Erbarmen
Eine Frau verschwindet spurlos. Niemand weiß, dass die Frau festgehalten wird, in einem Raum voller Dunkelheit. Doch warum wird die Frau gefangengehalten? Carl Mørck, Spezialermittler des Sonderdezernats Q in Kopenhagen, hat keine Zeit zu...
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Produktinformationen zu „Erbarmen “
Eine Frau verschwindet spurlos. Niemand weiß, dass die Frau festgehalten wird, in einem Raum voller Dunkelheit. Doch warum wird die Frau gefangengehalten? Carl Mørck, Spezialermittler des Sonderdezernats Q in Kopenhagen, hat keine Zeit zu verlieren.
"Nicht nur grausam, schön und ergreifend. Sondern auch anrührend komisch."
WDR 5
Lese-Probe zu „Erbarmen “
Erbarmen von Jussi Adler-OlsenProlog
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Sie kratzte sich an den glatten Wänden die Fingerspitzen blutig und hämmerte mit den Fäusten an die dicken Scheiben, bis sie ihre Hände nicht mehr spürte. Immer wieder tastete sie sich in der vollständigen Dunkelheit bis an die Stahltür heran und bohrte ihre Nägel in den Spalt. Aber die Tür ließ sich keinen Millimeter bewegen, und die Kante war scharf.
Als ihr schließlich die Fingernägel abbrachen, fiel sie keuchend auf den eiskalten Boden. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die undurchdringliche Finsternis. Dann entfuhr ihrer Kehle ein Schrei. Ein Schrei, der ihr in den Ohren gellte, bis die Stimme versagte. Als sie den Kopf in den Nacken legte, spürte sie wieder die Ahnung frischer Luft, die von der Decke herunterströmte. Wenn sie Anlauf nähme, könnte sie womöglich dort hinaufspringen und sich an irgendetwas festklammern. Vielleicht würde ja doch etwas passieren.
Ja, vielleicht wären die Teufel dort draußen gezwungen, zu ihr hereinzukommen.
Und wenn sie schnell genug war und mit ausgestreckten Fingern auf deren Augen zielte, würde es ihr vielleicht gelingen, sie außer Gefecht zu setzen. Und dann konnte sie vielleicht entkommen.
Sie saugte an ihren blutenden Fingern. Dann stützte sie sich mit den Händen vom Fußboden ab und zwang sich aufzustehen.
Blind starrte sie an die Decke. Wer mochte wissen, wie hoch die Decke war. Wer wusste, ob es überhaupt etwas gab, woran man sich festhalten konnte. Aber sie musste es versuchen. Sie musste einfach!
Sie zog ihre Jacke aus, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie in eine Ecke. Dann setzte sie mit ausgestreckten Armen zum Sprung an - und stieß ins Leere. Ein paarmal wiederholte sie das, lehnte sich schließlich an die Wand und ruhte sich kurz aus. Dann nahm sie erneut Anlauf und sprang mit aller Kraft hoch ins Dunkel. Die Arme ruderten nach irgendetwas Greifbarem, doch wieder fiel sie zurück auf den Boden. Sie rutschte aus, und als sie mit der Schulter auf den Beton aufschlug, versuchte sie ein Stöhnen zu unterdrücken, aber als ihr Kopf gegen die Wand knallte und sie Sterne sah, schrie sie laut auf.
Danach lag sie lange Zeit vollkommen still da. Sie hätte gern geweint. Aber wenn die Teufel da draußen sie hören konnten, glaubten sie sicher, sie wolle aufgeben. Doch sie würde nicht aufgeben. Im Gegenteil.
Sie musste auf sich achten. Für ihre Peiniger war sie die Frau im Käfig. Aber über die Abstände zwischen den Gitterstäben bestimmte sie selbst. Sie würde weiter denken, sich mit ihren Gedanken die Welt öffnen, sie würde ihnen den Gefallen nicht tun und verrückt werden. Es würde ihnen nicht gelingen, ihren Willen zu brechen, niemals. Das beschloss sie dort auf dem eiskalten Boden, und sie spürte kaum den Schmerz in der Schulter und das Pochen über dem rechten Auge, das längst zugeschwollen war.
Früher oder später würde sie ihnen entkommen.
1
Carl trat einen Schritt näher an den Spiegel heran. Mit dem Zeigefinger fuhr er sich über die Stelle an der Schläfe, wo ihn die Kugel gestreift hatte. Die Wunde war verheilt, aber die Narbe zeichnete sich am Haaransatz deutlich ab. Sofern sich überhaupt jemand die Mühe machte hinzusehen.
