Eine Nacht im November
Ein dunkles Familiengeheimnis und eine große Liebe: Eine junge Frau forscht nach der Vergangenheit ihrer Mutter
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Produktinformationen zu „Eine Nacht im November “
Ein dunkles Familiengeheimnis und eine große Liebe: Eine junge Frau forscht nach der Vergangenheit ihrer Mutter
Als Sarah die Nachricht vom plötzlichen Tod ihrer Mutter erreicht, entschließt sie sich, nach Paris zu fliegen, um endlich das Schweigen zu durchbrechen, das seit Jahren über deren Verschwinden liegt. Schon bei der Beerdigung schlägt ihr offener Hass entgegen. Sarah ist zutiefst getroffen und ihre Verunsicherung wächst, als sie im Haus ihrer Mutter ein altes Foto aus dem Jahr 1932 entdeckt: Es zeigt ein Liebespaar. Die junge Frau ist ihre Großmutter, der junge Mann ihr Vater. Sarah entschließt sich, in Frankreich zu bleiben, um endlich das Geheimnis ihrer Familie zu lüften.
Lese-Probe zu „Eine Nacht im November “
Eine Nacht im November von Katja Maybach1
Sarah
Das kleine Mädchen rennt den Kiesweg hinunter zum See. Seine langen blonden Haare flattern im Wind, und als es sich bückt, um die glänzenden Kastanien aufzuheben, leuchtet das rote Kleidchen hell in der Sonne des frühen Herbstes. »Mama«, ruft es, »Mama, schau, was ich gefunden habe ... Mama, wo bist du?« Suchend wendet das Kind sich um. Und plötzlich sieht es die Mutter. Sie sitzt in einem alten Holzkahn und fährt langsam über den See, immer weiter weg von dem Ufer, weg von der Tochter, weg aus deren Leben. Der Himmel wird dunkel, die Wellen des Sees schlagen düster gegen den schaukelnden Kahn. Die 7-Mutter reagiert nicht auf die Rufe der Tochter, die nun in lautes Schluchzen übergegangen sind, sie wendet sich ab, ergreift die beiden Ruder, und langsam verschwindet der Kahn in der Düsternis des herbstlichen Nebels. Die Mutter ist gegangen.
Das eigene Schluchzen hatte Sarah geweckt, und zwischen Nacht und Tag schien es, als ströme das Leben von ihr fort, bis sie begriff, dass sie nur geträumt hatte.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Sie konnte ihren Herzschlag in den Ohren hämmern hören, als sie sich mit beiden Händen durch die schweißnassen Haare fuhr. Doch vielleicht war es gar kein Traum gewesen, sondern die Erinnerung, die plötzlich nach fast dreißig Jahren aus dem schwarzen Nichts zurückgekehrt war. Sarah wusste noch vieles aus der Kindheit, doch der Tag, an dem ihre Mutter den Vater und sie verlassen hatte, war in ihrem Gedächtnis ausgelöscht, als hätte es diesen Tag nie gegeben. »Sie ist nach Frankreich zurückgegangen«, hatte ihr Vater damals erklärt und sie fest in die Arme genommen. Mehr sagte er nicht, und Sarah hatte auch nicht gefragt. »Die Kleine ist wirklich sehr tapfer«, hatte sie eines Abends
... mehr
ihr neues Kindermädchen zur Haushälterin sagen hören. Doch Sarah war nicht tapfer. Sie weinte nur, wenn niemand es sah. Sie war sicher, ihre Mutter hatte sie verlassen, weil sie, Sarah, es nicht wert war, geliebt zu werden.
Im Alter von dreizehn Jahren hatte sie sich plötzlich ein vermeintliches Unglück der Mutter zurechtgelegt, ein trauriges, geheimnisvolles Frauenschicksal vermutet, bedingt durch einen gefühllosen Ehemann. Für kurze Zeit war die Mutter zur romantischen Heldin und der Vater zu einem romanhaften Bösewicht geworden, der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts einstiegen. Doch diese Phase hatte nicht lange gedauert, und allmählich verblasste die Erinnerung an die schöne Frau, die oft so abweisend und unnahbar gewesen war. Nie sprach sie mit ihrem Vater darüber, und obwohl sie sich sehr nahe standen, hielt eine unüberwindbare Scheu beide davor zurück, über die Vergangenheit zu reden. Vater und Tochter waren sich zu ähnlich, beide konnten sie Gefühle
weder zeigen noch darüber sprechen. Heute war Sarah davon überzeugt, dass er den wahren Grund kannte, warum seine Frau gegangen war. Vielleicht wollte er mit seinem Schweigen die Tochter schützen, aber nach so vielen Jahren war auch das scheinbar bedeutungslos geworden.
