Lord Jim
Roman
Wie alle Geschichten von Joseph Conrad dreht sich auch bei 'Lord Jim' das ganze Leben um das Meer, seine strahlende Unermesslichkeit und um die Menschen, die es bereisen. Jims Fehler, den er an Bord der `Patna´ begangen hat, lässt ihn nicht wieder los und...
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Produktinformationen zu „Lord Jim “
Klappentext zu „Lord Jim “
Wie alle Geschichten von Joseph Conrad dreht sich auch bei 'Lord Jim' das ganze Leben um das Meer, seine strahlende Unermesslichkeit und um die Menschen, die es bereisen. Jims Fehler, den er an Bord der `Patna´ begangen hat, lässt ihn nicht wieder los und bringt seine ganze Identität ins Wanken. Er muss fliehen, vor sich und der Wirklichkeit - und vor den Demütigungen der anderen. Erst auf einer verborgenen Insel, fern von allem, was er ist, gelingt es ihm, über sich selbst hinauszuwachsen. 'Lord Jim' erschien im selben Jahr mit Freuds 'Traumdeutung' und war das Lieblingsbuch von Thomas Mann, wurde berühmt und oft verfilmt. Die Neuübersetzung des vielfach ausgezeichneten Manfred Allié betont die Eleganz und Leidenschaft der Sprache, seine erschütternde Modernität und lässt Conrads Sprache leuchten.
Lese-Probe zu „Lord Jim “
Lord Jim von Joseph ConradErstes Kapitel
Er war knapp sechs Fuß groß, einen Zoll, vielleicht zwei weniger, ein kräftiger Mann, der immer geradewegs auf einen zukam, die Schultern leicht gebeugt, den Kopf vorgestreckt, mit einem Blick starr von unten herauf, was ihm etwas von einem wütenden Stier gab. Seine Stimme war tief und laut, und seine ganze Art hatte etwas Hartnäckiges, Beharrliches, dabei allerdings nie Grausames. Es war wohl seine Natur, denn mit sich selbst ging er offenbar nicht weniger streng als mit jedem anderen um. Er war stets makellos gekleidet, in reinstem Weiß vom Scheitel bis zur Sohle, und in jedem der ostindischen Häfen, in denen er sich sein Auskommen als Agent für Schiffsausrüster verdiente, war er sehr beliebt.
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Ein Hafenagent muss keine Prüfung auf Erden bestehen, aber er braucht einen gewitzten Verstand und muss ihn auch beweisen können. Seine Arbeit besteht darin, dass er unter Segel, Dampf oder im Ruderboot schneller als alle anderen einem einlaufenden Schiff entgegenfährt, dort forsch den Kapitän begrüßt, ihm eine Karte - die Visitenkarte des Schiffsausrüsters - in die Hand drückt und ihn bei seinem ersten Landgang zielsicher, doch ohne ihn zu drängen, zu einem großen Laden führt, einem Laden wie eine Höhle, vollgestopft mit all den Dingen, die man an Bord eine Schiffes isst und trinkt, mit allem, was ein Schiff seetüchtig oder schön macht, vom Haken für das Ankertau bis hin zum Blattgold für die Schnitzereien am Heck, einem Laden, in dem der Kommandant von einem Händler, den er nie zuvor gesehen hat, begrüßt wird wie ein Bruder. Dort findet er einen kühlen Salon, behagliche Sessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, ein Exemplar der Hafensatzung, und er wird mit einer Wärme willkommen geheißen, die das Salz von drei Monaten Überfahrt im Herzen eines Seemanns dahinschmelzen lässt. Die Verbindung, die damit geknüpft ist, bleibt bestehen, solange das Schiff im Hafen liegt, gefestigt durch die täglichen Besuche des Agenten. Dem Käpt'n ist er treu ergeben, gehorcht ihm wie ein Sohn, er hat die Geduld eines Hiob, die selbstlose Treue einer Frau und die gute Laune eines Zechkumpanen. Später wird dann die Rechnung geschickt. Es ist ein schöner und menschenfreundlicher Beruf. Deshalb sind gute Hafenagenten selten. Ist ein Agent, der über einen gewitzten Verstand verfügt, zudem auch noch als Seemann groß geworden, so ist er für seinen Dienstherrn Gold wert, und dieser wird gern ein wenig Nachsicht mit ihm haben. Jim hatte stets seinen guten Lohn und dazu so viel Nachsicht, dass man die Treue eines Teufels damit hätte kaufen können. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass er in tiefster Undankbarkeit seine Arbeit plötzlich hinwarf und sich davonmachte. Die Begründungen, die er gab, schienen seinen Dienstherren natürlich an den Haaren herbeigezogen. »Elender Dummkopf!«, brummten sie, sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte. Das war ihre Antwort auf seine außerordentliche Empfindlichkeit.
