Fliehkräfte
Roman
Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig, Professor für Philosophie und mit seiner Traumfrau verheiratet. Glücklich ist er nicht. Als ihm überraschend eine neue Stelle angeboten wird, will er endlich Klarheit: über seine Ehe, über ein Leben, von dem er dachte,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Fliehkräfte “
Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig, Professor für Philosophie und mit seiner Traumfrau verheiratet. Glücklich ist er nicht. Als ihm überraschend eine neue Stelle angeboten wird, will er endlich Klarheit: über seine Ehe, über ein Leben, von dem er dachte, dass die wichtigen Entscheidungen längst getroffen sind...
Klappentext zu „Fliehkräfte “
Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig und hat alles erreicht, was er sich gewünscht hat: Er ist Professor für Philosophie und hat seine Traumfrau geheiratet, die er nach zwanzig Jahren Ehe immer noch liebt. Dennoch ist Hartmut nicht glücklich. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, sodass aus der Ehe eine Wochenendbeziehung geworden ist, die gemeinsame Tochter hält die Eltern auf Distanz, der Reformfuror an den Universitäten nimmt Hartmut die Lust an der Arbeit. Als ihm überraschend das Angebot zu einem Berufswechsel gemacht wird, will er endlich Klarheit: über das Verhältnis zu seiner Tochter, über seine Ehe, über ein Leben, von dem er dachte, dass die wichtigen Entscheidungen längst getroffen sind. Drei Jahre nach seinem gefeierten Debüt Grenzgang gerät in Stephan Thomes neuem Roman Fliehkräfte wieder einer ins Straucheln. Und mit atemberaubendem Gespür für die Niederlage, für das, was wirklich schmerzt, schickt Thome seinen Helden auf eine alles entscheidende Reise. Über Frankreich und Spanien führt sie ihn bis nach Lissabon und zugleich in die Vergangenheit, ganz nah heran an die Verwerfungen und Abgründe des gelebten Lebens.
Lese-Probe zu „Fliehkräfte “
Fliehkräfte von Stephan Thome1973
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Am späten Nachmittag verwandelt sich die Welt. Flaumig leichte Flocken wirbeln durch die Luft, als wären sie von der Schwerkraft ausgenommen. Lautlos füllen sie den Raum und legen eine weiß-graue Schraffur über den Campus. Seit November hängen dichte Wolken über der Stadt, und wenn die Studenten nach den Seminaren ins Freie traten, legten sie die Köpfe in den Nacken und blickten erwartungsvoll nach oben. Jetzt streicht Schnee über die Fenster der Wilson Library, ohne daran haften zu bleiben. Fahrradfahrer, die von der Brücke kommen, ziehen pulverige Schleier hinter sich her. Vor ihm auf der winzigen Arbeitsfläche liegt Empiricism and the Philosophy of Mind, seit einer halben Stunde auf derselben Seite aufgeschlagen. Gebannt schaut Hartmut nach draußen und versucht, den Weg einer einzelnen Flocke zu verfolgen. Am liebsten würde er das Gesicht gegen die Scheibe drücken und den milchigen Niederschlag seines Atems daraufmalen. Er hat sowieso keine Ahnung, was das sein soll: der Mythos des Gegebenen.
Endlich, denkt er. Wochenlang hat die Luft nach Winter gerochen, auch wenn es in Wirklichkeit kein Geruch ist, sondern eine Sehnsucht, die man erst erkennt, wenn sie sich erfüllt. Alle haben ihn gewarnt vor Stromausfällen bei dreißig Grad minus, vor eingeschneiten Häusern und eisglatten Wegen. Jetzt wird die Welt nur still, und er ist glücklich. Das Wort in seinem Kopf überrascht ihn, aber es stimmt. Um ihn herum schauen Kommilitonen von ihren Büchern auf und beginnen, miteinander zu flüstern.
Als er um halb sieben die Bibliothek verlässt, ist es draußen stockdunkel. Leer wie nie um diese Zeit streckt sich die Washington Avenue Bridge über den Fluss. Wenn Hartmut nach oben schaut, wird ihm schwindlig. Unter ihm fließt der Mississippi schwarz und beinahe geräuschlos dahin. Ein fremdes Gewässer, das er zwei Mal täglich überquert, manchmal öfter. Auf der östlichen Campusseite steht Ford Hall stoisch an seinem Platz. Benannt nach dem früheren Uni-Präsidenten und ausgestattet mit einem Vorbau aus viereckigen Säulen, trotzt das Bauwerk den dicht fallenden Flocken. Jeden Morgen steigt er hinauf in den dritten Stock, mit demselben flauen Gefühl im Magen wie vor einer Prüfung. Jetzt geht er am Gebäude vorbei durch den bereits knöcheltiefen Schnee auf der Mall. Immer die University Avenue entlang, hat Professor Hurwitz gesagt. Weil der Text partout nicht in seinen Kopf wollte, hat Hartmut ihn schließlich beiseitegelegt und stattdessen die zwei eng beschriebenen Kladden mit Notizen studiert, die er immer in der Tasche trägt. Konzentrieren konnte er sich auch darauf nicht. Kann man einen Ort vermissen, an den man nicht zurückwill? Die Rodelpartien fallen ihm ein, die Straße neben dem Haus hinab. Weil das Geld knapp war, hat sein Vater den Schlitten selbst gebaut. Hat die Kufen im Betrieb zugeschnitten und sie nach Feierabend unter das Holzgestell geschraubt, mit derselben bedächtigen Sorgfalt, mit der er jede Arbeit erledigt.
Als Dinkytown hinter ihm liegt, stapft er durch unbekanntes Gebiet. Wohnheime sind zu erkennen und vereinzelte Villen. Von den ausschweifenden Partys, die hier gefeiert werden, hört er manchmal in der Mensa, aus Gesprächsfetzen am Nebentisch. Es ist ein weiträumiger Campus mit viel rotem Backstein, knorrigen Ulmen und Gesichtern von überall auf der Welt. Aus einem der Gärten kommt ausgelassenes Gelächter, durchbricht die Stille wie dünnes Eis und bleibt hinter ihm zurück.
Jenseits der Interstate 35 kann er die Kreuzung ausmachen, hinter der sein Professor wohnt. Noch nie hat Hurwitz ihn zu sich nach Hause bestellt. Will er ihm in Ruhe erklären, warum er ihn nicht als Doktoranden annehmen kann? Dass er sich nicht in der Lage sieht, ihm in der zur Verfügung stehenden Zeit seine europäischen Flausen auszutreiben? Hurwitz' erster Blick auf die Berliner Kursliste wurde begleitet von vernehmlichem Stöhnen. Was, bitte schön, ist ein Autonomes Seminar? Seitdem muss Hartmut alle zwei Wochen Bericht erstatten über seine Lektüre. Jedes Wort, das er nicht kennt, schlägt er nach und schreibt es auf eine kleine Karte. Notiert die Bedeutung und den Satz, in dem es vorkommt, und fühlt sich angezogen vom Klang dieser Texte. Im Seminar stellt er sich vor, die Hand zu heben und zu sagen: This claim is flying in the face of reason. In Wirklichkeit redet er wenig und fühlt sich in Raum 304 wie auf Bewährung geduldet, jeden Dienstag und Donnerstag. Aber hat er sich bewährt, oder wird Hurwitz ihm heute Abend die Tür weisen?
Das Haus ist in dem Stil gebaut, den man hier viktorianisch nennt: holzverkleidet, mit einer erhöhten Vorderterrasse und verspielten Erkern und Winkeln, alles taubenblau und anheimelnd, auch wenn nur die Umrisse auszumachen sind hinter tanzenden Flocken. Licht schimmert durch mehrere Fenster, und Hartmut spürt sein Herz klopfen, als er die Stufen zur Veranda hinaufsteigt. Seine Uhr zeigt genau sieben. Wie lange wird es dauern? Sobald er an die andere Verabredung denkt, weiß er nicht mehr, welcher Termin ihn nervöser macht. Ausdrücklich hat er gesagt, er wisse nicht, wann er sich werde loseisen können, aber bestimmt nicht vor acht. Außerdem ist der Weg länger, als er dachte. Es könnte neun werden, vielleicht halb zehn. Sie hat gemeint, er solle einfach vorbeikommen auf dem Rückweg, notfalls würden sie in die Spätvorstellung gehen. Das war vor vier Tagen. Seitdem hält er am Schreibtisch manchmal inne, als wäre von irgendwo ein Blick auf ihn gerichtet.
