Ein seltsamer Ort zum Sterben
...
Was für ein Buch und was für ein „Held"! Derek B. Miller schickt in „Ein seltsamer Ort zum Sterben" den 82-jährigen renitenten und blitzgescheiten Sheldon Horowitz zusammen mit einem kleinen Jungen durch Norwegen - ein unvergessliches Roadmovie voller schwarzem Humor. Eine Hommage an das Leben in all seiner Vergänglichkeit und Vielschichtigkeit.
Der Held: Sheldon, 82 Jahre, renitenter New Yorker in Oslo
Sheldon, Jude, Ex-Marine, Uhrenreparateur und New Yorker mit Leib und Seele, wird nach dem Tod seiner geliebten Frau Mabel von Enkelin Rhea nach Norwegen „verfrachtet". Sie lebt dort mit Partner Lars und erwartet ein Kind - und nur aus diesem Grund lässt sich Sheldon überhaupt zu der Übersiedlung bewegen. Sein Sohn Saul starb in Vietnam, die Aussicht auf Familienzuwachs, einen Urenkel, hört sich wundervoll an! Und so bleibt sein spontaner ‚Vorschlag', die Einliegerwohnung im Osloer Haus „doch an Trolle zu vermieten" eben eine seiner vielen ironischen Spitzen - und Sheldon gibt selbst den Troll.
„Norweger wissen gar nicht, was ein Jude ist."
Natürlich war klar, dass Norwegen Sheldon ganz und gar nicht überzeugt. Für ihn klingt Norwegisch wie „rückwärts gesprochenes Englisch" und er lästert über die „hochgewachsenen, gleich aussehenden, lächelnden Gutmenschen, die sich alle kennen und dieselben generationenübergreifenden Klamotten tragen" und kann es nicht fassen, dass er als Jude nun in einem Land lebt, das so gut wie keine Juden kennt: „Eintausend Juden! Fünf Millionen Menschen und eintausend Juden. Die Norweger wissen gar nicht, was ein Jude ist."
Viel Zeit, über all das zu schimpfen, bleibt Sheldon allerdings nicht: Kaum hat er sich ein klein wenig akklimatisiert, flüchtet sich eine Nachbarin mit ihrem Sohn in Todesangst zu ihm in die Wohnung - ihr Verfolger, der sehr nach „Balkanmafia" aussieht, lässt nicht lange auf sich warten, tritt die Tür ein und die Frau überlebt die Attacke nicht. Sheldon packt den kleinen Paul, es gelingt ihnen, sich zu verstecken - doch bevor der Mörder erneut zurückkommt und sie vielleicht findet, müssen sie fliehen.
Sheldons Plan: die Flucht in ein Sommerhaus - er wird es allen zeigen
Sheldons Plan: sich bis zu einem Sommerhaus der Familie in Nähe der schwedischen Grenze durchzuschlagen. Natürlich mit dem kleinen Jungen in Paddington-Bär-Gummistiefeln an seiner Seite. Die Osloer Polizei und Enkeltochter Rhea suchen derweil fieberhaft nach den beiden und befürchten das Schlimmste, zumal Rhea sich nicht sicher ist, was Sheldons Geisteszustand angeht. Doch von wegen dement - was junge Menschen für Altersverwirrtheit halten, ist für Horowitz etwas ganz anderes: Die Geschichte selbst droht beständig, sich seiner zu bemächtigen und ihn unter ihrem Gewicht zu begraben. Das ist keine Demenz. Das ist Sterblichkeit.
Und so kapert er ein Boot im Osloer Hafen, die Reise beginnt und Sheldon Horowitz wird es allen zeigen ...
Nach dem Tod seiner Frau ist Sheldon Horowitz mit 82 Jahren zu seiner Enkelin nach Oslo gezogen. In ein fremdes Land ohne Juden. Viel Zeit, um über die Vergangenheit nachzudenken. All die Erinnerungen. All die Toten.
Eines Tages hört Sheldon aus dem Treppenhaus Krach: Er öffnet die Tür, und in seiner Wohnung steht eine Frau mit einem kleinen Jungen. Kurze Zeit später ist die Tür aufgebrochen, die Frau tot und Sheldon mit dem Kind auf der Flucht den Oslofjord hinauf.
Was wollen die Verfolger von dem Jungen? Sheldon weiß es nicht. Aber er weiß: Sie werden ihn nicht kriegen.
Derek B. Miller, geboren in Boston und nach Stationen in Israel, England, Ungarn und der Schweiz seit längerem in Norwegen lebend, hat nach einer Promotion an der Universität Genf eine beeindruckende Karriere als Spezialist für Sicherheitspolitik absolviert. Er arbeitet für zahlreiche Gremien der UNO und Universitäten weltweit und ist Direktor eines Forschungsinstituts. «Ein seltsamer Ort zum Sterben» ist sein erster Roman, der zunächst auf Norwegisch veröffentlicht und seitdem in zahlreiche Länder (u.a. USA, Großbritannien, Australien, Frankreich, Israel, Niederlande, Spanien) verkauft wurde.