Und wer zum Teufel sollte das schon tun?, dachte er und betrachtete prüfend sein Gesicht.
Er hatte sich verändert. Die Falten um den Mund waren tiefer geworden, die dunklen Ringe unter den Augen nicht zu übersehen.
Augen, die etwas ausdrückten, das nie zu Carl Mørck gehört hatte: Gleichgültigkeit. Nein, er war nicht mehr der Alte, der erfahrene Kriminalbeamte, der für seine Arbeit brannte. Er war auch nicht mehr der elegante groß gewachsene Jütländer, bei dessen Anblick sich Augenbrauen hoben und Lippen öffneten. Aber was bedeutete das jetzt noch?
Er knöpfte sein Hemd zu, zog das Jackett über. Den letzten Rest Kaffee kippte er weg, dann knallte er die Wohnungstür hinter sich zu. Die anderen konnten ruhig merken, dass es Zeit war, aus den Federn zu kommen. Beim Zuziehen der Tür fiel sein Blick auf das Namensschild. Das musste er endlich auswechseln.
Vigga war schon vor langer Zeit ausgezogen. Die Sache war gelaufen, auch wenn sie noch nicht geschieden waren. Er ging in Richtung Hestestien. Wenn er sich beeilte, blieb ihm noch Zeit, Hardy eine halbe Stunde im Krankenhaus zu besuchen, bevor er im Präsidium sein musste.
Er sah den Kirchturm, der rot über die nackten Bäume ragte, und er versuchte sich bewusst zu machen, wie viel Glück er gehabt hatte. Immerhin lebte er noch. Nur zwei Zentimeter weiter rechts, und auch Anker wäre noch am Leben. Nur ein Zentimeter weiter links, und es hätte ihn erwischt. Läppische Zentimeter, die ihn von dem Weg zwischen den Feldern und dem Friedhof trennten.
Carl Mørck wollte das alles gern rational verarbeiten, aber das war schwer. Vom Tod wusste er nicht viel. Nur, dass er so unvorhersehbar war wie ein Blitzschlag. Und unendlich still, wenn er eingetreten war.
Aber wie gewalttätig Sterben sein konnte und wie sinnlos, darüber wusste er alles.
Das erste Mordopfer in seiner Laufbahn brannte sich in Carls Netzhaut ein. Gerade mal zwei Wochen nach Abschluss der Polizeischule war das gewesen. Da lag klein und zart vor ihm eine Frau, erwürgt von ihrem eigenen Mann. Die stumpfen Augen und ihr Gesichtsausdruck verfolgten Carl über Wochen. Seither waren ungezählte Fälle dazugekommen. Jeden Morgen hatte er sich innerlich gewappnet und sich vorgestellt, was ihn wieder erwarten würde: blutige Kleidung, wachsbleiche Gesichter, eiskalte Fotos. Jeden Tag hatte er sich die Lügen der Menschen angehört und ihre sinnlosen Entschuldigungen. Jeden Tag ein anderes Verbrechen, jeden Tag neue Methoden. Fünfundzwanzig Jahre bei der Mordkommission der Kriminalpolizei härteten ab. Hatte er gedacht.
Bis zu jenem Tag. Da stand er einem Fall gegenüber, der seinen Panzer durchdrang.
Man hatte ihn, Anker und Hardy nach Amager geschickt. Über einen holperigen Schotterweg waren sie zu einer verfallenen Baracke gefahren. Dort sollte eine Leiche ihre Geschichte erzählen. Wie so oft hatte der Gestank einen Nachbarn aufmerksam gemacht. Wieder so einer, der ganz für sich gelebt hatte und in seinemeigenen Müll sein alkoholisiertes Leben aushauchte. Das hatte man geglaubt, bis man den Nagel entdeckte. Ein Druckluftnagler hatte ihn dem Toten in den Schädel geschlagen. Wegen dieses Nagels war die Mordkommission der Kopenhagener Polizei eingeschaltet worden. An jenem Tag war Carls Team an der Reihe. Weder er noch seine beiden Assistenten hatten Einwände, auch wenn sich Carl wie gewöhnlich über den Arbeitsdruck aufregte und über das langsame Tempo der anderen Teams. Aber wer hatte ahnen können, dass dieser Fall dermaßen fatal enden sollte? Dass kaum fünf Minuten, nachdem sie in den Leichengestank eingetreten waren, Anker in einer Blutlache am Boden liegen und Hardy seine letzten Schritte gegangen sein würde. Und in Carl das Feuer erloschen war, das er so unbedingt brauchte, um seinen Job bei der Kopenhagener Mordkommission zu machen.
