Entstellt
Sie erlebte einen Albtraum - und wurde zur mutigsten Frau Saudi-Arabiens
Ein Streit mit ihrem Ehemann wird für Rania Al-Baz zum Matyrium. In seinem Zorn prügelt ihr Mann auf sie ein und verletzt sie so schwer, dass sie 33 Mal operiert werden muss! Ihr Gesicht ist völlig entstellt. Viele Frauen in Saudi-Arabien hätten...
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Produktinformationen zu „Entstellt “
Ein Streit mit ihrem Ehemann wird für Rania Al-Baz zum Matyrium. In seinem Zorn prügelt ihr Mann auf sie ein und verletzt sie so schwer, dass sie 33 Mal operiert werden muss! Ihr Gesicht ist völlig entstellt. Viele Frauen in Saudi-Arabien hätten geschwiegen, doch Rania geht mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit.
Lese-Probe zu „Entstellt “
Entstellt von Rania Al-Baz Der Tod am Horizont
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Licht ... Schnell, Licht ... Meine Hand betastet zitternd den Nachttisch auf der Suche nach dem Lichtschalter. Endlich erwische ich ihn. Ein sanftes Licht erhellt mein Zimmer. Ich lasse meinen Blick schweifen. Meine Augen betrachten jedes Möbelstück. Ich möchte sicher sein, dass sie wirklich da sind. In meiner Brust schlägt mein Herz zum Zerspringen, ich bekomme kaum Luft, mein Nachthemd ist völlig durchnässt, und ich spüre, wie eiskalte Tropfen über meinen ganzen Körper rinnen. Automatisch fühle ich mit der Hand nach meinen Augen und meinem Gesicht. Ich lebe noch, bin wirklich am Leben: All das war nur ein Albtraum, ein furchtbarer Albtraum. Langsam setze ich mich in meinem Bett auf und lehne mich gegen mein Kopfkissen, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Neben mir liegt mein Mann, er bewegt sich, dreht sich brummend zur Wand, schließlich schläft er wieder ein. Ich bleibe noch ein paar Minuten reglos liegen, dann mache ich das Licht aus und schlüpfe wieder unter das leichte Laken, das unser Bett bedeckt. Ich will nicht wieder einschlafen. Auf keinen Fall. Ich habe zu große Angst, wieder in den grauenhaften Albtraum zu versinken, der mich geweckt hat. Ich schaue meinen Ehemann an, ich will ihn nicht neben mir sehen, dieser Traum hat mir Angst gemacht, aber ich habe auch vor ihm Angst. Die Bilder ziehen immer noch durch meinen Kopf, sie haben sich dort eingebrannt in der Schwärze und der Stille der Nacht. Ich lag ausgestreckt auf dem Boden, steif und erstarrt, Tausende Ameisen krabbelten über meinen Körper, ich spürte sie, sah sie auf mein Gesicht zulaufen, zu meinen Augen, zu meinem Mund. Ich wollte schreien, aber kein Ton drang hinaus. Ich würde überschwemmt und aufgefressen werden von dieser wimmelnden Flut, die nichts aufhalten konnte. Sie bahnte sich unausweichlich ihren Weg, als plötzlich meine Tante Nefta über mir erschien. Sie steckte ihre Hand in diese ekelhafte Masse und zog mich gen Himmel.
Diese unerwartete, glückliche Rettung hätte meinen Qualen ein Ende setzen müssen. Das hätte sie ... Doch nach dem Aufwachen verstärkte sie meine Ängste nur noch, so bedeutungsschwer war sie, eine Botin schlechter Vorzeichen. Natürlich bin ich gläubig, und ich weiß, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Im Islam haben Träume eine Bedeutung, man muss sie jedoch von den Visionen unterscheiden. Einzig die Propheten können Visionen haben. Die berühmteste ist diejenige von Jussef und den sieben Rindern.
Jussef war sehr schön. Die Frau des Königs versuchte ihn zu verführen, aber er wies ihre Annäherungsversuche zurück. So wurde er in den Kerker geworfen. Da er aber für seine Gabe, Träume zu deuten, bekannt war, bat man ihn eines Tages, den Traum des Königs zu entschlüsseln. Der Monarch hatte von sieben dicken Kühen geträumt, welche sieben magere Kühe fraßen. Jussef prophezeite daraufhin sieben Jahre Dürre, die auf sieben Jahre reicher Ernte folgen würden. Darauf stellte sich der König mit wirtschaftlichen Maßnahmen ein. Die Voraussagen von Jussef erwiesen sich als richtig, doch das gut vorbereitete Königreich meisterte die Dürre und wurde vor einer Katastrophe bewahrt. Aus Dankbarkeit schenkte der König Jussef die Freiheit. Und so glauben wir an die Traumdeutung.
Die Tante, die in meinem Traum vom Himmel herabgekommen war, ist seit mehreren Jahren tot, und wenn ein Toter, selbst wenn er dies in guter Absicht tut, uns im Traum an die Hand nimmt, bedeutet das für uns Muslime, dass wir bald zu ihm ins Jenseits kommen werden. Ich bin neunundzwanzig, und deshalb begeistert mich diese Aussicht nicht sonderlich, trotz der Sympathie, die ich für meine verstorbene Tante empfinde. Doch mit einer Art dumpfer Unruhe muss ich immer daran denken. Einmal, weil ich in diesem Glauben erzogen worden bin und ihn achte, dann, weil ich diesen verfluchten Traum in einer Zeit der Zweifel geträumt habe. Ich zerbreche mir über meine Gegenwart und meine Zukunft den Kopf. Ich befinde mich in einer Sackgasse, ich bin unglücklich, verzweifelt, auch wenn es für mich klar ist, dass der Allmächtige mir den Weg vorgibt: Er kommt mir zu Hilfe, indem er mir die edelste und beste Lösung aufzeigt, um meinem Unglück zu entfliehen; er zeigt mir den Weg, der zu ihm führt.
