Ewig währt der Zorn
Vor siebzehn Jahren wurden Morgan Winters Eltern brutal ermordet. Nun erfährt sie, dass der falsche Mann für das Verbrechen verurteilt wurde. Der wahre Mörder ist auf freiem Fuß. Morgan will Rache nehmen, doch sie weiß nicht,...
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Produktinformationen zu „Ewig währt der Zorn “
Vor siebzehn Jahren wurden Morgan Winters Eltern brutal ermordet. Nun erfährt sie, dass der falsche Mann für das Verbrechen verurteilt wurde. Der wahre Mörder ist auf freiem Fuß. Morgan will Rache nehmen, doch sie weiß nicht, dass der Killer sie beobachtet und wie nahe er ihr wirklich ist.
"Einer der heißesten Thriller des Jahres!"
COSMOPOLITAN
"Ein eiskalter Thriller und eine brillante Charakterstudie zugleich. Als Leser fragt man sich, welches dunkle Geheimnis die eigene Familiengeschichte birgt."
JAMES ROLLINS
Lese-Probe zu „Ewig währt der Zorn “
Ewig währt der Zorn von Andrea Kane1.
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Der Albtraum kroch wie ein langsam wirkendes Gift in ihren Körper und lähmte sie, als er in die dunkelsten Winkel ihrer Erinnerung vordrang. Es gab kein Entrinnen vor dem entsetzlichen Ende, keine Möglichkeit, die Augen von dem Grauen abzuwenden.
Der Anblick war ihr unerträglich. Der Anblick ihrer entstellten Leichen. Der Anblick ihrer leeren Augen. Der Anblick der Blutlachen, die sich immer weiter unter den reglosen Körpern ausbreiteten, während ihr Leben erlosch.
Mit einem leisen Stöhnen zwang Morgan sich, wach zu werden. Sie richtete sich auf. Ihre Muskeln waren völlig verspannt. Sie drückte den Rücken gegen das Kopfteil aus Eichenholz und kühlte ihre schweißnasse Haut. Das Herz pochte wild in ihrer Brust, und ihr Atem ging flach und schnell.
Es war ein grässlicher Albtraum gewesen.
Sie kniff die Augen zu und konzentrierte sich auf die gedämpften Geräusche Manhattans vor Anbruch der Morgendämmerung. Ab und zu das Rumpeln eines Autos, das durch Schlaglöcher fuhr. Eine Sirene in der Ferne. Genau vor dem Fenster ihres Hauses herrschte die übliche Geräuschkulisse, die Tag und Nacht zu hören war. Das alles war ihr vertraut, verband sie mit dem wahren Leben, spendete ihr Trost. Sie nahm alles in sich auf und versuchte, die Bilder des Albtraums abzuschütteln, ehe diese sie verschlangen.
Die Mühe war vergebens. Die Albträume kamen zwar nur hin und wieder, doch die grauenvolle, lebhafte Erinnerung hatte sich seit nunmehr siebzehn Jahren in Morgans Gedächtnis gebrannt.
Sie schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Das feuchte Nachthemd klebte auf ihrer Haut, und das schulterlange Haar hatte sich um ihren Hals geschlungen. Sie umfasste es mit einer Hand, drehte es zu einem losen Knoten und steckte es mit der Spange zusammen, die auf ihrem Nachttisch lag. Als kalte Zugluft über sie hinwegfuhr, fröstelte sie.
Im Stillen hatte sie mit einem Albtraum gerechnet. Es war im Grunde nicht verwunderlich, denn in der Weihnachtszeit wurde sie oft von entsetzlichen Albträumen gequält. Doch es war ihre eigene Schuld, dass die Lage sich so dramatisch verschlimmert hatte.
Morgan spähte auf die Uhr auf ihrem Nachttisch: 5.10 Uhr. Jeder Versuch, wieder einzuschlafen, war zwecklos. Es hätte nicht geklappt, auch wenn sie es versucht hätte. Es lohnte sich ohnehin nicht mehr. In fünfzig Minuten klingelte der Wecker.
Sie zog ihren Morgenmantel an, ging in den düsteren Korridor und betrat das Gästezimmer gegenüber. Die Sachen aus dem Karton, die sie sich angesehen hatte, lagen auf der Polstertruhe, wo sie alles hingelegt hatte - Erinnerungsstücke auf dem einen Stapel, Fotos auf dem anderen; daneben die Berichte, die sie erst kürzlich entdeckt hatte.
Der Albtraum quälte sie noch immer, als sie das Licht einschaltete. Sie kniete sich neben die Polstertruhe auf den Boden, zog die Fotos zu sich heran und tauchte in die Vergangenheit ein.
Das oberste Foto hatte die größte Bedeutung für sie, und der Anblick war zugleich am schmerzhaftesten. Es war das letzte Bild, auf dem sie alle drei abgebildet waren. Morgan betrachtete es wehmütig. Ihre Mutter, freundlich und elegant. Ihr Vater, stark und dynamisch. Zärtlich hatte er einen Arm um die Schultern seiner Frau geschlungen und eine Hand auf die Schulter des dünnen kleinen Mädchens gelegt, das vor ihnen stand. Das Mädchen hatte die großen, grünen Augen und die feinen Gesichtszüge seiner Mutter und den wachsamen, forschenden Blick seines Vaters.
Morgan drehte das Foto um. Die handgeschriebene Notiz unten auf der Rückseite stammte von ihrer Mutter. Dort stand: Jack, Lara und Morgan. 16 November 1989.
Diese Worte hatte Lara einen Monat vor ihrer Ermordung geschrieben.
Morgan schluckte. Sie legte das Foto aus der Hand und schaute sich die anderen Bilder an. Ihre Mutter währenddes Studiums, als sie mit ihrer besten Freundin und Zimmergenossin Elyse Shore, damals noch Elyse Kellerman, in die Kamera blickte. Die Studienabschlussfeier ihres Vaters an der juristischen Fakultät. Ihre Eltern, wie sie vor der Columbia University standen und Jacks Diplom schwenkten. Ihre Hochzeit. Morgans Geburt. Familienfotos glücklicher Ereignisse, von Morgans erstem Geburtstag bis zu Sommerurlauben am Strand mit den Shores - Elyse, Arthur und Jill. Ganz unten lagen die Fotos, die Morgan ein paar Monate nach der Beerdigung von Elyse geschenkt bekommen hatte. Diese Fotos waren an Weihnachten in Daniel und Rita Kellermans schmuckem Penthouse in der Park Avenue aufgenommen worden. Elyses Eltern hatten für Shore und alle, die seinen Wahlkampf unterstützt hatten, eine Weihnachtsparty gegeben, zu der auch Morgans Eltern gekommen waren.
Es waren die letzten Fotos von Lara und Jack Winter, ehe sie ermordet worden waren. Die nächsten Bilder waren später an diesem Abend in einem Kellergeschoss in Brooklyn von der Spurensicherung aufgenommen worden.
Morgan fröstelte, als sie den Stapel Fotos aus der Hand legte. Sie stand auf und schlang den Morgenmantel fest um ihren Körper. Schluss jetzt! Sie durfte nicht zulassen, dass sie wieder in diesen emotionalen Strudel gezogen wurde. Das konnte sie psychisch nicht verkraften. Dr. Bloom hatte es ihr klipp und klar gesagt.
Sie sollte auf seinen Rat hören. Ihre Energie für andere Dinge verwenden und sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Okay, dann würde ihr Tag heute eben etwas früher beginnen. Sie würde sich eine Kanne Kaffee kochen, duschen, sich anziehen und die Treppe ins Büro hinuntersteigen. Sie musste am frühen Morgen ein paar Kunden anrufen, ehe die Leute zur Arbeit fuhren. Außerdem wartete ein Stapel Unterlagen auf sie, der bearbeitet werden musste. Um halb neun war ihre Therapiesitzung. Das passte gut, denn Dr. Blooms Praxis war nur einen Block von dem Waldorf-Astovin-Hotel entfernt, wo sie um elf ein Gespräch mit einem neuen Kunden hatte. Anschließend würde sie ins Büro zurückkehren, wo sie um dreizehn Uhr mit Charlie Denton zu einem zweiten Gespräch verabredet war. Charlie war ein attraktiver vierundvierzigjähriger Mann, der mit seinem Job bei der Staatsanwaltschaft Manhattan verheiratet war. Da er beruflich sehr eingespannt war und ihm ganz bestimmte Kriterien vorschwebten, was Frauen anging, suchte er noch immer die ideale Partnerin. Es war Morgans Job, diese Partnerin zu finden.
Sie schaltete das Licht aus, verließ das Zimmer und kehrte ihrer Vergangenheit, die verstreut auf der Polstertruhe hinter ihr lag, den Rücken.
Sie hatten den Deal ausgehandelt.
Niemand bei der Staatsanwaltschaft Brooklyn war glücklich darüber. Wieder so ein Mistkerl, der einen Mithäftling belastete, um den eigenen Hals zu retten. Wieder ein Fall, bei dem sich die Rechtsstaatlichkeit mit Darwins Theorie des Überlebens des Stärkeren deckte.
Es war ein Scheißspiel, dass sie diesem Drogendealer Kirk Lando entgegenkommen mussten. Aber sie hatten keine andere Wahl. Lando hatte ihnen einen Polizistenmörder ans Messer geliefert und dafür Strafmilderung erhalten. Das New York Police Department war glücklich. Nate Schiller würde teuer dafür bezahlen, dass er einen der ihren getötet hatte.