Für die Weißen, die im Hafen zu tun hatten, und die Schiffskapitäne war er Jim - einfach nur Jim. Er hatte natürlich auch einen Nachnamen, doch er achtete streng darauf, dass niemand ihn nannte. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, war nicht dazu bestimmt, eine Person zu verbergen, sondern es verbarg ein Faktum. Wenn das Inkognito gelüftet und das Faktum bekannt wurde, verließ er unverzüglich den Hafen, in dem er sich eben befand, und zog an einen neuen Ort - meist weiter im Osten. Er blieb in den Hafenstädten, denn er war ein Seemann, verbannt von der See, und er hatte einen gewitzten Verstand, was für keine andere Arbeit taugt als für die eines Hafenagenten. Er trat seinen geordneten Rückzug in Richtung der aufgehenden Sonne an, und das Faktum folgte ihm nach; es ließ sich Zeit, doch es blieb ihm stets auf der Spur. So hatte man ihn im Laufe der Jahre nacheinander in Bombay, in Kalkutta, in Rangun, in Penang, in Batavia gesehen - und an jedem dieser Halteplätze war er einfach nur Jim, der Akquisiteur. Später, als das Unerträgliche, das ihn so tief in seinem Herzen quälte, ihn für immer aus den Hafenstädten und der Welt der Weißen vertrieb, bis tief in den Dschungel hinein, fügten die Malaien des Urwalddorfes, wo er sein Elend nun versteckte, der einen Silbe seines Inkognitos noch ein Wort hinzu. Sie nannten ihn Tuan Jim: was so viel heißt wie - Lord Jim.
Ursprünglich stammte er aus einem Pfarrhaus. Viele Kommandanten prächtiger Handelsschiffe kommen von solch einem Hort der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater sprach mit so großer Gewissheit vom Ungewissen, dass die Bewohner der Hütten ihren Trost darin fanden, ohne dass der Seelenfrieden jener gestört wurde, welche die Weisheit der Vorsehung zu Palastbewohnern gemacht hatte. Die kleine Kirche auf dem Hügel war grau und moosbewachsen wie ein Fels, den man durch das Blattwerk eines Busches erspäht. Sie stand schon seit Jahrhunderten dort, doch die Bäume, die sie umgaben, erinnerten sich wohl noch daran, wie der Grundstein gelegt worden war. Unterhalb leuchtete, inmitten von Rasenflächen, von Blumenbeeten und Tannenbäumen, das warme Rot des Pfarrhauses mit einem Obstgarten dahinter, einem Stall mit gepflastertem Hof zur Linken, den schrägen Glasdächern der Gewächshäuser, die sich längs der Backsteinmauer hinzogen. Die Pfarre war schon seit Generationen im Besitz der Familie; doch Jim war einer von fünf Söhnen, und als er nach einschlägiger Ferienlektüre seine Leidenschaft für die See entdeckte, schickte man ihn sogleich auf ein »Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine«.
