Ein letzter Sommer
Kleinstadt-Sommer vor dem Erwachsenwerden: Daniel Price ist achtzehn und hat gerade die Highschool abgeschlossen. In seinem Elternhaus kriselt es, so sucht er Ablenkung. Seine Welt wird schlagartig zum Wunder, als er sich in die schöne, unergründliche...
Kleinstadt-Sommer vor dem Erwachsenwerden: Daniel Price ist achtzehn und hat gerade die Highschool abgeschlossen. In seinem Elternhaus kriselt es, so sucht er Ablenkung. Seine Welt wird schlagartig zum Wunder, als er sich in die schöne, unergründliche Rachel verliebt.
"Ich möchte, dass dieses Buch richtig berühmt wird."
Elke Heidenreich
Ein letzter Sommer von Steve Tesich
LESEPROBE
1
Er hieß Presley Bivens.Er kam aus Anderson, Indiana, er wog 76 Kilo, und er lächelte mich an. Er warschon zweimal hier gewesen, hatte beide Male gewonnen, und war wiedergekommen,damit es drei Siege in Folge wurden. Er entsprach überhaupt nicht dem, was ichmir unter einer Legende vorgestellt hatte.
Die Stadthalle war bis auf denletzten Platz ausverkauft, die Zuschauer tobten, die Cheerleader kreischten,aber er schien nichts von alledem zu hören. Er wirkte freundlich, entspannt, überhauptnicht wie ein Gegner. Und er lächelte immerzu. Der Kampfrichter verwarnte ihnmehrmals wegen Passivität, aber eigentlich war er nicht passiv. Er hatte esnur nicht eilig. Er schien zu wissen, wie der Kampf ausgehen würde. Dass ergewinnen würde. Dass er schon gewonnen hatte. Was ihn anbelangte, war er schonwieder daheim in Anderson, Indiana, stand auf seinem Wohnzimmerteppich undblickte auf alles zurück, erinnerte sich daran, wie er mich besiegt hatte.
Es waren nur noch etwas über zweiMinuten Kampfzeit übrig, und ich lag sechs zu vier vorn, trotzdem flattertennicht seine, sondern meine Nerven. Er lächelte einfach nur. Er hatte kleine rundeSchweinsäuglein, die noch runder wurden, wenn er lächelte.Nichts an ihm deutete auf den größten Ringer hin, den Indiana je gesehen hatte.Seine Brust war flach, mit blondem Haarflaum bedeckt, seine Arme waren weich,seine Beine unterentwickelt, seine Haut blass. Das einzig Kräftige an ihm warsein Hals, ein massiver, Furcht einflößender Hals; Dinosaurier hatten solcheHälse. Sein kleiner runder Kopf saß auf diesem prähistorischen Hals wie einTennisball auf einem Hydranten. Er redete unablässig mit mir. Als ich mitmeinem ersten Wurf punktete, sagte er mit seinem südlichen Indiana-Näseln, mitseiner hohen, gequetschten Stimme:
»Prima Griff, Kleiner. Astrein.«
Er nannte mich immer nur »Kleiner«.Er war so alt wie ich und nannte mich immer nur »Kleiner«. Er lag zurück, esblieben ihm kaum noch zwei Minuten, und er war entspannt. Ich gewann und erlächelte. Nein, er war überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hatte.
Die Zuschauer waren auf meinerSeite. Einige riefen meinen Namen. Los, Price. Gib'sihm. Jetzt hast du ihn. Andere riefen den Namen meiner High School. Los,Roosevelt. Er gehört dir. Du hast ihn. Trainer French kniete am Rand der Matteund brüllte Anweisungen.