Kurz drückt er die Klingel, erschrickt über das laute Geräusch hinter der Tür und hört flinke Schritte, die nicht zu seinem Professor gehören. Die Haustür geht auf, und eine ältere Frau, die er auf Fotos in Hurwiti Büro gesehen hat, streckt ihm resolut die Hand entgegen. »Sie müssen Hartmut sein. Hallo.«
»Guten Abend, Mrs. Hurwitz.«
Sie ist beinahe einen halben Meter kleiner als ihr Mann. Lächelnd deutet sie auf seine Schuhe, schließt hinter ihm die Tür und fragt, ob er das Haus gleich gefunden habe, alles auf einmal. Seinen Namen spricht sie aus, ohne dass es nach hard mud klingt, was nicht vielen in Amerika gelingt. Sich selbst stellt Mrs. Hurwitz als Marsha vor, nimmt ihm den schneefeuchten Parka ab und führt ihn ins Esszimmer. Die Wärme lässt seine Brille beschlagen. Licht aus mehreren Lampen spiegelt sich in den dunklen Fenstern. Hartmut sieht sich um, und Marsha zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf ihn, als komme ihr gerade ein großartiger Einfall. »Heißer Tee«, sagt sie und geht weiter in die Küche, ohne seine Antwort abzuwarten. Durch Walters Haus auf der anderen Flussseite wabert immerzu der Geruch von Motoröl und feuchten Teppichen, hier glaubt er, Zimt zu riechen, frisches Brot und gebackene Äpfel. Auf dem Esstisch und den Fensterbänken liegen weiße Stickdeckchen, stehen Kerzenhalter, gläserne Blumenvasen und gerahmte Fotos. Einige zeigen einen optimistisch dreinblickenden Mann in Uniform, aber auf den meisten sind die Töchter zu sehen, einzeln oder gemeinsam, beim Spielen, Reiten und mit den eigenartigen Hüten, die man hier zum Uni-Abschluss trägt. Außerdem Hurwitz als junger Mann, immer riesig, egal wer neben ihm steht und obwohl er schon damals die leichte Rundung in den Schultern hatte.
Mit einem vollen Tablett kommt Marsha zurück. Sie trägt Rock und Jacke aus demselben dunkelgrünen Stoff, dazu eine silberne Halskette und Ohrringe, als würde sie nicht einen Studenten, sondern den Präsidenten der University of Minnesota bewirten. Vorsichtig stellt sie die Teekanne auf ein Stövchen und mustert ihn wohlwollend.
»Eine ungeschriebene Regel des Hauses besagt, dass zwar kein Gast einen English Muffin essen muss«, sagt sie, »aber jeder bekommt einen angeboten. So?«
»Ich ... Es ist bereits sieben vorbei«, sagt er trotz seines Hungers.
»Oh, keine Sorge. Hurwitz wird sich melden.« Sie blickt zur Decke, die im selben Moment unter schweren Schritten zu knarren beginnt. »Außerdem kennt er die Regel. Sie müssen wissen, Hartmut, das Haus hat zwei Stockwerke, und in diesem hier bestimme ich. Alleine.«
»Dann - okay, ess ich einen.«
»Es ist nur ein Mittel, um meine Quittenmarmelade unters Volk zu bringen. Bitte.« Marsha zeigt auf einen Platz am ovalen Esszimmertisch und beginnt, Geschirr und Besteck aufzulegen. In der nächsten Viertelstunde isst Hartmut den ersten English Muffin seines Lebens, trinkt zwei Tassen Tee mit Rum und erfährt das Wichtigste über Claire, Elaine und Cecilia Hurwitz: dass sie wunderbar sind und hoffentlich bald schwanger werden. Pausenlos springt Marsha zwischen den drei Töchtern, ihren Wohnorten, Ehemännern und Berufen hin und her und legt jedes Mal den Kopf in den Nacken, wenn über ihnen die Dielen knarren. Was oft geschieht. Gleichzeitig beobachtet sie Hartmut genau, registriert sofort, wenn er nicht versteht, was sie sagt, und wiederholt es mit anderen Worten. Erst als sie ihm lächelnd den zweiten Muffin auf den Teller legt, bemerkt er, wie schnell er den ersten verschlungen hat. Dass er seit Monaten von Sandwichs und dem billigsten Gericht in der Mensa lebt, behält er für sich. Das wenige, das zu erzählen er Gelegenheit bekommt, betrifft seine Familie und findet Marshas emphatische Zustimmung: Eltern, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, und eine jüngere Schwester, die bald heiraten wird. Schade, dass du nicht dabei sein kannst, stand in Ruths letztem Brief, den er immer noch nicht beantwortet hat. Es ist eine verstörende Vorstellung: die kleine dumme Ruth vor dem Traualtar. Irgendwann reißt das Knarren im Obergeschoss nicht mehr ab, und Marsha schließt seufzend die Augen.
»Wenn man so lange verheiratet ist wie wir, wird man nicht nur füreinander durchsichtig. Die Wände werden es auch. Ich fürchte, Hartmut, Sie müssen bald nach oben.«
»Okay.«
»Wenn er an seinen philosophischen Texten arbeitet, höre ich stundenlang keinen Mucks. Dann sitzt er da.« Schräg zeigt ihr Arm nach oben, auf einen Punkt seitlich des Hauseingangs. »Soll ich ehrlich sein? Ich wünschte, das wäre häufiger der Fall. Früher saß er immer da, Abend für Abend.«
»Ja. Und jetzt?«
»Das wird er Ihnen gleich selbst sagen.« Als sie die Augen wieder öffnet, wirkt ihr Blick müde. »Hartmut, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Ja. Natürlich.«
»Sie sind ein junger Mann und nur für Ihr eigenes Tun verantwortlich. Trotzdem, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Was hat Ihr Vater im Krieg gemacht? Wissen Sie das?« Ihre Stimme wird leise und gibt Hartmut das Gefühl, sie frage nicht aus eigenem Interesse. Hurwitz kommt gelegentlich im Seminar auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, auf dieselbe abrupte Weise, auf die er das Thema kurz darauf wieder fallenlässt, aber er hat ihn nie nach seinem Vater gefragt.
»Er war nicht im Krieg. Als einziges Kind und Halbwaise wurde er ...« Was ›unabkömmlich gestellt‹ auf Englisch heißt, weiß er nicht und behilft sich anders. »Nicht einberufen. Er musste sich um die Landwirtschaft kümmern. Um seine Mutter.«
»Das ist gut, ich meine ... Sie wissen schon.«
Im Gespräch entsteht eine Pause. Marsha hält ihre Teetasse in beiden Händen und betrachtet den aufsteigenden Dampf. Im Nebenzimmer knistert und knackt ein Kaminfeuer. Deutlich wie lange nicht mehr steht ihm die Arnauer Küche vor Augen, ein niedriger Raum, an dessen Wänden keine Fotos hängen, nur ein Abreißkalender mit der täglichen Bibellese. Der Geruch von Ruß und Essen. Seine Großmutter sitzt den ganzen Tag vor dem Fenster, blickt nach draußen und öffnet den Mund nur, um ihr Missfallen zu bekunden. Zahnlos seit zwanzig Jahren, seit sie ihr Gebiss in die Jauchegrube geworfen hat, weil es kniff. Die Unabkömmlichkeit seines Vaters mag auch damit zu tun gehabt haben, dass er als Modellschlosser in einem Betrieb arbeitete, der damals wichtige Rüstungsgüter produzierte. Oder Teile dafür. Spielt keine Rolle, denkt Hartmut. Tausende Kilometer von zu Hause entfernt sitzt er in einem warmen Esszimmer, spürt ungewohnten Alkohol auf den Wangen und hat später am Abend, was man hier ein Date nennt. Den ganzen Tag war er nervös und ist es jetzt nicht mehr. Wollte Hurwitz ihn als Doktoranden ablehnen, würde er ihn nicht erst von seiner Frau bewirten lassen. Was auch immer sein Professor von ihm will, das ist die Hauptsache: Er wird in Amerika bleiben, hart arbeiten und irgendwann Freunde finden, wird sein Englisch verbessern und allmählich einer von denen werden, die er mittags in der Mensa beobachtet. Einer von denen und trotzdem er selbst. Das ist das Ziel. Dafür ist er hergekommen.
