Für Rouenna
Roman. Aus d. Amerikan. v. Anette Grube
Auf den ersten Blick ist Rouenna nichts Besonderes: nicht mehr jung, sehr dick, allein. Aber sie hat eine Geschichte. Sie war Kriegskrankenschwester in Vietnam - und es war die glücklichste Zeit ihres Lebens. Ihre unglaubliche Geschichte ist der Stoff...
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Produktinformationen zu „Für Rouenna “
Auf den ersten Blick ist Rouenna nichts Besonderes: nicht mehr jung, sehr dick, allein. Aber sie hat eine Geschichte. Sie war Kriegskrankenschwester in Vietnam - und es war die glücklichste Zeit ihres Lebens. Ihre unglaubliche Geschichte ist der Stoff dieses Romans, eine Geschichte von erschütternder Ehrlichkeit.
Lese-Probe zu „Für Rouenna “
Nachdem mein erstes Buch erschienen war, bekam ich ein paar Briefe. Die meisten waren von Fremden, von Leuten, die mein Buch gelesen hatten und mich wissen lassen wollten, was sie davon hielten. Es waren überwiegend wohlwollende Briefe, ein paar allerdings waren kritisch. ("Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, aber der Schluß hat mir überhaupt nicht gefallen", und so weiter.) Ich erhielt auch Post von Leuten, die ich früher gekannt hatte. Beinahe-Fremde: Menschen, zu denen ich seit zwanzig, dreißig Jahren keinen Kontakt mehr hatte und an die ich, wenn überhaupt, nur sehr selten dachte. Fast jeder dieser Briefe begann damit, daß der Absender seinen Zweifel zum Ausdruck brachte, ob ich mich noch an ihn erinnerte, und meine Antwortschreiben begannen stets mit der Versicherung, daß ich mich sehr wohl erinnerte, was der Wahrheit entsprach. Noch bevor ich einen dieser Briefe öffnete, erkannte ich in der Regel den Absendernamen auf dem Umschlag wieder. (Mitunter war es auch die Handschrift, die ich wiedererkannte.) Unbekannt war mir jedoch fast immer die Adresse des Absenders. Meine alten Bekannten, diese Gespenster aus der Vergangenheit, waren von den Orten, an denen ich sie gekannt hatte, weggezogen, manche sehr weit weg. Einer der wenigen Briefe aus dem Staat New York war in einem Männergefängnis abgeschickt worden. Manchmal schrieb der Absender persönlich auf den Umschlag oder persönlich und vertraulich. "Hoffentlich kannst Du Dich an mich Idioten noch erinnern", schrieb der Gefängnisinsasse, "jetzt, wo ich im Knast sitze."Im Gegensatz zu den Briefen von Fremden ging es in den Briefen von früheren Bekannten für gewöhnlich nicht um mein Buch. Ja, häufig hatte der Absender das Buch gar nicht gelesen, sondern nur davon gehört, durch eine Besprechung zum Beispiel, und dies zum Anlaß genommen, sich "nach all den Jahren" erneut mit mir in Verbindung zu setzen. Meist waren diese Briefe lang - drei oder vier Seiten - und voller autobiographischer Details. Sie führten
... mehr
mich zurück - ans College, an die High School und noch weiter. Ich hörte von drei Frauen, die in der siebten Klasse meine besten Freundinnen gewesen waren. (Die meisten Leute, die mir schrieben, waren Frauen.) Nur selten überraschte es mich, zu erfahren, was aus den Leuten geworden war. Sie hatten geheiratet. Sie hatten Kinder bekommen. Die Berufe, die sie hatten, waren die Berufe, die ich für sie vorhergesagt hätte. Es war ihr Bedürfnis, mir das alles mitzuteilen, was mich überraschte und rührte.
Ich beantwortete jeden Brief. Und für gewöhnlich hatte es sich damit. Ich hörte nichts mehr von den Leuten und wenn doch, dann nur noch einmal. Vielleicht kam noch ein kurzer Brief oder eine Postkarte. Eine der Freundinnen aus der siebten Klasse grub ein Bild von mir als Dreizehnjährige aus und schickte es mir zusammen mit der Kopie eines Gedichts in meiner eigenen jugendlichen Handschrift, das ich ungelesen wegwarf, weil ich mich nur zu gut an die Art Gedichte erinnerte, die ich mit dreizehn schrieb.
Die Zeit verging. Ein Jahr, noch ein Jahr, genug Zeit, um ein weiteres Buch zu beenden - eine lange Phase, in der keine solchen Briefe eintrafen. Aber eines Tages kam doch noch einer. ("Ich weiß nicht, ob Du Dich noch an mich erinnerst.") Diesmal aus Brooklyn. Und diesmal erinnerte ich mich nicht.