»Bleib von ihm weg! Fall nicht draufrein! Lass dich nicht kriegen!«
In einem Bundesstaat mit wenigenSportlegenden, die meisten davon Basketballspieler, war Bivenseine Ringerlegende. In seiner Gewichtsklasse war er zweimaliger Landesmeister,er war seit drei Jahren ungeschlagen und hatte immer durch Schultersiege gewonnen.Ich hatte schon lange, bevor ich ihm begegnete, von ihm gehört. Jeder, der jegegen ihn angetreten war, sagte dasselbe. Alle hatten gedacht, sie hätten ihn,sie lagen immer nach Punkten vorn, er war immer am Rande der Niederlage, und dannpassierte etwas. Alle wussten über seinen Trick Bescheid. Trainer French hattemich schon Wochen vor der Landesmeisterschaft davor gewarnt. Als wir dann inseinem Auto nach Indianapolis fuhren, redete er von nichts anderem.
»Du weißt, was er macht, also fallnicht drauf rein. Er hat nichts weiter als die Brücke. Die ist alles, was erhat. Also fall nicht drauf rein. Leg's nur auf Punktean. Verstanden?«
Die letzten zwei Minuten brachen an.Ich war Untermann. Der Kari pfiff. Ich entwischte underzielte zwei weitere Punkte. Ich führte jetzt acht zu vier.
»Prima rausgewunden,Kleiner«, näselte Bivens. »Aalglatt.«
Er kam auf mich zu. Wir packten unsund kamen von der Matte ab. Der Kari trennte uns undschickte uns zum Mittelkreis zurück. Auf meinem Weg dahin zwinkerte er mir zu.Er wollte, dass ich gewann. Alle wollten, dass ich gewann. Einige wenige warenaus Anderson hergekommen. Sie hatten vor dem Kampf mit mir geredet; sogar dieLeute aus seiner Heimatstadt wollten, dass ich gewann. Alle wollten, dass dieLegende stürzte.
Ich musterte Bivensvom Rand des Mittelkreises aus. Er sah auf die Uhr. Nur noch knapp anderthalbMinuten. Er kam auf mich zu. Wir packten uns wieder. Er ließ sich plötzlichfallen und griff nach meinem Fußgelenk, und ohne nachzudenken, schob ich denUnterarm vor sein Gesicht, täuschte links an und zog rechts und erzielte miteinem weiteren Wurf noch zwei Punkte. Jetzt stand es zehn zu vier. TrainerFrench sprang auf. In seinen ganzen fünfundzwanzig Trainerjahren hatte er nochnie einen Landesmeister gehabt. Gleich war ich seinerster.
Bivens lag flach auf dem Bauch. Ich warüber ihm. Er kämpfte sich auf die Knie. Mein rechter Arm umklammerte seineTaille. Er versuchte eine Wende, aber ich sah sie kommen und fing ihn ab. Ichsteckte meinen rechten Arm zwischen seine Beine und hob ihn hoch. Mein linkerArm glitt um seinen Hals. Er lag jetzt auf dem Rücken. Ich war oben und wollteeinen Schultersieg.
»Lass ihn los. Mach's nicht!«, brüllte Trainer French. Ich hörte ihn ganz deutlich. Unddann merkte ich, dass die Zuschauer verstummt waren. Alle waren aufgestanden,gaben aber keinen Laut von sich. Trainer French brüllte weiter auf mich ein,doch ich schüttelte den Kopf. Ich wollte einen Schultersieg. Ich spürte Bivens' Körper unter mir nachgeben. Eines seiner Schulterblätterberührte schon die Matte. Das andere kam ihr immer näher. Ich verlagerte meinGewicht auf diese Schulter und spürte, wie sie sich senkte. Der Kari lag flach auf dem Bauch und spähte, wann die Schulterden Boden berühren würde.
Und dann stemmte Bivenssich plötzlich zur Brücke hoch. Die Bewegung war so schnell und so kräftig,dass mir keine Zeit blieb, darauf zu reagieren. Mein ganzer Körper hob sich,gleichzeitig verdrehte er seinen und erwischte mich ohne Halt. Schlagartig tauschtenwir die Plätze. Er war oben und wollte einen Schultersieg. Ich war unten.