Sarah erhob sich und öffnete weit das große Fenster. Auf den Wiesen lag glitzernder Tau, und so sah der Garten aus wie nach einem Regen, obwohl die Nacht klar gewesen war und der Himmel jetzt in dem intensiven Blau eines frühen Herbstmorgens erstrahlte. Sarah blieb vor dem offenen Fenster stehen, und ihr Herz umfasste das Bild vor ihren Augen, den vertrauten Ausblick auf den Garten und die Allee mit den alten Kastanienbäumen, die hinunter zum See führte. Sarah atmete tief den Geruch von nassem Laub ein, bevor sie leicht fröstelnd das Fenster wieder schloss. Für einen Moment lehnte sie ihr Gesicht an die kühle Scheibe und hing ihren Gedanken nach. Vor einer Woche hatte sie ihren vierunddreißigsten Geburtstag gefeiert, und sie war endlich zufrieden mit ihrem Leben. Auch wenn ihre Kopfschmerzen in den vergangenen Monaten wieder verstärkt aufgetreten waren. Migräne, hatte ein Arzt vor vielen Jahren erklärt. Sie begann mit Augenflimmern und Übelkeit, bis starke Kopfschmerzen einsetzten. Psychisch bedingt, können sie immer in starken Stresssituationen auftreten, lautete damals die Diagnose des Neurologen.
Michael hatte sie vor einigen Tagen scherzend gefragt, ob das mit ihrer bevorstehenden Heirat zusammenhänge, doch als er sie dabei lachend umarmte, hatte sie in seinen Augen Unsicherheit und Sorge gesehen.
Sarah löste sich von dem Fenster, ging mit raschen Schritten hinüber in ihr Badezimmer und stellte sich unter den heißen Strahl der Dusche. Mit zugekniffenen Augen tastete sie nach dem Shampoo und erinnerte sich an den warmen Sommertag vor acht Jahren, an dem Michael sie auf der Treppe des Justizpalastes angesprochen und voller Respekt gefragt hatte, ob sie die Tochter des berühmten Anwalts Rolf von Schröder sei. Sie hatte seine Frage mit einem spöttischen Lachen bejaht, doch sie hatte sich sofort in den gut aussehenden jungen Mann verliebt.
Und in genau einer Woche wollten sie nun heiraten. Sarah hatte sich nach langen Diskussionen endlich Au einem festen Termin überreden lassen. Damit gab sie nicht nur Michaels Drängen nach, sondern sie erfüllte auch den größten Wunsch ihres alten Vaters, der noch vor Ende des Jahres seine Kanzlei an sie und Michael übergeben wollte. Sarah arbeitete als Anwältin bei ihm, und auch Michael war Mitglied der Sozietät. Ihr Vater hatte den ehrgeizigen) jungen Anwalt vor sieben Jahren in seine Kanzlei genommen und sah in ihm den geeigneten Nachfolger, denn Michael arbeitete hart, flößte seinen Gegnern Respekt ein und gab seinen Mandanten Sicherheit.
Diese Sicherheit und das starke Gefühl, nie von ihm enttäuscht zu werden, vermittelten Sarah die Beständigkeit und Harmonie, nach denen sie sich immer gesehnt hatte. Doch tief in ihrem Innern lauerte eine Unzufriedenheit, die sie nicht zuordnern konnte und die sie stets sofort wieder aus ihren Gedanken verdrängte. Genauso wie sie ihre heimlichen
Träume von einer leidenschaftlichen Liebe verbannte. Solche Wünsche waren unreif und kindisch für eine Frau von vierunddreißig. Als sie sich jetzt die langen Haare wusch und das Pflegeshampoo in die Spitzen einmassierte, überlegte sie, ob sie überhaupt eine Frau war, die große Leidenschaft empfinden konnte.