Ich habe diese letzte Lösung noch nicht ins Auge gefasst, und trotzdem hat mein Leben in diesem Moment nicht mehr viel Sinn. Ich sehe nur noch schwarz. Jeden Tag sinke ich ein wenig mehr in die Hölle, in der Gewissheit, dass nichts und niemand mich daraus befreien kann. Trotz meiner jungen Jahre bin ich schon durch einen ungewöhnlichen Lebensweg und eine Reihe von Katastrophen gezeichnet.
Mit noch nicht achtzehn Jahren war ich bereits geschieden. Sogar im Westen ist dies nicht alltäglich. Wenn man dort geschieden ist, fällt dies zwar auf, aber es ist erlaubt und schockiert niemanden. Man sieht darin eher eine Niederlage als etwas Ehrenrühriges, einen bedauerlichen Betriebsunfall und keinen unauslöschlichen Schandfleck. Aber im Orient ist das ganz anders. Die geschiedene Frau ist eine verstoßene Frau, die ihren Mann nicht hat zufriedenstellen können, die ihren Platz als Ehefrau, Mutter und Hausfrau nicht zu halten wusste. Eine Frau, auf die man mit dem Finger zeigt, die man Tausender Übel verdächtigt, der man misstrauen muss.
Ich wurde in Mekka, in Saudi-Arabien, geboren, wo ich immer noch lebe. Mein Großvater war ein angesehener Mann in dieser wichtigen Stadt der islamischen Welt, zu der alle Pilger strömen, der Stadt, in der der heilige Schwarze Stein liegt, der Stadt, die die Regeln und Gesetze unserer Religion garantiert. Stellen Sie sich vor, wie »leicht« es für eine geschiedene Frau ist, in diesem Land zu leben, in dem Tradition und Konformismus herrschen, in dem der Koran heiliger gehalten wird als anderswo und das zwei Heiligtümer beherbergt, die Moschee, in der der Prophet begraben liegt, und jene, wo sich die Kaaba befindet!
Ich habe meine Scheidung kaum verwunden. Dass mein Mann mich verließ, empfand ich als Erniedrigung und vor allem als Schande für meine Familie. Ich fühlte mich furchtbar schuldig. Ich habe sehr viel Zeit und Zuneigung von allen Seiten gebraucht, um über diese Trennung hinwegzukommen. Ich war überzeugt, dass ich nun dazu verdammt war, den Rest meines Lebens allein zu verbringen, und ich sah darin die Strafe des göttlichen Gerichts, den Preis, den ich vor dem Schöpfer für meinen Fehler zu zahlen hatte. Ich musste mein Schicksal mit Geduld annehmen und ich nahm es an , um in meinem Leben wieder Hoffnung zu schöpfen.
Mein Aussehen, das als recht gut galt, und die Tatsache, dass ich nicht auf den Kopf gefallen bin, halfen mir. Während ich ohne große Überzeugung Radiologie studierte, wurde ich dank der Hilfe und Unterstützung eines Freundes meines Vaters Moderatorin bei Kanal 1, dem öffentlichen saudischen Fernsehen. Ich war die erste junge Frau, die im Fernsehen Sendungen präsentierte. Es gab zwar einige Ältere, die diesen Posten vor mir bekleidet hatten, aber eine Moderatorin von zwanzig Jahren, die dazu noch interessante Themen vorstellte, hatte es vorher nicht gegeben. Deshalb blieb mein Erscheinen auf dem Bildschirm nicht unbeachtet. Es war eine kleine Revolution, und das ganze Land sprach davon.
Meine Popularität zog die Männer an. Sie hofierten mich den ganzen Tag. Zu meinem großen Erstaunen wetteiferten sie sogar darum, bei meinem Vater um meine Hand anzuhalten, ohne sich um mein vergangenes eheliches Unglück zu scheren. So fand ich schnell einen neuen Ehemann. Zu schnell.
Raschid war Sänger und hatte sich Hals über Kopf in mich verliebt. Ich war die Einzige, die für ihn infrage kam. Er bedrängte meinen Vater, um ihm das Einverständnis für unsere Ehe abzuringen, und erreichte schließlich sein Ziel. Er war auch schon verheiratet gewesen. Ich hatte damals eine fünfjährige Tochter, Rahaf, und Raschid hatte drei Töchter und einen achtjährigen Sohn. Der Junge sollte mit uns leben, dazu eine seiner Schwestern, was ich hinnahm, ohne nach meiner Meinung gefragt worden zu sein.
Im Laufe der Zeit verwandelte die leidenschaftliche Liebe meines Mannes sich in eine krankhafte Eifersucht, endlos, erdrückend, unerträglich. Ich war sein Besitz, seine Sklavin, die er in einem Käfig halten wollte. Er schloss zwar nicht die Tür hinter mir ab, wie dies manche Männer in Saudi-Arabien tun, aber er verbot mir, mich mit anderen zu treffen, nicht einmal meine Freundinnen durfte ich sehen. Von Männern ganz zu schweigen ... Wenn ich nicht im Fernsehen auftrat, war ich eingesperrt, unter permanenter Kontrolle. Ich hoffte, dass die Geburt unseres ersten Kindes, Saud, heute ist er sieben Jahre alt, seine Eifersucht beschwichtigen würde, aber da hatte ich mich getäuscht. Die Ankunft dieses ersten Sohnes änderte nichts, genauso wenig wie die des zweiten, Nayef, zwei Jahre später. Im Gegenteil, Raschid engte mich immer mehr ein. Am liebsten hätte er gewollt, dass ich einen Stall voll Kinder hätte, um mich besser im Haus halten zu können. Er hat mich manches Mal darum gebeten, in dem Wissen, dass ich, je mehr Kinder ich hätte, desto weniger in der Lage wäre, mich scheiden zu lassen. Er erlaubte, dass ich weiter beim Fernsehen arbeitete, und stellte dies mir gegenüber als Beweis von Toleranz und Großmut hin. So ein Unsinn! Es war unsere einzige Einnahmequelle. Seine Künstlerkarriere hatte sich als kurzlebig erwiesen, und auf dem Posten als Angestellter, den ihm ein Freund bei der Handelskammer von Dschidda besorgt hatte, hielt er es nicht lange aus. So musste ich wohl oder übel arbeiten, um die Familie zu ernähren.
