Gasthauskind
Roman
Ein schwäbisches Dorf in den fünfziger Jahren, zwischen Bierkrügen und Stammgästen wächst Isabell auf - und erlebt in der trügerischen Provinzidylle eine Kindheit zwischen harter Arbeit und der Preisgabe des eigenen und familiären Lebens.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gasthauskind “
Ein schwäbisches Dorf in den fünfziger Jahren, zwischen Bierkrügen und Stammgästen wächst Isabell auf - und erlebt in der trügerischen Provinzidylle eine Kindheit zwischen harter Arbeit und der Preisgabe des eigenen und familiären Lebens.
Klappentext zu „Gasthauskind “
Ein kleines katholisches Dorf in Süddeutschland, in der trügerischen Idylle eines Jagdschlösschens betreibt die Mutter ein Gasthaus: Dort wächst Isabell auf. Es wird hausgeschlachtet, die Stammgäste packen mit an und ziehen den toten Hasen das Fell über die Ohren. Zwischen Bierzapfen und den Anzüglichkeiten der Gäste führt Isabell ein öffentliches Leben. Harte Arbeit und die Eingespanntheit der Eltern machen es zu einer Kindheit, die keine ist. In der sie sich unter den Augen der männlichen Gäste, die überall herumlungern, samstags waschen lassen muss, in der die Zeche und die Zufriedenheit der Gäste schwerer wiegen als das eigene Wohl. Schon früh weiß Isabell, dass sie dieser Welt entfliehen will.
Lese-Probe zu „Gasthauskind “
Gasthauskind von Ingried Wohllaib ... mehr
Das Haus. Es gibt Dinge, die stimmen vollkommen. Das Holz zur Form des Möbels, der fallende Stoff einer Hose zum Schnitt. Das Haus, in dem ich geboren wurde, stimmt auf diese Weise. Es steht an einem langen, sanften Hang mit weitem Blick, die breite Fassade nach Süden. Die Stärke der Mauern steht im richtigen Verhältnis zur Länge und Breite des Baus. Die Größe der Räume entspricht dem Licht, das aus der jeweiligen Himmelsrichtung hineinfällt. Ursprünglich war es ein barockes Jagdschlösschen. Vierhundert Quadratmeter innen, dazu der Hof und einige Hektar Land. Die Freiherren von Waldburg hatten diese Gegend dreihundert Jahre lang in Besitz. Alle Gebäude derer von Waldburg ähnelten einander, der Bauherr tauschte die Materialien unter den Anwesen aus. Dann verkam die Familie. Eine letzte unverheiratete Erbin verzockte den Besitz im Casino, so etwas gab es auch in Schwaben, zumindest in unserem katholischen Schwaben. Mein Großvater, der Vater meines Vaters, kaufte das Schlösschen 1908 samt dem umliegenden Land. Eigentlich Landwirt, hatte er nun auch einen Gasthof. In der Nähe des Ortes schlugen traditionell Roma ihr Lager auf, die dort Jenische oder Wagges genannt wurden. Er hatte nichts gegen sie. Nachdem er kinderlos verwitwet war, nahm er eine Jenische zur Frau und zeugte mit ihr vier Kinder: drei Töchter und einen Sohn. Sie alle nahm er mit in das heruntergekommene kleine Schloss. Mein Vater erbte es. Auch er führte die Wirtschaft, doch nebenbei handelte er mit Vieh, vielleicht fand er das interessanter. Geheiratet hat er erst mit achtunddreißig. Um seinfrüheres Leben rankten sich Geheimnisse. Ich habe immer nur zufällig und bruchstückhaft etwas erfahren, auf Fragen nie. Er war groß, dunkel und schweigsam, nicht zärtlich. Vornehm irgendwie, aber unnahbar. Sehr dünn und sehr weit weg. Meine Mutter war die Tochter eines Müllers und Gastwirts, zehn Jahre jünger als er, für damalige Verhältnisse ein spätes Mädchen, obwohl sie als ausgesprochen hübsch galt. Für sie war er eine gute Partie, sie zog zu ihm in das