Marsha stellt ihre Teetasse ab und räuspert sich. »Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, warum er sie eingeladen hat. Richtig?« »Nicht genau, nein.«
»Hurwitz wird Sie um Hilfe bitten bei einem Projekt, das er sich in den Kopf gesetzt hat. Er kann ja kein Deutsch. Aber bevor er das tut, bitte ich Sie ebenfalls um etwas: Sagen Sie nicht sofort zu. Bitten Sie sich Bedenkzeit aus. Hurwitz ist ...« Ihre Augen irren durch den Raum, als hätte sie das richtige Wort eben noch gesehen. »Intense. Um nicht zu sagen besessen, was er auch manchmal ist.«
»Was für ein Projekt?«
»Entscheiden Sie nicht sofort, Hartmut, er wird das akzeptieren. Schließlich sind Sie hier, um Philosophie zu studieren, richtig?« Sie macht eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie ihm über die Wange streichen und hielte sich im letzten Moment zurück. »Sie haben genug zu tun mit Ihren eigenen Studien.«
»Ja.« Wieder poltern im ersten Stock schwere Schritte, verharren und kommen die schmale Holztreppe herab, die Hartmut beim Eintreten gesehen hat. »Ich werde es mir überlegen.«
Bevor sie aufsteht, legt Marsha beide Hände auf ihre Oberschenkel und nickt.
»Gut. Es hat mich sehr gefreut. Die Tasse nehmen Sie am besten mit. Sie können natürlich jederzeit runterkommen, wenn Sie mehr wollen.«
Als er zwei Stunden später das Haus verlässt, ist der Schneefall so dicht geworden, dass die Sicht kaum zehn Meter weit reicht. Das Wärmegefühl, das der Rum auf seinen Wangen hinterlassen hat, ist verflogen, und trotzdem fühlt es sich gut an, eingepackt in den Parka durch die Straßen zu laufen und kalte Nachtluft zu atmen. Sein Kopf brummt. Zwei Stunden lang hat er angestrengt zugehört, weil Hurwitz so auf seine Erzählung konzentriert war, dass er nicht merkte, wenn er Hartmut überforderte. Jetzt ist es, als löste sich ein Muskel in seinem Kopf und begänne, vor Erschöpfung zu zittern. Im Gehen hascht er nach den Schneeflocken und wischt sie sich über die Stirn. Erst jenseits der Hennepin Avenue steckt er die Hände in die Taschen und bemerkt den in eine Serviette eingepackten Muffin. Wie ein Filmausschnitt steht ihm die mühsam gebändigte Erregung vor Augen, mit der sein Professor auf und ab lief, nach Büchern suchte, Karten auf- und zufaltete und ihn an Marsha denken ließ, die wahrscheinlich im Esszimmer zur Decke starrte und genau wusste, worum es ging.
Wird sie ihm übel nehmen, dass er sich sofort bereit erklärt hat mitzumachen?
Ohne stehen zu bleiben, packt er den Muffin aus und beißt hinein. Beschleunigt den Schritt, obwohl er mit vollem Mund nicht gut atmen kann. Sandrine wartet auf ihn, und er fühlt sich merkwürdig leicht. Bisher sind sie ein paar Mal zusammen in der Mensa gewesen. Haben in der Mall auf dem Rasen gesessen und geredet, als es dafür noch warm genug war, aber viel weiß er nicht von ihr. Sie kommt aus Paris, lebt hauptsächlich von Obst und Salat, hat genug Geld und zu allem eine feste Meinung. Wenn er spricht, schaut sie ihn durch ihre schwarze Hornbrille an, als verdiente jedes Wort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Obwohl sie meistens anderer Ansicht ist. Als sie wissen wollte, ob er gerne ins Kino gehe, hat er einfach Ja gesagt.
Die Umrisse von Sanford Hall tauchen aus dem Schneetreiben auf. Helle Fenster schweben in der Dunkelheit. Vor dem Eingang wurden die Gehwege frei geschaufelt und sind bereits wieder eingeschneit. Mit einem Nicken schleicht sich Hartmut an der Rezeption vorbei und findet die Treppe hinauf in den dritten Stock. Neonlicht spiegelt sich in feuchten Fußabdrücken auf dem Boden. Hinter nummerierten Türen erklingen Stimmen und gedämpfte Musik, davor stehen gefütterte Winterschuhe in Pfützen aus geschmolzenem Schnee.
Hinter Sandrines Tür hört er nichts. Zwei Mal klopft er vorsichtig, vernimmt keine Antwort und glaubt schon, sie sei ohne ihn ins Varsity Theater gegangen, als sich die Tür langsam öffnet und Sandrine ihr bebrilltes Gesicht in den Spalt schiebt. Mit ihrem Lächeln kommt ihm ein Hauch warmer Luft entgegen.
»Was ist mit den pünktlichen Deutschen los?« Ihr Akzent ist weniger stark als seiner, aber man hört, aus welchem Land sie kommt. Fröstelnd hält sie sich die Arme vor die Brust und blickt den leeren Flur hinauf und hinab.
»Tut mir leid. Hurwitz hat kein Ende gefunden. Soll ich reinkommen oder ...?«
»Du hast Schnee auf dem Kopf.« Auf nackten Füßen huscht sie zurück ins Zimmer. Es ist nicht größer als seine Kammer in Walters Haus, hat aber ein hohes Fenster, in dem die Skyline von Minneapolis steht, schemenhafte Türme mit grünlich schimmernden Lichtern. Fast sieht es aus, als würde ein riesiger Ozeandampfer flussaufwärts ziehen. Hartmut lässt die Schuhe im Flur stehen und tritt ein. Während er die Brille über das Innenfutter seines Parkas reibt, stehen sie einander gegenüber zwischen Sandrines wenigen Möbeln: einem Schrank, zwei überfüllten Bücherregalen und einem kleinen Schreibtisch. Sie wohnt alleine und nutzt das obere Etagenbett als Stauraum.
»Ich hab Wein gekauft«, sagt sie, »den besten schlechten Wein, den ich kriegen konnte. Eigentlich wollte ich auf dich warten, aber dann - hab ich doch nicht gewartet.« Nickend sieht sie sich um, als fiele ihr das Chaos im Zimmer erst in diesem Moment auf. Nicht nur auf dem Bett, überall liegen Sachen herum, Bücher, Zeitschriften und stapelweise Schallplatten. »Lass mich raten. Bei dir ist es ordentlicher?«
»Ich hab weniger Sachen.« Vorsichtig, damit keine Tropfen auf die vielen Papiere fallen, zieht er seinen Parka aus und legt ihn aufs obere Bett.
»Weißt du, was mir aufgefallen ist? Wenn du ein Sandwich auspackst, faltest du hinterher das Papier zusammen.« In Erwartung seines Protestes streckt sie ihm den Zeigefinger entgegen. »Doch. Ich hab mir aber schon gedacht, dass du es nicht bewusst tust. Es ist deine zweite Natur.«
»Wann ist dir das aufgefallen?«
»Bei jeder Mahlzeit. Kante auf Kante, immer drei Mal.« Lächelnd sieht sie ihn an, und er braucht einen Moment, um zu realisieren, dass er sich nicht verspottet fühlt. Ihre hellbraunen Haare werden von Spangen zurückgehalten, das Gesicht wirkt offen und ein wenig verträumt. Im Seminar sitzt sie im Schneidersitz auf ihrem Stuhl, hat den Rücken durchgedrückt und die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Starr vor Aufmerksamkeit. So saß sie eines Morgens neben ihm im Wahlpflichtkurs zur amerikanischen Verfassung. Sie musste sich verspätet haben, jedenfalls hat er sie erst bemerkt, als der zu patriotischen Floskeln neigende Dozent Amerika das Mutterland der Demokratie nannte und rechts von ihm jemand ein ploppendes Geräusch mit den Lippen machte und sagte, you wish, Nixon.
»Doch kein Kino?«, fragt er.
»Ich hab mir überlegt, dass es zu kalt ist. Außerdem bin ich schon ein bisschen tipsy.« Sie wendet sich zum Schreibtisch und hantiert mit der Weinflasche und einem zweiten Glas. Ihre weite, aus verschiedenen Stoffstücken zusammengenähte Hose lässt die Form eines schmalen Hinterns erahnen. »Was hat dich aufgehalten? Sind Hurwitz noch fünfhundert Bücher eingefallen, die du bis zum Sommer lesen musst?«
»Ich soll ihm helfen, den Tod seines Bruders zu recherchieren.«
»Oh.« Sie hält in der Bewegung inne, mit der sie ihm das Glas reichen wollte, ihre grau-blauen Augen direkt auf seine gerichtet. »Erzähl, wie ist er gestorben?«
»Im Krieg. Ich soll mit niemandem darüber reden.« »Erzähl!«
Um den Blickkontakt zu verlängern, zögert er. Nimmt zuerst das Glas und trinkt einen Schluck. Der Wein schmeckt nicht, tut aber gut. Sandrines blasse Sommersprossen werden nur sichtbar, wenn Licht auf die Haut fällt.
