Geld oder Leben
er Leben" ist zugleich Roadmovie und Entwicklungsroman, mit skurrilem Witz und poetischem Mehrwert. Sein Held wehrt sich gegen die Vorstellung, Lebensglück über Jahrzehnte anzusparen, er fordert es hier und jetzt - und fährt einen wahren Schatz an Erfahrungen ein.
Geld oder Leben von Jan Böttcher
LESEPROBE
Die Digicamliegt auf der Rückbank, im silbernen Koffer. Alles safe. Karte und Einladungauf dem Armaturenbrett.
Ich blechdie Bustür zu, dreh aber sofort das Fenster runter, falls doch noch was ist.Guck raus, die Hand am Zündschlüssel, ein paar Sekunden lang keine Kraft, ihnrumzudrehen:
«Wir sehenuns, Holli.»
«Und benimmdich ja ordentlich da draußen», antwortet er. Nicht das erste Mal, dass ichHolli gern die Hand auf den Mund drücken will. Er steht da, winkt, wandert abin meine Dieselwolke und winkt immer noch, im Rückspiegel. Damit's nicht derreine Abschiedsgruß wird, wedelt er jetzt richtig mit der Hand, ich weiß schon:Bring bloß den Bus wieder, der gehört dir nicht. Ich hab's ihmversprochen, obwohl ich die Kiste jetzt seit einem Jahr täglich fahre. Deshalbgehört der Bus vielleicht nicht mir, aber er gehört zu mir, so viel ist klar.
Arrivederci,ihr Heiligen Heilstätten! Schluss mit Holli neben mir, vor mir, hinter mir.Mein ewiger Beifahrer. Holli der Wachsame. Der Überwache, Überwacher. Dass eran mir sein täglich Brot verdient hat, ich meine, dass ich Teil seinerArbeit war, unfassbar. Und wie er mir von Anfang an irgendein Hobbyeintrichtern wollte. Ich hab nicht groß überlegt, ob ich mit einer Kamerazurechtkomme, und weil Geld da war, hab ich's einfach mal gesagt,zwischendurch, nichts als eine fixe Idee. Danach hat Holli immer wieder gebohrt,wann er denn nun meinen ersten Streifen im Kino sehen kann. Solche Sprüchehalt, und mir dazu kumpelhaft die Faust auf den Oberarm gedrückt. Ein echterSozialer eben. Bis wir zusammen los sind, die Digicam kaufen.
Ich rutscheimmer tiefer hinters Steuer. Möglichst viel Himmel aufsaugen, dieseWahnsinnswolkenbilder über der Autobahn. Gegen die große Scheibe im T4 kannjeder Bildschirm einpacken, ich meine, wie da in den Spielen manchmal derHimmel animiert wird, auweia. Oder die schrecklichen künstlichen Kaminfeuer,vor denen die Behindos abends sitzen, unten im Gemeinschaftssaal derHeilstätten.
Auf derRaststätte überkommt es mich nochmal richtig: Ich bin raus! Forever vorbei.Keine Menschenseele, die mich von der Seite anquatscht. Links der rauschendeVerkehr, für den ich nichts bin als ein Kleinbusfahrer, der sich Kaffee ausder Thermoskanne eingießt. Rechts die Holzbänke, Steintische, derMaschendrahtzaun, und dahinter zieht schon die Sonne über den Acker und geht amanderen Ende wieder ab. Ich mach Stretching und lass die Rückenwirbelknacken. Jacke aus, T-Shirt-Wetter, schon jetzt um halb zwölf.
Als wärendiese Wolkenteppiche auch unter meinen Sohlen. SchönerMai, du hast heut für mich Zeit, ich singe das, Mai ist ab heute mein liebster Monat. Ich gehrüber ins Restaurant, auf 'ne Coke. Es sitzen lauter Familien drin, die sichstärken müssen. Am Nebentisch blättern zwei fette rauchende Rentner in einemWellness-Prospekt. In der Ecke neben den Plastikbäumen der alteKind-Hund-Konflikt: Die Frau hasst den Köter schon lange, der Mann hat das Kindnie gewollt. Man sieht ihnen voll an, wie sie sich gegenseitig ankotzen. DasBaby fängt an zu schreien, sofort bellt auch der Hund. Positionskampf. Aber dasPaar - stumm, genervt, braun gebrannt, die kommen bestimmt gerade vom Frühlingsurlaubauf Sylt.