ch tue dies gerne, ohne Gram, ohne mich zu beklagen, genauso wie ich mich bemühe, eine aufmerksame Frau und Mutter zu sein. Ich bezahle die Kleidung von Raschid, die Möbel für das Haus ... Ich nähe, und ich koche auserlesene Gerichte für die vielen Freunde, die mein Mann empfängt. Selbst seine Schwester gesteht mir mit einem Funken Eifersucht, dass ich eine unvergleichliche Köchin bin. Doch all das führt nur dazu, dass man mich übler Pläne verdächtigt und ständig bewacht. Das empört mich, denn es ist so ungerecht und schwer hinzunehmen. Trotzdem beuge ich mich allen Forderungen meines Mannes, wie es sich für eine gute muslimische Ehefrau gehört. Denn bei uns muss sich eine Frau zwangsläufig um ihren Haushalt kümmern und dafür ihre Arbeit aufgeben. Ich verbinde beides miteinander, außerdem tue ich alles, um in Form zu bleiben, pflege mein Äußeres und mein Auftreten mit größter Sorgfalt. Das ist in diesem Land selten und macht Raschids Eifersucht noch größer.
Diese Last, die jeden Tag schwerer wird, trage ich allein, sie erdrückt mich beinahe. Manchmal würde ich mich am liebsten meiner Mutter anvertrauen, aber schon bei dem Gedanken, ihr zu erzählen, was ich täglich durchmache, sterbe ich vor Scham.
Selbst meine treue Freundin Solina weiß nichts davon. Ich hüte mich davor, ihr auch nur andeutungsweise etwas zu verraten, denn ich will nicht zugeben, wie ich behandelt werde, ihr nicht zeigen, dass ich endlich einmal weniger Glück habe als sie, die mich um meine Position als Fernsehstar beneidet. Ehekräche sind bei uns eher eine Sache der Armen. Und so spreche ich mit niemandem darüber. Ich hätte viel zu viel Angst, dass Raschid es erfahren könnte. Ich wage es nicht, mir seine Reaktion vorzustellen.
Oder besser, ich stelle sie mir sehr genau vor. Schon mehrmals hat er mich heftig geohrfeigt, wenn ich versucht habe, mich zu wehren. Wenn Raschid erführe, dass ich ihn bei unseren Freunden als schlechten Ehemann hinstelle, dann wüsste ich, was mich erwartet. So genau, dass ich lieber schweige und auf bessere Tage warte. Allerdings habe ich diese Hoffnung schon fast verloren. Außerdem ist es klüger zu schweigen. Es ist im Grunde auch überflüssig, dass ich mich beschwere oder von meinem Leben erzähle, da Raschid sich durch sein Verhalten schon ganz von selbst bei Solina in ein schlechtes Licht rücken wird.
Eines Abends bin ich im Schlafzimmer und telefoniere im Bett mit meiner Freundin, wie ich es sehr oft tue, als mein Mann ins Zimmer stürzt. Er ist aufgebracht und durchbohrt mich mit seinen Blicken. Ich spüre, dass ein Donnerwetter naht, und ich unterbreche sofort meine Unterhaltung mit Solina: »Entschuldige mich einen Moment, ich glaube, dass Raschid mir etwas sagen will ...« Dann drücke ich den Hörer gegen meine Brust und frage ihn freundlich: »Brauchst du etwas?« Ich habe kaum meinen Satz zu Ende gesprochen, als er jähzornig mit dem Finger auf mich zeigt: »Mit wem telefonierst du?« »Mit Solina, warum?« Außer sich vor Wut kommt Raschid auf mich zu und reißt mir den Hörer aus der Hand. Instinktiv schütze ich mein Gesicht mit den Händen, denn ich bin überzeugt, dass er mich aus irgendeinem Grund schlagen wird. Aber nein, er dreht sich plötzlich um, kehrt mir den Rücken zu und schreit Solina durch den Hörer an: »Du hörst auf, Rania anzurufen, und ich verbiete ihr, mit dir zu telefonieren. Ist das klar?« Dann legt er auf, dreht sich wieder zu mir um und droht: »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Keine Telefonate mehr. Weder mit Solina noch mit irgendwem sonst ...« Ich liege da, gegen mein Kissen gelehnt, und bin wie versteinert. Ich ziehe das Laken hoch bis zum Kinn, als könne ich mich dadurch schützen, und atme erleichtert auf, als Raschid das Zimmer verlässt. Dann starre ich fassungslos auf das Telefon. Mir zu verbieten, mit meiner Freundin zu sprechen ... Das ist doch Wahnsinn! Diese Telefongespräche mit meinen Freundinnen sind meine letzte Verbindung zur Außenwelt. Ohne sie wäre ich völlig allein. Wie kann er mir das nehmen! Mich packt ungeheure Wut, ich würde gerne schreien, aber meine Schreie bleiben in der Kehle stecken, und so vergieße ich eine Flut von Tränen. Ich habe keine Wahl. Bei uns hat der Mann das Sagen, der Frau bleibt nichts übrig, als zu gehorchen. Er ist der Herr. Raschid hat nicht das Format eines Herrn, aber das ändert nichts daran.