große Haus. Während meiner ersten Lebensjahre war das Gasthaus verpachtet. Ich erinnere mich an eine energische, gut gelaunte Wirtin. Wir wohnten damals in der ersten Etage mit dem Personal. Nach wenigen Jahren übernahm meine Mutter den Betrieb. Diese Entscheidung bestimmte fortan unser Schicksal. Manchmal frage ich mich, wie sich unser Leben ohne Gasthaus entwickelt hätte. Seltsamerweise denke ich dann, es wäre ähnlich gekommen. Es gibt eben auch im negativen Sinn Dinge, die zusammengehören.11Anfang.Ich war das zweite Kind. Die Wehen sollen acht Stundengedauert haben; meine Mutter hat stets eindrucksvoll die unerträglichen Schmerzen geschildert. Ein langes Kind mitdünnen Fingern sei ich gewesen, und bereits mit schwarzen Haaren. Eigentlich hätte ich ein Sohn werden sollen, denn schon das erste Kind war ein Mädchen gewesen. Mein Vater weigerte sich, mich anzuschauen. Onkel Bert erzählte, als Säugling sei ich oft bis spät in die Nacht im Wäschekorb unterm Zwetschgenbaum vergessen worden. Er kam abends ins Wirtshaus, sagte: »D’Ezzabellstatt no duss ! «, und nahm sich ein Bier. Vater schüttelte den Kopf. Mutter schlug die Hand an die Stirn. Ich studierte die Blätter des Zwetschgenbaumes. Kindergarten. Wir lebten im ersten Stock unseres wilden Hauses. Sobald ich laufen konnte, streunte ich auf dem Grund umher, musterte die Gräser, beobachtete Vögel, spielte mit den Katzen. Keiner kümmerte sich um mich, das tat mir wohl. Als ich dreiwar, schickte meine Mutter mich in den Kindergarten. Ich erinnere mich an einen düsteren Kasten mit großen, halligen Zimmern. Fünfzehn Lazarettbetten standen in einer Reihe,auf denen wir Mittagsschlaf halten sollten. Mittagsschlaf ! Ichwar längst gewöhnt, mich selbst zu beschäftigen, und tat das so hingebungsvoll, als ahnte ich, dass die Tage meiner Freiheit gezählt waren. Ich wollte nicht schlafen am Nachmittag.» Aber schau doch, Isabel, die anderen schlafen auch ! «Mir egal. Andere Kinder mochte ich nicht. Was machen Kinder miteinander ? Sie hatten rosa oder weiße Haut, warenblond, kräftig und rochen nach Milch. Es war, als stießen sie mich chemisch ab. Damals wusste ich nicht, dass die Mutter meines Vaters eine ansässig gewordene Fahrende war. Fahrendes Volk ! Das Kindergartenprojekt scheiterte schnell. Ungefährliche Gefahr. Die Ehe meiner Eltern lief schlecht. Ich entwich in die Freiheit unseres weitläufigen Grundstücks, doch bei Familienunternehmungen war ich gefangen. Eine Qual. Als ich vier Jahre alt war, wurde mir das bewusst. Wir fuhren im Mercedes nach Lindau, Verwandte besuchen. Gedrückte Stimmung während der ganzen Fahrt. Nichthinhören, nichts sehen, nichts wie weg: Gleich nach der Ankunft machte ich mich aus dem Staub, unbemerkt, da die Eltern stritten. Auch meine eineinhalb Jahre ältere Schwester Lilli, die auf mich aufpassen sollte, konnte mich nicht halten. Und sie durfte den Streit nicht stören, sonst fi ng sie eine. Später würde sie eine fangen, weil sie nicht gestört hatte. Zum Grundstück gehörte ein großer Garten, der bis zum Wasser reichte. Schon sah ich eine unbekannte Blume. Was war das doch ? Ich musste näher hin, sie anfassen, am besten pflücken. Schön glitzerte der See in der Sonne. Nur noch durch den Zaun. Ich war gelenkig, kletterte gut. Schnell war ich durchs Geländer geschlüpft. Gerade war ich in Reichweite der Blume, da hörte ich hysterisches Geschrei. Verräterische vier Fingerchen waren am unteren