2
Die Presse liebte sie: Sie liebte Merete Lynggaards scharfzüngige Redebeiträge im Parlament und ihren Mangel an Respekt gegenüber dem Staatsminister und seinen Abnickern. Sie liebte die stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Partei für ihre Weiblichkeit, für ihren übermütigen Blick und die verführerischen Grübchen in den Wangen. Sie liebte sie für ihre Jugend und ihren Erfolg. Aber vor allem liebte sie Merete Lynggaard, weil sie Spekulationen Raum bot. Warum zeigte sich eine so begabte und attraktive Frau nie öffentlich mit einem Mann? Merete Lynggaard machte Auflage. Lesbisch oder nicht, sie war immer guter Stoff für die Presse.
Das alles wusste Merete nur zu genau.
»Kannst du dich denn nicht mal mit Tage Baggesen verabreden? «, fragte ihre Assistentin zum wiederholten Mal. Auf dem Weg zu Meretes Auto balancierten sie vorsichtig um die Pfützen auf dem Abgeordnetenparkplatz. »Klar, ich weiß schon, dass er nicht der Einzige ist, aber der ist total verrückt nach dir. Wie oft hat er inzwischen versucht, dich einzuladen? Hast du dir überhaupt je die Mühe gemacht, die Zettel zu zählen, die er dir auf den Tisch legt? Hast du den von heute schon gesehen? Gib ihm doch eine Chance, Merete.«
»Warum nimmst du ihn nicht?« Merete schloss ihren kleinen blauen Audi auf und deponierte die Akten auf dem Rücksitz.
»Was soll ich mit dem verkehrspolitischen Sprecher der Radikalen Centrumspartei, Marion? Kannst du mir das mal sagen? Bin ich vielleicht scharf auf Kreisverkehr in Herning?«
Als Merete sich aufrichtete, sah sie vor dem Spielzeugmuseum einen Mann im hellen Trenchcoat, der gerade das Gebäude fotografierte. Oder hatte er sie fotografiert? Sie schüttelte den Kopf. Dieses Gefühl, permanent unter Beobachtung zu stehen, ärgerte sie inzwischen. Das war doch paranoid. Sie musste zusehen, so schnell wie möglich abzuschalten.
»Tage Baggesen ist fünfunddreißig Jahre alt und sieht irre gut aus. Okay, ein paar Kilo abzunehmen würde ihm nicht schaden. Aber dafür hat er einen Landsitz in Vejby. Und meines Wissens noch zwei in Jütland. Was willst du mehr?«
Merete sah sie an und schüttelte den Kopf. »Ja genau. Er ist fünfunddreißig und lebt mit seiner Mutter zusammen. Weißt du was, Marion? Nimm ihn. Ich schenke ihn dir. Er gehört dir!«
Sie nahm ihrer Assistentin einen Stoß Akten aus dem Arm und legte sie zu den anderen auf den Rücksitz. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 17.30 Uhr. Sie war spät dran.
»Deine Stimme wird bei der Abstimmung heute Abend fehlen, Merete.«
»Und wenn schon.« Sie zuckte die Achseln. Als sie in die Politik ging, hatte es gleich zu Anfang eine feste Absprache zwischen ihr und dem Fraktionsvorsitzenden der Demokraten gegeben. Nach achtzehn Uhr stand sie nicht mehr zur Verfügung, es sei denn, zwingend notwendige Arbeiten im Ausschuss oder wichtige Abstimmungen erforderten unbedingt ihre Anwesenheit.
»Kein Problem«, hatte er damals gesagt, wohl wissend, wie viele Stimmen sie auf sich zog. Dann sollte das ja wohl auch heute kein Problem sein.
»Nun komm schon, Merete. Erzähl doch mal, was du vorhast. « Ihre Assistentin neigte den Kopf zur Seite und sah sie an. »Wie heißt er?«
Merete lächelte nur und warf die Tür zu. Es war an der Zeit, Marion Koch auszuwechseln.