Die anderen Knackis hätten Schiller vermutlich die Kehle durchgeschnitten, wäre in Sing Sing bekannt geworden, dass er Sergeant Goddfrey ermordet hatte. Normalerweise wäre es genau anders herum gewesen: Die Ermordung eines Cops hätte im Knast einen Helden aus Schiller gemacht. In diesem Fall aber nicht. Schiller war voll in die Scheiße getreten. Er hatte Goddfrey in Harlem aufgespürt und erschossen; dabei aber hatte zugleich den Verbrecher umgelegt, dem Goddfrey gerade die Handschellen anlegen wollte, um auf diese Weise den einzigen Zeugen seiner Tat zu beseitigen.
Ein schlechter Schachzug, denn dieser Mann war der Unterweltboss Pablo Hernandez gewesen. Sobald jene Mitglieder seiner Gang, die in Sing Sing einsaßen, davon erfuhren, konnte Schiller sein Testament machen.
Der ganze Deal war zum Kotzen, nicht nur wegen Landos Strafmilderung oder Schillers beinahe unausweichlicher Ermordung durch seine Mithäftlinge. Landos Geschichte entsprach der Wahrheit. Ein paar Jugendliche aus der Gegend, die mittlerweile erwachsen waren, hatten die Story bestätigt. Sie hatten gesehen, dass Goddfreys Mörder vom Tatort geflohen war. Zuerst hatten die Jugendlichen eine Beschreibung geliefert; dann hatten sie Schiller bei einer anonymen Gegenüberstellung identifiziert. Es bestand kein Zweifel, dass Schiller, der wegen mehrfachen Mordes verurteilt worden war, auch Goddfrey und Hernandez auf dem Gewissen hatte.
Das aber bedeutete, dass er den Doppelmord in Brooklyn, dessen er sich schuldig bekannt hatte, gar nicht verübt haben konnte.
Die Wende in diesem Fall würde hohe Wellen schlagen. Die Tochter. Der Kongressabgeordnete. Die Mitarbeiter bei der Staatsanwaltschaft Manhattan.
Und ein Cop im Ruhestand, dem die Sache mächtig stinken würde.
2.
Pete Montgomery fuhr in die Einfahrt und starrte auf das Reihenhaus, das ihm als Büro diente, als wäre es ein Feind. Er hatte eine Stinklaune. Er war extra um Viertel vor neun in Dutchess County losgefahren, um nicht in den Berufsverkehr zu geraten. Trotzdem hatte er drei Stunden bis Little Neck gebraucht. Normalerweise schaffte er es in der Hälfte der Zeit; heute hatte die Fahrt so lange gedauert, weil Schneefall eingesetzt hatte. Die Straßen waren von einer dünnen Schneedecke überzogen, die aber ausreichte, um die meisten Autofahrer in ängstliche Hosenscheißer zu verwandeln, die ihre Nasen gegen die Windschutzscheiben pressten und nur noch im Schneckentempo dahinkrochen.
Montgomery sprang aus seinem lädierten braunen 96er Toyota Corolla, der schon hunderttausend Meilen auf dem Tacho hatte. Der Wagen war so oft zusammengeflickt worden, dass die Werkstatt für ihn so etwas wie ein zweites Zuhause war. Aber Monty - wie Montgomery von allen genannt wurde - war überzeugt, dass das Auto noch ein gutes Jahrzehnt durchhalten würde. Außerdem war es das ideale Fahrzeug für einen Privatdetektiv: ein ganz gewöhnlicher, einfacher, unauffälliger Wagen.
Als Monty die Bürotür aufschloss, klingelte das Telefon. Er durchquerte den Raum und nahm den Hörer ab. »Montgomery.«
»Hallo, Monty.« Es war Rich Gabelli, sein ehemaliger Partner im fünfundsiebzigsten Revier in Brooklyn. Sie hatten mehr als zehn Jahre zusammengearbeitet, bis Monty mit fünfzig in den Ruhestand gegangen war. Gabelli war jünger und toleranter; für ihn lag der Ruhestand noch in weiter Ferne.
»Hallo, Rich, was gibt's?« Monty blätterte bereits in seinen Akten und suchte die wichtigsten Fälle heraus.
»Arbeitest du jetzt halbtags? Ich hab's dreimal auf deinem Handy probiert und dich nicht erreicht. Deine Flitterwochen scheinen sich hinzuziehen und 'ne Menge Zeit und Kraft zu verschlingen.«
Monty knurrte. Seitdem er seine Exfrau vor sechs Monaten zum zweiten Mal geheiratet hatte, musste er sich ständig die gutmütigen Spötteleien seiner Freunde gefallen lassen. »Ich war nicht zu Hause bei Sally. Ich war unterwegs und hab die anderen Autofahrer verflucht. Übrigens habe ich deine Nummer auf dem Display gesehen, bin aber nicht rangegangen. Es wird Zeit, dass du dich um dein eigenes Sexualleben kümmerst und nicht immer auf meins schielst.«
»Du hast gut reden«, erwiderte Gabelli. »Sally ist noch immer umwerfend attraktiv. Hast du dir Rose in letzter Zeit mal richtig angesehen? Sie hat zwanzig Pfund zugenommen.«
»Und du dreißig. Für deine Wampe brauchst du einen eigenen Schreibtisch. Sei froh, dass Rose dich nicht verlässt. Was willst du? Ich hab zu tun.«
»Ich habe eine Information für dich.« Monty entging der plötzliche ernste Unterton in Gabellis Stimme nicht.
»Und?«
Gabelli atmete tief aus. »Der Staatsanwalt hat mit Lando einen Deal gemacht. Lando hat ihm den Namen von Goddfreys Killer verraten.«
»Ist doch prima. Okay, ein Deal mit Lando ist zum Kotzen, aber Goddfreys Killer hat es verdient, in der Hölle zu schmoren.« »Stimmt. Aber da ist noch was.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Der Typ, der Goddfrey umgebracht hat, war Nate Schiller.« »Nate Schill... verdammte Kiste«, knurrte Monty. »Bist du sicher?«
»Ja. Schiller hat in Sing Sing damit geprahlt, einen Cop umgenietet zu haben. Er war auch noch so blöd zu sagen, dass es Goddfrey war. Das bedeutet, dass er Hernandez ebenfalls gekillt hat, aber das hat er zu spät bemerkt. Es gibt Beweise, die das bestätigen; darum hat er die Morde an Jack und Laura Winter gestanden. Wenn jemand einen Staatsanwalt umlegt, ist er in Sing Sing ein Star. Wenn er aber einen Gangsterboss tötet, ist sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Und da Goddfrey am Heiligen Abend in Harlem etwa zu der Zeit erschossen wurde, als die Winters in Brooklyn starben, kann Schiller sie nicht umgebracht haben.«
»Verdammt!« Monty warf eine Akte auf den Schreibtisch. »Du hattest von Anfang an recht.«
»Darum ging es mir gar nicht, und darum geht es mir auch jetzt nicht. Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich überrascht. Der Doppelmord an den Winters passte nicht zu Schillers Vorgehensweise. Ich hatte immer das Gefühl, dass persönliche Motive im Spiel waren. Und die Walther PKK? Nicht Schillers Stil.«
»Du weißt, dass er uns gerne auf falsche Fährten gelockt hat. Jedenfalls will die Staatsanwaltschaft Manhattan den Winter-Fall jetzt neu aufrollen.«
»Das überrascht mich nicht. Jack Winter war ihr Goldjunge. Ihnen liegt sehr daran, seinen Mörder zur Strecke zu bringen. Das Problem ist, dass die Akte geschlossen wurde, als Schiller gestanden hat. Das ist jetzt siebzehn Jahre her. Egal, was für einen Wirbel die Staatsanwaltschaft jetzt auch machen würde - wer kann mit diesem Fall schon was anfangen? Ohne Spuren, ohne Zeugen und mit einer dürftigen Liste möglicher Verdächtiger, von denen die meisten entweder tot oder untergetaucht sind. Da könnten sie genauso gut versuchen, einen Hasen aus dem Hut zu zaubern. Die Spuren sind eiskalt.«
»Stimmt. Wir haben die Akte schon ausgegraben. Nichts. Aber der Captain will unbedingt, dass wir die Ermittlungen wieder aufnehmen.«
»Natürlich will er das«, erwiderte Monty. »Er muss sich absichern. Bestimmt ist er heilfroh, dass ich nicht mehr dabei bin. Er weiß, dass ich am Ball bleiben würde, bis ich den Fall gelöst hätte, wäre ich noch Cop.« Monty verstummte und fuhr in rauem Tonfall fort: »Was ist mit Morgan, der Tochter? Weiß sie es schon?«
»Deshalb rufe ich dich an. Der Deal ging gerade erst über die Bühne. Die Staatsanwaltschaft hat Mühe, den ganzen Kram auszugraben, und sie freuen sich nicht gerade, was für Folgen das haben könnte. Sie müssen sicherstellen, dass nichts durchsickert. Die Tochter wird also heute informiert.« Eine bedeutsame Pause. »Sobald wir ihnen grünes Licht geben, nachdem wir hier im Revier alles herausgesucht haben. Und das tue ich gerade.«
Monty verstand die Botschaft. »Dann bleibt mir noch Zeit, vorher mit dem Mädchen zu sprechen.«
»Stimmt. Wenn du das vorhast.«
»Das habe ich vor«, sagte Monty nur. Er sah das Kind mit den tiefliegenden Augen im Geiste vor sich, als wäre es gestern gewesen, dieses Kind, das von einem Augenblick auf den anderen erwachsen geworden war. Sogar heute noch verkrampfte sich sein Magen, wenn er an den Tatort dachte, den er damals vorgefunden hatte.
Meistens gelang es Monty, genügend Abstand zu seinen Fällen zu behalten. Das war ihm damals nicht gelungen.
Es ging ihm noch immer nahe.