Ende einer Stange zu sehen. Der Rest von mir baumelte frei über dem Bodensee. Eben wollte ich mit der linken Hand die mysteriöse Blume pflücken. Sie erschreckten mich mit dem Geschrei, das meiner Rettung dienen sollte. Unser Hausmädchen Lotte kugelte mir fast den Arm aus, als sie mich hochzog. Nun stritten sie meinetwegen. Sie hatten eine vollkommen andere Vorstellung von Gefahr als ich. In meinen Augen waren sie die Bedrohung. Andere. Hin und wieder arbeiteten bei uns Menschen, die mich inspirierten. Ein russischer Hütejunge zum Beispiel. Er war plötzlich bei uns und ebenso schnell wieder verschwunden. Es gab einen Namen: Karjakin. Ich war fasziniert von allem Fremden, denn ich verband damit die Hoffnung auf anderes, Besseres. Seine Ruhe machte mich neugierig. Als ich nochklein und unbrauchbar war, durfte ich mit ihm die Kühe auf die Weide treiben. Sie trotteten aus dem Stall, einen kleinen Hügel hinunter. Liefen gemächlich, kauten entspannt, den Unterkiefer hin- und herschiebend. Kühe sind die Buddhisten unter den Tieren. Woher nehmen sie diese Gelassenheit ? Sie scheißen einfach an sich selbst hinunter und sehen einen unter langen Wimpern fragend an. Eine nach der anderen trabte dahin, als wüssten sie, wohin sie zu gehen hätten. Wir liefen hinterher. Es roch nach frischem Gras. Mein zentrales Nervensystem ging auf Reisen. Mit einem kleinen Stöckchendirigierte der Russe die Kühe zur Weide. Er setzte sich ins Gras, ich mich daneben, wir sahen den Tieren beim Grasen zu. Um uns Margeriten, Glöckchen, Hahnenfuß so hoch wie ich. Mit einem Halm im Mund erzählte Karjakin mir auf Russisch Geschichten. Ich verstand kein Wort. Es war spannend und beruhigend. Ich hatte keine Angst. Auf ihn war Verlass. Vermutlich war er für jede Stunde Leben dankbar. Außerdem war da ein alter Knecht, eigenbrötlerisch und mürrisch. Manchmal musste ich ihm die Brotzeit ins Zimmerbringen. Fragend sah ich mich um in dem düsteren Raumund konnte nicht glauben, was ich sah: Auch sein Zimmer war in unserem Haus, sah aber völlig anders aus. Kaum Licht. Er hatte einen wackeligen Tisch, einen Stuhl, ein Bett. Alles stand auf abgenutzten Dielen, die Wände starrten vor Schmutz. Man schloss die Tür hinter sich, und die Welt schien wieder farbig. Seltsam. Es gab auch eine rothaarige, verschupfte Magd. Sie nahm sich Jahrzehnte später in einem einsamen Waldstück das Leben. Ein Bauer fand sie sitzend an einen Baum gelehnt im Morgengrauen. Tiere. Bis ich vier oder fünf war, hatten wir Ställe mit Kühen, Schweinen, Kaninchen. Wir hatten einen Hund, Katzen und Hühner. Schweine wurden geschlachtet, Kaninchen hingen mit aufgeschlitzten Bäuchen an Balken in der Scheune. Knechte, später Stammgäste zogen ihnen das Fell ab und nahmen die kleinen Organe heraus. Geköpfte Hühner flatterten durch den Hof. Es hatte etwas Mittelalterliches. Für die Erwachsenen war es lustig, wenn sie Körperteile der geschlachteten Tiere vor unseren Gesichtern baumeln ließen und wir erschrocken davonliefen. Am Abend sagten sie zufrieden:»Hait hamr mea gschaffad ! « – Heut haben wir wieder geschuftet. Sie legitimierten sich, nur wenige Jahre nachdem Krieg, durch körperliche Arbeit. In dieser Welt wurde außer freitags jeden Tag Fleisch gegessen: Braten, Hackfleisch, Wurst, Speck oder Schmalz. Haustiere wurden dem Menschen von einer geheimnisvollen Macht als absolutes Eigentum zur Verfügung gestellt. Nutztiere. Er nahm sie, wofür er Lust