»Das ist ein Befehl«, sagt sie.
Beim Reden wird ihm so warm, dass er Pullover und Hemd auszieht und Sandrine schließlich im T-Shirt gegenübersitzt. Die meisten Wörter hat er vor einer Stunde von Hurwitz gelernt und benutzt sie zum ersten Mal. Es fühlt sich merkwürdig an, von Deutschland wie von einer unbekannten Hölle zu sprechen, aber tatsächlich hat er vor heute Abend noch nie von diesem Landstrich in der Nordeifel gehört, wo im Winter 1944/45 zerfetzte Leichen in den Bäumen hingen. Sandrine hört zu in ihrer Yogi-Haltung, mit geradem Rücken und so reglos, als wäre sie in Meditation versunken. Draußen auf der Fensterbank wächst eine weiße Düne, die sie langsam von der Außenwelt abschneidet.
»Einmal in der Woche soll ich bei ihm vorbeikommen.« Nach einem halben Glas spürt er wieder Hitze auf den Wangen. »Es gibt ein ganzes Zimmer voller Material, aber natürlich liest er nur Englisch.«
»Ist es ein altes Haus?«
»Ja. Seine Frau hat mich vor seiner Besessenheit gewarnt. Früher im College war er ein berühmter Footballspieler. Hier an der U of M. Wenn er in Fahrt kommt, ist er nicht zu halten. Er hat darüber gesprochen, als wäre alles gestern passiert.« »Wie hieß der Bruder?«
»Joey. Jedenfalls hat Hurwitz ihn so genannt.«
Das obere Stockwerk in Hurwitz´ Haus besteht aus zwei niedrigen Zimmern, deren größeres als Arbeitsraum dient. Das andere zeigt zum Garten und beherbergt die Materialsammlung; noch ungesichtet und nur provisorisch geordnet auf langen Regalböden. Memoiren, Briefe, historische Studien. Zwei alte Landkarten hängen an den ansonsten kahlen Wänden, auf der größeren zeigen Pfeile die Truppenbewegungen an. Hurwitz nannte den Raum seine Zelle und diese Schlacht den größten Fehler des Zweiten Weltkriegs. Ein Feldzug im schlimmsten Winter seit fünfzig Jahren, ohne entsprechende Ausrüstung! Ein völlig überflüssiges Gemetzel. Je länger er sprach, desto größer wurde seine Empörung, erst beim Abschied vor der Haustür fand er zurück zu seinem distanzierten Selbst. Ein wenig müde, mit immer noch unruhigen Augen. Für seinen Händedruck ist er unter Studenten gefürchtet; vorsichtshalber spannte Hartmut den Oberkörper an, bevor er einschlug. Marsha sah er nicht mehr.
»Ich konnte ihn nicht unterbrechen«, sagt er. »Ihm sagen, dass ich noch eine andere Verabredung habe.«
Sandrine winkt ab und schenkt Wein nach. Als er sich umschaut, kommt ihm das Zimmer nicht mehr chaotisch vor, sondern wohnlich auf ähnliche Weise wie Sandrine herzlich ist, ohne offensichtliches Bemühen. Sie sitzen auf einem Lager aus Kissen und so nah beieinander, dass seine ausgestreckten Beine ihre Knie berühren. Einmal steht sie auf, macht sich am Plattenspieler zu schaffen und setzt sich genauso dicht zu ihm wie zuvor. Hält ihm das bunte Cover der Platte entgegen.
»Mein Vater schickt mir so was. Magst du europäischen Jazz?«
»Keine Ahnung.«
»Was ist das für eine Antwort?«
»Ich müsste es erst hören.«
»Tust du gerade.« Sie schaut ihn an, und er spürt die Stelle an seiner Wade, die ihr Knie berührt. »Mein Vater versorgt mich regelmäßig mit Büchern und Platten, damit ich ihm verzeihe, dass er meine Mutter betrügt. Eigentlich müsste ich ihm alles zurückschicken, aber er ist ein gewiefter Hund. Er weiß genau, was ich mag. Also bin ich seine Komplizin.« Sie legt sich das leere Cover auf den Kopf, wo es ein paar Sekunden in der Balance bleibt. Dann rutscht es über ihren Rücken zu Boden. »Das ist meine Familie: ein Casanova, der aussieht wie Fernandel, und eine gebildete kluge Frau, die zu allem, was sie im Lauf des Tages schluckt, Aspirin sagt. Und ich. Von deiner Familie erzählst du nie.«
»Warum trennen sie sich nicht?«
»Feigheit. Komplizierte Vermögensverhältnisse. Tradition. Sie haben geheiratet, weil meine Mutter schwanger war, und an manchen Tagen bringe ich es fertig, mich deswegen schuldig zu fühlen. Komisch, oder? Wir sind alle sehr bourgeois.« Mit einem Schulterzucken greift sie nach seiner Hand.
Einen Moment lang fühlt er sich überrumpelt und weiß nicht, wie er reagieren soll. Dann reden sie einfach weiter. Im Hintergrund spielt eine Trompete, wie er sie noch nie gehört hat: unruhig, flatterhaft, ein Haken schlagendes Tier. Er selbst wird immer ruhiger. Spürt Sandrines Fingerspitzen über seinen Handteller fahren und hört zu, wie sie von einer geplanten Reise erzählt. »The Great River Road«, sagt sie, als wäre es eine Zauberformel. Der Verlauf scheint auf seinen Unterarm geschrieben zu sein, jedenfalls tippt sie auf eine Reihe von Punkten und flüstert unbekannte Namen dazu. Hartmut denkt an die Mark-Twain-Geschichten von früher, an seine Phantasien von Schaufelraddampfern und selbst gebauten Flößen. Dunst über dem weiten Wasser, einen Grashalm im Mund. Kann man sich nach einem Ort sehnen, an dem man nie gewesen ist? In Sandrines Erzählung kann man ihn sogar erreichen. Man muss nur dem Fluss folgen, der draußen durch den verschneiten Campus fließt. Immer weiter, bis tief in den Süden.
»Du hast eine Gänsehaut«, sagt sie. »Bin ich das?«
»Wie willst du fahren? Mit dem Zug?«
»Ich kauf mir ein Auto.«
Inzwischen liegt er auf dem Rücken. Sandrine lässt seine Hand los, dreht die Platte um und stellt die leeren Gläser auf den Schreibtisch, bevor sie sich zu ihm legt. Wie selbstverständlich nimmt sie ihre Brille ab, bettet den Kopf auf seinen Oberarm und sagt: »Einen offenen Thunderbird. Mr. Casanova bezahlt.«
»Du hast schon alles geplant.«
»Fast alles.« Sie streckt den Hals und küsst ihn sanft auf die Wange. Die Berührung erinnert ihn an die Schneeflocken vor den Fenstern der Wilson Library. »Der Beifahrersitz ist noch frei.«
Langsam dreht er ihr das Gesicht zu. Normalerweise geschehen Dinge nicht auf diese Weise, und trotzdem ist er nicht überrascht. Den gesamten Sommer und den Herbst hindurch hat er mit der Erwartung gelebt. Seit er in New York gelandet und zwei Tage lang durch die Stadt gelaufen ist. Müde und durstig, unaufhörlich staunend. Seitdem weiß er von der Unumkehrbarkeit seines Weges.
»Heute Nachmittag hatte ich so ein Gefühl«, sagt er, »in der Bibliothek. Als es auf einmal begonnen hat zu schneien.«
»Was für ein Gefühl?«
»Weiß nicht. Ein gutes.« Obwohl er sich schämt für seinen Maulwurfsblick, wehrt er sich nicht, als Sandrine ihm die Brille abnimmt. Ihr Gesicht verschwimmt, eine Hand legt sich auf seine Wange.
»War es bisher nicht gut?«
Er kann ihren Atem riechen, den Wein und die Wärme. »Das erzähle ich dir ein andermal.«
»Es ist unsere Zeit, weißt du. Die Nixons sind bald alle weg.« »Oh ja«, sagt er. »Auf jeden Fall. Keine Frage.«
Die Trompete hält den Ton und lässt ihn langsam lauter werden. Seine Gedanken gehen darin unter. Sandrines Gesicht...