Ich erinnerte mich nicht an eine Rouenna Zycinski. Ich war ganz sicher, daß ich sie nie gekannt hatte. Aber gemäß ihrem Brief waren wir vor vielen Jahren Nachbarn in einem Sozialbaugebiet auf Staten Island gewesen. Sie war älter als ich, diese Frau, so alt wie meine ältere Schwester, und sie erinnerte sich an sie und an meine andere Schwester und an meine Mutter und meinen Vater. Sie kannte ihre Namen und die Nummer des Hauses, in dem wir gelebt hatten, und die Nummer der Wohnung - all diese Informationen führte sie in ihrem Brief auf, und alles stimmte. Über diese Welt - die Welt der Sozialbauten - hatte ich in meinem ersten Buch geschrieben, das sie gerade gelesen hatte. Das Buch hatte sie in diese Welt zurückversetzt, hatte viele Erinnerungen wachgerufen, und das war alles, was sie mir mitteilen wollte.
Ich antwortete sofort auf ihren Brief, bedankte mich dafür und vergaß sie dann völlig, bis sie sich ein paar Wochen später erneut meldete. Wir wären, schrieb sie (diesmal stimmte es nicht ganz, meiner Ansicht nach), wieder einmal Nachbarn. Brooklyn, Manhattan. Zwei U-Bahn-Haltestellen voneinander entfernt. Eine Sache von Minuten. Könnten wir uns treffen?
Ich wollte nicht. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, diese Frau zu treffen. Sie war eine Fremde, und Fremden gegenüber bin ich mißtrauisch. Unsere Bekanntschaft konnte nur marginal gewesen sein. Nicht einmal ihr Name sagte mir etwas. Sie und ihre Familie waren vor ungefähr vierzig Jahren aus dem Sozialbaugebiet fortgezogen. Meine Familie war zehn Jahre später weggezogen. Warum sollten wir uns treffen? Es gab keinen Grund dafür. Und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß diese Frau etwas wollte - mehr, als mich nur wiederzusehen. Ich wußte nicht genau, was es war, aber ich meinte, Gefahr zu spüren - nein, Gefahr ist ein zu melodramatischer Ausdruck -, Schwierigkeiten, die aus einem Treffen mit ihr erwachsen könnten, und ich hatte genug Schwierigkeiten. Wäre sie ein Mann gewesen, wäre es mir, glaube ich, nicht schwergefallen, nein zu sagen. Aber ein merkwürdiges Gefühl der Verpflichtung nagte an mir, als ob ich dieser Frau etwas schuldete, dieser vollkommen Fremden von den Rändern meines Buches der Erinnerungen - aber was konnte ich ihr schon schulden?
Ich hatte genug Schwierigkeiten. Die Briefe dieser Frau erreichten mich zu einer eigentümlichen Zeit in meinem Leben - einer unglücklichen Zeit. Als ihr erster Brief kam, hatte ich mich gerade von einem Mann getrennt, mit dem ich seit mehreren Jahren zusammenlebte. Ich war aus der gemeinsamen Wohnung (seiner Wohnung, bevor wir uns kennenlernten) aus- und in eine neue Wohnung eingezogen. Ich war allein. (Auch sie war allein; obwohl sie nichts darüber sagte, konnte ich mir nicht vorstellen, daß Rouenna Zycinski nicht allein lebte, zwei U-Bahn-Haltestellen entfernt in Brooklyn.) Mitten im Auspacken hatte ich die Lust verloren und damit aufgehört. Ich lebte im Durcheinander, teils aus Kisten - ich wußte kaum, wo was war. Die Küche war leer, den Herd hatte ich noch kein einziges Mal benutzt - ich ging aus, vom Kaffee am Morgen bis zum Drink um Mitternacht. Ich ging allein aus - ich mied Menschen. Ich mied es, erklären zu müssen, daß G. und ich nicht mehr zusammen waren. Ich mied es, Fragen zu meiner Arbeit - wie stand es mit meinem nächsten Buch - beantworten und zugeben zu müssen, daß es nicht gut darum stand, daß ich dieses Buch aufgegeben hatte. Seit Monaten hatte ich nichts mehr geschrieben. Ich mußte schnell ausziehen und mehr oder weniger die erstbeste Wohnung nehmen, die mir angeboten wurde. Zwei kleine Zimmer, die auch zusammen kein großes ergeben hätten. Das Sofa hier, das Bett dort, und damit waren sie voll. Der Holzboden splitterte, das Licht war - es gab kein Licht. Fast alle Bewohner des Hauses waren Frauen. Der Besitzer wollte nicht an alleinstehende Männer oder Familien vermieten (nicht, daß man sich hätte vorstellen können, wie sich eine Familie in eine dieser kleinen Wohnungen zwängte, in die das einst elegante Stadthaus unterteilt worden war). Wir waren also mehrheitlich Frauen; überall um mich herum wohnten junge Frauen. Ich hatte vergessen, wie häufig junge Frauen weinen. Offensichtlich war ich nicht die einzige Frau mit Liebeskummer. Häufig hörte ich Paare streiten - wie sich mein Puls beschleunigte, wann immer ich sie hörte. Und als einmal eine gequälte männliche Stimme durch den Luftschacht tönte - Ich liebe dich, du blöde Kuh! -, brach ich in Tränen aus.