Ich kann immer noch gewinnen, dachteich. Ich liege nach Punkten vorn. Sogar ein Wurf über den Rücken bringt ihm nurdrei Punkte: Ich kann immer noch gewinnen. Ich rechnete hin und her, währendich mich verzweifelt bemühte, mit den Schultern nicht die Matte zu berühren.Sie waren ihr schon so nahe, dass ich die feuchte Wärme spürte, die von demschweißgetränkten Kunststoff aufstieg.
»Fünfundvierzig Sekunden«, rief der Kari. Eigentlich durfte er uns nicht sagen, wie viel Zeitnoch blieb, aber sogar er wollte, dass ich gewann.
Bivens hatte es immer noch nicht eilig.Sein Kopf lag auf meiner Brust, und er schien ein Nickerchen zu machen. Ich konntemir nicht erklären, welche Kraft mich unten hielt. Ich spürte nicht, dass ersich irgend Mühe gab. Ich strengte mich fürchterlich an, er überhaupt nicht. Erhob den Kopf, legte das Kinn auf meine Brust und sah mich an. Unsere Gesichterberührten sich fast. Er lächelte mir zu. Quäl dich doch nicht so, schien ermir zu sagen, als ich mich mit aller Macht dagegen wehrte, zu Boden gedrückt zuwerden. Warum wehrst du dich so heftig? Eine Niederlage ist gar nicht soschlimm. Wirklich nicht. Sie tut nicht weh. Er kam mir plötzlich völligvertraut vor, schmerzlich vertraut. Ich kannte diese Augen. Dieses Lächeln. Undich war sehr verlegen und schämte mich dafür, dass ich versucht hatte, ihn zuschlagen.
Ich sah weg und atmete aus, und imselben Augenblick verließ mich die Widerstandskraft. Ich sank in die Niederlagewie an den mir angemessenen Platz. Der Kampfrichter schlug mit der flachen Handauf die Matte und verkündete damit das Ende des Kampfes.
Der alte Mercury von Trainer Frenchroch nach verschüttetem Kaffee und Pfeifentabak. Auf dem Hinweg hatte ich ihmein Versprechen abgenommen. Wenn ich gewann, durfte ich auf der Rückfahrt ansSteuer. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, das Auto zu fahren. TrainerFrench zog an seiner Pfeife, schüttelte den Kopf und trieb die Tachonadel übereinhundertzehn. Er schien auf einen Unfall zu hoffen, damit sich dieserSchweinetag zu einer richtigen Katastrophe auswuchs. Er starrte in die Dämmerung,als hielte er nach einer Ausschau. Das Radio lief. Die Drifterssangen.
»There goes my baby
Moving on... down theline ... «
Trainer French stellte das Radio ab.
»Verdammt noch mal, Price! Duhattest ihn! Ich sage dir, du hattest ihn! Verdammt noch mal!«
Er konnte es immer noch nichtglauben. Er stellte das Radio wieder an. So machte er es immer wieder. Wenn eretwas zu sagen hatte, stellte er es aus, ließ etwas Dampf ab und stellte es danachwieder an. Musik und Vorwürfe bei Tempo einhundertzehn auf Highway 41. Ichbefingerte meine Silbermedaille und versuchte, es positiv zu sehen. Derzweite Platz war gar nicht so schlecht. Zweiter im ganzen Bundesstaat Indiana.
Wir rasten durch die Dämmerung undin die Nacht hinein.
Trainer French stellte das Radio ab.
»Verdammt, Price. Du hast aufgegeben.«
So einfach war das. Ich hatteaufgegeben. Aber ich war überrascht, dass er es gemerkt hatte. Wenn manaufgibt, denkt man immer, das geschieht tief in der eigenen Seele, in dieniemand hineinsehen kann. Aber Trainer French hatte hineingesehen.
»Wie kamst du dazu, einfachaufzugeben?« »Ich weiß es nicht, Trainer.«
»Ich wünschte, du hättest das nichtgetan. Ich wünschte wirklich, du hättest das nicht getan.«
Ich zuckte die Achseln.