© Suhrkamp Verlag
Am späten Nachmittag verwandelt sich die Welt. Flaumig leichte Flocken wirbeln durch die Luft, als wären sie von der Schwerkraft ausgenommen. Lautlos füllen sie den Raum und legen eine weiß-graue Schraffur über den Campus. Seit November hängen dichte Wolken über der Stadt, und wenn die Studenten nach den Seminaren ins Freie traten, legten sie die Köpfe in den Nacken und blickten erwartungsvoll nach oben. Jetzt streicht Schnee über die Fenster der Wilson Library, ohne daran haften zu bleiben. Fahrradfahrer, die von der Brücke kommen, ziehen pulverige Schleier hinter sich her. Vor ihm auf der winzigen Arbeitsfläche liegt Empiricism and the Philosophy of Mind, seit einer halben Stunde auf derselben Seite aufgeschlagen. Gebannt schaut Hartmut nach draußen und versucht, den Weg einer einzelnen Flocke zu verfolgen. Am liebsten würde er das Gesicht gegen die Scheibe drücken und den milchigen Niederschlag seines Atems daraufmalen. Er hat sowieso keine Ahnung, was das sein soll: der Mythos des Gegebenen.
Endlich, denkt er. Wochenlang hat die Luft nach Winter gerochen, auch wenn es in Wirklichkeit kein Geruch ist, sondern eine Sehnsucht, die man erst erkennt, wenn sie sich erfüllt. Alle haben ihn gewarnt vor Stromausfällen bei dreißig Grad minus, vor eingeschneiten Häusern und eisglatten Wegen. Jetzt wird die Welt nur still, und er ist glücklich. Das Wort in seinem Kopf überrascht ihn, aber es stimmt. Um ihn herum schauen Kommilitonen von ihren Büchern auf und beginnen, miteinander zu flüstern.
Als er um halb sieben die Bibliothek verlässt, ist es draußen stockdunkel. Leer wie nie um diese Zeit streckt sich die Washington Avenue Bridge über den Fluss. Wenn Hartmut nach oben schaut, wird ihm schwindlig. Unter ihm fließt der Mississippi schwarz und beinahe geräuschlos dahin. Ein fremdes Gewässer, das er zwei Mal täglich überquert, manchmal öfter. Auf der östlichen Campusseite steht Ford Hall stoisch an seinem Platz. Benannt nach dem früheren Uni-Präsidenten und ausgestattet mit einem Vorbau aus viereckigen Säulen, trotzt das Bauwerk den dicht fallenden Flocken. Jeden Morgen steigt er hinauf in den dritten Stock, mit demselben flauen Gefühl im Magen wie vor einer Prüfung. Jetzt geht er am Gebäude vorbei durch den bereits knöcheltiefen Schnee auf der Mall. Immer die University Avenue entlang, hat Professor Hurwitz gesagt. Weil der Text partout nicht in seinen Kopf wollte, hat Hartmut ihn schließlich beiseitegelegt und stattdessen die zwei eng beschriebenen Kladden mit Notizen studiert, die er immer in der Tasche trägt. Konzentrieren konnte er sich auch darauf nicht. Kann man einen Ort vermissen, an den man nicht zurückwill? Die Rodelpartien fallen ihm ein, die Straße neben dem Haus hinab. Weil das Geld knapp war, hat sein Vater den Schlitten selbst gebaut. Hat die Kufen im Betrieb zugeschnitten und sie nach Feierabend unter das Holzgestell geschraubt, mit derselben bedächtigen Sorgfalt, mit der er jede Arbeit erledigt.
Als Dinkytown hinter ihm liegt, stapft er durch unbekanntes Gebiet. Wohnheime sind zu erkennen und vereinzelte Villen. Von den ausschweifenden Partys, die hier gefeiert werden, hört er manchmal in der Mensa, aus Gesprächsfetzen am Nebentisch. Es ist ein weiträumiger Campus mit viel rotem Backstein, knorrigen Ulmen und Gesichtern von überall auf der Welt. Aus einem der Gärten kommt ausgelassenes Gelächter, durchbricht die Stille wie dünnes Eis und bleibt hinter ihm zurück.
Jenseits der Interstate 35 kann er die Kreuzung ausmachen, hinter der sein Professor wohnt. Noch nie hat Hurwitz ihn zu sich nach Hause bestellt. Will er ihm in Ruhe erklären, warum er ihn nicht als Doktoranden annehmen kann? Dass er sich nicht in der Lage sieht, ihm in der zur Verfügung stehenden Zeit seine europäischen Flausen auszutreiben? Hurwitz' erster Blick auf die Berliner Kursliste wurde begleitet von vernehmlichem Stöhnen. Was, bitte schön, ist ein Autonomes Seminar? Seitdem muss Hartmut alle zwei Wochen Bericht erstatten über seine Lektüre. Jedes Wort, das er nicht kennt, schlägt er nach und schreibt es auf eine kleine Karte. Notiert die Bedeutung und den Satz, in dem es vorkommt, und fühlt sich angezogen vom Klang dieser Texte. Im Seminar stellt er sich vor, die Hand zu heben und zu sagen: This claim is flying in the face of reason. In Wirklichkeit redet er wenig und fühlt sich in Raum 304 wie auf Bewährung geduldet, jeden Dienstag und Donnerstag. Aber hat er sich bewährt, oder wird Hurwitz ihm heute Abend die Tür weisen?
Das Haus ist in dem Stil gebaut, den man hier viktorianisch nennt: holzverkleidet, mit einer erhöhten Vorderterrasse und verspielten Erkern und Winkeln, alles taubenblau und anheimelnd, auch wenn nur die Umrisse auszumachen sind hinter tanzenden Flocken. Licht schimmert durch mehrere Fenster, und Hartmut spürt sein Herz klopfen, als er die Stufen zur Veranda hinaufsteigt. Seine Uhr zeigt genau sieben. Wie lange wird es dauern? Sobald er an die andere Verabredung denkt, weiß er nicht mehr, welcher Termin ihn nervöser macht. Ausdrücklich hat er gesagt, er wisse nicht, wann er sich werde loseisen können, aber bestimmt nicht vor acht. Außerdem ist der Weg länger, als er dachte. Es könnte neun werden, vielleicht halb zehn. Sie hat gemeint, er solle einfach vorbeikommen auf dem Rückweg, notfalls würden sie in die Spätvorstellung gehen. Das war vor vier Tagen. Seitdem hält er am Schreibtisch manchmal inne, als wäre von irgendwo ein Blick auf ihn gerichtet.
Kurz drückt er die Klingel, erschrickt über das laute Geräusch hinter der Tür und hört flinke Schritte, die nicht zu seinem Professor gehören. Die Haustür geht auf, und eine ältere Frau, die er auf Fotos in Hurwiti Büro gesehen hat, streckt ihm resolut die Hand entgegen. »Sie müssen Hartmut sein. Hallo.«
»Guten Abend, Mrs. Hurwitz.«
Sie ist beinahe einen halben Meter kleiner als ihr Mann. Lächelnd deutet sie auf seine Schuhe, schließt hinter ihm die Tür und fragt, ob er das Haus gleich gefunden habe, alles auf einmal. Seinen Namen spricht sie aus, ohne dass es nach hard mud klingt, was nicht vielen in Amerika gelingt. Sich selbst stellt Mrs. Hurwitz als Marsha vor, nimmt ihm den schneefeuchten Parka ab und führt ihn ins Esszimmer. Die Wärme lässt seine Brille beschlagen. Licht aus mehreren Lampen spiegelt sich in den dunklen Fenstern. Hartmut sieht sich um, und Marsha zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf ihn, als komme ihr gerade ein großartiger Einfall. »Heißer Tee«, sagt sie und geht weiter in die Küche, ohne seine Antwort abzuwarten. Durch Walters Haus auf der anderen Flussseite wabert immerzu der Geruch von Motoröl und feuchten Teppichen, hier glaubt er, Zimt zu riechen, frisches Brot und gebackene Äpfel. Auf dem Esstisch und den Fensterbänken liegen weiße Stickdeckchen, stehen Kerzenhalter, gläserne Blumenvasen und gerahmte Fotos. Einige zeigen einen optimistisch dreinblickenden Mann in Uniform, aber auf den meisten sind die Töchter zu sehen, einzeln oder gemeinsam, beim Spielen, Reiten und mit den eigenartigen Hüten, die man hier zum Uni-Abschluss trägt. Außerdem Hurwitz als junger Mann, immer riesig, egal wer neben ihm steht und obwohl er schon damals die leichte Rundung in den Schultern hatte.