In dem Haus gab es auch viele Katzen. Ich glaube, jede Frau hatte eine Katze. (Hunde waren nicht gestattet - der Hausbesitzer hatte von Hunden eine ebenso schlechte Meinung wie von Männern.) Wenn ich nach Hause kam, warf ich mitunter einen Blick auf die Fassade und sah in nahezu jedem zweiten Fenster die vertraute kurvenreiche Silhouette. Mein eigener Kater tigerte mit großen ungläubigen Augen durch die zwei vollgestellten Zimmer. Anfänglich miaute er viel, als würde er mich anflehen ... Er wurde still und ernst, als ihm (wie ich vermutete) die Wahrheit aufging: Die Ordnung, an die er gewöhnt war, die er brauchte und liebte, folgte uns nicht, wohin immer wir gingen, sondern gehörte zu dem anderen Leben, das wir ein für allemal hinter uns gelassen hatten.
Statt Ordnung zu schaffen, statt mich in meiner neuen Wohnung einzurichten und mit meinem Leben weiterzumachen, träumte ich davon, fortzugehen. Ich hatte Marguerite Yourcenars Bericht über ihre Zugreise durch die USA gelesen, auf der sie Teile ihres Meisterwerks Ich zähmte die Wölfin schrieb: "Eingeschlossen in meinem Abteil wie in der Kammer eines ägyptischen Grabs, arbeitete ich zwischen New York und Chicago bis spät nachts; dann den ganzen nächsten Tag in einem Restaurant im Bahnhof von Chicago ... und wieder bis zur Morgendämmerung, allein im Aussichtswagen des Zugs nach Santa Fé." Seite um Seite dieses Werks, das ihr viele Jahre große Schwierigkeiten bereitet hatte, ging ihr jetzt mühelos von der Feder, und: "Ich kann mich an kaum einen Tag erinnern, den ich mit mehr Leidenschaft verbracht hätte, oder an lichtere Nächte."
Eine unwiderstehliche Phantasie. Von New York nach Kalifornien. In San Franciso könnte ich S. besuchen. Tage voller Leidenschaft. Lichte Nächte. Schreiben, wie ich nie zuvor geschrieben hatte.
Eine unwiderstehliche Phantasie: G.s Gesicht, wenn ich ihm davon erzählte. Darüber hatte er sich mit am meisten beklagt: Daß ich zu einer Tat, wie sie mir gerade vorschwebte, nicht fähig sei. Mir mangele es an jeglicher Abenteuerlust, ich sei die am wenigsten spontane Person auf der Welt. ("Jemand sagt zu dir, laß uns miteinander schlafen, und du sagst, warte einen Augenblick, ich muß noch schnell mein Testament machen.") Wenn ich nicht mehr unternähme - ausgehen, reisen, mehr von der Welt sehen, mehr Erfahrungen sammeln -, bliebe mir irgendwann nichts mehr, worüber ich schreiben könnte. Das war eins der letzten Dinge, die er zu mir sagte, bevor wir uns trennten (allerdings war es nicht das erste Mal, daß er es sagte), und so, wie er es sagte, dieses letzte Mal, hatte ich das Gefühl, als würde er mich mit einem Fluch belegen.
Es war nicht die Art Reise, die Leute heutzutage noch machen - und schon gar nicht allein. Mir wurde gesagt, daß meine Mitreisenden überwiegend Familien wären. Und vieles wäre nicht mehr so wie in den vierziger Jahren. In dem Restaurant im Bahnhof von Chicago würde heute Musik oder vielmehr Kaufhausmusik gespielt. Und Yourcenar säße auch nicht mehr allein in einem Aussichtswagen. Die Züge sind jetzt meistens voll besetzt und kaum der richtige Ort, um in Ruhe zu lesen, geschweige denn ein Meisterwerk zu schreiben. Ständiges Geplauder oder Schnarchen, blecherne Musik aus Walkmen oder Piepsen und Klicken von Computerspielen - das zumindest waren meine Erfahrungen auf Zugfahrten während der letzten Jahre. Schmutzige Toiletten. Schlechtes Essen. Familien mit kleinen Kindern im Abteil nebenan. "Werden alle Abteile besetzt sein?" fragte ich am Schalter für Reservierungen. "O ja. Und Sie entscheiden sich besser schnell. Die Züge werden zehn Monate im voraus gebucht." So viel zum Thema Spontaneität.