»Mein Leben ist perfekt«, murmelte sie beschwörend vor sich hin, »es muss einfach perfekt sein.« Daran würde auch der morgendliche Traum nichts ändern, selbst wenn er sie verunsichert hatte und alte Ängste aufflackern ließ. Sie stellte die Dusche ab, schlüpfte in ihren weißen Bademantel und ging in das Schlafzimmer zurück. Es war noch sehr früh am Morgen, sie hatte noch Zeit. Wieder dachte sie an die Mutter, an die schöne dunkelhaarige Frau. Sie hatte traurig ausgesehen, daran erinnerte sich Sarah genau. Hatte sie ihren Mann nicht geliebt? Hatte es vielleicht sogar einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben? Einem plötzlichen Impuls folgend, verließ Sarah den Raum und schlich sich leise wie ein Einbrecher die Treppe hinauf in ihr altes Kinderzimmer. Lange war sie nicht mehr hier gewesen. Sarah sah sich in dem Halbdunkel um, es war still hier oben, und für einen kurzen Moment schien es, als erwache die Kindheit wieder zum Leben.
Suchend blickte sie umher. Vielleicht fand sie etwas, irgendetwas, das an die Mutter erinnerte und das sie früher übersehen hatte. Sie kniete sich auf den Boden vor die alte, bemalte Spielzeugkiste, auf der ihr großer Teddybär saß. Mit sechs Jahren hatte sie ihn geschoren und ihm dann eine hellblaue Hose gehäkelt, damit er ohne Fell nicht frieren musste. Mit einem kleinen Lächeln strich sie ihm über die Schnauze und setzte den Gefährten ihrer Kindheit neben sich auf den Boden. Sie öffnete die Kiste und griff nach einem großen Foto, das obenauf lag. Eine riesige Schultüte, dahinter ein trauriges Kindergesicht. Ihr Gesicht.
Sarah wühlte in den Spielsachen, in den Büchern, den Puppen, den Kleidchen und den winzigen Schühchen, doch sie fand nicht, wonach sie suchte. Mühsam richtete sie sich wieder auf. Es war sinnlos. Wieso durchwühlte sie die alten Sachen, obwohl sie doch genau wusste, dass es nichts, absolut gar nichts gab, was an die Mutter erinnern würde? Ihr Vater hatte ganze Arbeit geleistet, als er damals alle persönlichen Sachen seiner Frau wegbringen ließ. Kleider, Möbel, Fotos, alles war abtransportiert worden. Eine Woche nach dem Weggehen seiner Frau schien es, als habe Mirjarn von Schröder nie gelebt. Lange sah Sarah sich um, bevor sie das Zimmer wieder verließ und auf Zehenspitzen hinunter in die Küche ging.
Immer noch bemüht, keinen Lärm zu machen, kochte sie sich einen Tee und setzte sich an den kleinen Tisch unter dem Bogenfenster. Auch von hier aus hatte man den Blick auf den Sec und die alte Allee mit den hohen Kastanienbäumen. Ein Zweig mit den rotgoldenen Blättern hing so tief, dass er die Sicht zum Teil versperrte und man nur ein kleines Stück des Ufers sah. Wieder fiel Sarah der Traum ein, in dem sie die glänzenden Kastanien aufgehoben hatte. Eines wusste Sarah noch genau, es war Herbst gewesen, als ihre Mutter ging. Aber das mit dem Kahn ergab keinen Sinn, denn ihre Mutter war sicher durch die Haustür gegangen, hatte sich ein Taxi bestellt oder war mit dem Auto weggefahren. In einem Kahn über den See zu fahren, das hätte doch Flucht bedeu
tet, heimliche, angstvolle Flucht. Aber vor was, vor wem? Es war ein Traum gewesen, Sarah hatte jetzt keine Zweifel mehr.
Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie das Öffnen der Küchentür überhörte und zusammenschrak, als die Haushälterin plötzlich neben ihr stand. »Guten Morgen!« Frau Boos beobachtete erstaunt Sarah, die sich erhoben hatte und jetzt mit der Teetasse in der Hand unruhig in der großen Küche auf und ab lief. »Ich soll dir von deinem Vater ausrichten, dass er schon in die Kanzlei gefahren ist.«
»Ja, ja, danke ...« Zerstreut und noch ganz in Gedanken nickte Sarah Frau Boos zu, verließ die Küche und ging in das große Arbeitszimmer hinüber, um noch einige Unterlagen zu holen. Während sie einen Schriftsatz und verschiedene Briefe in ihre Mappe schob, dachte sie an ihren Vater und an die Konsequenzen für ihn, wenn er sich endgültig aus der Kanzlei zurückziehen würde. Bis zu seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr hatte Rolf von Schröder alle Fäden selbst in der Hand gehalten, ehe er dann nach und nach die Aufgaben an seine Anwälte abgab. Aber auch jetzt noch, hoch in den achtzig, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Tag als Erster im Konferenzraum zu sitzen, um an der Morgenbesprechung teilzunehmen. Anschließend zog er sich in sein Büro zurück, erledigte Anrufe und Korrespondenz, ehe er mittags mit einem der Anwälte oder mit Sarah zum Essen ging, und gegen zwei Uhr fuhr er dann zurück zu seinem Haus am Starnberger See. Wie würde ihr Vater, überlegte Sarah, es verkraften, wenn er nach der endgültigen Übergabe nicht mehr jeden Tag in die Kanzlei fahren konnte?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © by Knaur Taschenbuch
Im Alter von dreizehn Jahren hatte sie sich plötzlich ein vermeintliches Unglück der Mutter zurechtgelegt, ein trauriges, geheimnisvolles Frauenschicksal vermutet, bedingt durch einen gefühllosen Ehemann. Für kurze Zeit war die Mutter zur romantischen Heldin und der Vater zu einem romanhaften Bösewicht geworden, der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts einstiegen. Doch diese Phase hatte nicht lange gedauert, und allmählich verblasste die Erinnerung an die schöne Frau, die oft so abweisend und unnahbar gewesen war. Nie sprach sie mit ihrem Vater darüber, und obwohl sie sich sehr nahe standen, hielt eine unüberwindbare Scheu beide davor zurück, über die Vergangenheit zu reden. Vater und Tochter waren sich zu ähnlich, beide konnten sie Gefühle
weder zeigen noch darüber sprechen. Heute war Sarah davon überzeugt, dass er den wahren Grund kannte, warum seine Frau gegangen war. Vielleicht wollte er mit seinem Schweigen die Tochter schützen, aber nach so vielen Jahren war auch das scheinbar bedeutungslos geworden.
Sarah erhob sich und öffnete weit das große Fenster. Auf den Wiesen lag glitzernder Tau, und so sah der Garten aus wie nach einem Regen, obwohl die Nacht klar gewesen war und der Himmel jetzt in dem intensiven Blau eines frühen Herbstmorgens erstrahlte. Sarah blieb vor dem offenen Fenster stehen, und ihr Herz umfasste das Bild vor ihren Augen, den vertrauten Ausblick auf den Garten und die Allee mit den alten Kastanienbäumen, die hinunter zum See führte. Sarah atmete tief den Geruch von nassem Laub ein, bevor sie leicht fröstelnd das Fenster wieder schloss. Für einen Moment lehnte sie ihr Gesicht an die kühle Scheibe und hing ihren Gedanken nach. Vor einer Woche hatte sie ihren vierunddreißigsten Geburtstag gefeiert, und sie war endlich zufrieden mit ihrem Leben. Auch wenn ihre Kopfschmerzen in den vergangenen Monaten wieder verstärkt aufgetreten waren. Migräne, hatte ein Arzt vor vielen Jahren erklärt. Sie begann mit Augenflimmern und Übelkeit, bis starke Kopfschmerzen einsetzten. Psychisch bedingt, können sie immer in starken Stresssituationen auftreten, lautete damals die Diagnose des Neurologen.
