Gefangene der Löwenstadt
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Die Familie von Lucy steht unter dem eisernen Regiment der Großmutter. Sie schikaniert die Kinder, wo es nur geht. Lucy wächst mit Aberglauben und Gewalt auf. Trost und Liebe findet sie nur bei ihrem Vater, der aber an den Demütigungen seiner Schwiegermutter zerbricht. Doch die wahre Hölle erlebt Lucy, als die Japaner die britische Kolonie Singapur besetzen.
Gefangene derLöwenstadt von Lucy Lum
LESEPROBE
Sieh dir den Luftschutzbunker des rothaarigen Teufels an«, sagte Popo unddeutete auf den Garten unseres Nachbarn. »Wie klug er ist. Ganz anders als deinVater. Sein Bunker ist wie ein Haus, mit Feldbetten und Stühlen, einem Radiound Lampen. Und so hübsch von außen, mit Tapioka, Zuckerrohr und all diesenBlumen.« Seit Wochen erzählte uns Popo, meine Großmutter, dass wir keinen Grundzur Sorge hätten: Die Japaner würden Singapur niemals erobern, weil die Britendie Invasoren zurückschlagen würden. »Das Leben wird normal weitergehen«, sagtesie. Aber auf allen Straßen, in den Läden und im Kino waren Soldaten. In jederRikscha saß ein Soldat. Es gab Luftschutzübungen, und Menschen gruben in ihrenGärten und bauten improvisierte Schutzbunker. Man konnte die Größe einerFamilie an den Ausmaßen des Erdhügels im Garten erkennen. Einige der Bunkerwaren wie kleine Fuchsbaue, bedeckt mit Holzbrettern, Ästen und Erde, aber inunserer Straße war der Bunker des rothaarigen Teufels der Größte und Beste, undwir waren neidisch. Er war englischer Beamter und Leiter des Polizeireviers,auf dem Vater arbeitete. Seine Frau und seine Kinder waren nach Englandevakuiert worden, und er hatte Vater erzählt, dass wir im Falle einerBombardierung in seinem Bunker Zuflucht suchen konnten und in Sicherheit seinwürden. Vater sagte, dass wir kein Loch in der Erde brauchten, um uns darin zuverstecken. Stattdessen stellte er den schweren Teakholztisch mitten insSchlafzimmer und stapelte dann Decken und drei Kapok-Matratzen darauf. WeitereMatratzen legte er in Stapeln rings um den Tisch. Er meinte, das würdeausreichen, um Schrapnells aufzuhalten, und verhindern, dass die herabstürzendeDecke uns erschlägt. »Wenn die Bomben kommen, braucht ihr nicht nach draußen inden Garten unseres Nachbars zu laufen. Ihr könnt aus euren Betten springen undeuch unter dem Tisch zusammenrollen. Ihr müsst immer frisches Wasser und Keksein euren Ranzen bereithalten«, sagte er. »In einem solchen Fall werden wirkeine Zeit zu verschwenden haben.« Wenn er mit unsüber die Bomben sprach, gab er stets acht, nicht Poposoder Mutters Blick zu begegnen. Er hatte Angst vor ihnen. Es gefiel ihnennicht, wenn er ihnen sagte, was sie tun sollten.
Meine Brüder, meine Schwestern und ich freuten uns auf die Luftschutzübungen.Für uns waren sie Spiele. Wir fünf schnappten uns unsere Ranzen, wie Vater esuns aufgetragen hatte, rannten ins Schlafzimmer und tauchten unter dem Tischunter. Dort war es warm und kuschelig, und wir konnten stundenlang spielen. Manchmalerzählte Vater uns Geschichten über die Insel Hainan,von der seine Familie stammte, und wir lauschten und knabberten dabei unsereKekse. Ich war sieben, und niemand erklärte mir irgendetwas. Außerdem hatte ichAngst vor Popo. Vater sagte mir, dass wir sie Waipo nennensollten, Äußere Großmutter, weil sie die Mutter unserer Mutter war, nichtseine. Aber wenn wir sie Waipo nannten, schlug siesich an die Brust und erklärte uns, sie werde sich töten. »Dieser alte BeutelKnochen hat schon zu lange gelebt«, sagte sie dann. »Nicht einmal meineEnkelkinder lieben mich.« Eines Tages war ich mutig:Ich fragte Popo, wer die Invasoren seien und warum sie Singapur angreifenwollten. Sie ging zu einem Schrank, schob einen Stapel Papier und die winzigen,roten Beutel, in denen sie die getrockneten Nabelschnüre ihrer Kinder undEnkelkinder aufbewahrte, beiseite und zog eine große Weltkarte heraus. Sie warvergilbt vom Alter und fast zerfallen, aber sie breitete sie vor dem Tisch vorsich aus. »Hört zu«, begann sie und ließ sich in ihrem Lieblingssessel nieder.»Meine Mutter hat mir diese Geschichte erzählt, als ich noch ein Kind war: DerMaulbeerbaum ist bedeckt mit üppigen, köstlichen Blättern, die dem Seidenwurmgut munden. Das ist China«, sagte sie und deutete auf ein großes, rosafarbenesLand auf der Karte. »Es ist ein Land der Fülle, geradeso wie der Maulbeerbaummit seinen Blättern, aber es wird behelligt von ausgehungerten japanischenSeidenwürmern von der anderen Seite des Meeres.« Sieklopfte mit den Knöcheln auf die Inseln Japans, die über das blaue Meer aufChina zukrochen. »Die Seidenwürmer haben kaum zufressen, und ihr habgieriger Blick ist starr auf China gerichtet, wo Fülleherrscht. Deshalb greifen sie an. Um uns zu verschlingen.«Popo erzählte mir von der langen Geschichte der Kämpfe zwischen China undJapan, von den Japanern, die Französisch-Indochinaangegriffen hatten, von Dingen, die ich damals nicht verstand - vonwirtschaftlichen Sanktionen und Ölembargos, von Japan, das mehr Öl wollte undplante, es von dem nur vierhundert Meilen weiter östlich gelegenen Borneo zu stehlen, dem aber Singapur im Weg lag. Und sieberichtete mir von einem Briten namens Raffles, der1819 ins Land gekommen war und keine Angst vor den Sümpfen und Marschen hatte. Erhatte die Kontrolle über die Meerenge zwischen Malayaund Java übernommen und sich Singapur von dem Sultan von Johorgeborgt. Sie erzählte mir, wie die Briten nach Malakkaund Penang gekommen waren, nach Lubanund vor allem nach Singapur, und erklärte mir, dass die Chinesen von Fukien und Swatow gekommen seienund von Kwantung, wo sie und ihr Mann, Kung-kung, geboren waren. All das erzählte sie mir undzischte dann: »Die schmutzigen Japaner! Sie haben viele Chinesen getötet, undwir werden für immer ihre Feinde sein.«
© VerlagsgruppeWeltbild
Deutsch von MichaelaLink
- Autor: Lucy Lum
- 2007, 1, 358 Seiten, Maße: 14,4 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3898977021
- ISBN-13: 9783898977029
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