Er lernte dort ein wenig Trigonometrie und das Balancieren auf der Oberbramrahe. Alle mochten ihn. Er wurde Drittbester in Navigation und Schlagmann im ersten Beiboot. Da er kein Schwindelgefühl kannte und bei ausgezeichneter Konstitution war, bewegte er sich sehr behende in den Masten. Oft blickte er von seinem Platz hoch oben an der Spitze des Fockmasts hinab auf die friedliche Schar der Dächer, die Versammlung zweigeteilt von den braunen Fluten des Stroms, mit dem Hochmut eines Mannes, dem es bestimmt ist, sich in Gefahr zu bewähren, hinaus in die Weite der Ebene mit ihren Fabrikschornsteinen, wie sie bleistiftschlank in den rußigen Himmel ragten und Rauch ausspieen wie der Schlot eines Vulkans. Er sah von oben zu, wenn die großen Schiffe ablegten, sah das Hin und Her der dickbauchigen Fähren, sah die winzigen Boote tief unten zu seinen Füßen, den Dunstglanz der See in der Ferne und betrachtete all das mit der Hoffnung auf ein aufregendes Leben in einer Welt voller Abenteuer.
Selbstvergessen saß er im Unterdeck, im Gewirr von zweihundert Stimmen, und lebte in Gedanken bereits das Seemannsleben seiner Romane. Er sah sich, wie er Menschen von sinkenden Schiffen rettete, wie er im Hurrikan die Masten kappte, mit einem Tau durch die Brandung schwamm; oder er sah sich als einsamen Schiffbrüchigen, barfüßig und halbnackt, bei Ebbe über die Felsenriffe steigen auf der Suche nach Meeresgetier, das ihn noch einmal vor dem Hungertod bewahren würde. Er trotzte den Wilden an tropischen Gestaden, schlug Meutereien nieder auf hoher See; im Rettungsboot auf den Wellen des Ozeans sprach er den verzweifelten Männern Mut zu - stets war er ein Muster an Pflichterfüllung, ein furchtloser Held, wie er im Buche steht.
»Da ist was los. Komm mit.«
Er sprang auf. Die Jungen stürmten die Leitern hinauf. Von oben hörte er Füßetrappeln, aufgeregte Rufe, und als er an Deck kam, stand er da wie gebannt.
Die Abenddämmerung eines Wintertags. Seit Mittag hatte der Wind aufgefrischt, die Flussschiffe hatten Schutz gesucht, und nun stürmte es schon mit der Stärke eines Orkans, kurze, ungleichmäßige Stöße, die wie Kanonendonner über das Meer dröhnten. Der Regen kam in dichten Schwällen, bald hierhin, bald dorthin, und dazwischen sah Jim mit Schrecken die einlaufende Flut, blickte auf die kleinen Boote, die am Ufer hüpften und tanzten, auf die Häuser, die sich in die wirbelnde Gischt duckten, die großen Fährschiffe, die an ihren Ankerketten zerrten, die schweren Landungsbrücken, die sich hoben und senkten wie atmende, lebendige Wesen im Ansturm der See. Der nächste Windstoß kam und schien alles davonzublasen. Die Luft war erfüllt von Wasser. Der Sturm hatte etwas Zielstrebiges, Entschlossenes, etwas Furioses und Elementares in seinem Heulen, in dem unerbittlichen Ringen von Erde und Himmel, etwas, das Jim persönlich zu gelten schien, und ehrfürchtig hielt er den Atem an. Er stand still. Doch es war, als blase der Sturm ihn vor sich her.
Jemand stieß ihn an. »Los, ab ins Beiboot!« Jungen stürmten an ihm vorbei. Ein Küstenfahrer, der am Ufer Zuflucht suchen wollte, hatte einen vor Anker liegenden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder auf dem Schiff war Zeuge des Unfalls gewesen. Jungs kletterten auf die Reling, drängten sich um die Kräne. »Kollision. Direkt vor uns. Mr. Symons hat es gesehen.« Ein weiterer Stoß warf ihn gegen den Besanmast. Er klammerte sich an ein Tau. Das alte Schulschiff bebte, fest an seinem Ankerplatz; sacht neigte es sich mit der Nase in den Wind, und das wenige, was es an Takelage hatte, brummte in tiefem Bass das ewige Lied von seiner Jugend auf See. »Zu Wasser!« Er sah, wie das bemannte Boot rasch unter der Reling verschwand, und wollte ihm nach. Ein Platschen kam herauf. »Aushaken!« Er beugte sich vor. Längs der Schiffs- wand strömte und schäumte der Fluss. Man sah das Boot im zunehmenden Dunkel, sah, wie Flut und Wind von ihm Besitz ergriffen, es einen Moment lang neben dem Schiff festhielten. »Schlag halten, ihr Rotzlöffel, wenn ihr jemanden retten wollt!«, hörte man durch das Getöse eine Stimme im Boot brüllen. »Haltet den Schlag!« Und plötzlich hob das Beiboot den Bug in die Höhe, setzte, Riemen hoch, über eine Welle und brach so den Bann von Wind und Flut.