Übersetzung: Hannes Thiess
© 2009 der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Sie kratzte sich an den glatten Wänden die Fingerspitzen blutig und hämmerte mit den Fäusten an die dicken Scheiben, bis sie ihre Hände nicht mehr spürte. Immer wieder tastete sie sich in der vollständigen Dunkelheit bis an die Stahltür heran und bohrte ihre Nägel in den Spalt. Aber die Tür ließ sich keinen Millimeter bewegen, und die Kante war scharf.
Als ihr schließlich die Fingernägel abbrachen, fiel sie keuchend auf den eiskalten Boden. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die undurchdringliche Finsternis. Dann entfuhr ihrer Kehle ein Schrei. Ein Schrei, der ihr in den Ohren gellte, bis die Stimme versagte. Als sie den Kopf in den Nacken legte, spürte sie wieder die Ahnung frischer Luft, die von der Decke herunterströmte. Wenn sie Anlauf nähme, könnte sie womöglich dort hinaufspringen und sich an irgendetwas festklammern. Vielleicht würde ja doch etwas passieren.
Ja, vielleicht wären die Teufel dort draußen gezwungen, zu ihr hereinzukommen.
Und wenn sie schnell genug war und mit ausgestreckten Fingern auf deren Augen zielte, würde es ihr vielleicht gelingen, sie außer Gefecht zu setzen. Und dann konnte sie vielleicht entkommen.
Sie saugte an ihren blutenden Fingern. Dann stützte sie sich mit den Händen vom Fußboden ab und zwang sich aufzustehen.
Blind starrte sie an die Decke. Wer mochte wissen, wie hoch die Decke war. Wer wusste, ob es überhaupt etwas gab, woran man sich festhalten konnte. Aber sie musste es versuchen. Sie musste einfach!
Sie zog ihre Jacke aus, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie in eine Ecke. Dann setzte sie mit ausgestreckten Armen zum Sprung an - und stieß ins Leere. Ein paarmal wiederholte sie das, lehnte sich schließlich an die Wand und ruhte sich kurz aus. Dann nahm sie erneut Anlauf und sprang mit aller Kraft hoch ins Dunkel. Die Arme ruderten nach irgendetwas Greifbarem, doch wieder fiel sie zurück auf den Boden. Sie rutschte aus, und als sie mit der Schulter auf den Beton aufschlug, versuchte sie ein Stöhnen zu unterdrücken, aber als ihr Kopf gegen die Wand knallte und sie Sterne sah, schrie sie laut auf.
Danach lag sie lange Zeit vollkommen still da. Sie hätte gern geweint. Aber wenn die Teufel da draußen sie hören konnten, glaubten sie sicher, sie wolle aufgeben. Doch sie würde nicht aufgeben. Im Gegenteil.
Sie musste auf sich achten. Für ihre Peiniger war sie die Frau im Käfig. Aber über die Abstände zwischen den Gitterstäben bestimmte sie selbst. Sie würde weiter denken, sich mit ihren Gedanken die Welt öffnen, sie würde ihnen den Gefallen nicht tun und verrückt werden. Es würde ihnen nicht gelingen, ihren Willen zu brechen, niemals. Das beschloss sie dort auf dem eiskalten Boden, und sie spürte kaum den Schmerz in der Schulter und das Pochen über dem rechten Auge, das längst zugeschwollen war.
Früher oder später würde sie ihnen entkommen.
1
Carl trat einen Schritt näher an den Spiegel heran. Mit dem Zeigefinger fuhr er sich über die Stelle an der Schläfe, wo ihn die Kugel gestreift hatte. Die Wunde war verheilt, aber die Narbe zeichnete sich am Haaransatz deutlich ab. Sofern sich überhaupt jemand die Mühe machte hinzusehen.
Und wer zum Teufel sollte das schon tun?, dachte er und betrachtete prüfend sein Gesicht.
Er hatte sich verändert. Die Falten um den Mund waren tiefer geworden, die dunklen Ringe unter den Augen nicht zu übersehen.
Augen, die etwas ausdrückten, das nie zu Carl Mørck gehört hatte: Gleichgültigkeit. Nein, er war nicht mehr der Alte, der erfahrene Kriminalbeamte, der für seine Arbeit brannte. Er war auch nicht mehr der elegante groß gewachsene Jütländer, bei dessen Anblick sich Augenbrauen hoben und Lippen öffneten. Aber was bedeutete das jetzt noch?
Er knöpfte sein Hemd zu, zog das Jackett über. Den letzten Rest Kaffee kippte er weg, dann knallte er die Wohnungstür hinter sich zu. Die anderen konnten ruhig merken, dass es Zeit war, aus den Federn zu kommen. Beim Zuziehen der Tür fiel sein Blick auf das Namensschild. Das musste er endlich auswechseln.