Derek B. Miller: Sheldon steht an einem Punkt, an dem der Großteil seines Lebens vorbei zu sein scheint. Es fühlt sich etwa so an, als habe er sein eigenes Leben überlebt, und so nimmt er seine Existenz, seine verbliebene Zeit als etwas ganz Besonderes wahr. Der Tod seiner Frau ist noch nicht lange her, sein einziger Sohn Saul starb in Vietnam, sein bester Freund Mario wurde im Koreakrieg getötet - in einer Aktion, für die sich Sheldon mit 82 Jahren immer noch schämt. Und auch sein Freund Bill, ein geschiedener Ire, der Jahrzehnte den Laden neben Sheldons Laden führte, ist schon lange tot.
Um Sheldon zu verstehen, müssen wir all das wissen - nur so können wir nachvollziehen, warum er sich nun in dieser seltsamen Lage so verhält, wie er es tut. Ich glaube, viel von der Komik und auch der Tragik des Buches rühren aus Sheldons Reaktionen und Interpretationen von all dem, was ihn nun in Norwegen umgibt. Für mich ist er ein zutiefst moralischer, gequälter und sehr nachdenklicher Mann seiner Generation. Sein Jüdischsein ist entscheidend für das Verstehen all dessen, was er tut, für die Entscheidungen, die er trifft, und seine Wahrnehmung der Welt um ihn herum. Aber er steht gleichermaßen auch als Figur seiner Generation. Er ist meine Art, meinen Großvätern Lester Shapiro und Paul Miller auf Wiedersehen zu sagen. Er ist zwar nicht sie, aber durch sie kann ich in Sheldons Herz sehen, ihn verstehen.
Der knurrige Sheldon rettet in einer dramatischen Szene dem sechsjährigen Nachbarsjungen Paul das Leben. Beide fliehen vor dem Mörder der Mutter, und Sheldon entwickelt eine ungeahnte Raffinesse, um seinen Plan umzusetzen. Was hat er vor?
Derek B. Miller: Sheldon will diesen Jungen retten. Und er hat keinen Plan. Er hat lediglich einen Impuls. Vor langer Zeit war er bei den Marines, und es gab eine Diskussion darüber, ob er ein Heckenschütze war oder nicht - die Erklärung „ob oder ob nicht" ergibt am Ende hoffentlich mein Buch ... Aber ob so oder so - sein Impuls sagt ihm zu fliehen und sich vor dem Angreifer in Sicherheit zu bringen; einzig deshalb, weil er den Jungen beschützen will. Und genau das versucht er nun.
Ermittlerin Sigrid Odegord, Single, hat neben dem Mord an Pauls Mutter und der Suche nach Sheldon und Paul auch mit ihrem Singlestatus zu kämpfen und einem Vater, der sie dauernd zu verkuppeln versucht. Was hat Sigrid gegen die norwegischen Männer?
Derek B. Miller: Naja, ich denke, Sigrid mag die norwegischen Männer durchaus, wenn überhaupt findet sie es vermutlich nicht ganz so toll, dass nicht genügend norwegische Männer sie mögen. Sich über etwas zu beklagen, ist schließlich nicht gleichbedeutend damit, es auch wirklich nicht zu mögen. Manchmal beklagen wir uns, wenn wir uns zurückgewiesen fühlen oder verletzt - vor allem natürlich wenn uns jemand zurückweist, den wir sehr mögen. Dass Sigrid auch Dates mit einem Engländer oder einem Deutschen hatte, war für sie eine aufregende Abwechslung. Schließlich kann es helfen, mal über den Tellerrand der eigenen Kultur zu schauen und sich jemandem zuzuwenden, der einem fremder ist als die Landsleute. Es funktioniert zwar nicht immer, aber ist selten langweilig.
Für die, die in den Vierzigern sind und ihre Liebe noch nicht gefunden haben oder deren Liebe zerbrach - da gibt es einen Punkt, an dem sie sich damit auseinandersetzen müssen, dass das vielleicht nie geschehen wird. Und dann müssen sie eben neu nachdenken darüber, wie die Zukunft, ihre Zukunft, aussehen soll. Diese Zukunft, das Leben, ist dann eben eines, das sich nicht nach den normalen Normen richtet, man ist eben nicht verheiratet oder hat Kinder. In so einer Lage muss man sich so etwas wie eine neue Identität schaffen und das „Ideal" des normalen Lebens für sein wirkliches Leben aufgeben. Dass das nicht einfach ist, ist klar. Und Sigrid ist in dieser Phase - ich mag sie sehr. Und obwohl ich mich nicht als Autor von Kriminalromanen sehe, denke ich, ich und Sigrid sind noch nicht fertig miteinander, wir haben uns noch etwas zu sagen. Eines Tages werden wir mehr Zeit miteinander verbringen, da bin ich mir sicher.
Was bedeutet Schreiben für Sie?