Aber ich war in eine dieser Schriftstellerfallen getappt: Ich hatte mir eingeredet, daß ich erst wieder anfangen könnte zu schreiben, wenn ich woanders wäre - vorzugsweise an einem Ort, an dem ich noch nie zuvor gewesen war. Ich wollte über uns schreiben, über G. und mich, wie wir zusammengekommen waren, wie wir uns getrennt hatten. Aber wahrscheinlich war es noch zu früh dafür. Und außerdem hatte ich versprochen, nie ...
Trotzdem, ich wollte weg. Es mußte ja keine große Sache sein, sagte ich mir. Ich würde überallhin gehen, wo ich keine jungen Frauen weinen hören mußte. Ich überlegte, für einen Monat ein Haus auf dem Land zu mieten. Aber es war Winter. Ich würde frieren, wäre eingeschneit. Und wie sollte ich mich fortbewegen? Ich hatte nicht nur kein Auto, sondern auch keinen Führerschein.
Die Zugfahrt, das Haus auf dem Land. Eine Reise, ein Zufluchtsort. Ein Ort, um zu trauern. Ein Ort, um zu schreiben. Unwiderstehliche Phantasien, aber letztlich fuhr ich nirgendwohin. Ich blieb zu Hause und packte die restlichen Kisten aus. G. hatte also doch recht. Aber er hatte mich an etwas erinnert. Kaum hatte ich mich in meiner neuen Wohnung eingerichtet, setzte ich zum erstenmal in meinem Leben ein Testament auf.
Ich antwortete nicht sofort auf den zweiten Brief der Frau. Ich schob es wochenlang hinaus. Sie hatte mir ihre Telefonnummer mitgeteilt, aber statt anzurufen, schrieb ich. Ich schrieb, daß sie mich zu einer sehr geschäftigen Zeit erwischt hätte, aber vielleicht in ungefähr einem Monat ...
Auf den Tag einen Monat später schrieb sie mir erneut. Ich sah ein, daß es sinnlos wäre, nicht anzurufen. Es ging nicht länger darum, die Verpflichtung hinauszuschieben, sondern sie hinter mich zu bringen.
Ich hatte erwartet, daß sie zu mir nach Manhattan kommen würde. Ich hatte an mehrere Orte gedacht, an denen wir uns hätten treffen können. Statt dessen lud sie mich - zu meinem Entsetzen - zum Mittagessen zu sich nach Brooklyn ein. Eine keuchende, leicht stotternde Stimme: Sie klang sowohl nervös als auch aufgeregt. Sie klang, als hätte sie Angst, daß ich nein sagen würde. Ich schlug vor, einen Nachtisch mitzubringen. Und an diesem Samstag - ein kalter grauer Tag, an dem ein bißchen trockener Schnee fiel - nahm ich widerwillig, noch immer irgendwelche obskuren Schwierigkeiten fürchtend, noch immer belastet von diesem merkwürdigen Pflichtgefühl und außerdem von einem Schokoladenkuchen, die U-Bahn nach Williamsburg.
Ich war zu früh - ich komme ständig zu früh zu Verabredungen (eine Gewohnheit, die G. stets verärgerte, weil er darin nicht die Tugend der Pünktlichkeit sah, sondern die neurotische Angst, zu spät zu kommen). Wir lebten wirklich nur Minuten auseinander, diese Frau und ich, und auf meine gewohnte (pünktliche oder neurotische) Art hatte ich mir nahezu eine Stunde Zeit für die Fahrt genommen. In diesen wenigen Minuten änderte sich jedoch das Wetter. Ich stieg die Treppe von der U-Bahn hinauf, und die Sonne schien. Es schneite nicht mehr. Es war ein vollkommen anderer Tag - ein guter Tag für einen Spaziergang. Und während ich ausschritt und darauf achtete, die Kuchenschachtel nicht allzu heftig zu schwingen, begann sich meine Stimmung zu bessern.
Ich kannte dieses Viertel. Ich kannte mehrere Leute, die hier wohnten, alle Künstler. Einer meiner ersten Gedanken war gewesen, daß auch diese Frau eine von den Hunderten von Künstlern war, die sich während der letzten fünfzehn Jahre in diesem Teil von Brooklyn niedergelassen hatten. Sie waren leicht zu erkennen, an ihrer Kleidung, an ihren Frisuren, sogar an ihren Rucksäcken; an diesem schönen Samstagmittag bevölkerten sie die Straßen und waren mühelos zu unterscheiden von den italienischen, den polnischen und den lateinamerikanischen Einwanderern, die sie aus dieser Gegend zu vertreiben drohten. (Angst, vertrieben zu werden: im U-Bahnhof ein Zettel an einer Säule von einer Frau, die nach einem Mitbewohner für ihr Loft suchte: raucher okay, aber absolut keine wall-street-yuppie-typen!)