»Sie war in einer schrecklichen Verfassung«, sagte Gabelli. »Du warst der Einzige, den sie an sich herangelassen hat.«
»Ja. Mir ging es damals auch ziemlich mies. Darum hatten wir beide ja diesen guten Draht zueinander.«
»Ich erinnere mich.« Gabelli räusperte sich. Auch wenn sie damals Partner gewesen waren, gab es Themen, die er nicht gerne anschnitt. Diese schwierige Zeit in Montys Leben gehörte dazu. »Du solltest dich beeilen. Ich kann die Sache nicht lange rauszögern. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass du das alles nicht von mir erfahren hast, sonst macht der Chef mich zur Schnecke.«
»Kein Problem. Wir haben nie darüber gesprochen«, erwiderte Monty. »Aber unter uns gesagt - ich tue ihm doch nur einen Gefallen, wenn ich es ihr sage. Vielleicht kann ich ein bisschen Schadensbegrenzung betreiben.«
»Du denkst an den Kongressabgeordneten Shore.«
»Klar. Das wird ihm einen Schock versetzen. Als die beiden damals ermordet wurden, war ich der Einzige, dem er nicht mit einer Klage gedroht hat.«
»Er wollte Antworten. Das kann ich ihm nicht verdenken. Er und seine Frau hatten ihre besten Freunde verloren, und ihnen wurde das Sorgerecht für deren Kind übertragen.«
»Er hatte sich besser in der Gewalt, als es mir in der Situation gelungen wäre. Wenn ich gesehen hätte, was das arme kleine Mädchen durchmacht, hätte ich scharfe Geschütze aufgefahren, anstatt nur Drohungen auszustoßen, um meine Antworten zu bekommen.« Monty schob den Aktenstapel zur Seite und nahm einen Block und einen Stift zur Hand. »Wo wohnt Morgan Winter jetzt? Ich will unbedingt mit ihr sprechen, ehe andere an sie rankommen und bevor die Presse es erfährt. Diese Nachricht wird ihr auch so schon schlimm genug zusetzen, ohne dass sie von Reportern belagert wird.«
Papier raschelte. »Sie wohnt in dem Stadthaus, das ihre Eltern ihr in Upper East Side hinterlassen haben. Sie hat ein Unternehmen, das sie auch von dort aus betreibt, eine Art Partnervermittlung für die oberen Zehntausend.« Gabelli las Monty die Adresse vor.
»Danke, Rich. Gib mir eine Stunde, dann kannst du die Hunde von der Leine lassen.« Monty seufzte. »Ich hoffe, Morgan Winter wird damit fertig.«
»Sie ist kein Kind mehr, Monty. Sie ist eine erwachsene Frau. Sie wird es schon verkraften.«
»Meinst du? Ich bin mir nicht so sicher. Sie hat in der Nacht damals nicht nur ihre Eltern verloren. Die beiden wurden brutal ermordet, und sie hat die Leichen gefunden. Sie war traumatisiert. Das Mädchen hat nur deshalb nicht den Verstand verloren, weil es wusste, dass der Killer gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.« Er seufzte. »Und jetzt muss ich ihr sagen, dass der Mann es gar nicht gewesen ist.«
Es war ein Uhr mittags. Morgan knurrte der Magen, als sie in ihr Haus zurückkehrte. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Im Grunde hatte sie nicht einmal Zeit gehabt, Luft zu schnappen, seitdem sie die Türen von Winshore LLC vor fünf Stunden geöffnet hatte. Die Partnervermittlung florierte. Die Telefone hatten ununterbrochen geklingelt, als sie um halb neun zu ihrer Therapiesitzung geeilt war und ihre neue Mitarbeiterin Beth Haynes allein im Büro zurückgelassen hatte. Die Telefone klingelten noch immer, als sie sich vor einer Weile noch einmal übers Handy gemeldet hatte. Beth hatte sie wissen lassen, dass Charlie Denton seinen Termin auf drei Uhr verschoben hatte. Das war gut. Dann hatte Morgan Gelegenheit, ihr Sandwich zu essen, falls es in der nächsten Stunde geliefert wurde.
Sie wischte sich die Schneeflocken vom Mantel, hängte ihn auf und rieb sich die Arme, während sie sich umschaute. Das mit teuren Holzmöbeln und orientalischen Teppichen ausgestattete Erdgeschoss war der Geschäftsbereich von Winshore. Der erste Stock, der ebenfalls dazugehörte, war nicht weniger elegant eingerichtet, aber gemütlicher. Dort befand sich ein kleiner Salon für die Gespräche und ein großer Raum für Fotos und Modeberatungen. Alles war auf Entspannung und Behaglichkeit ausgerichtet.
Unten jedoch herrschten stets reges Treiben und eine eher kühle Geschäftsatmosphäre, die jedoch aufgelockert wurde durch nette Accessoires: Hochzeitsfotos von Kunden auf dem Sideboard, ein paar ausgefallene Kunstgegenstände auf den Schreibtischen und - dank Jill Shore, Morgans Partnerin und beste Freundin - eine Reihe unterschiedlichster Festtagsdekorationen, die sie von ihren Reisen mitgebracht hatte, darunter eine handgefertigte Hanukkah Menorah aus Israel. Außerdem schmückte ein gut zwei Meter hoher Weihnachtsbaum, der fast die Decke berührte, den Raum.
Morgan lächelte, als sie sich am Weihnachtsbaum vorbeiquetschte, um zu Beths Schreibtisch zu gelangen. »Niemand kann uns vorwerfen, den Festtagen nicht genügend Beachtung zu schenken.«
»Stimmt.« Beth zupfte ein paar Kiefernnadeln von ihrem rosafarbenen Kaschmirpullover. »Und Jill ist noch nicht fertig. Sie hat etwas von Glocken gesagt, um die Wintersonnenwende zu feiern, und von Büchern, in denen dieser alte Brauch erklärt wird.«
Morgans vergnügter Blick wanderte durch den Raum. »Wir haben noch eine leere Ecke«, sagte sie und schaute auf den freien Platz neben dem Kamin. »Ich schätze, die wird dem Thema der Wintersonnenwende gewidmet.« Als ihr Magen laut knurrte, verzog sie das Gesicht. »Hast du eine Ahnung, ob Jonah unterwegs ist?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Jonah Vaughn war der Auslieferungsfahrer von Lenny's, dem besten und bekanntesten koscheren Restaurant in New York. Das Geschäft lag in der Delancey Street und lieferte üppig belegte Sandwichs in Büros in Lower East Side und in Brooklyn. Die Partnervermittlung lag zwar außerhalb dieses Gebiets, aber Morgan und Jill hatten eine besondere Beziehung zum Besitzer des Restaurants: Lenny war Jills Großvater. Und da Morgan bei den Shores aufgewachsen war, betrachtete sie ihn ebenfalls als ihren Großvater.
Beth hob den Daumen. »Du hast Glück. Kurz bevor du gekommen bist, hat Jonah vom Lieferwagen aus angerufen. Er müsste in zehn Minuten hier sein.«
»Gott sei Dank. Ich fall fast um vor Hunger.«
»Ein paar Minuten wirst du schon noch durchhalten. Die Stärkung ist unterwegs.« Beth rollte ihren Stuhl ein Stück vom Computer weg und reckte sich. Sie war eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, mit rosigen Wangen, scharfem Verstand, guter Menschenkenntnis und einem Psychologiediplom der Northwestern University. Morgan hatte sie in einem Seminar kennen gelernt und sofort eingestellt. Nach einer sechsmonatigen Ausbildung war Beth auf dem besten Weg, eine ausgezeichnete Mitarbeiterin zu werden, die selbstständig Kundenprofile erstellen konnte.
»Irgendwas Dringendes, das ich wissen muss?« Morgan nahm den Stapel Telefonnotizen auf und blätterte ihn durch.
»Viele neue Anfragen.« Beth notierte sich schnell noch etwas.
»Übrigens, wie war dein Treffen im Waldorf? Ich kenne Rachel Ogden nur vom Telefon. Sie ist kaum älter als ich, aber sie scheint ja eine unglaubliche Powerfrau zu sein.«
»Ist sie auch.« Morgan reichte Beth das Formular, das Rachel ausgefüllt hatte, und die Notizen, die sie während des Gesprächs gemacht hatte, damit Beth beides in eine neue Kundendatei übertrug. »Sie ist mit fünfundzwanzig Jahren schon eine sehr erfolgreiche Unternehmensberaterin. Ich habe ein paar Männer aus unserer Datenbank für sie im Auge. Angefangen mit Charlie Denton. Er ist Anfang vierzig, aber Rachel bevorzugt Männer, die älter sind als sie. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die beiden sich hervorragend verstehen würden.«
Als das Telefon erneut klingelte, seufzte Beth. »Weiter geht's. Bestimmt wieder ein neuer Kunde.«
»Es ist zum Teil Elyses Verdienst, dass wir so viele Anrufe bekommen«, erwiderte Morgan lächelnd. »Sie macht vor jedem Aerobic-und Spinningkurs Werbung für uns.« In ihrer Stimme schwang Zuneigung mit, als sie über Elyse Shore sprach, Jills Mutter. Diese Frau hatte eine unglaubliche Energie. Sie leitete ein exklusives Fitnessstudio an der Ecke Third Avenue und Fünfundachtzigste Straße Ost, wo das Wort »Mund-Propaganda« eine ganz neue Bedeutung erhielt.
Die Eingangstür des Hauses wurde geöffnet, und Jill stürmte herein und schüttelte den Schnee vom Mantel. »Jetzt schneit's aber ordentlich! Das ist die schlechte Nachricht. Jetzt kommt die gute: Ich habe Jonahs Lieferwagen gesehen. Unser Mittagessen ist im Anflug. Keine Minute zu früh. In meinem Magen knurrt es wie in einem Wolfsgehege.«
Jill zog ihren Mantel aus und sprach weiter, als sie sich mit den Fingern durchs Haar strich, um es zu trocknen. Sie war nicht unbedingt eine Schönheit, doch mit ihrem rotblonden Haar, den dunklen Augen, die einen hübschen Kontrast dazu bildeten, und den vollen Lippen war sie sehr attraktiv. Und wenn sie lachte, was oft geschah, erhellte sich ihr ganzes Gesicht.
