampftopf erlaubt, ein wenig Dampf abzulassen, um drinnen Raum für etwas anderes zu schaffen - in diesem Fall für Lilys Informationen über Charlie.
Ihre Kopfschmerzen verstärkten sich. Sie waren wie eine Pfeilspitze, die sich in eine weiche Stelle hinter ihrem Auge bohrte. Weder Crystal noch Derek schienen es zu bemerken. Lily hatte zu oft mit einem Paar zusammengesessen, das sich bei dem uralten Tauziehen um die zerbrechlichste Beute überhaupt ankeifte - ein Kind.
Manchmal musste Lily ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um den gerechten Zorn im Zaum zu halten und nicht zu platzen. Hört euch doch mal selbst zu! Glaubt ihr, das hilft eurem Kind? Dabei hatte sie ihnen noch nicht alles über Charlie gesagt. Ein kleiner Teufel gab ihr den verlockenden Gedanken ein, sich zurückzuhalten und Charlies Geheimnis für sich zu behalten, doch das konnte Lily nicht. Das kleine Mädchen hatte einen Hilfeschrei ausgestoßen.
»Können wir wieder auf Charlie zurückkommen?«, fragte sie. »Bitte.« Sie nutzte eine Pause im Streit und sagte: »Wir müssen noch über etwas anderes sprechen.«
Crystal und Derek funkelten sich wütend an und legten den Streit scheinbar zu den Akten. Derek biss die Zähne zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, als er herumfuhr, um Lily anzusehen. Crystal schürzte die Lippen und schlug ihren Terminkalender zu. Auch sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Lily. Wie ihre Differenzen auch aussehen mochten, die Liebe für ihre Kinder war ihnen noch gemeinsam, und sie versuchten, Charlie zuliebe ihren eigenen Kleinkram beiseitezulegen.
Lily bemühte sich nach Kräften, die rasenden Kopfschmerzen zu ignorieren, und betrachtete die beiden. »Wir haben viel über Charlies geistige Herausforderungen gesprochen «, sagte sie. »Neuerdings habe ich bei ihr auch Veränderungen im Verhalten festgestellt.«
»Was meinst du mit Veränderungen im Verhalten?« Derek blieb abwehrend, was Lily nicht überraschte.
Sie wollte nichts beschönigen. »In den letzten beiden Wochen hat sie gestohlen.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Susan Wiggs
Susan Wiggs hat in Harvard studiert und als Lehrerin gearbeitet. Sie hat in den USA zahlreiche historische Romane veröffentlicht, bevor sie zu ihrer eigentlichen Begabung fand, dem Schreiben von bewegenden Familienromanen. Viele ihrer Bücher waren auf den internationalen Bestsellerlisten zu finden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Susan Wiggs
- 2013, 1, 560 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655524
- ISBN-13: 9783863655525
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