hatte. Der geistige Zustand der Menschen spiegelte sich im Leid der Tiere wider. Produzenten. Der Hühnerstall war Teil der Scheune. Zum Hof hatten die Hühner eine kleine quadratische Öffnung, eine Art Hühnerklappe, durch die sie ein- und ausmarschierten. Hühnerreagieren oft hysterisch. Plustern die Federn und rennen empört in alle Himmelsrichtungen, wegen des kleinsten Geräusches. Ich fand sie blöd. Nur die kleinen Küken mochte ich. Mit zwei oder drei Jahren erwischte ich hin und wieder eins am kleinen kuscheligen Hals. Hielt es ganz fest und rannte barfuß damit in die Küche zu meiner Mutter. Sie schrie: »Lass des Bibberle ! «, aber meist war es schon zu spät. Ich erwürgte reihenweise Hühner- und Entenküken. Die Hühner hatten in ihrer Hütte eine Art Eierregal, das aussah wie ein Bücherregal, in quadratische Apartments geteilt. Acht mal fünf. Etwas Heu und Federn. In der Mitte lagen die schwierigen Damen und hinterließen morgens ein Ei. Für den Nachmittagsschlaf war in der Hütte eine Stange. Eigentlichwaren sie wie die Betrunkenen, konnten überall schlafen. Ihre Geschäfte erledigten sie in Hof und Garten, außerhalb ihrer Wohnung, nicht wie die Kühe. Ihr Bad nahmen sie im Sand. Leider war die Hühnerklappe auch in umgekehrter Richtung zugänglich, deswegen drangen immer wieder Marder ein. In diesem Fall verstand ich die Hysterie der Hühner. Sie machten ihren wilden, ohnmächtigen Radau, der Hund schoss herbei, bis ihn die Kette zurückriss, und bellte sich heiser. Im Haus gingen Lichter an. Jemand rannte hinaus und sah bestenfalls noch ein Tier im Gebüschverschwinden, im Maul eins unserer Hühner. Alle ärgerten sich über den Räuber. Keiner kam auf die Idee, den Hühnerstall nachts zu sichern. Wirtsfamilie. Dann wurden die Tiere abgeschafft, und auf einmal gehörte die Wirtschaft uns. Fremd war’s mir nicht, ich hatte ja den Betrieb schon mitbekommen. Ich wusste, dass man zu Gästen höflich sein muss, es störte mich nicht. Ich hatte wenig mit ihnen zu schaffen gehabt und war nicht zuständig; wenn ich früher für die Wirtin mal was besorgte, gab’s zur Belohnung ein Eis. Nun, als wir selbst die Wirte waren, gab’s© Piper Verlag GmbH, München 2009
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Autoren-Porträt von Ingried Wohllaib
Ingried Wohllaib, geboren 1951 in der schwäbischen Provinz, wuchs als eine von zwei Töchtern in einer Wirtshausfamilie auf und lebt heute als Grafikerin in Rom.Petra Morsbach, 1956 geboren, studierte im München und St. Petersburg. Nach ihrer Promotion über Isaak Babel hat sie zehn Jahre lang hauptsächlich als Dramaturgin und Regisseurin gearbeitet und lebt heute als freie Schriftstellerin in der Nähe von München. Für ihr belletristisches Werk wurde Petra Morsbach 2001 mit dem renommierten Marieluise-Fleißer-Preis ausgezeichnet und 2007 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. 2013 erhielt sie den Jean-Paul-Preis des Freistaats Bayern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ingried Wohllaib
- 2009, 205 Seiten, Maße: 13,4 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Mitarbeit: Morsbach, Petra
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492052908
- ISBN-13: 9783492052900
Rezension zu „Gasthauskind “
»Wohllaib zeigt eine enge Welt, die mit zunehmender Lektüre immer bedrückender zu werden scheint. [...] Eine lesenswerte Milieustudie.« Fränkischer Tag
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