Am nächsten Tag ist Raschid nicht da, und ich rufe trotz des Verbots Solina an. Ich möchte mich bei ihr entschuldigen, wenn ich schon nichts erklären kann, aber sobald sie meine Stimme erkennt, erschrickt sie zu Tode: »Rania? Du bist verrückt! Hast du nicht gehört, was dein Mann gesagt hat? Wir dürfen nicht mehr miteinander telefonieren.«
»Aber, Solina, das ist doch lächerlich! Ich möchte unsere Freundschaft nicht kaputt machen, ganz gleich, was Raschid sagt.«
»Nein, Rania, nein, ich möchte keinen Ärger mit deinem Mann. Er könnte sich bei meinem Mann beschweren, und dann würden wir beide bestraft. Wirklich, Rania, es ist besser für mich und für dich. Wir finden schon irgendwann später wieder zusammen, das ist versprochen, ich umarme dich ...« Während ich leise den Hörer auf die Gabel lege, habe ich das furchtbare Gefühl, eine Aussätzige zu sein. Ich fühle, wie mein Leben zerbricht. Ich störe alle anderen, ich bin fehl am Platz. Ich erinnere mich an den furchtbaren Ameisentraum, den ich einige Tage zuvor geträumt habe, und an die Tante, die im Traum gekommen ist, um mich zu holen. Meine Verwirrung ist groß. Immer häufiger muss ich an den Tod denken. Bin ich nicht schon auf gewisse Weise tot? Erneut flehe ich in Gedanken meine Mutter an, mir zu Hilfe zu kommen, aber ich bin nicht in der Lage, mit ihr zu sprechen.
Trotzdem muss ich mich jemandem anvertrauen, dieser Zustand wird allmählich unerträglich. Die Ameisen aus meinem Traum fressen mich allmählich auf. Dieses grässliche Ungeziefer ist mittlerweile in mir drinnen, ich fühle, wie es in meine Eingeweide dringt, sich an meinem Blut labt, mein Herz angreift. Ich werde bald sterben, das ist sicher, ich sehe es voraus: Ich werde sterben, denn meine Tante ist nicht umsonst gekommen. Eines traurigen Nachmittags nehme ich ein weißes Blatt und schreibe langsam, aber bestimmt diese vier Worte auf:
»Dies ist mein Testament.«
In der islamischen Welt ist das Testamentschreiben eine Tradition, die durch den Propheten begründet wurde. Ich beginne also damit, und ohne nachzudenken, ohne die Tragweite dessen, was ich schreibe, zu bedenken, fange ich mit folgender Einleitung an: »Wenn man mich tötet, bitte ich, dass ihr verzeiht. Selbst wenn der Mörder mein Ehemann ist, sucht keine Vergeltung, denn ich verzeihe ihm.«
Dies ist wichtig, denn das muslimische Recht ist hart und streng: Einen Menschen zu töten wird mit dem Tod bestraft, und alle Körperverletzungen oder Diebstähle werden streng geahndet. Nur das Opfer kann die Strafe milder ausfallen lassen, wenn es dies wünscht, wenn es verzeiht.
Doch warum dieser merkwürdige Hinweis auf meinen Mann? Ich kann es mir immer noch nicht erklären. Ich schwöre, als ich die Feder zur Hand nahm, habe ich nicht eine Sekunde daran gedacht, dass er mir nach dem Leben trachten könnte. Und davon abgesehen, woher die Gewissheit, dass jemand mich umbringen würde? Warum habe ich eher an ein Verbrechen als an einen Unfall gedacht? Heute glaube ich, dass sich all das in meinem Unterbewusstsein abspielte und meine Worte mir von meiner Angst und meiner Bitterkeit diktiert wurden. Während ich meinen Letzten Willen aufschreibe, bin ich seelisch schon tot und suche nach Gründen für meinen physischen Tod. Er ist Folge meiner seelischen Zerstörung. Deshalb denke ich weder an einen Unfall noch an eine Krankheit. Solches Elend greift einen körperlich an, wenn man es nicht erwartet. Sobald es einen trifft, ist es genau zu identifizieren, und es versucht nicht, sich zu verstellen. Ich fühle den Tod auf mich zukommen, aber er schreitet maskiert daher, und ich muss erraten, wer sich hinter der Maske verbirgt. Ich werde schnell auf die Lösung kommen, denn ich lebe ja fast wie eine Gefangene. Wenn man mich tötet, kann der Mörder niemand anders sein als jemand aus meinem Umfeld, und mein Umfeld hat sich auf ein Minimum reduziert. Außer meiner Familie und von Zeit zu Zeit meinen Schwiegereltern, die direkt über uns wohnen, meinen Kindern und meinem Mann, seinen sorgfältig ausgewählten Freunden und meinen Kollegen, denen ich nur während meiner Arbeitsstunden begegne, sehe ich niemanden. Ich muss meinen Mörder in diesem kleinen Kreis suchen. Und es ist nicht so ungewöhnlich, dass sich mir Raschids Name aufdrängt, ohne dass ich das will. Wenn ich schreibe, dass man »auch« meinem Ehemann verzeihen sollte, so will ich damit sagen, »im sehr unwahrscheinlichen Fall, dass es sich um ihn handeln sollte«. Was natürlich unvorstellbar ist. Widersprüche, von der Verzweiflung diktiert ...
Mein Unterbewusstsein errät, was geschehen wird, doch im Bewusstsein lüge ich mich an. Oder ich beruhige mich selbst. Vielleicht auch beides zugleich. Denn wenn ich schreibe, »auch wenn der Mörder mein Mann ist«, spreche ich das Offensichtliche aus, ich schreie es geradezu heraus: Nur er kann es sein! Aber es ist hart, die Wahrheit zuzugeben, wenn sie einen stört. Und diese hier stört mich sehr ich will mich nicht von Raschid bedroht fühlen. Für mich bedeutet das, mir eine zweite Niederlage einzugestehen. Dann ist meine Ehe wieder gescheitert, und ich bin von Neuem schuldig. Das Verfassen der übrigen Teile meines Testaments ist sehr viel einfacher, aber trotzdem spüre ich deutlich, was man empfindet, wenn man den Tod vor Augen sieht. Mein Gefühl geht mit mir durch, ich vermische Dinge und Personen, verbinde die geliebten Menschen mit mir vertrauten Gegenständen in der Absicht, den mir wichtigsten Personen das Wertvollste zu vermachen, das, woran ich am meisten hänge, nicht unbedingt das Teuerste. Eine meiner Schwestern und ich haben beide von meiner Mutter eine Armbanduhr geerbt. Jedes Mal wenn eine von uns auf Reisen geht, tauschen wir sie aus: Das ist unsere Art, einander nicht zu verlassen, in Kontakt zu bleiben, an die andere zu denken. Plötzlich kommt mir dieses Ritual in den Sinn, und ich beschließe, dass meine liebe Schwester meine Armbanduhr erben wird.