»Gut, dass Corned Beef frische Energie spendet«, sagte sie zu Morgan. »Mein Nachmittag wird noch hektischer als mein Vormittag. Ein Termin folgt auf den anderen. Zuerst eine Besprechung mit unserem Steuerberater, dann eine mit unserem neuen Software-Entwickler. Zuerst werde ich dazu gedrängt, Geld zu sparen, dann soll ich es mit vollen Händen ausgeben. Um sechs Uhr kann ich bestimmt keinen klaren Gedanken mehr fassen.« Sie wies mögliche Einwände mit einer Handbewegung zurück. »Macht euch keine Sorgen. Ich beschaffe die Dekoration für die Wintersonnenwendfeier auf dem Heimweg. Morgen früh habe ich das ganze Büro geschmückt. Ach so, heute Abend treffe ich mich mit Mom zum Essen. Wir wollen die letzten Einzelheiten für die Party besprechen.«
Jill rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. Ihre Augen strahlten, als sie an die Weihnachtsfeier dachte, die Winshore für seine Kunden ausrichtete. »Ihr werdet Moms Fitnessstudio nicht wiedererkennen, wenn wir fertig sind. Lichterketten, Musik und eine tolle Dekoration. Und ein so reichhaltiges Büfett, dass die Tische sich biegen werden. Das wird ein Hit. Ehe ich's vergesse, Dad hat eine Nachricht auf meinem Handy hinterlassen. Er kommt heute Abend nach Hause. Er fliegt von Washington nach New York, um Zeit zu sparen.«
Jill verstummte, um zu Atem zu kommen. Morgan staunte wieder einmal über die unglaubliche Energie ihrer Freundin. Jill, der Wirbelwind. Frei nach dem Motto »Was kostet die Welt« genoss sie ihr Leben in vollen Zügen und setzte sich über alle Grenzen hinweg. Falls es jemanden gab, der Jill nicht mochte, wusste Morgan nichts davon. Jill war wie eine frische Brise. Für Morgan war sie wie eine Schwester, und sie liebte sie sehr.
»Morg?« Jill runzelte besorgt die Stirn und musterte Morgan nachdenklich. »Alles in Ordnung?«
»Klar. Ich hab bloß Hunger.«
Jill warf einen raschen Blick über die Schulter, um sicherzustellen, dass Beth mit einem Kunden telefonierte. Dann ging sie zu Morgan, zog sie ein Stück zur Seite und senkte die Stimme. »Nein, du hast nicht nur Hunger. Du bist erschöpft. Kein Wunder, dass Dad sich Sorgen um dich macht. Und falls du es noch nicht gewusst hast: Das ist auch der Grund, warum er vom Flughafen sofort hierherkommt. Hattest du wieder eine schlimme Nacht?«
Morgan zuckte mit den Schultern. »Es gab schon schlimmere. Allerdings auch bessere. Im Augenblick hält es sich so ziemlich die Waage.«
Jill zog die Stirn in Falten. »Vielleicht sollte ich die ganze Weihnachtsdekoration auf ein Minimum beschränken, wenigstens in diesem Jahr.«
»Untersteh dich. Deine Weihnachtsstimmung hat nichts mit meinen Albträumen zu tun. Dadurch werde ich im Gegenteil abgelenkt. «
»Das bezweifle ich. Du bist doch total am Ende.«
»Stimmt.« Morgan widersprach ihr nicht. »Ich weiß auch nicht, warum mir die Albträume in diesem Jahr so zusetzen. Dr. Bloom meint, es sei ein Teufelskreis, der sich im Unterbewusstsein fortsetzt. Nachdem ich in den Berichten meiner Mutter gelesen hatte, habe ich eine stärkere Verbindung zu ihr und Dad gespürt. Das hat mich dazu gebracht, mich noch intensiver mit den Berichten zu beschäftigen, wodurch wiederum weitere Albträume ausgelöst wurden.«
»Aber die Albträume waren bereits schlimmer als sonst, ehe du die Berichte in dem Karton gefunden hattest, in dem die Sachen deiner Mutter lagen. Du bist seit Wochen nicht mehr du selbst.«
Morgan rieb sich seufzend die Schläfen. »Ich habe so ein sonderbares Gefühl. Ich kann es einfach nicht abschütteln.«
Ehe Jill etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür, gefolgt von rhythmischem Klopfen. Dann rief jemand laut: »Essen!«
Jonah brauchte kein zweites Mal zu rufen. Jill lief sofort zur Tür und riss sie auf. »Hallo, Jonah«, begrüßte sie den jungen Mann, der das Büro betrat.
»Hallo.« Jonah war groß und schlaksig und versank in seiner Daunenjacke und den Stiefeln. Nur eine Strähne seines rotblonden
Haars lugte unter der Kapuze hervor, und sein Atem bildete Schwaden in der Luft. Doch es genügte der verräterische Duft des Fleisches, der aus seiner braunen Tasche aufstieg, um ihn auszuweisen.
»Du rettest uns das Leben.« Jill nahm ihm die Tasche ab, öffnete sie und genoss den Duft, der daraus emporstieg. »Roggensandwich mit Corned Beef und Senf und eine Dr. Brown's Kirschlimo. Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung.«
Jonah zog seine Kapuze vom Kopf und nickte. »Diesen Satz habe ich in der letzten Stunde ungefähr zehnmal gehört.«
»Kann ich mir gut vorstellen.« Jill wühlte in ihrem Portemonnaie, zog einen Geldschein heraus und drückte ihn Jonah in die Hand. »Kauf dir eine Pizza.«
»Danke.« Er nahm das Trinkgeld entgegen. »Allerdings hab ich schon gegessen. Zwei Portionen Kugel bei eurer Großmutter.« Lenny hatte Jonah den jiddischen Ausdruck für den süßen Nudelauflauf beigebracht. »Ich habe schließlich einen Ruf zu verteidigen.«
Obwohl Jonah Waliser war, verschlang er Rhodas Kugel, seitdem er alt genug war, um alleine mit der U-Bahn zu Lenny zu fahren. Diese Vorliebe für gutes Essen hatte Jonah den Job als Auslieferungsfahrer eingebracht. Lenny, der ihn liebevoll den »Kosher-Jungen« nannte, hatte ihn sofort eingestellt, ihm eine anständige Bezahlung und unbegrenzten Kugel-Verzehr angeboten.
Das Beste an Jonahs Job aber war, dass Lenny ihm Lane vorgestellt hatte. Ein Praktikum bei einem so talentierten und angesehenen Fotografen wie Lane war eine Chance, die sich nicht oft im Leben bot.
»Ich spare das Geld«, murmelte er verträumt.
»Ah«, meinte Morgan. »Bestimmt für deine Kamera.«
»Ja.« Jonahs Augen funkelten. Normalerweise war er ziemlich ruhig, sogar ein bisschen schüchtern. Morgan wusste, dass die Fotografie Jonahs große Leidenschaft war; deshalb machte das Praktikum ihm ungeheuren Spaß. Sobald das Thema »Fotografie« zur Sprache kam, strahlte Jonah wie Jills Weihnachtsbaum.
»Ich habe bei eBay eine supergeile Digitalkamera gesehen«, sagte er. »Eine Olympus E-300 mit Vorblitz und Bildstabilisator. Falls sie noch zu haben ist, wenn Lenny mich am Freitag bezahlt, versuche ich, sie zu ersteigern.«
Jill zeigte auf die drei Computer in dem Büro. »Wenn du diesen Monat zusätzlich Geld verdienen möchtest, kein Problem. Unser System könnte ein paar Software-Updates und eine Wartung vertragen. Hast du Interesse?«
»Klar.« Jonahs Augen leuchteten. Neben der Fotografie waren Computer seine große Leidenschaft. »Nächste Woche beginnen die Ferien. Dann habe ich zwei Wochen frei und könnte ein paar Tage hier arbeiten.«
»Großartig.«
Während Jill und Jonah sich im Fachjargon über Computer unterhielten, nutzte Morgan die Gelegenheit, um ihr Sandwich aus der braunen Tasche zu nehmen und in die Küche zu verschwinden.
Morgan hatte ihr Ziel noch nicht erreicht, als es schon wieder klingelte. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Jonah die Tür öffnete. Ein großer, dunkelhaariger Mann in einem Wollmantel trat ein. Ein Teil seines Gesicht war vom hochgeschlagenen Kragen verdeckt.
Der Besucher klappte den Kragen herunter und knöpfte den Mantel auf. Der Mann kam Morgan irgendwie bekannt vor. Er musste ein Kunde sein. Und das bedeutete, dass sie ihr Sandwich vergessen konnte.
»Hallo, Jonah«, begrüßte der Fremde den jungen Mann. »Lieferst du hier das Mittagessen aus?«
»Ja.« Morgan wusste nicht, wer der Mann war, aber Jonah schien überrascht zu sein, ihn hier zu sehen. »Ich hab noch ein paar Sandwichs übrig. Möchten Sie eins?«
»Nein, ich hab schon gegessen. Aber danke.« Die dunklen Augen des Mannes wanderten von Jonah zu Jill. »Ich möchte Morgan Winter sprechen. Ist sie da?«
»Haben Sie einen Termin?«, erwiderte Jill in freundlichem, aber unverbindlichem Tonfall, der deutlich machte, dass Winshore keine Kunden ohne vorherige Terminabsprache akzeptierte.
»Nein, aber ich muss unbedingt mit ihr sprechen. Ist sie da?« Morgan kannte diese Stimme. Sie gehörte keinem Kunden oder Interessenten.