Derek B. Miller: Für mich hat Schreiben viel mit Musik, dem Spielen von Musik zu tun. Ich spiele Gitarre, wenn auch nicht sehr gut. Aber ich kann eine Melodie gut genug spielen, um es manchmal zu erleben, dass mich etwas, das ich gerade spiele, in eine andere Welt entführt, mich wegdriften lässt. Ich hörte vor Kurzem eine schöne Lecture des Autors Michael Chabon, in der er die Musik von Oscar Peterson erwähnte und erzählte, wie Peterson manchmal von dem weggetragen wurde, was er gerade spielte. Ich denke, auch wir Schriftsteller können von unseren Texten weggetragen werden - nicht immer, aber in unseren besten Schaffensphasen. Für mich ist dieser Zustand Glückseligkeit und Quell der Freude.
Sie sind Direktor von „The Policy Lab", arbeiten als Spezialist für Sicherheitspolitik für die UNO und verschiedene Universitäten und sind Familienvater - was trieb Sie dazu, bei diesem Vollzeitprogramm auch noch ein Buch zu schreiben?
Derek B. Miller: Ich würde es anders ausdrücken. Ich habe mich entschieden, ein Buch zu schreiben, neben all dem anderen, was ich noch so tue. Ich fing 1996 mit dem Schreiben an. Ich schrieb an drei Manuskripten und stellte sie fertig, als ich meinen Doktor machte, und ich arbeitete, weil ich das genau so wollte - ich wollte schreiben und forschen. Nun ist „Ein seltsamer Ort zum Sterben" veröffentlicht und erfolgreich - das Buch wird sogar verfilmt -, und nun kann ich mich entscheiden, habe ich die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, in mich zu gehen und zu sehen, wie mein Weg weitergehen soll. Ich hoffe, ich treffe die richtigen Entscheidungen!
Gibt es einen gewissen Tagesablauf, wenn Sie schreiben, eine Routine? Und wo schreiben Sie?
Derek B. Miller: Routine? Ich wünschte, ich hätte die Kontrolle und die Möglichkeiten, so über mein Leben verfügen zu können, dass ich eine Routine entwickeln könnte. „Ein seltsamer Ort zum Sterben" schrieb ich z. B. immer am Wochenende, morgens von etwa 6 Uhr früh bis zum Mittag. Ich habe ja schließlich einen Fulltime-Job und so blieb mir nichts anderes übrig - nachts schreiben kann ich nicht, dafür wären ich und mein Verstand zu ausgelaugt. Zurzeit schreibe ich auch unter der Woche, weil die Kinder nicht da sind, aber es steht natürlich in Konkurrenz zu meiner Arbeit bei der UN. Bestenfalls, wenn es nötig ist, schotte ich mich ab und versuche, beiden Jobs gerecht zu werden. Aber normalerweise muss ich mich einfach gut organisieren und mich, wenn ich arbeite, voll auf das eine oder das andere konzentrieren. Dann funktioniert das auch - obwohl das natürlich leichter gesagt als getan ist.
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie Schriftsteller sind, gab es eine erste Geschichte, bei der Sie während des Schreibens wussten, dass das nun ein Teil Ihres Lebens sein wird?
Derek B. Miller: So einen Moment gab es bei mir nicht, ich funktioniere nicht so. Das impliziert auch, dass das Endergebnis - das Buch - mich erst zum Schriftsteller macht. Ich sah mich als Schriftsteller, als ich realisierte, spürte, wie wichtig mir das Schreiben war. Das ist schon ein Unterschied. Ich kapierte, dass ich Schriftsteller bin - genau deshalb, weil mir das Schreiben Erfüllung brachte und bringt, es mich glücklich macht, ganz egal, ob das, was ich schreibe, ein Erfolg wird in der Welt da draußen oder auch nicht. Schließlich sind die Chancen, seien wir ehrlich, verlegt zu werden, gelesen zu werden und vielleicht auch noch Erfolg zu haben, winzig. Ich kann es zum Beispiel immer noch nicht richtig glauben, realisieren, dass wir hier gerade ein Interview führen. Vielleicht wurde mir auch so richtig klar, dass ich ein Schriftsteller bin, als ich meinen ersten Roman fertig hatte - denn nun wusste ich, dass ich das auch zu Ende bringen kann. Ganz egal, ob es gut ankommt oder nicht - aber ich kann etwas zu Ende bringen und danach wieder etwas Neues beginnen.
Was für ein Buch lesen Sie momentan?
Derek B. Miller: Gar keines. Mir ist nicht danach, denn immer, wenn ich ein Buch fertig geschrieben habe, bleibt ein Gefühl zurück, dass das Buch hinterlässt. Und genau dieses Gefühl führt mich zu meinem nächsten Buch - ich weiß nicht, was für ein Buch das werden wird, so lange ich dieses Gefühl nicht erforscht habe.
Interview: Literaturtest
- Autor: Derek B. Miller
- 2013, 3. Aufl., 398 Seiten, Maße: 13,6 x 21,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Roth, Olaf Matthias
- Übersetzer: Olaf Roth
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499230860
- ISBN-13: 9783499230868
- Erscheinungsdatum: 01.06.2013
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Ein seltsamer Ort zum Sterben".
Kommentar verfassen