Ein seltsames Gefühl, an das Danach zu denken. Ich glaube, dass ich mir nicht wirklich vorstellen will, bald zu sterben. Das Abfassen dieses Testamentes ist vor allem ein Versuch, mit meinen Ängsten fertig zu werden und die Menschen, die ich liebe, aufzuzählen. In einem Moment, in dem ich mich furchtbar allein und verlassen fühle, brauche ich Zärtlichkeit und Zuneigung. Während ich im Geiste meine Habseligkeiten verteile, nenne ich die Namen derer, die mich gern haben, und das tröstet mich.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2005 by Editions Michel Lafon
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2007 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: »Christiane Landgrebe«
Diese unerwartete, glückliche Rettung hätte meinen Qualen ein Ende setzen müssen. Das hätte sie ... Doch nach dem Aufwachen verstärkte sie meine Ängste nur noch, so bedeutungsschwer war sie, eine Botin schlechter Vorzeichen. Natürlich bin ich gläubig, und ich weiß, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Im Islam haben Träume eine Bedeutung, man muss sie jedoch von den Visionen unterscheiden. Einzig die Propheten können Visionen haben. Die berühmteste ist diejenige von Jussef und den sieben Rindern.
Jussef war sehr schön. Die Frau des Königs versuchte ihn zu verführen, aber er wies ihre Annäherungsversuche zurück. So wurde er in den Kerker geworfen. Da er aber für seine Gabe, Träume zu deuten, bekannt war, bat man ihn eines Tages, den Traum des Königs zu entschlüsseln. Der Monarch hatte von sieben dicken Kühen geträumt, welche sieben magere Kühe fraßen. Jussef prophezeite daraufhin sieben Jahre Dürre, die auf sieben Jahre reicher Ernte folgen würden. Darauf stellte sich der König mit wirtschaftlichen Maßnahmen ein. Die Voraussagen von Jussef erwiesen sich als richtig, doch das gut vorbereitete Königreich meisterte die Dürre und wurde vor einer Katastrophe bewahrt. Aus Dankbarkeit schenkte der König Jussef die Freiheit. Und so glauben wir an die Traumdeutung.
Die Tante, die in meinem Traum vom Himmel herabgekommen war, ist seit mehreren Jahren tot, und wenn ein Toter, selbst wenn er dies in guter Absicht tut, uns im Traum an die Hand nimmt, bedeutet das für uns Muslime, dass wir bald zu ihm ins Jenseits kommen werden. Ich bin neunundzwanzig, und deshalb begeistert mich diese Aussicht nicht sonderlich, trotz der Sympathie, die ich für meine verstorbene Tante empfinde. Doch mit einer Art dumpfer Unruhe muss ich immer daran denken. Einmal, weil ich in diesem Glauben erzogen worden bin und ihn achte, dann, weil ich diesen verfluchten Traum in einer Zeit der Zweifel geträumt habe. Ich zerbreche mir über meine Gegenwart und meine Zukunft den Kopf. Ich befinde mich in einer Sackgasse, ich bin unglücklich, verzweifelt, auch wenn es für mich klar ist, dass der Allmächtige mir den Weg vorgibt: Er kommt mir zu Hilfe, indem er mir die edelste und beste Lösung aufzeigt, um meinem Unglück zu entfliehen; er zeigt mir den Weg, der zu ihm führt.
Ich habe diese letzte Lösung noch nicht ins Auge gefasst, und trotzdem hat mein Leben in diesem Moment nicht mehr viel Sinn. Ich sehe nur noch schwarz. Jeden Tag sinke ich ein wenig mehr in die Hölle, in der Gewissheit, dass nichts und niemand mich daraus befreien kann. Trotz meiner jungen Jahre bin ich schon durch einen ungewöhnlichen Lebensweg und eine Reihe von Katastrophen gezeichnet.
Mit noch nicht achtzehn Jahren war ich bereits geschieden. Sogar im Westen ist dies nicht alltäglich. Wenn man dort geschieden ist, fällt dies zwar auf, aber es ist erlaubt und schockiert niemanden. Man sieht darin eher eine Niederlage als etwas Ehrenrühriges, einen bedauerlichen Betriebsunfall und keinen unauslöschlichen Schandfleck. Aber im Orient ist das ganz anders. Die geschiedene Frau ist eine verstoßene Frau, die ihren Mann nicht hat zufriedenstellen können, die ihren Platz als Ehefrau, Mutter und Hausfrau nicht zu halten wusste. Eine Frau, auf die man mit dem Finger zeigt, die man Tausender Übel verdächtigt, der man misstrauen muss.
Ich wurde in Mekka, in Saudi-Arabien, geboren, wo ich immer noch lebe. Mein Großvater war ein angesehener Mann in dieser wichtigen Stadt der islamischen Welt, zu der alle Pilger strömen, der Stadt, in der der heilige Schwarze Stein liegt, der Stadt, die die Regeln und Gesetze unserer Religion garantiert. Stellen Sie sich vor, wie »leicht« es für eine geschiedene Frau ist, in diesem Land zu leben, in dem Tradition und Konformismus herrschen, in dem der Koran heiliger gehalten wird als anderswo und das zwei Heiligtümer beherbergt, die Moschee, in der der Prophet begraben liegt, und jene, wo sich die Kaaba befindet!