Die Stimme rief schmerzhafte Erinnerungen an die Vergangenheit wach.
»Ich schaue rasch nach«, sagte Jill zögernd. Ihr war der dringliche Ton des Mannes nicht entgangen. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«
Morgan ging bereits auf den Mann zu, als dieser antwortete.
»Ja. Sagen Sie ihr bitte, Pete Montgomery möchte mit ihr sprechen.«
...
Übersetzung: Karin Meddekis
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Albtraum kroch wie ein langsam wirkendes Gift in ihren Körper und lähmte sie, als er in die dunkelsten Winkel ihrer Erinnerung vordrang. Es gab kein Entrinnen vor dem entsetzlichen Ende, keine Möglichkeit, die Augen von dem Grauen abzuwenden.
Der Anblick war ihr unerträglich. Der Anblick ihrer entstellten Leichen. Der Anblick ihrer leeren Augen. Der Anblick der Blutlachen, die sich immer weiter unter den reglosen Körpern ausbreiteten, während ihr Leben erlosch.
Mit einem leisen Stöhnen zwang Morgan sich, wach zu werden. Sie richtete sich auf. Ihre Muskeln waren völlig verspannt. Sie drückte den Rücken gegen das Kopfteil aus Eichenholz und kühlte ihre schweißnasse Haut. Das Herz pochte wild in ihrer Brust, und ihr Atem ging flach und schnell.
Es war ein grässlicher Albtraum gewesen.
Sie kniff die Augen zu und konzentrierte sich auf die gedämpften Geräusche Manhattans vor Anbruch der Morgendämmerung. Ab und zu das Rumpeln eines Autos, das durch Schlaglöcher fuhr. Eine Sirene in der Ferne. Genau vor dem Fenster ihres Hauses herrschte die übliche Geräuschkulisse, die Tag und Nacht zu hören war. Das alles war ihr vertraut, verband sie mit dem wahren Leben, spendete ihr Trost. Sie nahm alles in sich auf und versuchte, die Bilder des Albtraums abzuschütteln, ehe diese sie verschlangen.
Die Mühe war vergebens. Die Albträume kamen zwar nur hin und wieder, doch die grauenvolle, lebhafte Erinnerung hatte sich seit nunmehr siebzehn Jahren in Morgans Gedächtnis gebrannt.
Sie schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Das feuchte Nachthemd klebte auf ihrer Haut, und das schulterlange Haar hatte sich um ihren Hals geschlungen. Sie umfasste es mit einer Hand, drehte es zu einem losen Knoten und steckte es mit der Spange zusammen, die auf ihrem Nachttisch lag. Als kalte Zugluft über sie hinwegfuhr, fröstelte sie.
Im Stillen hatte sie mit einem Albtraum gerechnet. Es war im Grunde nicht verwunderlich, denn in der Weihnachtszeit wurde sie oft von entsetzlichen Albträumen gequält. Doch es war ihre eigene Schuld, dass die Lage sich so dramatisch verschlimmert hatte.
Morgan spähte auf die Uhr auf ihrem Nachttisch: 5.10 Uhr. Jeder Versuch, wieder einzuschlafen, war zwecklos. Es hätte nicht geklappt, auch wenn sie es versucht hätte. Es lohnte sich ohnehin nicht mehr. In fünfzig Minuten klingelte der Wecker.
Sie zog ihren Morgenmantel an, ging in den düsteren Korridor und betrat das Gästezimmer gegenüber. Die Sachen aus dem Karton, die sie sich angesehen hatte, lagen auf der Polstertruhe, wo sie alles hingelegt hatte - Erinnerungsstücke auf dem einen Stapel, Fotos auf dem anderen; daneben die Berichte, die sie erst kürzlich entdeckt hatte.
Der Albtraum quälte sie noch immer, als sie das Licht einschaltete. Sie kniete sich neben die Polstertruhe auf den Boden, zog die Fotos zu sich heran und tauchte in die Vergangenheit ein.
Das oberste Foto hatte die größte Bedeutung für sie, und der Anblick war zugleich am schmerzhaftesten. Es war das letzte Bild, auf dem sie alle drei abgebildet waren. Morgan betrachtete es wehmütig. Ihre Mutter, freundlich und elegant. Ihr Vater, stark und dynamisch. Zärtlich hatte er einen Arm um die Schultern seiner Frau geschlungen und eine Hand auf die Schulter des dünnen kleinen Mädchens gelegt, das vor ihnen stand. Das Mädchen hatte die großen, grünen Augen und die feinen Gesichtszüge seiner Mutter und den wachsamen, forschenden Blick seines Vaters.
Morgan drehte das Foto um. Die handgeschriebene Notiz unten auf der Rückseite stammte von ihrer Mutter. Dort stand: Jack, Lara und Morgan. 16 November 1989.
Diese Worte hatte Lara einen Monat vor ihrer Ermordung geschrieben.
Morgan schluckte. Sie legte das Foto aus der Hand und schaute sich die anderen Bilder an. Ihre Mutter währenddes Studiums, als sie mit ihrer besten Freundin und Zimmergenossin Elyse Shore, damals noch Elyse Kellerman, in die Kamera blickte. Die Studienabschlussfeier ihres Vaters an der juristischen Fakultät. Ihre Eltern, wie sie vor der Columbia University standen und Jacks Diplom schwenkten. Ihre Hochzeit. Morgans Geburt. Familienfotos glücklicher Ereignisse, von Morgans erstem Geburtstag bis zu Sommerurlauben am Strand mit den Shores - Elyse, Arthur und Jill. Ganz unten lagen die Fotos, die Morgan ein paar Monate nach der Beerdigung von Elyse geschenkt bekommen hatte. Diese Fotos waren an Weihnachten in Daniel und Rita Kellermans schmuckem Penthouse in der Park Avenue aufgenommen worden. Elyses Eltern hatten für Shore und alle, die seinen Wahlkampf unterstützt hatten, eine Weihnachtsparty gegeben, zu der auch Morgans Eltern gekommen waren.
Es waren die letzten Fotos von Lara und Jack Winter, ehe sie ermordet worden waren. Die nächsten Bilder waren später an diesem Abend in einem Kellergeschoss in Brooklyn von der Spurensicherung aufgenommen worden.
Morgan fröstelte, als sie den Stapel Fotos aus der Hand legte. Sie stand auf und schlang den Morgenmantel fest um ihren Körper. Schluss jetzt! Sie durfte nicht zulassen, dass sie wieder in diesen emotionalen Strudel gezogen wurde. Das konnte sie psychisch nicht verkraften. Dr. Bloom hatte es ihr klipp und klar gesagt.
Sie sollte auf seinen Rat hören. Ihre Energie für andere Dinge verwenden und sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Okay, dann würde ihr Tag heute eben etwas früher beginnen. Sie würde sich eine Kanne Kaffee kochen, duschen, sich anziehen und die Treppe ins Büro hinuntersteigen. Sie musste am frühen Morgen ein paar Kunden anrufen, ehe die Leute zur Arbeit fuhren. Außerdem wartete ein Stapel Unterlagen auf sie, der bearbeitet werden musste. Um halb neun war ihre Therapiesitzung. Das passte gut, denn Dr. Blooms Praxis war nur einen Block von dem Waldorf-Astovin-Hotel entfernt, wo sie um elf ein Gespräch mit einem neuen Kunden hatte. Anschließend würde sie ins Büro zurückkehren, wo sie um dreizehn Uhr mit Charlie Denton zu einem zweiten Gespräch verabredet war. Charlie war ein attraktiver vierundvierzigjähriger Mann, der mit seinem Job bei der Staatsanwaltschaft Manhattan verheiratet war. Da er beruflich sehr eingespannt war und ihm ganz bestimmte Kriterien vorschwebten, was Frauen anging, suchte er noch immer die ideale Partnerin. Es war Morgans Job, diese Partnerin zu finden.
Sie schaltete das Licht aus, verließ das Zimmer und kehrte ihrer Vergangenheit, die verstreut auf der Polstertruhe hinter ihr lag, den Rücken.
Sie hatten den Deal ausgehandelt.
Niemand bei der Staatsanwaltschaft Brooklyn war glücklich darüber. Wieder so ein Mistkerl, der einen Mithäftling belastete, um den eigenen Hals zu retten. Wieder ein Fall, bei dem sich die Rechtsstaatlichkeit mit Darwins Theorie des Überlebens des Stärkeren deckte.
Es war ein Scheißspiel, dass sie diesem Drogendealer Kirk Lando entgegenkommen mussten. Aber sie hatten keine andere Wahl. Lando hatte ihnen einen Polizistenmörder ans Messer geliefert und dafür Strafmilderung erhalten. Das New York Police Department war glücklich. Nate Schiller würde teuer dafür bezahlen, dass er einen der ihren getötet hatte.
Die anderen Knackis hätten Schiller vermutlich die Kehle durchgeschnitten, wäre in Sing Sing bekannt geworden, dass er Sergeant Goddfrey ermordet hatte. Normalerweise wäre es genau anders herum gewesen: Die Ermordung eines Cops hätte im Knast einen Helden aus Schiller gemacht. In diesem Fall aber nicht. Schiller war voll in die Scheiße getreten. Er hatte Goddfrey in Harlem aufgespürt und erschossen; dabei aber hatte zugleich den Verbrecher umgelegt, dem Goddfrey gerade die Handschellen anlegen wollte, um auf diese Weise den einzigen Zeugen seiner Tat zu beseitigen.
Ein schlechter Schachzug, denn dieser Mann war der Unterweltboss Pablo Hernandez gewesen. Sobald jene Mitglieder seiner Gang, die in Sing Sing einsaßen, davon erfuhren, konnte Schiller sein Testament machen.