Michael hatte sie vor einigen Tagen scherzend gefragt, ob das mit ihrer bevorstehenden Heirat zusammenhänge, doch als er sie dabei lachend umarmte, hatte sie in seinen Augen Unsicherheit und Sorge gesehen.
Sarah löste sich von dem Fenster, ging mit raschen Schritten hinüber in ihr Badezimmer und stellte sich unter den heißen Strahl der Dusche. Mit zugekniffenen Augen tastete sie nach dem Shampoo und erinnerte sich an den warmen Sommertag vor acht Jahren, an dem Michael sie auf der Treppe des Justizpalastes angesprochen und voller Respekt gefragt hatte, ob sie die Tochter des berühmten Anwalts Rolf von Schröder sei. Sie hatte seine Frage mit einem spöttischen Lachen bejaht, doch sie hatte sich sofort in den gut aussehenden jungen Mann verliebt.
Und in genau einer Woche wollten sie nun heiraten. Sarah hatte sich nach langen Diskussionen endlich Au einem festen Termin überreden lassen. Damit gab sie nicht nur Michaels Drängen nach, sondern sie erfüllte auch den größten Wunsch ihres alten Vaters, der noch vor Ende des Jahres seine Kanzlei an sie und Michael übergeben wollte. Sarah arbeitete als Anwältin bei ihm, und auch Michael war Mitglied der Sozietät. Ihr Vater hatte den ehrgeizigen) jungen Anwalt vor sieben Jahren in seine Kanzlei genommen und sah in ihm den geeigneten Nachfolger, denn Michael arbeitete hart, flößte seinen Gegnern Respekt ein und gab seinen Mandanten Sicherheit.
Diese Sicherheit und das starke Gefühl, nie von ihm enttäuscht zu werden, vermittelten Sarah die Beständigkeit und Harmonie, nach denen sie sich immer gesehnt hatte. Doch tief in ihrem Innern lauerte eine Unzufriedenheit, die sie nicht zuordnern konnte und die sie stets sofort wieder aus ihren Gedanken verdrängte. Genauso wie sie ihre heimlichen
Träume von einer leidenschaftlichen Liebe verbannte. Solche Wünsche waren unreif und kindisch für eine Frau von vierunddreißig. Als sie sich jetzt die langen Haare wusch und das Pflegeshampoo in die Spitzen einmassierte, überlegte sie, ob sie überhaupt eine Frau war, die große Leidenschaft empfinden konnte.
»Mein Leben ist perfekt«, murmelte sie beschwörend vor sich hin, »es muss einfach perfekt sein.« Daran würde auch der morgendliche Traum nichts ändern, selbst wenn er sie verunsichert hatte und alte Ängste aufflackern ließ. Sie stellte die Dusche ab, schlüpfte in ihren weißen Bademantel und ging in das Schlafzimmer zurück. Es war noch sehr früh am Morgen, sie hatte noch Zeit. Wieder dachte sie an die Mutter, an die schöne dunkelhaarige Frau. Sie hatte traurig ausgesehen, daran erinnerte sich Sarah genau. Hatte sie ihren Mann nicht geliebt? Hatte es vielleicht sogar einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben? Einem plötzlichen Impuls folgend, verließ Sarah den Raum und schlich sich leise wie ein Einbrecher die Treppe hinauf in ihr altes Kinderzimmer. Lange war sie nicht mehr hier gewesen. Sarah sah sich in dem Halbdunkel um, es war still hier oben, und für einen kurzen Moment schien es, als erwache die Kindheit wieder zum Leben.
Suchend blickte sie umher. Vielleicht fand sie etwas, irgendetwas, das an die Mutter erinnerte und das sie früher übersehen hatte. Sie kniete sich auf den Boden vor die alte, bemalte Spielzeugkiste, auf der ihr großer Teddybär saß. Mit sechs Jahren hatte sie ihn geschoren und ihm dann eine hellblaue Hose gehäkelt, damit er ohne Fell nicht frieren musste. Mit einem kleinen Lächeln strich sie ihm über die Schnauze und setzte den Gefährten ihrer Kindheit neben sich auf den Boden. Sie öffnete die Kiste und griff nach einem großen Foto, das obenauf lag. Eine riesige Schultüte, dahinter ein trauriges Kindergesicht. Ihr Gesicht.