Vigga war schon vor langer Zeit ausgezogen. Die Sache war gelaufen, auch wenn sie noch nicht geschieden waren. Er ging in Richtung Hestestien. Wenn er sich beeilte, blieb ihm noch Zeit, Hardy eine halbe Stunde im Krankenhaus zu besuchen, bevor er im Präsidium sein musste.
Er sah den Kirchturm, der rot über die nackten Bäume ragte, und er versuchte sich bewusst zu machen, wie viel Glück er gehabt hatte. Immerhin lebte er noch. Nur zwei Zentimeter weiter rechts, und auch Anker wäre noch am Leben. Nur ein Zentimeter weiter links, und es hätte ihn erwischt. Läppische Zentimeter, die ihn von dem Weg zwischen den Feldern und dem Friedhof trennten.
Carl Mørck wollte das alles gern rational verarbeiten, aber das war schwer. Vom Tod wusste er nicht viel. Nur, dass er so unvorhersehbar war wie ein Blitzschlag. Und unendlich still, wenn er eingetreten war.
Aber wie gewalttätig Sterben sein konnte und wie sinnlos, darüber wusste er alles.
Das erste Mordopfer in seiner Laufbahn brannte sich in Carls Netzhaut ein. Gerade mal zwei Wochen nach Abschluss der Polizeischule war das gewesen. Da lag klein und zart vor ihm eine Frau, erwürgt von ihrem eigenen Mann. Die stumpfen Augen und ihr Gesichtsausdruck verfolgten Carl über Wochen. Seither waren ungezählte Fälle dazugekommen. Jeden Morgen hatte er sich innerlich gewappnet und sich vorgestellt, was ihn wieder erwarten würde: blutige Kleidung, wachsbleiche Gesichter, eiskalte Fotos. Jeden Tag hatte er sich die Lügen der Menschen angehört und ihre sinnlosen Entschuldigungen. Jeden Tag ein anderes Verbrechen, jeden Tag neue Methoden. Fünfundzwanzig Jahre bei der Mordkommission der Kriminalpolizei härteten ab. Hatte er gedacht.
Bis zu jenem Tag. Da stand er einem Fall gegenüber, der seinen Panzer durchdrang.
Man hatte ihn, Anker und Hardy nach Amager geschickt. Über einen holperigen Schotterweg waren sie zu einer verfallenen Baracke gefahren. Dort sollte eine Leiche ihre Geschichte erzählen. Wie so oft hatte der Gestank einen Nachbarn aufmerksam gemacht. Wieder so einer, der ganz für sich gelebt hatte und in seinemeigenen Müll sein alkoholisiertes Leben aushauchte. Das hatte man geglaubt, bis man den Nagel entdeckte. Ein Druckluftnagler hatte ihn dem Toten in den Schädel geschlagen. Wegen dieses Nagels war die Mordkommission der Kopenhagener Polizei eingeschaltet worden. An jenem Tag war Carls Team an der Reihe. Weder er noch seine beiden Assistenten hatten Einwände, auch wenn sich Carl wie gewöhnlich über den Arbeitsdruck aufregte und über das langsame Tempo der anderen Teams. Aber wer hatte ahnen können, dass dieser Fall dermaßen fatal enden sollte? Dass kaum fünf Minuten, nachdem sie in den Leichengestank eingetreten waren, Anker in einer Blutlache am Boden liegen und Hardy seine letzten Schritte gegangen sein würde. Und in Carl das Feuer erloschen war, das er so unbedingt brauchte, um seinen Job bei der Kopenhagener Mordkommission zu machen.
2
Die Presse liebte sie: Sie liebte Merete Lynggaards scharfzüngige Redebeiträge im Parlament und ihren Mangel an Respekt gegenüber dem Staatsminister und seinen Abnickern. Sie liebte die stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Partei für ihre Weiblichkeit, für ihren übermütigen Blick und die verführerischen Grübchen in den Wangen. Sie liebte sie für ihre Jugend und ihren Erfolg. Aber vor allem liebte sie Merete Lynggaard, weil sie Spekulationen Raum bot. Warum zeigte sich eine so begabte und attraktive Frau nie öffentlich mit einem Mann? Merete Lynggaard machte Auflage. Lesbisch oder nicht, sie war immer guter Stoff für die Presse.
Das alles wusste Merete nur zu genau.