Der ganze Deal war zum Kotzen, nicht nur wegen Landos Strafmilderung oder Schillers beinahe unausweichlicher Ermordung durch seine Mithäftlinge. Landos Geschichte entsprach der Wahrheit. Ein paar Jugendliche aus der Gegend, die mittlerweile erwachsen waren, hatten die Story bestätigt. Sie hatten gesehen, dass Goddfreys Mörder vom Tatort geflohen war. Zuerst hatten die Jugendlichen eine Beschreibung geliefert; dann hatten sie Schiller bei einer anonymen Gegenüberstellung identifiziert. Es bestand kein Zweifel, dass Schiller, der wegen mehrfachen Mordes verurteilt worden war, auch Goddfrey und Hernandez auf dem Gewissen hatte.
Das aber bedeutete, dass er den Doppelmord in Brooklyn, dessen er sich schuldig bekannt hatte, gar nicht verübt haben konnte.
Die Wende in diesem Fall würde hohe Wellen schlagen. Die Tochter. Der Kongressabgeordnete. Die Mitarbeiter bei der Staatsanwaltschaft Manhattan.
Und ein Cop im Ruhestand, dem die Sache mächtig stinken würde.
2.
Pete Montgomery fuhr in die Einfahrt und starrte auf das Reihenhaus, das ihm als Büro diente, als wäre es ein Feind. Er hatte eine Stinklaune. Er war extra um Viertel vor neun in Dutchess County losgefahren, um nicht in den Berufsverkehr zu geraten. Trotzdem hatte er drei Stunden bis Little Neck gebraucht. Normalerweise schaffte er es in der Hälfte der Zeit; heute hatte die Fahrt so lange gedauert, weil Schneefall eingesetzt hatte. Die Straßen waren von einer dünnen Schneedecke überzogen, die aber ausreichte, um die meisten Autofahrer in ängstliche Hosenscheißer zu verwandeln, die ihre Nasen gegen die Windschutzscheiben pressten und nur noch im Schneckentempo dahinkrochen.
Montgomery sprang aus seinem lädierten braunen 96er Toyota Corolla, der schon hunderttausend Meilen auf dem Tacho hatte. Der Wagen war so oft zusammengeflickt worden, dass die Werkstatt für ihn so etwas wie ein zweites Zuhause war. Aber Monty - wie Montgomery von allen genannt wurde - war überzeugt, dass das Auto noch ein gutes Jahrzehnt durchhalten würde. Außerdem war es das ideale Fahrzeug für einen Privatdetektiv: ein ganz gewöhnlicher, einfacher, unauffälliger Wagen.
Als Monty die Bürotür aufschloss, klingelte das Telefon. Er durchquerte den Raum und nahm den Hörer ab. »Montgomery.«
»Hallo, Monty.« Es war Rich Gabelli, sein ehemaliger Partner im fünfundsiebzigsten Revier in Brooklyn. Sie hatten mehr als zehn Jahre zusammengearbeitet, bis Monty mit fünfzig in den Ruhestand gegangen war. Gabelli war jünger und toleranter; für ihn lag der Ruhestand noch in weiter Ferne.
»Hallo, Rich, was gibt's?« Monty blätterte bereits in seinen Akten und suchte die wichtigsten Fälle heraus.
»Arbeitest du jetzt halbtags? Ich hab's dreimal auf deinem Handy probiert und dich nicht erreicht. Deine Flitterwochen scheinen sich hinzuziehen und 'ne Menge Zeit und Kraft zu verschlingen.«
Monty knurrte. Seitdem er seine Exfrau vor sechs Monaten zum zweiten Mal geheiratet hatte, musste er sich ständig die gutmütigen Spötteleien seiner Freunde gefallen lassen. »Ich war nicht zu Hause bei Sally. Ich war unterwegs und hab die anderen Autofahrer verflucht. Übrigens habe ich deine Nummer auf dem Display gesehen, bin aber nicht rangegangen. Es wird Zeit, dass du dich um dein eigenes Sexualleben kümmerst und nicht immer auf meins schielst.«
»Du hast gut reden«, erwiderte Gabelli. »Sally ist noch immer umwerfend attraktiv. Hast du dir Rose in letzter Zeit mal richtig angesehen? Sie hat zwanzig Pfund zugenommen.«
»Und du dreißig. Für deine Wampe brauchst du einen eigenen Schreibtisch. Sei froh, dass Rose dich nicht verlässt. Was willst du? Ich hab zu tun.«
»Ich habe eine Information für dich.« Monty entging der plötzliche ernste Unterton in Gabellis Stimme nicht.
»Und?«
Gabelli atmete tief aus. »Der Staatsanwalt hat mit Lando einen Deal gemacht. Lando hat ihm den Namen von Goddfreys Killer verraten.«
»Ist doch prima. Okay, ein Deal mit Lando ist zum Kotzen, aber Goddfreys Killer hat es verdient, in der Hölle zu schmoren.« »Stimmt. Aber da ist noch was.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Der Typ, der Goddfrey umgebracht hat, war Nate Schiller.« »Nate Schill... verdammte Kiste«, knurrte Monty. »Bist du sicher?«
»Ja. Schiller hat in Sing Sing damit geprahlt, einen Cop umgenietet zu haben. Er war auch noch so blöd zu sagen, dass es Goddfrey war. Das bedeutet, dass er Hernandez ebenfalls gekillt hat, aber das hat er zu spät bemerkt. Es gibt Beweise, die das bestätigen; darum hat er die Morde an Jack und Laura Winter gestanden. Wenn jemand einen Staatsanwalt umlegt, ist er in Sing Sing ein Star. Wenn er aber einen Gangsterboss tötet, ist sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Und da Goddfrey am Heiligen Abend in Harlem etwa zu der Zeit erschossen wurde, als die Winters in Brooklyn starben, kann Schiller sie nicht umgebracht haben.«
»Verdammt!« Monty warf eine Akte auf den Schreibtisch. »Du hattest von Anfang an recht.«
»Darum ging es mir gar nicht, und darum geht es mir auch jetzt nicht. Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich überrascht. Der Doppelmord an den Winters passte nicht zu Schillers Vorgehensweise. Ich hatte immer das Gefühl, dass persönliche Motive im Spiel waren. Und die Walther PKK? Nicht Schillers Stil.«
»Du weißt, dass er uns gerne auf falsche Fährten gelockt hat. Jedenfalls will die Staatsanwaltschaft Manhattan den Winter-Fall jetzt neu aufrollen.«
»Das überrascht mich nicht. Jack Winter war ihr Goldjunge. Ihnen liegt sehr daran, seinen Mörder zur Strecke zu bringen. Das Problem ist, dass die Akte geschlossen wurde, als Schiller gestanden hat. Das ist jetzt siebzehn Jahre her. Egal, was für einen Wirbel die Staatsanwaltschaft jetzt auch machen würde - wer kann mit diesem Fall schon was anfangen? Ohne Spuren, ohne Zeugen und mit einer dürftigen Liste möglicher Verdächtiger, von denen die meisten entweder tot oder untergetaucht sind. Da könnten sie genauso gut versuchen, einen Hasen aus dem Hut zu zaubern. Die Spuren sind eiskalt.«
»Stimmt. Wir haben die Akte schon ausgegraben. Nichts. Aber der Captain will unbedingt, dass wir die Ermittlungen wieder aufnehmen.«
»Natürlich will er das«, erwiderte Monty. »Er muss sich absichern. Bestimmt ist er heilfroh, dass ich nicht mehr dabei bin. Er weiß, dass ich am Ball bleiben würde, bis ich den Fall gelöst hätte, wäre ich noch Cop.« Monty verstummte und fuhr in rauem Tonfall fort: »Was ist mit Morgan, der Tochter? Weiß sie es schon?«
»Deshalb rufe ich dich an. Der Deal ging gerade erst über die Bühne. Die Staatsanwaltschaft hat Mühe, den ganzen Kram auszugraben, und sie freuen sich nicht gerade, was für Folgen das haben könnte. Sie müssen sicherstellen, dass nichts durchsickert. Die Tochter wird also heute informiert.« Eine bedeutsame Pause. »Sobald wir ihnen grünes Licht geben, nachdem wir hier im Revier alles herausgesucht haben. Und das tue ich gerade.«
Monty verstand die Botschaft. »Dann bleibt mir noch Zeit, vorher mit dem Mädchen zu sprechen.«
»Stimmt. Wenn du das vorhast.«
»Das habe ich vor«, sagte Monty nur. Er sah das Kind mit den tiefliegenden Augen im Geiste vor sich, als wäre es gestern gewesen, dieses Kind, das von einem Augenblick auf den anderen erwachsen geworden war. Sogar heute noch verkrampfte sich sein Magen, wenn er an den Tatort dachte, den er damals vorgefunden hatte.
Meistens gelang es Monty, genügend Abstand zu seinen Fällen zu behalten. Das war ihm damals nicht gelungen.
Es ging ihm noch immer nahe.