Auf meinem Spaziergang ging ich in nördlicher Richtung nach Greenpoint. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich vor fast zehn Jahren in Greenpoint war und in einem Lebensmittelladen Tee kaufte. Als ich den Mann hinter der Ladentheke fragte, wo ich Tee finden könnte, preßte er die Hände zusammen wie ein Pfarrer und schüttelte den Kopf; er verstand kein Englisch. Den Laden gab es immer noch; ich blieb stehen, betrachtete das Schaufenster mit den polnischen Spezialitäten und fragte mich, ob der Mann jemals Englisch gelernt hatte. Dafür hätte er nur die Straße überqueren müssen, wo sich damals wie heute eine Sprachenschule befand. Wenn er das Viertel allerdings nie verließ, bestand keine echte Notwendigkeit dazu. Überall wurde Polnisch gesprochen - in den Geschäften, in der Bank, in den Krankenhäusern und Schönheitssalons. Als ich durch den Park ging, hörte ich zwei Männer auf polnisch streiten, Kinder auf polnisch spielen und ein leidenschaftliches junges Paar auf einer Parkbank sich polnische Liebesworte zuflüstern.
Und jemand hatte seitlich auf ein Bushäuschen mit Filzstift geschrieben: Frage: Was hat der polnische Künstler getan?
Antwort: Er ist nach SoHo gezogen.
Ich beantwortete jeden Brief. Und für gewöhnlich hatte es sich damit. Ich hörte nichts mehr von den Leuten und wenn doch, dann nur noch einmal. Vielleicht kam noch ein kurzer Brief oder eine Postkarte. Eine der Freundinnen aus der siebten Klasse grub ein Bild von mir als Dreizehnjährige aus und schickte es mir zusammen mit der Kopie eines Gedichts in meiner eigenen jugendlichen Handschrift, das ich ungelesen wegwarf, weil ich mich nur zu gut an die Art Gedichte erinnerte, die ich mit dreizehn schrieb.
Die Zeit verging. Ein Jahr, noch ein Jahr, genug Zeit, um ein weiteres Buch zu beenden - eine lange Phase, in der keine solchen Briefe eintrafen. Aber eines Tages kam doch noch einer. ("Ich weiß nicht, ob Du Dich noch an mich erinnerst.") Diesmal aus Brooklyn. Und diesmal erinnerte ich mich nicht.
Ich erinnerte mich nicht an eine Rouenna Zycinski. Ich war ganz sicher, daß ich sie nie gekannt hatte. Aber gemäß ihrem Brief waren wir vor vielen Jahren Nachbarn in einem Sozialbaugebiet auf Staten Island gewesen. Sie war älter als ich, diese Frau, so alt wie meine ältere Schwester, und sie erinnerte sich an sie und an meine andere Schwester und an meine Mutter und meinen Vater. Sie kannte ihre Namen und die Nummer des Hauses, in dem wir gelebt hatten, und die Nummer der Wohnung - all diese Informationen führte sie in ihrem Brief auf, und alles stimmte. Über diese Welt - die Welt der Sozialbauten - hatte ich in meinem ersten Buch geschrieben, das sie gerade gelesen hatte. Das Buch hatte sie in diese Welt zurückversetzt, hatte viele Erinnerungen wachgerufen, und das war alles, was sie mir mitteilen wollte.
Ich antwortete sofort auf ihren Brief, bedankte mich dafür und vergaß sie dann völlig, bis sie sich ein paar Wochen später erneut meldete. Wir wären, schrieb sie (diesmal stimmte es nicht ganz, meiner Ansicht nach), wieder einmal Nachbarn. Brooklyn, Manhattan. Zwei U-Bahn-Haltestellen voneinander entfernt. Eine Sache von Minuten. Könnten wir uns treffen?