»Du hattest ihn. Weißt du das?«
»Ja, ich ... ich dachte, ich hätteihn.«
»Ach was! Du hattest ihn schon. Duhattest ihn. Und weißt du, was du dann gemacht hast?«
»Ja, ich weiß, Trainer.«
»Du hast aufgegeben.«
»Ich weiß.«
»Ich wünschte, du hättest das nichtgetan.«
»Ich habe nicht gewusst, dass ich'stun würde, Trainer. Ich hab nur einfach ... ich weiß nicht.«
»Du hättest jetzt das Auto fahrenkönnen, stimmt's?« »Ja.«
Er stellte das Radio wieder an.Trainer French redete, wie er arbeitete. Seine Ringkampfphilosophie basierteauf der Maxime: Man musste ein paar Griffe wirklich gut lernen und sie dann anwenden.Seine Äußerungen entsprangen und entsprachen dieser Philosophie.Fünfundzwanzig Jahre Trainerarbeit, und nie ein Landesmeister. Ich sah ihn an.Ich fragte mich, wie oft er diese Fahrt schon gemacht hatte, voller Hoffnungauf dem Hinweg, voller Verzweiflung und Enttäuschung auf dem Rückweg. Es würdekein nächstes Mal geben. Er ging in den Ruhestand.
Wir hielten bei einemTankstellenrestaurant, um etwas zu essen. Wir bestellten uns beide einenCheeseburger und einen Milchshake. Eigentlich ist esunmöglich, todunglücklich auszusehen, während man einen Milchshakedurch einen Strohhalm schlürft, aber Trainer French arbeitete daran.
»Siehst du das hier?« Er wies mit seiner Pfeife in die Runde. Es war eindeprimierendes Lokal. Alle Gäste waren bleich und übergewichtig und trugenschlecht sitzende Kleidung. Alle aßen etwas, das nicht so gut schmeckte, wiesie es sich vorgestellt hatten. Wobei sie viele Servietten verbrauchten,wahrscheinlich, weil die umsonst waren. »Sieht doch aus wie ein mieser Schuppen?«
»Und ob.« Ich lächelte.
»Aber weißt du was? Dieser mieseSchuppen würde wie das feinste Restaurant der Welt aussehen, wenn du dieLandesmeisterschaft gewonnen hättest.«
Ich legte meinen Cheeseburger aufden Teller. Mir wurde klar, dass er in seinen langen Trainerjahren schon ofthier gehalten und genau diesen Satz zu anderen Verlierern gesagt hatte. Ich warjetzt Teil dieser Tradition. Sieger haben ihre eigenen Traditionen, undVerlierer haben andere. Er bezahlte, und wir gingen.
»Willst du fahren?«,bot Trainer French an.
»Ist schon gut, Trainer.«
Er fing wieder an zu rasen. In derFerne sahen wir die ewigen Flammen der Ölraffinerien, die höchste und hellstegehörte zur Sunrise Oil Company. East Chicago,Indiana. Zuhause.
Ich dachte an meinen Vater. Schonseit etwa einem Jahr war kein Tag vergangen, an dem ich nicht an ihn denkenmusste. Ich trug ihn in mir herum wie ein zusätzliches Organ, das ich nicht brauchte,aber versorgen musste.
Ich zuckte zusammen, als TrainerFrench das Radio abstellte. »Sag's mir, Price, ich will's wirklich wissen. Washat dich dazu gebracht?«
»Wozu, Trainer?«
»So aufzugeben.«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. DasBild meines Vaters wollte nicht verschwinden.
»Du brauchtest dich nicht auf dieMatte drücken zu lassen.« »Ich weiß.«
»Du hattest ihn.«
»Ja, ich weiß.«
»Du musstest nur noch dreißigSekunden überstehen. Weiter nichts, stimmt's?«
»Stimmt, Trainer.«
»Und dann hab ich dich gesehen. Ichhab gesehen, wie's passiert ist. Ich hab gesehen, wie du aufgegeben hast. Warumhast du das gemacht, mein Sohn?«
© VerlagList
Übersetzung:Heidi Zerning
- Autor: Steve Tesich
- 2007, 496 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Heidi Zerning
- Übersetzer: Heidi Zerning
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548606784
- ISBN-13: 9783548606781
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