»Sie war in einer schrecklichen Verfassung«, sagte Gabelli. »Du warst der Einzige, den sie an sich herangelassen hat.«
»Ja. Mir ging es damals auch ziemlich mies. Darum hatten wir beide ja diesen guten Draht zueinander.«
»Ich erinnere mich.« Gabelli räusperte sich. Auch wenn sie damals Partner gewesen waren, gab es Themen, die er nicht gerne anschnitt. Diese schwierige Zeit in Montys Leben gehörte dazu. »Du solltest dich beeilen. Ich kann die Sache nicht lange rauszögern. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass du das alles nicht von mir erfahren hast, sonst macht der Chef mich zur Schnecke.«
»Kein Problem. Wir haben nie darüber gesprochen«, erwiderte Monty. »Aber unter uns gesagt - ich tue ihm doch nur einen Gefallen, wenn ich es ihr sage. Vielleicht kann ich ein bisschen Schadensbegrenzung betreiben.«
»Du denkst an den Kongressabgeordneten Shore.«
»Klar. Das wird ihm einen Schock versetzen. Als die beiden damals ermordet wurden, war ich der Einzige, dem er nicht mit einer Klage gedroht hat.«
»Er wollte Antworten. Das kann ich ihm nicht verdenken. Er und seine Frau hatten ihre besten Freunde verloren, und ihnen wurde das Sorgerecht für deren Kind übertragen.«
»Er hatte sich besser in der Gewalt, als es mir in der Situation gelungen wäre. Wenn ich gesehen hätte, was das arme kleine Mädchen durchmacht, hätte ich scharfe Geschütze aufgefahren, anstatt nur Drohungen auszustoßen, um meine Antworten zu bekommen.« Monty schob den Aktenstapel zur Seite und nahm einen Block und einen Stift zur Hand. »Wo wohnt Morgan Winter jetzt? Ich will unbedingt mit ihr sprechen, ehe andere an sie rankommen und bevor die Presse es erfährt. Diese Nachricht wird ihr auch so schon schlimm genug zusetzen, ohne dass sie von Reportern belagert wird.«
Papier raschelte. »Sie wohnt in dem Stadthaus, das ihre Eltern ihr in Upper East Side hinterlassen haben. Sie hat ein Unternehmen, das sie auch von dort aus betreibt, eine Art Partnervermittlung für die oberen Zehntausend.« Gabelli las Monty die Adresse vor.
»Danke, Rich. Gib mir eine Stunde, dann kannst du die Hunde von der Leine lassen.« Monty seufzte. »Ich hoffe, Morgan Winter wird damit fertig.«
»Sie ist kein Kind mehr, Monty. Sie ist eine erwachsene Frau. Sie wird es schon verkraften.«
»Meinst du? Ich bin mir nicht so sicher. Sie hat in der Nacht damals nicht nur ihre Eltern verloren. Die beiden wurden brutal ermordet, und sie hat die Leichen gefunden. Sie war traumatisiert. Das Mädchen hat nur deshalb nicht den Verstand verloren, weil es wusste, dass der Killer gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.« Er seufzte. »Und jetzt muss ich ihr sagen, dass der Mann es gar nicht gewesen ist.«
Es war ein Uhr mittags. Morgan knurrte der Magen, als sie in ihr Haus zurückkehrte. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Im Grunde hatte sie nicht einmal Zeit gehabt, Luft zu schnappen, seitdem sie die Türen von Winshore LLC vor fünf Stunden geöffnet hatte. Die Partnervermittlung florierte. Die Telefone hatten ununterbrochen geklingelt, als sie um halb neun zu ihrer Therapiesitzung geeilt war und ihre neue Mitarbeiterin Beth Haynes allein im Büro zurückgelassen hatte. Die Telefone klingelten noch immer, als sie sich vor einer Weile noch einmal übers Handy gemeldet hatte. Beth hatte sie wissen lassen, dass Charlie Denton seinen Termin auf drei Uhr verschoben hatte. Das war gut. Dann hatte Morgan Gelegenheit, ihr Sandwich zu essen, falls es in der nächsten Stunde geliefert wurde.
Sie wischte sich die Schneeflocken vom Mantel, hängte ihn auf und rieb sich die Arme, während sie sich umschaute. Das mit teuren Holzmöbeln und orientalischen Teppichen ausgestattete Erdgeschoss war der Geschäftsbereich von Winshore. Der erste Stock, der ebenfalls dazugehörte, war nicht weniger elegant eingerichtet, aber gemütlicher. Dort befand sich ein kleiner Salon für die Gespräche und ein großer Raum für Fotos und Modeberatungen. Alles war auf Entspannung und Behaglichkeit ausgerichtet.
Unten jedoch herrschten stets reges Treiben und eine eher kühle Geschäftsatmosphäre, die jedoch aufgelockert wurde durch nette Accessoires: Hochzeitsfotos von Kunden auf dem Sideboard, ein paar ausgefallene Kunstgegenstände auf den Schreibtischen und - dank Jill Shore, Morgans Partnerin und beste Freundin - eine Reihe unterschiedlichster Festtagsdekorationen, die sie von ihren Reisen mitgebracht hatte, darunter eine handgefertigte Hanukkah Menorah aus Israel. Außerdem schmückte ein gut zwei Meter hoher Weihnachtsbaum, der fast die Decke berührte, den Raum.
Morgan lächelte, als sie sich am Weihnachtsbaum vorbeiquetschte, um zu Beths Schreibtisch zu gelangen. »Niemand kann uns vorwerfen, den Festtagen nicht genügend Beachtung zu schenken.«
»Stimmt.« Beth zupfte ein paar Kiefernnadeln von ihrem rosafarbenen Kaschmirpullover. »Und Jill ist noch nicht fertig. Sie hat etwas von Glocken gesagt, um die Wintersonnenwende zu feiern, und von Büchern, in denen dieser alte Brauch erklärt wird.«
Morgans vergnügter Blick wanderte durch den Raum. »Wir haben noch eine leere Ecke«, sagte sie und schaute auf den freien Platz neben dem Kamin. »Ich schätze, die wird dem Thema der Wintersonnenwende gewidmet.« Als ihr Magen laut knurrte, verzog sie das Gesicht. »Hast du eine Ahnung, ob Jonah unterwegs ist?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Jonah Vaughn war der Auslieferungsfahrer von Lenny's, dem besten und bekanntesten koscheren Restaurant in New York. Das Geschäft lag in der Delancey Street und lieferte üppig belegte Sandwichs in Büros in Lower East Side und in Brooklyn. Die Partnervermittlung lag zwar außerhalb dieses Gebiets, aber Morgan und Jill hatten eine besondere Beziehung zum Besitzer des Restaurants: Lenny war Jills Großvater. Und da Morgan bei den Shores aufgewachsen war, betrachtete sie ihn ebenfalls als ihren Großvater.
Beth hob den Daumen. »Du hast Glück. Kurz bevor du gekommen bist, hat Jonah vom Lieferwagen aus angerufen. Er müsste in zehn Minuten hier sein.«
»Gott sei Dank. Ich fall fast um vor Hunger.«
»Ein paar Minuten wirst du schon noch durchhalten. Die Stärkung ist unterwegs.« Beth rollte ihren Stuhl ein Stück vom Computer weg und reckte sich. Sie war eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, mit rosigen Wangen, scharfem Verstand, guter Menschenkenntnis und einem Psychologiediplom der Northwestern University. Morgan hatte sie in einem Seminar kennen gelernt und sofort eingestellt. Nach einer sechsmonatigen Ausbildung war Beth auf dem besten Weg, eine ausgezeichnete Mitarbeiterin zu werden, die selbstständig Kundenprofile erstellen konnte.
»Irgendwas Dringendes, das ich wissen muss?« Morgan nahm den Stapel Telefonnotizen auf und blätterte ihn durch.
»Viele neue Anfragen.« Beth notierte sich schnell noch etwas.
»Übrigens, wie war dein Treffen im Waldorf? Ich kenne Rachel Ogden nur vom Telefon. Sie ist kaum älter als ich, aber sie scheint ja eine unglaubliche Powerfrau zu sein.«
»Ist sie auch.« Morgan reichte Beth das Formular, das Rachel ausgefüllt hatte, und die Notizen, die sie während des Gesprächs gemacht hatte, damit Beth beides in eine neue Kundendatei übertrug. »Sie ist mit fünfundzwanzig Jahren schon eine sehr erfolgreiche Unternehmensberaterin. Ich habe ein paar Männer aus unserer Datenbank für sie im Auge. Angefangen mit Charlie Denton. Er ist Anfang vierzig, aber Rachel bevorzugt Männer, die älter sind als sie. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die beiden sich hervorragend verstehen würden.«
Als das Telefon erneut klingelte, seufzte Beth. »Weiter geht's. Bestimmt wieder ein neuer Kunde.«
»Es ist zum Teil Elyses Verdienst, dass wir so viele Anrufe bekommen«, erwiderte Morgan lächelnd. »Sie macht vor jedem Aerobic-und Spinningkurs Werbung für uns.« In ihrer Stimme schwang Zuneigung mit, als sie über Elyse Shore sprach, Jills Mutter. Diese Frau hatte eine unglaubliche Energie. Sie leitete ein exklusives Fitnessstudio an der Ecke Third Avenue und Fünfundachtzigste Straße Ost, wo das Wort »Mund-Propaganda« eine ganz neue Bedeutung erhielt.
Die Eingangstür des Hauses wurde geöffnet, und Jill stürmte herein und schüttelte den Schnee vom Mantel. »Jetzt schneit's aber ordentlich! Das ist die schlechte Nachricht. Jetzt kommt die gute: Ich habe Jonahs Lieferwagen gesehen. Unser Mittagessen ist im Anflug. Keine Minute zu früh. In meinem Magen knurrt es wie in einem Wolfsgehege.«
Jill zog ihren Mantel aus und sprach weiter, als sie sich mit den Fingern durchs Haar strich, um es zu trocknen. Sie war nicht unbedingt eine Schönheit, doch mit ihrem rotblonden Haar, den dunklen Augen, die einen hübschen Kontrast dazu bildeten, und den vollen Lippen war sie sehr attraktiv. Und wenn sie lachte, was oft geschah, erhellte sich ihr ganzes Gesicht.