Mit einem vollen Tablett kommt Marsha zurück. Sie trägt Rock und Jacke aus demselben dunkelgrünen Stoff, dazu eine silberne Halskette und Ohrringe, als würde sie nicht einen Studenten, sondern den Präsidenten der University of Minnesota bewirten. Vorsichtig stellt sie die Teekanne auf ein Stövchen und mustert ihn wohlwollend.
»Eine ungeschriebene Regel des Hauses besagt, dass zwar kein Gast einen English Muffin essen muss«, sagt sie, »aber jeder bekommt einen angeboten. So?«
»Ich ... Es ist bereits sieben vorbei«, sagt er trotz seines Hungers.
»Oh, keine Sorge. Hurwitz wird sich melden.« Sie blickt zur Decke, die im selben Moment unter schweren Schritten zu knarren beginnt. »Außerdem kennt er die Regel. Sie müssen wissen, Hartmut, das Haus hat zwei Stockwerke, und in diesem hier bestimme ich. Alleine.«
»Dann - okay, ess ich einen.«
»Es ist nur ein Mittel, um meine Quittenmarmelade unters Volk zu bringen. Bitte.« Marsha zeigt auf einen Platz am ovalen Esszimmertisch und beginnt, Geschirr und Besteck aufzulegen. In der nächsten Viertelstunde isst Hartmut den ersten English Muffin seines Lebens, trinkt zwei Tassen Tee mit Rum und erfährt das Wichtigste über Claire, Elaine und Cecilia Hurwitz: dass sie wunderbar sind und hoffentlich bald schwanger werden. Pausenlos springt Marsha zwischen den drei Töchtern, ihren Wohnorten, Ehemännern und Berufen hin und her und legt jedes Mal den Kopf in den Nacken, wenn über ihnen die Dielen knarren. Was oft geschieht. Gleichzeitig beobachtet sie Hartmut genau, registriert sofort, wenn er nicht versteht, was sie sagt, und wiederholt es mit anderen Worten. Erst als sie ihm lächelnd den zweiten Muffin auf den Teller legt, bemerkt er, wie schnell er den ersten verschlungen hat. Dass er seit Monaten von Sandwichs und dem billigsten Gericht in der Mensa lebt, behält er für sich. Das wenige, das zu erzählen er Gelegenheit bekommt, betrifft seine Familie und findet Marshas emphatische Zustimmung: Eltern, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, und eine jüngere Schwester, die bald heiraten wird. Schade, dass du nicht dabei sein kannst, stand in Ruths letztem Brief, den er immer noch nicht beantwortet hat. Es ist eine verstörende Vorstellung: die kleine dumme Ruth vor dem Traualtar. Irgendwann reißt das Knarren im Obergeschoss nicht mehr ab, und Marsha schließt seufzend die Augen.
»Wenn man so lange verheiratet ist wie wir, wird man nicht nur füreinander durchsichtig. Die Wände werden es auch. Ich fürchte, Hartmut, Sie müssen bald nach oben.«
»Okay.«
»Wenn er an seinen philosophischen Texten arbeitet, höre ich stundenlang keinen Mucks. Dann sitzt er da.« Schräg zeigt ihr Arm nach oben, auf einen Punkt seitlich des Hauseingangs. »Soll ich ehrlich sein? Ich wünschte, das wäre häufiger der Fall. Früher saß er immer da, Abend für Abend.«
»Ja. Und jetzt?«
»Das wird er Ihnen gleich selbst sagen.« Als sie die Augen wieder öffnet, wirkt ihr Blick müde. »Hartmut, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Ja. Natürlich.«
»Sie sind ein junger Mann und nur für Ihr eigenes Tun verantwortlich. Trotzdem, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Was hat Ihr Vater im Krieg gemacht? Wissen Sie das?« Ihre Stimme wird leise und gibt Hartmut das Gefühl, sie frage nicht aus eigenem Interesse. Hurwitz kommt gelegentlich im Seminar auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, auf dieselbe abrupte Weise, auf die er das Thema kurz darauf wieder fallenlässt, aber er hat ihn nie nach seinem Vater gefragt.
»Er war nicht im Krieg. Als einziges Kind und Halbwaise wurde er ...« Was ›unabkömmlich gestellt‹ auf Englisch heißt, weiß er nicht und behilft sich anders. »Nicht einberufen. Er musste sich um die Landwirtschaft kümmern. Um seine Mutter.«
»Das ist gut, ich meine ... Sie wissen schon.«
Im Gespräch entsteht eine Pause. Marsha hält ihre Teetasse in beiden Händen und betrachtet den aufsteigenden Dampf. Im Nebenzimmer knistert und knackt ein Kaminfeuer. Deutlich wie lange nicht mehr steht ihm die Arnauer Küche vor Augen, ein niedriger Raum, an dessen Wänden keine Fotos hängen, nur ein Abreißkalender mit der täglichen Bibellese. Der Geruch von Ruß und Essen. Seine Großmutter sitzt den ganzen Tag vor dem Fenster, blickt nach draußen und öffnet den Mund nur, um ihr Missfallen zu bekunden. Zahnlos seit zwanzig Jahren, seit sie ihr Gebiss in die Jauchegrube geworfen hat, weil es kniff. Die Unabkömmlichkeit seines Vaters mag auch damit zu tun gehabt haben, dass er als Modellschlosser in einem Betrieb arbeitete, der damals wichtige Rüstungsgüter produzierte. Oder Teile dafür. Spielt keine Rolle, denkt Hartmut. Tausende Kilometer von zu Hause entfernt sitzt er in einem warmen Esszimmer, spürt ungewohnten Alkohol auf den Wangen und hat später am Abend, was man hier ein Date nennt. Den ganzen Tag war er nervös und ist es jetzt nicht mehr. Wollte Hurwitz ihn als Doktoranden ablehnen, würde er ihn nicht erst von seiner Frau bewirten lassen. Was auch immer sein Professor von ihm will, das ist die Hauptsache: Er wird in Amerika bleiben, hart arbeiten und irgendwann Freunde finden, wird sein Englisch verbessern und allmählich einer von denen werden, die er mittags in der Mensa beobachtet. Einer von denen und trotzdem er selbst. Das ist das Ziel. Dafür ist er hergekommen.
Marsha stellt ihre Teetasse ab und räuspert sich. »Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, warum er sie eingeladen hat. Richtig?« »Nicht genau, nein.«
»Hurwitz wird Sie um Hilfe bitten bei einem Projekt, das er sich in den Kopf gesetzt hat. Er kann ja kein Deutsch. Aber bevor er das tut, bitte ich Sie ebenfalls um etwas: Sagen Sie nicht sofort zu. Bitten Sie sich Bedenkzeit aus. Hurwitz ist ...« Ihre Augen irren durch den Raum, als hätte sie das richtige Wort eben noch gesehen. »Intense. Um nicht zu sagen besessen, was er auch manchmal ist.«
»Was für ein Projekt?«
»Entscheiden Sie nicht sofort, Hartmut, er wird das akzeptieren. Schließlich sind Sie hier, um Philosophie zu studieren, richtig?« Sie macht eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie ihm über die Wange streichen und hielte sich im letzten Moment zurück. »Sie haben genug zu tun mit Ihren eigenen Studien.«
»Ja.« Wieder poltern im ersten Stock schwere Schritte, verharren und kommen die schmale Holztreppe herab, die Hartmut beim Eintreten gesehen hat. »Ich werde es mir überlegen.«
Bevor sie aufsteht, legt Marsha beide Hände auf ihre Oberschenkel und nickt.