Jim spürte eine kräftige Hand auf seiner Schulter. »Zu spät, junger Mann.« Der Kapitän des Schiffes hielt den Jungen zurück, der im Begriff gewesen war, über Bord und dem Boot nachzuspringen, und Jim blickte auf. Das Bewusstsein seines Versagens stand ihm im Gesicht geschrieben. Der Kapitän lächelte nachsichtig. »Nächstes Mal wird's schon klappen. Jetzt weißt du, dass man auf Zack sein muss.«
Jubelschreie begrüßten das Boot. Es kehrte tanzend über die Wellen zurück, halb vollgelaufen mit Wasser, an Bord zwei erschöpfte Seeleute, die auf den Planken hin- und hergespült wurden. Das Tosen und die Gefahren von Wind und Wellen kamen Jim mit einem Male lächerlich vor, und die Scham darüber, dass er vor ihnen zurückgeschreckt war, wurde umso schlimmer dadurch. Jetzt wusste er, was er davon zu halten hatte. Nun konnte ihm der Sturm nichts mehr anhaben. Er konnte größeren Gefahren trotzen. Und er würde es tun - besser als jeder andere. Kein Fitzelchen Furcht spürte er mehr. Trotzdem saß er am Abend mürrisch abseits, als der Bugmann des Beiboots - ein Junge mit einem Gesicht wie ein Mädchen und großen grauen Augen - als Held des Unterdecks gefeiert wurde. Eifrige Frager umdrängten ihn. »Nur der Kopf schaute heraus, und da habe ich meinen Bootshaken ins Wasser gestoßen«, berichtete er. »Er blieb in seiner Hose hängen, und beinah wäre ich über Bord gegangen - wäre ich sogar ganz bestimmt, aber der alte Symons ließ die Ruderpinne los und packte mich an den Beinen - hätte nicht viel gefehlt, und das Boot wäre gekentert. Der alte Symons, das ist ein toller Bursche. Auch wenn er ein bisschen grob zu uns ist. Die ganze Zeit, die er mich da am Bein hielt, hat er mich angeschnauzt, aber das war eben seine Art zu sagen, dass ich den Bootshaken nicht loslassen soll. Der alte Symons, den bringt alles in Wut - stimmt, oder? Nein, nicht der kleine Blonde - der Lange mit dem Bart. Als wir ihn ins Boot zogen, stöhnte er ›Mein Bein, mein Bein!‹ und verdrehte die Augen. Stellt euch das vor, so ein großer Kerl, und fällt in Ohnmacht wie ein Mädel. Würde einer von euch etwa zusammenklappen, nur weil er einen Kratzer mit dem Bootshaken abbekommen hat? Na, ich bestimmt nicht. So tief war er ihm ins Bein gedrungen.« Er hielt den Bootshaken hoch, den er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und alle bestaunten ihn ehrfürchtig. »Nein, Dummkopf. Natürlich hing er nicht mit seinem Fleisch dran - er hing mit der Hose. Aber es hat ganz schön geblutet.«
Jim fand diese Prahlerei erbärmlich. Der Sturm hatte Heldentaten hervorgebracht, die genauso hohl waren wie seine leeren Drohungen. Er war wütend auf das dumpfe Tosen der Elemente, weil es ihn überrumpelt hatte, ihn mit einem unfairen Trick daran gehindert hatte, seinen Mut unter Beweis zu stellen. Ansonsten war er froh, dass er nicht mit im Beiboot gesessen hatte, denn die Rettung war kein großes Kunststück gewesen. Er hatte mehr an Erkenntnis gewonnen als die anderen, die die Arbeit getan hatten. Wenn alle zurückschraken, dann würde er - dessen war er sich nun sicher -, er allein wissen, wie man mit der heimtückischen Bedrohung von Wind und Wellen umging. Er wusste jetzt, was er davon zu halten hatte. Ein vernünftiger Mensch konnte die Elemente nur verachten. Er spürte keinerlei Erregung mehr, und was am Ende von dem großen Spektakel übrig blieb, war, dass er nun unbeachtet abseits der lärmenden Gesellschaft der Jungen saß und klarer denn je seine Berufung zum Abenteuer spürte, die Gewissheit seines Muts in seiner ganzen Größe.