Ich habe meine Scheidung kaum verwunden. Dass mein Mann mich verließ, empfand ich als Erniedrigung und vor allem als Schande für meine Familie. Ich fühlte mich furchtbar schuldig. Ich habe sehr viel Zeit und Zuneigung von allen Seiten gebraucht, um über diese Trennung hinwegzukommen. Ich war überzeugt, dass ich nun dazu verdammt war, den Rest meines Lebens allein zu verbringen, und ich sah darin die Strafe des göttlichen Gerichts, den Preis, den ich vor dem Schöpfer für meinen Fehler zu zahlen hatte. Ich musste mein Schicksal mit Geduld annehmen und ich nahm es an , um in meinem Leben wieder Hoffnung zu schöpfen.
Mein Aussehen, das als recht gut galt, und die Tatsache, dass ich nicht auf den Kopf gefallen bin, halfen mir. Während ich ohne große Überzeugung Radiologie studierte, wurde ich dank der Hilfe und Unterstützung eines Freundes meines Vaters Moderatorin bei Kanal 1, dem öffentlichen saudischen Fernsehen. Ich war die erste junge Frau, die im Fernsehen Sendungen präsentierte. Es gab zwar einige Ältere, die diesen Posten vor mir bekleidet hatten, aber eine Moderatorin von zwanzig Jahren, die dazu noch interessante Themen vorstellte, hatte es vorher nicht gegeben. Deshalb blieb mein Erscheinen auf dem Bildschirm nicht unbeachtet. Es war eine kleine Revolution, und das ganze Land sprach davon.
Meine Popularität zog die Männer an. Sie hofierten mich den ganzen Tag. Zu meinem großen Erstaunen wetteiferten sie sogar darum, bei meinem Vater um meine Hand anzuhalten, ohne sich um mein vergangenes eheliches Unglück zu scheren. So fand ich schnell einen neuen Ehemann. Zu schnell.
Raschid war Sänger und hatte sich Hals über Kopf in mich verliebt. Ich war die Einzige, die für ihn infrage kam. Er bedrängte meinen Vater, um ihm das Einverständnis für unsere Ehe abzuringen, und erreichte schließlich sein Ziel. Er war auch schon verheiratet gewesen. Ich hatte damals eine fünfjährige Tochter, Rahaf, und Raschid hatte drei Töchter und einen achtjährigen Sohn. Der Junge sollte mit uns leben, dazu eine seiner Schwestern, was ich hinnahm, ohne nach meiner Meinung gefragt worden zu sein.
Im Laufe der Zeit verwandelte die leidenschaftliche Liebe meines Mannes sich in eine krankhafte Eifersucht, endlos, erdrückend, unerträglich. Ich war sein Besitz, seine Sklavin, die er in einem Käfig halten wollte. Er schloss zwar nicht die Tür hinter mir ab, wie dies manche Männer in Saudi-Arabien tun, aber er verbot mir, mich mit anderen zu treffen, nicht einmal meine Freundinnen durfte ich sehen. Von Männern ganz zu schweigen ... Wenn ich nicht im Fernsehen auftrat, war ich eingesperrt, unter permanenter Kontrolle. Ich hoffte, dass die Geburt unseres ersten Kindes, Saud, heute ist er sieben Jahre alt, seine Eifersucht beschwichtigen würde, aber da hatte ich mich getäuscht. Die Ankunft dieses ersten Sohnes änderte nichts, genauso wenig wie die des zweiten, Nayef, zwei Jahre später. Im Gegenteil, Raschid engte mich immer mehr ein. Am liebsten hätte er gewollt, dass ich einen Stall voll Kinder hätte, um mich besser im Haus halten zu können. Er hat mich manches Mal darum gebeten, in dem Wissen, dass ich, je mehr Kinder ich hätte, desto weniger in der Lage wäre, mich scheiden zu lassen. Er erlaubte, dass ich weiter beim Fernsehen arbeitete, und stellte dies mir gegenüber als Beweis von Toleranz und Großmut hin. So ein Unsinn! Es war unsere einzige Einnahmequelle. Seine Künstlerkarriere hatte sich als kurzlebig erwiesen, und auf dem Posten als Angestellter, den ihm ein Freund bei der Handelskammer von Dschidda besorgt hatte, hielt er es nicht lange aus. So musste ich wohl oder übel arbeiten, um die Familie zu ernähren.
ch tue dies gerne, ohne Gram, ohne mich zu beklagen, genauso wie ich mich bemühe, eine aufmerksame Frau und Mutter zu sein. Ich bezahle die Kleidung von Raschid, die Möbel für das Haus ... Ich nähe, und ich koche auserlesene Gerichte für die vielen Freunde, die mein Mann empfängt. Selbst seine Schwester gesteht mir mit einem Funken Eifersucht, dass ich eine unvergleichliche Köchin bin. Doch all das führt nur dazu, dass man mich übler Pläne verdächtigt und ständig bewacht. Das empört mich, denn es ist so ungerecht und schwer hinzunehmen. Trotzdem beuge ich mich allen Forderungen meines Mannes, wie es sich für eine gute muslimische Ehefrau gehört. Denn bei uns muss sich eine Frau zwangsläufig um ihren Haushalt kümmern und dafür ihre Arbeit aufgeben. Ich verbinde beides miteinander, außerdem tue ich alles, um in Form zu bleiben, pflege mein Äußeres und mein Auftreten mit größter Sorgfalt. Das ist in diesem Land selten und macht Raschids Eifersucht noch größer.
Diese Last, die jeden Tag schwerer wird, trage ich allein, sie erdrückt mich beinahe. Manchmal würde ich mich am liebsten meiner Mutter anvertrauen, aber schon bei dem Gedanken, ihr zu erzählen, was ich täglich durchmache, sterbe ich vor Scham.