»Kannst du dich denn nicht mal mit Tage Baggesen verabreden? «, fragte ihre Assistentin zum wiederholten Mal. Auf dem Weg zu Meretes Auto balancierten sie vorsichtig um die Pfützen auf dem Abgeordnetenparkplatz. »Klar, ich weiß schon, dass er nicht der Einzige ist, aber der ist total verrückt nach dir. Wie oft hat er inzwischen versucht, dich einzuladen? Hast du dir überhaupt je die Mühe gemacht, die Zettel zu zählen, die er dir auf den Tisch legt? Hast du den von heute schon gesehen? Gib ihm doch eine Chance, Merete.«
»Warum nimmst du ihn nicht?« Merete schloss ihren kleinen blauen Audi auf und deponierte die Akten auf dem Rücksitz.
»Was soll ich mit dem verkehrspolitischen Sprecher der Radikalen Centrumspartei, Marion? Kannst du mir das mal sagen? Bin ich vielleicht scharf auf Kreisverkehr in Herning?«
Als Merete sich aufrichtete, sah sie vor dem Spielzeugmuseum einen Mann im hellen Trenchcoat, der gerade das Gebäude fotografierte. Oder hatte er sie fotografiert? Sie schüttelte den Kopf. Dieses Gefühl, permanent unter Beobachtung zu stehen, ärgerte sie inzwischen. Das war doch paranoid. Sie musste zusehen, so schnell wie möglich abzuschalten.
»Tage Baggesen ist fünfunddreißig Jahre alt und sieht irre gut aus. Okay, ein paar Kilo abzunehmen würde ihm nicht schaden. Aber dafür hat er einen Landsitz in Vejby. Und meines Wissens noch zwei in Jütland. Was willst du mehr?«
Merete sah sie an und schüttelte den Kopf. »Ja genau. Er ist fünfunddreißig und lebt mit seiner Mutter zusammen. Weißt du was, Marion? Nimm ihn. Ich schenke ihn dir. Er gehört dir!«
Sie nahm ihrer Assistentin einen Stoß Akten aus dem Arm und legte sie zu den anderen auf den Rücksitz. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 17.30 Uhr. Sie war spät dran.
»Deine Stimme wird bei der Abstimmung heute Abend fehlen, Merete.«
»Und wenn schon.« Sie zuckte die Achseln. Als sie in die Politik ging, hatte es gleich zu Anfang eine feste Absprache zwischen ihr und dem Fraktionsvorsitzenden der Demokraten gegeben. Nach achtzehn Uhr stand sie nicht mehr zur Verfügung, es sei denn, zwingend notwendige Arbeiten im Ausschuss oder wichtige Abstimmungen erforderten unbedingt ihre Anwesenheit.
»Kein Problem«, hatte er damals gesagt, wohl wissend, wie viele Stimmen sie auf sich zog. Dann sollte das ja wohl auch heute kein Problem sein.
»Nun komm schon, Merete. Erzähl doch mal, was du vorhast. « Ihre Assistentin neigte den Kopf zur Seite und sah sie an. »Wie heißt er?«
Merete lächelte nur und warf die Tür zu. Es war an der Zeit, Marion Koch auszuwechseln.
Übersetzung: Hannes Thiess
© 2009 der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Jussi Adler-Olsen
Jussi Adler-Olsen, geb. am 2.8.1950 in Kopenhagen, studierte Medizin, Soziologie, Politische Geschichte und Film und arbeitete in vielen verschiedenen Berufen. Er gilt als bestverkaufter dänischer Krimiautor. Jussi Adler-Olsen ist verheiratet und Vater eines Sohnes.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jussi Adler-Olsen
- 431 Seiten, Maße: 13,4 x 19,2 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995705
- ISBN-13: 9783828995703
Rezension zu „Erbarmen “
Eine dänische Nachwuchs-Politikerin verschwindet von Bord einer Fähre, wird fünf Jahre in Isolationshaft in einem teuflisch konstruierten Überdruck-Verlies gefangen gehalten, und nur die Erinnerung daran, wie ihre Mutter ihr "Pu der Bär" vorliest bewahrt sie davor, den Verstand zu verlieren. Der erste Fall des karriereresistenten Vizekriminalkommissar Carl Mørck und seines syrischen Assistenten Hafez el-Assad ist routinierter skandinavischer Krimistoff, mir persönlich eine Spur zu gutmenschelnd - aber das ist Frage des Zeitgeists. (Denis Scheck in "Druckfrisch", ARD)
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