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Ein Hafenagent muss keine Prüfung auf Erden bestehen, aber er braucht einen gewitzten Verstand und muss ihn auch beweisen können. Seine Arbeit besteht darin, dass er unter Segel, Dampf oder im Ruderboot schneller als alle anderen einem einlaufenden Schiff entgegenfährt, dort forsch den Kapitän begrüßt, ihm eine Karte - die Visitenkarte des Schiffsausrüsters - in die Hand drückt und ihn bei seinem ersten Landgang zielsicher, doch ohne ihn zu drängen, zu einem großen Laden führt, einem Laden wie eine Höhle, vollgestopft mit all den Dingen, die man an Bord eine Schiffes isst und trinkt, mit allem, was ein Schiff seetüchtig oder schön macht, vom Haken für das Ankertau bis hin zum Blattgold für die Schnitzereien am Heck, einem Laden, in dem der Kommandant von einem Händler, den er nie zuvor gesehen hat, begrüßt wird wie ein Bruder. Dort findet er einen kühlen Salon, behagliche Sessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, ein Exemplar der Hafensatzung, und er wird mit einer Wärme willkommen geheißen, die das Salz von drei Monaten Überfahrt im Herzen eines Seemanns dahinschmelzen lässt. Die Verbindung, die damit geknüpft ist, bleibt bestehen, solange das Schiff im Hafen liegt, gefestigt durch die täglichen Besuche des Agenten. Dem Käpt'n ist er treu ergeben, gehorcht ihm wie ein Sohn, er hat die Geduld eines Hiob, die selbstlose Treue einer Frau und die gute Laune eines Zechkumpanen. Später wird dann die Rechnung geschickt. Es ist ein schöner und menschenfreundlicher Beruf. Deshalb sind gute Hafenagenten selten. Ist ein Agent, der über einen gewitzten Verstand verfügt, zudem auch noch als Seemann groß geworden, so ist er für seinen Dienstherrn Gold wert, und dieser wird gern ein wenig Nachsicht mit ihm haben. Jim hatte stets seinen guten Lohn und dazu so viel Nachsicht, dass man die Treue eines Teufels damit hätte kaufen können. Trotzdem kam es immer wieder vor, dass er in tiefster Undankbarkeit seine Arbeit plötzlich hinwarf und sich davonmachte. Die Begründungen, die er gab, schienen seinen Dienstherren natürlich an den Haaren herbeigezogen. »Elender Dummkopf!«, brummten sie, sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte. Das war ihre Antwort auf seine außerordentliche Empfindlichkeit.
Für die Weißen, die im Hafen zu tun hatten, und die Schiffskapitäne war er Jim - einfach nur Jim. Er hatte natürlich auch einen Nachnamen, doch er achtete streng darauf, dass niemand ihn nannte. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, war nicht dazu bestimmt, eine Person zu verbergen, sondern es verbarg ein Faktum. Wenn das Inkognito gelüftet und das Faktum bekannt wurde, verließ er unverzüglich den Hafen, in dem er sich eben befand, und zog an einen neuen Ort - meist weiter im Osten. Er blieb in den Hafenstädten, denn er war ein Seemann, verbannt von der See, und er hatte einen gewitzten Verstand, was für keine andere Arbeit taugt als für die eines Hafenagenten. Er trat seinen geordneten Rückzug in Richtung der aufgehenden Sonne an, und das Faktum folgte ihm nach; es ließ sich Zeit, doch es blieb ihm stets auf der Spur. So hatte man ihn im Laufe der Jahre nacheinander in Bombay, in Kalkutta, in Rangun, in Penang, in Batavia gesehen - und an jedem dieser Halteplätze war er einfach nur Jim, der Akquisiteur. Später, als das Unerträgliche, das ihn so tief in seinem Herzen quälte, ihn für immer aus den Hafenstädten und der Welt der Weißen vertrieb, bis tief in den Dschungel hinein, fügten die Malaien des Urwalddorfes, wo er sein Elend nun versteckte, der einen Silbe seines Inkognitos noch ein Wort hinzu. Sie nannten ihn Tuan Jim: was so viel heißt wie - Lord Jim.