»Gut. Es hat mich sehr gefreut. Die Tasse nehmen Sie am besten mit. Sie können natürlich jederzeit runterkommen, wenn Sie mehr wollen.«
Als er zwei Stunden später das Haus verlässt, ist der Schneefall so dicht geworden, dass die Sicht kaum zehn Meter weit reicht. Das Wärmegefühl, das der Rum auf seinen Wangen hinterlassen hat, ist verflogen, und trotzdem fühlt es sich gut an, eingepackt in den Parka durch die Straßen zu laufen und kalte Nachtluft zu atmen. Sein Kopf brummt. Zwei Stunden lang hat er angestrengt zugehört, weil Hurwitz so auf seine Erzählung konzentriert war, dass er nicht merkte, wenn er Hartmut überforderte. Jetzt ist es, als löste sich ein Muskel in seinem Kopf und begänne, vor Erschöpfung zu zittern. Im Gehen hascht er nach den Schneeflocken und wischt sie sich über die Stirn. Erst jenseits der Hennepin Avenue steckt er die Hände in die Taschen und bemerkt den in eine Serviette eingepackten Muffin. Wie ein Filmausschnitt steht ihm die mühsam gebändigte Erregung vor Augen, mit der sein Professor auf und ab lief, nach Büchern suchte, Karten auf- und zufaltete und ihn an Marsha denken ließ, die wahrscheinlich im Esszimmer zur Decke starrte und genau wusste, worum es ging.
Wird sie ihm übel nehmen, dass er sich sofort bereit erklärt hat mitzumachen?
Ohne stehen zu bleiben, packt er den Muffin aus und beißt hinein. Beschleunigt den Schritt, obwohl er mit vollem Mund nicht gut atmen kann. Sandrine wartet auf ihn, und er fühlt sich merkwürdig leicht. Bisher sind sie ein paar Mal zusammen in der Mensa gewesen. Haben in der Mall auf dem Rasen gesessen und geredet, als es dafür noch warm genug war, aber viel weiß er nicht von ihr. Sie kommt aus Paris, lebt hauptsächlich von Obst und Salat, hat genug Geld und zu allem eine feste Meinung. Wenn er spricht, schaut sie ihn durch ihre schwarze Hornbrille an, als verdiente jedes Wort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Obwohl sie meistens anderer Ansicht ist. Als sie wissen wollte, ob er gerne ins Kino gehe, hat er einfach Ja gesagt.
Die Umrisse von Sanford Hall tauchen aus dem Schneetreiben auf. Helle Fenster schweben in der Dunkelheit. Vor dem Eingang wurden die Gehwege frei geschaufelt und sind bereits wieder eingeschneit. Mit einem Nicken schleicht sich Hartmut an der Rezeption vorbei und findet die Treppe hinauf in den dritten Stock. Neonlicht spiegelt sich in feuchten Fußabdrücken auf dem Boden. Hinter nummerierten Türen erklingen Stimmen und gedämpfte Musik, davor stehen gefütterte Winterschuhe in Pfützen aus geschmolzenem Schnee.
Hinter Sandrines Tür hört er nichts. Zwei Mal klopft er vorsichtig, vernimmt keine Antwort und glaubt schon, sie sei ohne ihn ins Varsity Theater gegangen, als sich die Tür langsam öffnet und Sandrine ihr bebrilltes Gesicht in den Spalt schiebt. Mit ihrem Lächeln kommt ihm ein Hauch warmer Luft entgegen.
»Was ist mit den pünktlichen Deutschen los?« Ihr Akzent ist weniger stark als seiner, aber man hört, aus welchem Land sie kommt. Fröstelnd hält sie sich die Arme vor die Brust und blickt den leeren Flur hinauf und hinab.
»Tut mir leid. Hurwitz hat kein Ende gefunden. Soll ich reinkommen oder ...?«
»Du hast Schnee auf dem Kopf.« Auf nackten Füßen huscht sie zurück ins Zimmer. Es ist nicht größer als seine Kammer in Walters Haus, hat aber ein hohes Fenster, in dem die Skyline von Minneapolis steht, schemenhafte Türme mit grünlich schimmernden Lichtern. Fast sieht es aus, als würde ein riesiger Ozeandampfer flussaufwärts ziehen. Hartmut lässt die Schuhe im Flur stehen und tritt ein. Während er die Brille über das Innenfutter seines Parkas reibt, stehen sie einander gegenüber zwischen Sandrines wenigen Möbeln: einem Schrank, zwei überfüllten Bücherregalen und einem kleinen Schreibtisch. Sie wohnt alleine und nutzt das obere Etagenbett als Stauraum.
»Ich hab Wein gekauft«, sagt sie, »den besten schlechten Wein, den ich kriegen konnte. Eigentlich wollte ich auf dich warten, aber dann - hab ich doch nicht gewartet.« Nickend sieht sie sich um, als fiele ihr das Chaos im Zimmer erst in diesem Moment auf. Nicht nur auf dem Bett, überall liegen Sachen herum, Bücher, Zeitschriften und stapelweise Schallplatten. »Lass mich raten. Bei dir ist es ordentlicher?«
»Ich hab weniger Sachen.« Vorsichtig, damit keine Tropfen auf die vielen Papiere fallen, zieht er seinen Parka aus und legt ihn aufs obere Bett.
»Weißt du, was mir aufgefallen ist? Wenn du ein Sandwich auspackst, faltest du hinterher das Papier zusammen.« In Erwartung seines Protestes streckt sie ihm den Zeigefinger entgegen. »Doch. Ich hab mir aber schon gedacht, dass du es nicht bewusst tust. Es ist deine zweite Natur.«
»Wann ist dir das aufgefallen?«
»Bei jeder Mahlzeit. Kante auf Kante, immer drei Mal.« Lächelnd sieht sie ihn an, und er braucht einen Moment, um zu realisieren, dass er sich nicht verspottet fühlt. Ihre hellbraunen Haare werden von Spangen zurückgehalten, das Gesicht wirkt offen und ein wenig verträumt. Im Seminar sitzt sie im Schneidersitz auf ihrem Stuhl, hat den Rücken durchgedrückt und die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Starr vor Aufmerksamkeit. So saß sie eines Morgens neben ihm im Wahlpflichtkurs zur amerikanischen Verfassung. Sie musste sich verspätet haben, jedenfalls hat er sie erst bemerkt, als der zu patriotischen Floskeln neigende Dozent Amerika das Mutterland der Demokratie nannte und rechts von ihm jemand ein ploppendes Geräusch mit den Lippen machte und sagte, you wish, Nixon.
»Doch kein Kino?«, fragt er.
»Ich hab mir überlegt, dass es zu kalt ist. Außerdem bin ich schon ein bisschen tipsy.« Sie wendet sich zum Schreibtisch und hantiert mit der Weinflasche und einem zweiten Glas. Ihre weite, aus verschiedenen Stoffstücken zusammengenähte Hose lässt die Form eines schmalen Hinterns erahnen. »Was hat dich aufgehalten? Sind Hurwitz noch fünfhundert Bücher eingefallen, die du bis zum Sommer lesen musst?«
»Ich soll ihm helfen, den Tod seines Bruders zu recherchieren.«
»Oh.« Sie hält in der Bewegung inne, mit der sie ihm das Glas reichen wollte, ihre grau-blauen Augen direkt auf seine gerichtet. »Erzähl, wie ist er gestorben?«
»Im Krieg. Ich soll mit niemandem darüber reden.« »Erzähl!«
Um den Blickkontakt zu verlängern, zögert er. Nimmt zuerst das Glas und trinkt einen Schluck. Der Wein schmeckt nicht, tut aber gut. Sandrines blasse Sommersprossen werden nur sichtbar, wenn Licht auf die Haut fällt.
»Das ist ein Befehl«, sagt sie.
Beim Reden wird ihm so warm, dass er Pullover und Hemd auszieht und Sandrine schließlich im T-Shirt gegenübersitzt. Die meisten Wörter hat er vor einer Stunde von Hurwitz gelernt und benutzt sie zum ersten Mal. Es fühlt sich merkwürdig an, von Deutschland wie von einer unbekannten Hölle zu sprechen, aber tatsächlich hat er vor heute Abend noch nie von diesem Landstrich in der Nordeifel gehört, wo im Winter 1944/45 zerfetzte Leichen in den Bäumen hingen. Sandrine hört zu in ihrer Yogi-Haltung, mit geradem Rücken und so reglos, als wäre sie in Meditation versunken. Draußen auf der Fensterbank wächst eine weiße Düne, die sie langsam von der Außenwelt abschneidet.