Ich wollte nicht. Ich hatte keinerlei Bedürfnis, diese Frau zu treffen. Sie war eine Fremde, und Fremden gegenüber bin ich mißtrauisch. Unsere Bekanntschaft konnte nur marginal gewesen sein. Nicht einmal ihr Name sagte mir etwas. Sie und ihre Familie waren vor ungefähr vierzig Jahren aus dem Sozialbaugebiet fortgezogen. Meine Familie war zehn Jahre später weggezogen. Warum sollten wir uns treffen? Es gab keinen Grund dafür. Und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß diese Frau etwas wollte - mehr, als mich nur wiederzusehen. Ich wußte nicht genau, was es war, aber ich meinte, Gefahr zu spüren - nein, Gefahr ist ein zu melodramatischer Ausdruck -, Schwierigkeiten, die aus einem Treffen mit ihr erwachsen könnten, und ich hatte genug Schwierigkeiten. Wäre sie ein Mann gewesen, wäre es mir, glaube ich, nicht schwergefallen, nein zu sagen. Aber ein merkwürdiges Gefühl der Verpflichtung nagte an mir, als ob ich dieser Frau etwas schuldete, dieser vollkommen Fremden von den Rändern meines Buches der Erinnerungen - aber was konnte ich ihr schon schulden?
Ich hatte genug Schwierigkeiten. Die Briefe dieser Frau erreichten mich zu einer eigentümlichen Zeit in meinem Leben - einer unglücklichen Zeit. Als ihr erster Brief kam, hatte ich mich gerade von einem Mann getrennt, mit dem ich seit mehreren Jahren zusammenlebte. Ich war aus der gemeinsamen Wohnung (seiner Wohnung, bevor wir uns kennenlernten) aus- und in eine neue Wohnung eingezogen. Ich war allein. (Auch sie war allein; obwohl sie nichts darüber sagte, konnte ich mir nicht vorstellen, daß Rouenna Zycinski nicht allein lebte, zwei U-Bahn-Haltestellen entfernt in Brooklyn.) Mitten im Auspacken hatte ich die Lust verloren und damit aufgehört. Ich lebte im Durcheinander, teils aus Kisten - ich wußte kaum, wo was war. Die Küche war leer, den Herd hatte ich noch kein einziges Mal benutzt - ich ging aus, vom Kaffee am Morgen bis zum Drink um Mitternacht. Ich ging allein aus - ich mied Menschen. Ich mied es, erklären zu müssen, daß G. und ich nicht mehr zusammen waren. Ich mied es, Fragen zu meiner Arbeit - wie stand es mit meinem nächsten Buch - beantworten und zugeben zu müssen, daß es nicht gut darum stand, daß ich dieses Buch aufgegeben hatte. Seit Monaten hatte ich nichts mehr geschrieben. Ich mußte schnell ausziehen und mehr oder weniger die erstbeste Wohnung nehmen, die mir angeboten wurde. Zwei kleine Zimmer, die auch zusammen kein großes ergeben hätten. Das Sofa hier, das Bett dort, und damit waren sie voll. Der Holzboden splitterte, das Licht war - es gab kein Licht. Fast alle Bewohner des Hauses waren Frauen. Der Besitzer wollte nicht an alleinstehende Männer oder Familien vermieten (nicht, daß man sich hätte vorstellen können, wie sich eine Familie in eine dieser kleinen Wohnungen zwängte, in die das einst elegante Stadthaus unterteilt worden war). Wir waren also mehrheitlich Frauen; überall um mich herum wohnten junge Frauen. Ich hatte vergessen, wie häufig junge Frauen weinen. Offensichtlich war ich nicht die einzige Frau mit Liebeskummer. Häufig hörte ich Paare streiten - wie sich mein Puls beschleunigte, wann immer ich sie hörte. Und als einmal eine gequälte männliche Stimme durch den Luftschacht tönte - Ich liebe dich, du blöde Kuh! -, brach ich in Tränen aus.
In dem Haus gab es auch viele Katzen. Ich glaube, jede Frau hatte eine Katze. (Hunde waren nicht gestattet - der Hausbesitzer hatte von Hunden eine ebenso schlechte Meinung wie von Männern.) Wenn ich nach Hause kam, warf ich mitunter einen Blick auf die Fassade und sah in nahezu jedem zweiten Fenster die vertraute kurvenreiche Silhouette. Mein eigener Kater tigerte mit großen ungläubigen Augen durch die zwei vollgestellten Zimmer. Anfänglich miaute er viel, als würde er mich anflehen ... Er wurde still und ernst, als ihm (wie ich vermutete) die Wahrheit aufging: Die Ordnung, an die er gewöhnt war, die er brauchte und liebte, folgte uns nicht, wohin immer wir gingen, sondern gehörte zu dem anderen Leben, das wir ein für allemal hinter uns gelassen hatten.