Ursprünglich stammte er aus einem Pfarrhaus. Viele Kommandanten prächtiger Handelsschiffe kommen von solch einem Hort der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater sprach mit so großer Gewissheit vom Ungewissen, dass die Bewohner der Hütten ihren Trost darin fanden, ohne dass der Seelenfrieden jener gestört wurde, welche die Weisheit der Vorsehung zu Palastbewohnern gemacht hatte. Die kleine Kirche auf dem Hügel war grau und moosbewachsen wie ein Fels, den man durch das Blattwerk eines Busches erspäht. Sie stand schon seit Jahrhunderten dort, doch die Bäume, die sie umgaben, erinnerten sich wohl noch daran, wie der Grundstein gelegt worden war. Unterhalb leuchtete, inmitten von Rasenflächen, von Blumenbeeten und Tannenbäumen, das warme Rot des Pfarrhauses mit einem Obstgarten dahinter, einem Stall mit gepflastertem Hof zur Linken, den schrägen Glasdächern der Gewächshäuser, die sich längs der Backsteinmauer hinzogen. Die Pfarre war schon seit Generationen im Besitz der Familie; doch Jim war einer von fünf Söhnen, und als er nach einschlägiger Ferienlektüre seine Leidenschaft für die See entdeckte, schickte man ihn sogleich auf ein »Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine«.
Er lernte dort ein wenig Trigonometrie und das Balancieren auf der Oberbramrahe. Alle mochten ihn. Er wurde Drittbester in Navigation und Schlagmann im ersten Beiboot. Da er kein Schwindelgefühl kannte und bei ausgezeichneter Konstitution war, bewegte er sich sehr behende in den Masten. Oft blickte er von seinem Platz hoch oben an der Spitze des Fockmasts hinab auf die friedliche Schar der Dächer, die Versammlung zweigeteilt von den braunen Fluten des Stroms, mit dem Hochmut eines Mannes, dem es bestimmt ist, sich in Gefahr zu bewähren, hinaus in die Weite der Ebene mit ihren Fabrikschornsteinen, wie sie bleistiftschlank in den rußigen Himmel ragten und Rauch ausspieen wie der Schlot eines Vulkans. Er sah von oben zu, wenn die großen Schiffe ablegten, sah das Hin und Her der dickbauchigen Fähren, sah die winzigen Boote tief unten zu seinen Füßen, den Dunstglanz der See in der Ferne und betrachtete all das mit der Hoffnung auf ein aufregendes Leben in einer Welt voller Abenteuer.
Selbstvergessen saß er im Unterdeck, im Gewirr von zweihundert Stimmen, und lebte in Gedanken bereits das Seemannsleben seiner Romane. Er sah sich, wie er Menschen von sinkenden Schiffen rettete, wie er im Hurrikan die Masten kappte, mit einem Tau durch die Brandung schwamm; oder er sah sich als einsamen Schiffbrüchigen, barfüßig und halbnackt, bei Ebbe über die Felsenriffe steigen auf der Suche nach Meeresgetier, das ihn noch einmal vor dem Hungertod bewahren würde. Er trotzte den Wilden an tropischen Gestaden, schlug Meutereien nieder auf hoher See; im Rettungsboot auf den Wellen des Ozeans sprach er den verzweifelten Männern Mut zu - stets war er ein Muster an Pflichterfüllung, ein furchtloser Held, wie er im Buche steht.