Selbst meine treue Freundin Solina weiß nichts davon. Ich hüte mich davor, ihr auch nur andeutungsweise etwas zu verraten, denn ich will nicht zugeben, wie ich behandelt werde, ihr nicht zeigen, dass ich endlich einmal weniger Glück habe als sie, die mich um meine Position als Fernsehstar beneidet. Ehekräche sind bei uns eher eine Sache der Armen. Und so spreche ich mit niemandem darüber. Ich hätte viel zu viel Angst, dass Raschid es erfahren könnte. Ich wage es nicht, mir seine Reaktion vorzustellen.
Oder besser, ich stelle sie mir sehr genau vor. Schon mehrmals hat er mich heftig geohrfeigt, wenn ich versucht habe, mich zu wehren. Wenn Raschid erführe, dass ich ihn bei unseren Freunden als schlechten Ehemann hinstelle, dann wüsste ich, was mich erwartet. So genau, dass ich lieber schweige und auf bessere Tage warte. Allerdings habe ich diese Hoffnung schon fast verloren. Außerdem ist es klüger zu schweigen. Es ist im Grunde auch überflüssig, dass ich mich beschwere oder von meinem Leben erzähle, da Raschid sich durch sein Verhalten schon ganz von selbst bei Solina in ein schlechtes Licht rücken wird.
Eines Abends bin ich im Schlafzimmer und telefoniere im Bett mit meiner Freundin, wie ich es sehr oft tue, als mein Mann ins Zimmer stürzt. Er ist aufgebracht und durchbohrt mich mit seinen Blicken. Ich spüre, dass ein Donnerwetter naht, und ich unterbreche sofort meine Unterhaltung mit Solina: »Entschuldige mich einen Moment, ich glaube, dass Raschid mir etwas sagen will ...« Dann drücke ich den Hörer gegen meine Brust und frage ihn freundlich: »Brauchst du etwas?« Ich habe kaum meinen Satz zu Ende gesprochen, als er jähzornig mit dem Finger auf mich zeigt: »Mit wem telefonierst du?« »Mit Solina, warum?« Außer sich vor Wut kommt Raschid auf mich zu und reißt mir den Hörer aus der Hand. Instinktiv schütze ich mein Gesicht mit den Händen, denn ich bin überzeugt, dass er mich aus irgendeinem Grund schlagen wird. Aber nein, er dreht sich plötzlich um, kehrt mir den Rücken zu und schreit Solina durch den Hörer an: »Du hörst auf, Rania anzurufen, und ich verbiete ihr, mit dir zu telefonieren. Ist das klar?« Dann legt er auf, dreht sich wieder zu mir um und droht: »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Keine Telefonate mehr. Weder mit Solina noch mit irgendwem sonst ...« Ich liege da, gegen mein Kissen gelehnt, und bin wie versteinert. Ich ziehe das Laken hoch bis zum Kinn, als könne ich mich dadurch schützen, und atme erleichtert auf, als Raschid das Zimmer verlässt. Dann starre ich fassungslos auf das Telefon. Mir zu verbieten, mit meiner Freundin zu sprechen ... Das ist doch Wahnsinn! Diese Telefongespräche mit meinen Freundinnen sind meine letzte Verbindung zur Außenwelt. Ohne sie wäre ich völlig allein. Wie kann er mir das nehmen! Mich packt ungeheure Wut, ich würde gerne schreien, aber meine Schreie bleiben in der Kehle stecken, und so vergieße ich eine Flut von Tränen. Ich habe keine Wahl. Bei uns hat der Mann das Sagen, der Frau bleibt nichts übrig, als zu gehorchen. Er ist der Herr. Raschid hat nicht das Format eines Herrn, aber das ändert nichts daran.
Am nächsten Tag ist Raschid nicht da, und ich rufe trotz des Verbots Solina an. Ich möchte mich bei ihr entschuldigen, wenn ich schon nichts erklären kann, aber sobald sie meine Stimme erkennt, erschrickt sie zu Tode: »Rania? Du bist verrückt! Hast du nicht gehört, was dein Mann gesagt hat? Wir dürfen nicht mehr miteinander telefonieren.«
»Aber, Solina, das ist doch lächerlich! Ich möchte unsere Freundschaft nicht kaputt machen, ganz gleich, was Raschid sagt.«
»Nein, Rania, nein, ich möchte keinen Ärger mit deinem Mann. Er könnte sich bei meinem Mann beschweren, und dann würden wir beide bestraft. Wirklich, Rania, es ist besser für mich und für dich. Wir finden schon irgendwann später wieder zusammen, das ist versprochen, ich umarme dich ...« Während ich leise den Hörer auf die Gabel lege, habe ich das furchtbare Gefühl, eine Aussätzige zu sein. Ich fühle, wie mein Leben zerbricht. Ich störe alle anderen, ich bin fehl am Platz. Ich erinnere mich an den furchtbaren Ameisentraum, den ich einige Tage zuvor geträumt habe, und an die Tante, die im Traum gekommen ist, um mich zu holen. Meine Verwirrung ist groß. Immer häufiger muss ich an den Tod denken. Bin ich nicht schon auf gewisse Weise tot? Erneut flehe ich in Gedanken meine Mutter an, mir zu Hilfe zu kommen, aber ich bin nicht in der Lage, mit ihr zu sprechen.