»Einmal in der Woche soll ich bei ihm vorbeikommen.« Nach einem halben Glas spürt er wieder Hitze auf den Wangen. »Es gibt ein ganzes Zimmer voller Material, aber natürlich liest er nur Englisch.«
»Ist es ein altes Haus?«
»Ja. Seine Frau hat mich vor seiner Besessenheit gewarnt. Früher im College war er ein berühmter Footballspieler. Hier an der U of M. Wenn er in Fahrt kommt, ist er nicht zu halten. Er hat darüber gesprochen, als wäre alles gestern passiert.« »Wie hieß der Bruder?«
»Joey. Jedenfalls hat Hurwitz ihn so genannt.«
Das obere Stockwerk in Hurwitz´ Haus besteht aus zwei niedrigen Zimmern, deren größeres als Arbeitsraum dient. Das andere zeigt zum Garten und beherbergt die Materialsammlung; noch ungesichtet und nur provisorisch geordnet auf langen Regalböden. Memoiren, Briefe, historische Studien. Zwei alte Landkarten hängen an den ansonsten kahlen Wänden, auf der größeren zeigen Pfeile die Truppenbewegungen an. Hurwitz nannte den Raum seine Zelle und diese Schlacht den größten Fehler des Zweiten Weltkriegs. Ein Feldzug im schlimmsten Winter seit fünfzig Jahren, ohne entsprechende Ausrüstung! Ein völlig überflüssiges Gemetzel. Je länger er sprach, desto größer wurde seine Empörung, erst beim Abschied vor der Haustür fand er zurück zu seinem distanzierten Selbst. Ein wenig müde, mit immer noch unruhigen Augen. Für seinen Händedruck ist er unter Studenten gefürchtet; vorsichtshalber spannte Hartmut den Oberkörper an, bevor er einschlug. Marsha sah er nicht mehr.
»Ich konnte ihn nicht unterbrechen«, sagt er. »Ihm sagen, dass ich noch eine andere Verabredung habe.«
Sandrine winkt ab und schenkt Wein nach. Als er sich umschaut, kommt ihm das Zimmer nicht mehr chaotisch vor, sondern wohnlich auf ähnliche Weise wie Sandrine herzlich ist, ohne offensichtliches Bemühen. Sie sitzen auf einem Lager aus Kissen und so nah beieinander, dass seine ausgestreckten Beine ihre Knie berühren. Einmal steht sie auf, macht sich am Plattenspieler zu schaffen und setzt sich genauso dicht zu ihm wie zuvor. Hält ihm das bunte Cover der Platte entgegen.
»Mein Vater schickt mir so was. Magst du europäischen Jazz?«
»Keine Ahnung.«
»Was ist das für eine Antwort?«
»Ich müsste es erst hören.«
»Tust du gerade.« Sie schaut ihn an, und er spürt die Stelle an seiner Wade, die ihr Knie berührt. »Mein Vater versorgt mich regelmäßig mit Büchern und Platten, damit ich ihm verzeihe, dass er meine Mutter betrügt. Eigentlich müsste ich ihm alles zurückschicken, aber er ist ein gewiefter Hund. Er weiß genau, was ich mag. Also bin ich seine Komplizin.« Sie legt sich das leere Cover auf den Kopf, wo es ein paar Sekunden in der Balance bleibt. Dann rutscht es über ihren Rücken zu Boden. »Das ist meine Familie: ein Casanova, der aussieht wie Fernandel, und eine gebildete kluge Frau, die zu allem, was sie im Lauf des Tages schluckt, Aspirin sagt. Und ich. Von deiner Familie erzählst du nie.«
»Warum trennen sie sich nicht?«
»Feigheit. Komplizierte Vermögensverhältnisse. Tradition. Sie haben geheiratet, weil meine Mutter schwanger war, und an manchen Tagen bringe ich es fertig, mich deswegen schuldig zu fühlen. Komisch, oder? Wir sind alle sehr bourgeois.« Mit einem Schulterzucken greift sie nach seiner Hand.
Einen Moment lang fühlt er sich überrumpelt und weiß nicht, wie er reagieren soll. Dann reden sie einfach weiter. Im Hintergrund spielt eine Trompete, wie er sie noch nie gehört hat: unruhig, flatterhaft, ein Haken schlagendes Tier. Er selbst wird immer ruhiger. Spürt Sandrines Fingerspitzen über seinen Handteller fahren und hört zu, wie sie von einer geplanten Reise erzählt. »The Great River Road«, sagt sie, als wäre es eine Zauberformel. Der Verlauf scheint auf seinen Unterarm geschrieben zu sein, jedenfalls tippt sie auf eine Reihe von Punkten und flüstert unbekannte Namen dazu. Hartmut denkt an die Mark-Twain-Geschichten von früher, an seine Phantasien von Schaufelraddampfern und selbst gebauten Flößen. Dunst über dem weiten Wasser, einen Grashalm im Mund. Kann man sich nach einem Ort sehnen, an dem man nie gewesen ist? In Sandrines Erzählung kann man ihn sogar erreichen. Man muss nur dem Fluss folgen, der draußen durch den verschneiten Campus fließt. Immer weiter, bis tief in den Süden.
»Du hast eine Gänsehaut«, sagt sie. »Bin ich das?«
»Wie willst du fahren? Mit dem Zug?«
»Ich kauf mir ein Auto.«
Inzwischen liegt er auf dem Rücken. Sandrine lässt seine Hand los, dreht die Platte um und stellt die leeren Gläser auf den Schreibtisch, bevor sie sich zu ihm legt. Wie selbstverständlich nimmt sie ihre Brille ab, bettet den Kopf auf seinen Oberarm und sagt: »Einen offenen Thunderbird. Mr. Casanova bezahlt.«
»Du hast schon alles geplant.«
»Fast alles.« Sie streckt den Hals und küsst ihn sanft auf die Wange. Die Berührung erinnert ihn an die Schneeflocken vor den Fenstern der Wilson Library. »Der Beifahrersitz ist noch frei.«
Langsam dreht er ihr das Gesicht zu. Normalerweise geschehen Dinge nicht auf diese Weise, und trotzdem ist er nicht überrascht. Den gesamten Sommer und den Herbst hindurch hat er mit der Erwartung gelebt. Seit er in New York gelandet und zwei Tage lang durch die Stadt gelaufen ist. Müde und durstig, unaufhörlich staunend. Seitdem weiß er von der Unumkehrbarkeit seines Weges.
»Heute Nachmittag hatte ich so ein Gefühl«, sagt er, »in der Bibliothek. Als es auf einmal begonnen hat zu schneien.«
»Was für ein Gefühl?«
»Weiß nicht. Ein gutes.« Obwohl er sich schämt für seinen Maulwurfsblick, wehrt er sich nicht, als Sandrine ihm die Brille abnimmt. Ihr Gesicht verschwimmt, eine Hand legt sich auf seine Wange.
»War es bisher nicht gut?«
Er kann ihren Atem riechen, den Wein und die Wärme. »Das erzähle ich dir ein andermal.«
»Es ist unsere Zeit, weißt du. Die Nixons sind bald alle weg.« »Oh ja«, sagt er. »Auf jeden Fall. Keine Frage.«
Die Trompete hält den Ton und lässt ihn langsam lauter werden. Seine Gedanken gehen darin unter. Sandrines Gesicht...
© Suhrkamp Verlag
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Autoren-Porträt von Stephan Thome
Thome, StephanStephan Thome wurde am 23. Juli 1972 in Biedenkopf, Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. 2005 erschien unter dem Titel Die Herausforderung des Fremden: Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken seine Dissertationsschrift. Zur selben Zeit begann er als DFG-Stipendiat am Institut für Chinesische Literatur und Philosophie der Academia Sinica zu arbeiten, wo er über konfuzianische Philosophie des 20. Jahrhunderts forschte. Bis 2011 betätigte er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen in Taipeh und übersetzte unter anderem Chun-chieh Huangs Werk Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung ins Deutsche. Sein Roman Grenzgang gewann 2009 den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres und stand - wie auch sein zweiter Roman Fliehkräfte - auf der Shortlist zumDeutschen Buchpreis. 2014 wurde Thome von der Akademie der Künste Berlin mit dem Kunstpreis Literatur ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt die Verfilmung des Romans Grenzgang den Grimme-Preis. Seit 2011 lebt und arbeitet Stephan Thome als freier Schriftsteller; derzeit lebt er in Taipeh.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephan Thome
- 2012, 1. Aufl., 473 Seiten, Maße: 13,5 x 21,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518423258
- ISBN-13: 9783518423257
- Erscheinungsdatum: 09.09.2012
Rezension zu „Fliehkräfte “
»Thome ist ganz nah bei seinen Figuren, und die Sogwirkung seines Erzählens kann sich mit gefeierten amerikanischen Vorbildern messen. Bücher wie seines sind der Grund dafür, warum die Leser sich nicht beirren lassen und immer wieder zum Roman zurückkehren.«
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