»Da ist was los. Komm mit.«
Er sprang auf. Die Jungen stürmten die Leitern hinauf. Von oben hörte er Füßetrappeln, aufgeregte Rufe, und als er an Deck kam, stand er da wie gebannt.
Die Abenddämmerung eines Wintertags. Seit Mittag hatte der Wind aufgefrischt, die Flussschiffe hatten Schutz gesucht, und nun stürmte es schon mit der Stärke eines Orkans, kurze, ungleichmäßige Stöße, die wie Kanonendonner über das Meer dröhnten. Der Regen kam in dichten Schwällen, bald hierhin, bald dorthin, und dazwischen sah Jim mit Schrecken die einlaufende Flut, blickte auf die kleinen Boote, die am Ufer hüpften und tanzten, auf die Häuser, die sich in die wirbelnde Gischt duckten, die großen Fährschiffe, die an ihren Ankerketten zerrten, die schweren Landungsbrücken, die sich hoben und senkten wie atmende, lebendige Wesen im Ansturm der See. Der nächste Windstoß kam und schien alles davonzublasen. Die Luft war erfüllt von Wasser. Der Sturm hatte etwas Zielstrebiges, Entschlossenes, etwas Furioses und Elementares in seinem Heulen, in dem unerbittlichen Ringen von Erde und Himmel, etwas, das Jim persönlich zu gelten schien, und ehrfürchtig hielt er den Atem an. Er stand still. Doch es war, als blase der Sturm ihn vor sich her.
Jemand stieß ihn an. »Los, ab ins Beiboot!« Jungen stürmten an ihm vorbei. Ein Küstenfahrer, der am Ufer Zuflucht suchen wollte, hatte einen vor Anker liegenden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder auf dem Schiff war Zeuge des Unfalls gewesen. Jungs kletterten auf die Reling, drängten sich um die Kräne. »Kollision. Direkt vor uns. Mr. Symons hat es gesehen.« Ein weiterer Stoß warf ihn gegen den Besanmast. Er klammerte sich an ein Tau. Das alte Schulschiff bebte, fest an seinem Ankerplatz; sacht neigte es sich mit der Nase in den Wind, und das wenige, was es an Takelage hatte, brummte in tiefem Bass das ewige Lied von seiner Jugend auf See. »Zu Wasser!« Er sah, wie das bemannte Boot rasch unter der Reling verschwand, und wollte ihm nach. Ein Platschen kam herauf. »Aushaken!« Er beugte sich vor. Längs der Schiffs- wand strömte und schäumte der Fluss. Man sah das Boot im zunehmenden Dunkel, sah, wie Flut und Wind von ihm Besitz ergriffen, es einen Moment lang neben dem Schiff festhielten. »Schlag halten, ihr Rotzlöffel, wenn ihr jemanden retten wollt!«, hörte man durch das Getöse eine Stimme im Boot brüllen. »Haltet den Schlag!« Und plötzlich hob das Beiboot den Bug in die Höhe, setzte, Riemen hoch, über eine Welle und brach so den Bann von Wind und Flut.