Trotzdem muss ich mich jemandem anvertrauen, dieser Zustand wird allmählich unerträglich. Die Ameisen aus meinem Traum fressen mich allmählich auf. Dieses grässliche Ungeziefer ist mittlerweile in mir drinnen, ich fühle, wie es in meine Eingeweide dringt, sich an meinem Blut labt, mein Herz angreift. Ich werde bald sterben, das ist sicher, ich sehe es voraus: Ich werde sterben, denn meine Tante ist nicht umsonst gekommen. Eines traurigen Nachmittags nehme ich ein weißes Blatt und schreibe langsam, aber bestimmt diese vier Worte auf:
»Dies ist mein Testament.«
In der islamischen Welt ist das Testamentschreiben eine Tradition, die durch den Propheten begründet wurde. Ich beginne also damit, und ohne nachzudenken, ohne die Tragweite dessen, was ich schreibe, zu bedenken, fange ich mit folgender Einleitung an: »Wenn man mich tötet, bitte ich, dass ihr verzeiht. Selbst wenn der Mörder mein Ehemann ist, sucht keine Vergeltung, denn ich verzeihe ihm.«
Dies ist wichtig, denn das muslimische Recht ist hart und streng: Einen Menschen zu töten wird mit dem Tod bestraft, und alle Körperverletzungen oder Diebstähle werden streng geahndet. Nur das Opfer kann die Strafe milder ausfallen lassen, wenn es dies wünscht, wenn es verzeiht.
Doch warum dieser merkwürdige Hinweis auf meinen Mann? Ich kann es mir immer noch nicht erklären. Ich schwöre, als ich die Feder zur Hand nahm, habe ich nicht eine Sekunde daran gedacht, dass er mir nach dem Leben trachten könnte. Und davon abgesehen, woher die Gewissheit, dass jemand mich umbringen würde? Warum habe ich eher an ein Verbrechen als an einen Unfall gedacht? Heute glaube ich, dass sich all das in meinem Unterbewusstsein abspielte und meine Worte mir von meiner Angst und meiner Bitterkeit diktiert wurden. Während ich meinen Letzten Willen aufschreibe, bin ich seelisch schon tot und suche nach Gründen für meinen physischen Tod. Er ist Folge meiner seelischen Zerstörung. Deshalb denke ich weder an einen Unfall noch an eine Krankheit. Solches Elend greift einen körperlich an, wenn man es nicht erwartet. Sobald es einen trifft, ist es genau zu identifizieren, und es versucht nicht, sich zu verstellen. Ich fühle den Tod auf mich zukommen, aber er schreitet maskiert daher, und ich muss erraten, wer sich hinter der Maske verbirgt. Ich werde schnell auf die Lösung kommen, denn ich lebe ja fast wie eine Gefangene. Wenn man mich tötet, kann der Mörder niemand anders sein als jemand aus meinem Umfeld, und mein Umfeld hat sich auf ein Minimum reduziert. Außer meiner Familie und von Zeit zu Zeit meinen Schwiegereltern, die direkt über uns wohnen, meinen Kindern und meinem Mann, seinen sorgfältig ausgewählten Freunden und meinen Kollegen, denen ich nur während meiner Arbeitsstunden begegne, sehe ich niemanden. Ich muss meinen Mörder in diesem kleinen Kreis suchen. Und es ist nicht so ungewöhnlich, dass sich mir Raschids Name aufdrängt, ohne dass ich das will. Wenn ich schreibe, dass man »auch« meinem Ehemann verzeihen sollte, so will ich damit sagen, »im sehr unwahrscheinlichen Fall, dass es sich um ihn handeln sollte«. Was natürlich unvorstellbar ist. Widersprüche, von der Verzweiflung diktiert ...
Mein Unterbewusstsein errät, was geschehen wird, doch im Bewusstsein lüge ich mich an. Oder ich beruhige mich selbst. Vielleicht auch beides zugleich. Denn wenn ich schreibe, »auch wenn der Mörder mein Mann ist«, spreche ich das Offensichtliche aus, ich schreie es geradezu heraus: Nur er kann es sein! Aber es ist hart, die Wahrheit zuzugeben, wenn sie einen stört. Und diese hier stört mich sehr ich will mich nicht von Raschid bedroht fühlen. Für mich bedeutet das, mir eine zweite Niederlage einzugestehen. Dann ist meine Ehe wieder gescheitert, und ich bin von Neuem schuldig. Das Verfassen der übrigen Teile meines Testaments ist sehr viel einfacher, aber trotzdem spüre ich deutlich, was man empfindet, wenn man den Tod vor Augen sieht. Mein Gefühl geht mit mir durch, ich vermische Dinge und Personen, verbinde die geliebten Menschen mit mir vertrauten Gegenständen in der Absicht, den mir wichtigsten Personen das Wertvollste zu vermachen, das, woran ich am meisten hänge, nicht unbedingt das Teuerste. Eine meiner Schwestern und ich haben beide von meiner Mutter eine Armbanduhr geerbt. Jedes Mal wenn eine von uns auf Reisen geht, tauschen wir sie aus: Das ist unsere Art, einander nicht zu verlassen, in Kontakt zu bleiben, an die andere zu denken. Plötzlich kommt mir dieses Ritual in den Sinn, und ich beschließe, dass meine liebe Schwester meine Armbanduhr erben wird.
Ein seltsames Gefühl, an das Danach zu denken. Ich glaube, dass ich mir nicht wirklich vorstellen will, bald zu sterben. Das Abfassen dieses Testamentes ist vor allem ein Versuch, mit meinen Ängsten fertig zu werden und die Menschen, die ich liebe, aufzuzählen. In einem Moment, in dem ich mich furchtbar allein und verlassen fühle, brauche ich Zärtlichkeit und Zuneigung. Während ich im Geiste meine Habseligkeiten verteile, nenne ich die Namen derer, die mich gern haben, und das tröstet mich.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2005 by Editions Michel Lafon
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2007 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Übersetzung: »Christiane Landgrebe«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Rania Al- Baz
- 2007, 1, 207 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Christiane Landgrebe
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785722788
- ISBN-13: 9783785722787
Rezension zu „Entstellt “
"Das ergreifende Zeugnis einer schweren Mißhandlung und Rettung." (The Sunday Times)"Eine geschlagene saudische Frau bricht das Schweigen." (The Guardian)
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