Sarah wühlte in den Spielsachen, in den Büchern, den Puppen, den Kleidchen und den winzigen Schühchen, doch sie fand nicht, wonach sie suchte. Mühsam richtete sie sich wieder auf. Es war sinnlos. Wieso durchwühlte sie die alten Sachen, obwohl sie doch genau wusste, dass es nichts, absolut gar nichts gab, was an die Mutter erinnern würde? Ihr Vater hatte ganze Arbeit geleistet, als er damals alle persönlichen Sachen seiner Frau wegbringen ließ. Kleider, Möbel, Fotos, alles war abtransportiert worden. Eine Woche nach dem Weggehen seiner Frau schien es, als habe Mirjarn von Schröder nie gelebt. Lange sah Sarah sich um, bevor sie das Zimmer wieder verließ und auf Zehenspitzen hinunter in die Küche ging.
Immer noch bemüht, keinen Lärm zu machen, kochte sie sich einen Tee und setzte sich an den kleinen Tisch unter dem Bogenfenster. Auch von hier aus hatte man den Blick auf den Sec und die alte Allee mit den hohen Kastanienbäumen. Ein Zweig mit den rotgoldenen Blättern hing so tief, dass er die Sicht zum Teil versperrte und man nur ein kleines Stück des Ufers sah. Wieder fiel Sarah der Traum ein, in dem sie die glänzenden Kastanien aufgehoben hatte. Eines wusste Sarah noch genau, es war Herbst gewesen, als ihre Mutter ging. Aber das mit dem Kahn ergab keinen Sinn, denn ihre Mutter war sicher durch die Haustür gegangen, hatte sich ein Taxi bestellt oder war mit dem Auto weggefahren. In einem Kahn über den See zu fahren, das hätte doch Flucht bedeu
tet, heimliche, angstvolle Flucht. Aber vor was, vor wem? Es war ein Traum gewesen, Sarah hatte jetzt keine Zweifel mehr.
Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie das Öffnen der Küchentür überhörte und zusammenschrak, als die Haushälterin plötzlich neben ihr stand. »Guten Morgen!« Frau Boos beobachtete erstaunt Sarah, die sich erhoben hatte und jetzt mit der Teetasse in der Hand unruhig in der großen Küche auf und ab lief. »Ich soll dir von deinem Vater ausrichten, dass er schon in die Kanzlei gefahren ist.«
»Ja, ja, danke ...« Zerstreut und noch ganz in Gedanken nickte Sarah Frau Boos zu, verließ die Küche und ging in das große Arbeitszimmer hinüber, um noch einige Unterlagen zu holen. Während sie einen Schriftsatz und verschiedene Briefe in ihre Mappe schob, dachte sie an ihren Vater und an die Konsequenzen für ihn, wenn er sich endgültig aus der Kanzlei zurückziehen würde. Bis zu seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr hatte Rolf von Schröder alle Fäden selbst in der Hand gehalten, ehe er dann nach und nach die Aufgaben an seine Anwälte abgab. Aber auch jetzt noch, hoch in den achtzig, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Tag als Erster im Konferenzraum zu sitzen, um an der Morgenbesprechung teilzunehmen. Anschließend zog er sich in sein Büro zurück, erledigte Anrufe und Korrespondenz, ehe er mittags mit einem der Anwälte oder mit Sarah zum Essen ging, und gegen zwei Uhr fuhr er dann zurück zu seinem Haus am Starnberger See. Wie würde ihr Vater, überlegte Sarah, es verkraften, wenn er nach der endgültigen Übergabe nicht mehr jeden Tag in die Kanzlei fahren konnte?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © by Knaur Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Katja Maybach
Katja Maybach, geboren 1953, lebte viele Jahre in Paris und arbeitete in der Modebranche. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Zeitschriften, u.a. der italienischen Vogue veröffentlicht. Nach einer schweren Krankheit begann sie mit dem Schreiben - „Melodie der Erinnerung“ ist ihr dritter Roman nach "Eine Nacht im November" und "Irgendwann in Marrakesch". Die Autorin hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katja Maybach
- 430 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995284
- ISBN-13: 9783828995284
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