»Gut, dass Corned Beef frische Energie spendet«, sagte sie zu Morgan. »Mein Nachmittag wird noch hektischer als mein Vormittag. Ein Termin folgt auf den anderen. Zuerst eine Besprechung mit unserem Steuerberater, dann eine mit unserem neuen Software-Entwickler. Zuerst werde ich dazu gedrängt, Geld zu sparen, dann soll ich es mit vollen Händen ausgeben. Um sechs Uhr kann ich bestimmt keinen klaren Gedanken mehr fassen.« Sie wies mögliche Einwände mit einer Handbewegung zurück. »Macht euch keine Sorgen. Ich beschaffe die Dekoration für die Wintersonnenwendfeier auf dem Heimweg. Morgen früh habe ich das ganze Büro geschmückt. Ach so, heute Abend treffe ich mich mit Mom zum Essen. Wir wollen die letzten Einzelheiten für die Party besprechen.«
Jill rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. Ihre Augen strahlten, als sie an die Weihnachtsfeier dachte, die Winshore für seine Kunden ausrichtete. »Ihr werdet Moms Fitnessstudio nicht wiedererkennen, wenn wir fertig sind. Lichterketten, Musik und eine tolle Dekoration. Und ein so reichhaltiges Büfett, dass die Tische sich biegen werden. Das wird ein Hit. Ehe ich's vergesse, Dad hat eine Nachricht auf meinem Handy hinterlassen. Er kommt heute Abend nach Hause. Er fliegt von Washington nach New York, um Zeit zu sparen.«
Jill verstummte, um zu Atem zu kommen. Morgan staunte wieder einmal über die unglaubliche Energie ihrer Freundin. Jill, der Wirbelwind. Frei nach dem Motto »Was kostet die Welt« genoss sie ihr Leben in vollen Zügen und setzte sich über alle Grenzen hinweg. Falls es jemanden gab, der Jill nicht mochte, wusste Morgan nichts davon. Jill war wie eine frische Brise. Für Morgan war sie wie eine Schwester, und sie liebte sie sehr.
»Morg?« Jill runzelte besorgt die Stirn und musterte Morgan nachdenklich. »Alles in Ordnung?«
»Klar. Ich hab bloß Hunger.«
Jill warf einen raschen Blick über die Schulter, um sicherzustellen, dass Beth mit einem Kunden telefonierte. Dann ging sie zu Morgan, zog sie ein Stück zur Seite und senkte die Stimme. »Nein, du hast nicht nur Hunger. Du bist erschöpft. Kein Wunder, dass Dad sich Sorgen um dich macht. Und falls du es noch nicht gewusst hast: Das ist auch der Grund, warum er vom Flughafen sofort hierherkommt. Hattest du wieder eine schlimme Nacht?«
Morgan zuckte mit den Schultern. »Es gab schon schlimmere. Allerdings auch bessere. Im Augenblick hält es sich so ziemlich die Waage.«
Jill zog die Stirn in Falten. »Vielleicht sollte ich die ganze Weihnachtsdekoration auf ein Minimum beschränken, wenigstens in diesem Jahr.«
»Untersteh dich. Deine Weihnachtsstimmung hat nichts mit meinen Albträumen zu tun. Dadurch werde ich im Gegenteil abgelenkt. «
»Das bezweifle ich. Du bist doch total am Ende.«
»Stimmt.« Morgan widersprach ihr nicht. »Ich weiß auch nicht, warum mir die Albträume in diesem Jahr so zusetzen. Dr. Bloom meint, es sei ein Teufelskreis, der sich im Unterbewusstsein fortsetzt. Nachdem ich in den Berichten meiner Mutter gelesen hatte, habe ich eine stärkere Verbindung zu ihr und Dad gespürt. Das hat mich dazu gebracht, mich noch intensiver mit den Berichten zu beschäftigen, wodurch wiederum weitere Albträume ausgelöst wurden.«
»Aber die Albträume waren bereits schlimmer als sonst, ehe du die Berichte in dem Karton gefunden hattest, in dem die Sachen deiner Mutter lagen. Du bist seit Wochen nicht mehr du selbst.«
Morgan rieb sich seufzend die Schläfen. »Ich habe so ein sonderbares Gefühl. Ich kann es einfach nicht abschütteln.«
Ehe Jill etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür, gefolgt von rhythmischem Klopfen. Dann rief jemand laut: »Essen!«
Jonah brauchte kein zweites Mal zu rufen. Jill lief sofort zur Tür und riss sie auf. »Hallo, Jonah«, begrüßte sie den jungen Mann, der das Büro betrat.
»Hallo.« Jonah war groß und schlaksig und versank in seiner Daunenjacke und den Stiefeln. Nur eine Strähne seines rotblonden
Haars lugte unter der Kapuze hervor, und sein Atem bildete Schwaden in der Luft. Doch es genügte der verräterische Duft des Fleisches, der aus seiner braunen Tasche aufstieg, um ihn auszuweisen.
»Du rettest uns das Leben.« Jill nahm ihm die Tasche ab, öffnete sie und genoss den Duft, der daraus emporstieg. »Roggensandwich mit Corned Beef und Senf und eine Dr. Brown's Kirschlimo. Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung.«
Jonah zog seine Kapuze vom Kopf und nickte. »Diesen Satz habe ich in der letzten Stunde ungefähr zehnmal gehört.«
»Kann ich mir gut vorstellen.« Jill wühlte in ihrem Portemonnaie, zog einen Geldschein heraus und drückte ihn Jonah in die Hand. »Kauf dir eine Pizza.«
»Danke.« Er nahm das Trinkgeld entgegen. »Allerdings hab ich schon gegessen. Zwei Portionen Kugel bei eurer Großmutter.« Lenny hatte Jonah den jiddischen Ausdruck für den süßen Nudelauflauf beigebracht. »Ich habe schließlich einen Ruf zu verteidigen.«
Obwohl Jonah Waliser war, verschlang er Rhodas Kugel, seitdem er alt genug war, um alleine mit der U-Bahn zu Lenny zu fahren. Diese Vorliebe für gutes Essen hatte Jonah den Job als Auslieferungsfahrer eingebracht. Lenny, der ihn liebevoll den »Kosher-Jungen« nannte, hatte ihn sofort eingestellt, ihm eine anständige Bezahlung und unbegrenzten Kugel-Verzehr angeboten.
Das Beste an Jonahs Job aber war, dass Lenny ihm Lane vorgestellt hatte. Ein Praktikum bei einem so talentierten und angesehenen Fotografen wie Lane war eine Chance, die sich nicht oft im Leben bot.
»Ich spare das Geld«, murmelte er verträumt.
»Ah«, meinte Morgan. »Bestimmt für deine Kamera.«
»Ja.« Jonahs Augen funkelten. Normalerweise war er ziemlich ruhig, sogar ein bisschen schüchtern. Morgan wusste, dass die Fotografie Jonahs große Leidenschaft war; deshalb machte das Praktikum ihm ungeheuren Spaß. Sobald das Thema »Fotografie« zur Sprache kam, strahlte Jonah wie Jills Weihnachtsbaum.
»Ich habe bei eBay eine supergeile Digitalkamera gesehen«, sagte er. »Eine Olympus E-300 mit Vorblitz und Bildstabilisator. Falls sie noch zu haben ist, wenn Lenny mich am Freitag bezahlt, versuche ich, sie zu ersteigern.«
Jill zeigte auf die drei Computer in dem Büro. »Wenn du diesen Monat zusätzlich Geld verdienen möchtest, kein Problem. Unser System könnte ein paar Software-Updates und eine Wartung vertragen. Hast du Interesse?«
»Klar.« Jonahs Augen leuchteten. Neben der Fotografie waren Computer seine große Leidenschaft. »Nächste Woche beginnen die Ferien. Dann habe ich zwei Wochen frei und könnte ein paar Tage hier arbeiten.«
»Großartig.«
Während Jill und Jonah sich im Fachjargon über Computer unterhielten, nutzte Morgan die Gelegenheit, um ihr Sandwich aus der braunen Tasche zu nehmen und in die Küche zu verschwinden.
Morgan hatte ihr Ziel noch nicht erreicht, als es schon wieder klingelte. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Jonah die Tür öffnete. Ein großer, dunkelhaariger Mann in einem Wollmantel trat ein. Ein Teil seines Gesicht war vom hochgeschlagenen Kragen verdeckt.
Der Besucher klappte den Kragen herunter und knöpfte den Mantel auf. Der Mann kam Morgan irgendwie bekannt vor. Er musste ein Kunde sein. Und das bedeutete, dass sie ihr Sandwich vergessen konnte.
»Hallo, Jonah«, begrüßte der Fremde den jungen Mann. »Lieferst du hier das Mittagessen aus?«
»Ja.« Morgan wusste nicht, wer der Mann war, aber Jonah schien überrascht zu sein, ihn hier zu sehen. »Ich hab noch ein paar Sandwichs übrig. Möchten Sie eins?«
»Nein, ich hab schon gegessen. Aber danke.« Die dunklen Augen des Mannes wanderten von Jonah zu Jill. »Ich möchte Morgan Winter sprechen. Ist sie da?«
»Haben Sie einen Termin?«, erwiderte Jill in freundlichem, aber unverbindlichem Tonfall, der deutlich machte, dass Winshore keine Kunden ohne vorherige Terminabsprache akzeptierte.
»Nein, aber ich muss unbedingt mit ihr sprechen. Ist sie da?« Morgan kannte diese Stimme. Sie gehörte keinem Kunden oder Interessenten.
Die Stimme rief schmerzhafte Erinnerungen an die Vergangenheit wach.
»Ich schaue rasch nach«, sagte Jill zögernd. Ihr war der dringliche Ton des Mannes nicht entgangen. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«
Morgan ging bereits auf den Mann zu, als dieser antwortete.
»Ja. Sagen Sie ihr bitte, Pete Montgomery möchte mit ihr sprechen.«
...
Übersetzung: Karin Meddekis
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Andrea Kane
Andrea Kane ist in den USA eine sehr erfolgreiche Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Kane
- 2012, 1, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009892
- ISBN-13: 9783868009897
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