Statt Ordnung zu schaffen, statt mich in meiner neuen Wohnung einzurichten und mit meinem Leben weiterzumachen, träumte ich davon, fortzugehen. Ich hatte Marguerite Yourcenars Bericht über ihre Zugreise durch die USA gelesen, auf der sie Teile ihres Meisterwerks Ich zähmte die Wölfin schrieb: "Eingeschlossen in meinem Abteil wie in der Kammer eines ägyptischen Grabs, arbeitete ich zwischen New York und Chicago bis spät nachts; dann den ganzen nächsten Tag in einem Restaurant im Bahnhof von Chicago ... und wieder bis zur Morgendämmerung, allein im Aussichtswagen des Zugs nach Santa Fé." Seite um Seite dieses Werks, das ihr viele Jahre große Schwierigkeiten bereitet hatte, ging ihr jetzt mühelos von der Feder, und: "Ich kann mich an kaum einen Tag erinnern, den ich mit mehr Leidenschaft verbracht hätte, oder an lichtere Nächte."
Eine unwiderstehliche Phantasie. Von New York nach Kalifornien. In San Franciso könnte ich S. besuchen. Tage voller Leidenschaft. Lichte Nächte. Schreiben, wie ich nie zuvor geschrieben hatte.
Eine unwiderstehliche Phantasie: G.s Gesicht, wenn ich ihm davon erzählte. Darüber hatte er sich mit am meisten beklagt: Daß ich zu einer Tat, wie sie mir gerade vorschwebte, nicht fähig sei. Mir mangele es an jeglicher Abenteuerlust, ich sei die am wenigsten spontane Person auf der Welt. ("Jemand sagt zu dir, laß uns miteinander schlafen, und du sagst, warte einen Augenblick, ich muß noch schnell mein Testament machen.") Wenn ich nicht mehr unternähme - ausgehen, reisen, mehr von der Welt sehen, mehr Erfahrungen sammeln -, bliebe mir irgendwann nichts mehr, worüber ich schreiben könnte. Das war eins der letzten Dinge, die er zu mir sagte, bevor wir uns trennten (allerdings war es nicht das erste Mal, daß er es sagte), und so, wie er es sagte, dieses letzte Mal, hatte ich das Gefühl, als würde er mich mit einem Fluch belegen.
Es war nicht die Art Reise, die Leute heutzutage noch machen - und schon gar nicht allein. Mir wurde gesagt, daß meine Mitreisenden überwiegend Familien wären. Und vieles wäre nicht mehr so wie in den vierziger Jahren. In dem Restaurant im Bahnhof von Chicago würde heute Musik oder vielmehr Kaufhausmusik gespielt. Und Yourcenar säße auch nicht mehr allein in einem Aussichtswagen. Die Züge sind jetzt meistens voll besetzt und kaum der richtige Ort, um in Ruhe zu lesen, geschweige denn ein Meisterwerk zu schreiben. Ständiges Geplauder oder Schnarchen, blecherne Musik aus Walkmen oder Piepsen und Klicken von Computerspielen - das zumindest waren meine Erfahrungen auf Zugfahrten während der letzten Jahre. Schmutzige Toiletten. Schlechtes Essen. Familien mit kleinen Kindern im Abteil nebenan. "Werden alle Abteile besetzt sein?" fragte ich am Schalter für Reservierungen. "O ja. Und Sie entscheiden sich besser schnell. Die Züge werden zehn Monate im voraus gebucht." So viel zum Thema Spontaneität.
Aber ich war in eine dieser Schriftstellerfallen getappt: Ich hatte mir eingeredet, daß ich erst wieder anfangen könnte zu schreiben, wenn ich woanders wäre - vorzugsweise an einem Ort, an dem ich noch nie zuvor gewesen war. Ich wollte über uns schreiben, über G. und mich, wie wir zusammengekommen waren, wie wir uns getrennt hatten. Aber wahrscheinlich war es noch zu früh dafür. Und außerdem hatte ich versprochen, nie ...
Trotzdem, ich wollte weg. Es mußte ja keine große Sache sein, sagte ich mir. Ich würde überallhin gehen, wo ich keine jungen Frauen weinen hören mußte. Ich überlegte, für einen Monat ein Haus auf dem Land zu mieten. Aber es war Winter. Ich würde frieren, wäre eingeschneit. Und wie sollte ich mich fortbewegen? Ich hatte nicht nur kein Auto, sondern auch keinen Führerschein.
Die Zugfahrt, das Haus auf dem Land. Eine Reise, ein Zufluchtsort. Ein Ort, um zu trauern. Ein Ort, um zu schreiben. Unwiderstehliche Phantasien, aber letztlich fuhr ich nirgendwohin. Ich blieb zu Hause und packte die restlichen Kisten aus. G. hatte also doch recht. Aber er hatte mich an etwas erinnert. Kaum hatte ich mich in meiner neuen Wohnung eingerichtet, setzte ich zum erstenmal in meinem Leben ein Testament auf.