Jim spürte eine kräftige Hand auf seiner Schulter. »Zu spät, junger Mann.« Der Kapitän des Schiffes hielt den Jungen zurück, der im Begriff gewesen war, über Bord und dem Boot nachzuspringen, und Jim blickte auf. Das Bewusstsein seines Versagens stand ihm im Gesicht geschrieben. Der Kapitän lächelte nachsichtig. »Nächstes Mal wird's schon klappen. Jetzt weißt du, dass man auf Zack sein muss.«
Jubelschreie begrüßten das Boot. Es kehrte tanzend über die Wellen zurück, halb vollgelaufen mit Wasser, an Bord zwei erschöpfte Seeleute, die auf den Planken hin- und hergespült wurden. Das Tosen und die Gefahren von Wind und Wellen kamen Jim mit einem Male lächerlich vor, und die Scham darüber, dass er vor ihnen zurückgeschreckt war, wurde umso schlimmer dadurch. Jetzt wusste er, was er davon zu halten hatte. Nun konnte ihm der Sturm nichts mehr anhaben. Er konnte größeren Gefahren trotzen. Und er würde es tun - besser als jeder andere. Kein Fitzelchen Furcht spürte er mehr. Trotzdem saß er am Abend mürrisch abseits, als der Bugmann des Beiboots - ein Junge mit einem Gesicht wie ein Mädchen und großen grauen Augen - als Held des Unterdecks gefeiert wurde. Eifrige Frager umdrängten ihn. »Nur der Kopf schaute heraus, und da habe ich meinen Bootshaken ins Wasser gestoßen«, berichtete er. »Er blieb in seiner Hose hängen, und beinah wäre ich über Bord gegangen - wäre ich sogar ganz bestimmt, aber der alte Symons ließ die Ruderpinne los und packte mich an den Beinen - hätte nicht viel gefehlt, und das Boot wäre gekentert. Der alte Symons, das ist ein toller Bursche. Auch wenn er ein bisschen grob zu uns ist. Die ganze Zeit, die er mich da am Bein hielt, hat er mich angeschnauzt, aber das war eben seine Art zu sagen, dass ich den Bootshaken nicht loslassen soll. Der alte Symons, den bringt alles in Wut - stimmt, oder? Nein, nicht der kleine Blonde - der Lange mit dem Bart. Als wir ihn ins Boot zogen, stöhnte er ›Mein Bein, mein Bein!‹ und verdrehte die Augen. Stellt euch das vor, so ein großer Kerl, und fällt in Ohnmacht wie ein Mädel. Würde einer von euch etwa zusammenklappen, nur weil er einen Kratzer mit dem Bootshaken abbekommen hat? Na, ich bestimmt nicht. So tief war er ihm ins Bein gedrungen.« Er hielt den Bootshaken hoch, den er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und alle bestaunten ihn ehrfürchtig. »Nein, Dummkopf. Natürlich hing er nicht mit seinem Fleisch dran - er hing mit der Hose. Aber es hat ganz schön geblutet.«
Jim fand diese Prahlerei erbärmlich. Der Sturm hatte Heldentaten hervorgebracht, die genauso hohl waren wie seine leeren Drohungen. Er war wütend auf das dumpfe Tosen der Elemente, weil es ihn überrumpelt hatte, ihn mit einem unfairen Trick daran gehindert hatte, seinen Mut unter Beweis zu stellen. Ansonsten war er froh, dass er nicht mit im Beiboot gesessen hatte, denn die Rettung war kein großes Kunststück gewesen. Er hatte mehr an Erkenntnis gewonnen als die anderen, die die Arbeit getan hatten. Wenn alle zurückschraken, dann würde er - dessen war er sich nun sicher -, er allein wissen, wie man mit der heimtückischen Bedrohung von Wind und Wellen umging. Er wusste jetzt, was er davon zu halten hatte. Ein vernünftiger Mensch konnte die Elemente nur verachten. Er spürte keinerlei Erregung mehr, und was am Ende von dem großen Spektakel übrig blieb, war, dass er nun unbeachtet abseits der lärmenden Gesellschaft der Jungen saß und klarer denn je seine Berufung zum Abenteuer spürte, die Gewissheit seines Muts in seiner ganzen Größe.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Joseph Conrad
Joseph Conrad, geboren 1857, wuchs als Waise bei seinem Onkel in Krakau auf. 1874 ging er zunächst nach Frankreich, wurde 1886 britischer Staatsbürger und machte als Seemann seine Leidenschaft zum Beruf. Als er 1890 die Seefahrt aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, verarbeitete er seine Reiseerlebnisse in seinen Erzählungen. 'Lord Jim' (1900) und 'Das Herz der Finsternis' (1902) gehören zu seinen berühmtesten Werken. Joseph Conrad starb 1924 in England.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joseph Conrad
- 2014, 1. Auflage, 496 Seiten, Maße: 13,9 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Manfred Allié
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596950163
- ISBN-13: 9783596950164
- Erscheinungsdatum: 19.02.2014
Pressezitat
der Roman haut einen um! [...] Es ist wirklich erstaunlich und beglückend am Älterwerden, dass man auf einmal die Muße entwickelt für solch ein Buch. Rupert Everett Focus 20150725
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