Ich antwortete nicht sofort auf den zweiten Brief der Frau. Ich schob es wochenlang hinaus. Sie hatte mir ihre Telefonnummer mitgeteilt, aber statt anzurufen, schrieb ich. Ich schrieb, daß sie mich zu einer sehr geschäftigen Zeit erwischt hätte, aber vielleicht in ungefähr einem Monat ...
Auf den Tag einen Monat später schrieb sie mir erneut. Ich sah ein, daß es sinnlos wäre, nicht anzurufen. Es ging nicht länger darum, die Verpflichtung hinauszuschieben, sondern sie hinter mich zu bringen.
Ich hatte erwartet, daß sie zu mir nach Manhattan kommen würde. Ich hatte an mehrere Orte gedacht, an denen wir uns hätten treffen können. Statt dessen lud sie mich - zu meinem Entsetzen - zum Mittagessen zu sich nach Brooklyn ein. Eine keuchende, leicht stotternde Stimme: Sie klang sowohl nervös als auch aufgeregt. Sie klang, als hätte sie Angst, daß ich nein sagen würde. Ich schlug vor, einen Nachtisch mitzubringen. Und an diesem Samstag - ein kalter grauer Tag, an dem ein bißchen trockener Schnee fiel - nahm ich widerwillig, noch immer irgendwelche obskuren Schwierigkeiten fürchtend, noch immer belastet von diesem merkwürdigen Pflichtgefühl und außerdem von einem Schokoladenkuchen, die U-Bahn nach Williamsburg.
Ich war zu früh - ich komme ständig zu früh zu Verabredungen (eine Gewohnheit, die G. stets verärgerte, weil er darin nicht die Tugend der Pünktlichkeit sah, sondern die neurotische Angst, zu spät zu kommen). Wir lebten wirklich nur Minuten auseinander, diese Frau und ich, und auf meine gewohnte (pünktliche oder neurotische) Art hatte ich mir nahezu eine Stunde Zeit für die Fahrt genommen. In diesen wenigen Minuten änderte sich jedoch das Wetter. Ich stieg die Treppe von der U-Bahn hinauf, und die Sonne schien. Es schneite nicht mehr. Es war ein vollkommen anderer Tag - ein guter Tag für einen Spaziergang. Und während ich ausschritt und darauf achtete, die Kuchenschachtel nicht allzu heftig zu schwingen, begann sich meine Stimmung zu bessern.
Ich kannte dieses Viertel. Ich kannte mehrere Leute, die hier wohnten, alle Künstler. Einer meiner ersten Gedanken war gewesen, daß auch diese Frau eine von den Hunderten von Künstlern war, die sich während der letzten fünfzehn Jahre in diesem Teil von Brooklyn niedergelassen hatten. Sie waren leicht zu erkennen, an ihrer Kleidung, an ihren Frisuren, sogar an ihren Rucksäcken; an diesem schönen Samstagmittag bevölkerten sie die Straßen und waren mühelos zu unterscheiden von den italienischen, den polnischen und den lateinamerikanischen Einwanderern, die sie aus dieser Gegend zu vertreiben drohten. (Angst, vertrieben zu werden: im U-Bahnhof ein Zettel an einer Säule von einer Frau, die nach einem Mitbewohner für ihr Loft suchte: raucher okay, aber absolut keine wall-street-yuppie-typen!)
Auf meinem Spaziergang ging ich in nördlicher Richtung nach Greenpoint. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich vor fast zehn Jahren in Greenpoint war und in einem Lebensmittelladen Tee kaufte. Als ich den Mann hinter der Ladentheke fragte, wo ich Tee finden könnte, preßte er die Hände zusammen wie ein Pfarrer und schüttelte den Kopf; er verstand kein Englisch. Den Laden gab es immer noch; ich blieb stehen, betrachtete das Schaufenster mit den polnischen Spezialitäten und fragte mich, ob der Mann jemals Englisch gelernt hatte. Dafür hätte er nur die Straße überqueren müssen, wo sich damals wie heute eine Sprachenschule befand. Wenn er das Viertel allerdings nie verließ, bestand keine echte Notwendigkeit dazu. Überall wurde Polnisch gesprochen - in den Geschäften, in der Bank, in den Krankenhäusern und Schönheitssalons. Als ich durch den Park ging, hörte ich zwei Männer auf polnisch streiten, Kinder auf polnisch spielen und ein leidenschaftliches junges Paar auf einer Parkbank sich polnische Liebesworte zuflüstern.
Und jemand hatte seitlich auf ein Bushäuschen mit Filzstift geschrieben: Frage: Was hat der polnische Künstler getan?
Antwort: Er ist nach SoHo gezogen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sigrid Nunez
- 2002, 1, 314 Seiten, Maße: 13 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630871240
- ISBN-13: 9783630871240
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