Ich mussrülpsen und den Kopf schütteln, als ich vor dem Bus stehe. Diese unheilbareFlanke. Auch wieder so eine psychedelische Kinderei, zu der Holli irgendwenüberredet hat. Erst war der Bus schwarz, weil's ihn in Schwarz billiger gab,danach haben die Behindos ihn ocker lackiert, ocker wie die Wüste, sie warenauf der Suche nach dem absoluten Nichts, auch unter Hollis Anleitung, keinScheiß. Arbeiten um jeden Preis. Und jetzt diese Regenbögen. Der Bus istrechts, an der Schiebetürseite, vollständig mit Lackfarben bepinselt. Ganz vieleRegenbögen, die alle viel zu viele Streifen und Farben haben, und dannüberkreuzen sich die Bögen auch noch, an den Schnittstellen fließen die Farbenineinander, macht nochmal tausend Mischfarben. Ganz egal, wohin ich fahre, derBus sagt jedem am Straßenrand, hier kommt Mister Auffällig, der aufdringlichsteHippie der Welt.
Komisch,dass man immer denkt, überall ist alles anders. Mir kommt's vor, als hätte sichNiedersachsen nach Osten ausgestreckt. Hohe Kiefern, die großen Abstandvoneinander halten, weil sie sich selbst nicht mögen. Und paff! Gelb.Rapsfeld. Wie eine Sonne, die aus der Kinderzeichnung zu Boden springt. Eingeniales Leuchten. Aber das ist die Ausnahme, der Rest sind Kartoffelfelderund Rüben. Ich spür Sand auf der Zunge, aber das ist wohl nur Als-ob-Sand. Kaummal ein Laubbaum zu sehen, von wegen Maigrün, die Knospen verstecken sich imInland. Auch Quatsch, wieso Inland, ich fahr doch keine Küste ab.
Nur gut,dass ich nicht so ein Mauerkind bin, das ständig aufgeregt den Grenzstreifenaufrufen muss, als wär das 'ne Rasierklinge gewesen. Ich find den NamenNiemandsland ganz klasse, seit ich ihn das erste Mal gehört habe, also dass da,wo zwei Länder aufeinander treffen, das bloße Nichts herrscht, da können auchkeine dummen Sprüche gegeneinander fallen. Aber die Schüsse, ich weiß,ausgerechnet im Niemandsland.
In meine Mahat sich das eingegraben, so weit von der Grenze wohnten wir ja nicht. Sie sagtheute noch drüben zu diesem Sandland hier, alles hinter der Elbe ist drüben,nichts zu machen. Ich hab sie gestern noch in den Arm genommen und ihr gesagt,sie soll mitkommen. Wenn da irgendwas ist, was sie aus dem Weg räumen muss,dann kann sie das jetzt mit mir gemeinsam machen. Es war kurz davor, dass ich michaufspiele, aber Ma meinte nur: «Lass gut sein.» Richtig weich hat sie dasgeflüstert, und sie sah wirklich mitgenommen aus dabei, glasige Augen undalles.
Wo ichgerade bei Rührung bin: Was war das bitte letzte Woche mit mir in den HeiligenHeilstätten, als sie mir den Blumenstrauß übergeben haben! Zuerst derHausleiter, musste natürlich nochmal von meiner Ausgangsposition reden,dreieinhalb Jahre vorher, ich hätte Mist gemacht, aber viele machten Mist, unddass ich mich jetzt im echten Leben bewährt hätte. Er redete wie eine mildeWiedergeburt des Jugendrichters von damals. Zuverlässig, das kam auch vor. Da hab ich zuHolli rübergeguckt und er zur Decke, weil zuverlässig wirklich des Guten zuviel war. Der Hausleiter wünschte mir einen glücklichen weiteren Lebensweg, undmit dem Handschlag dachte ich, die Geschichte sei vorbei. Und dann zauberteeine von den Küchenfrauen diesen Blumenstrauß hervor! Erst dachte ich: Geht'snoch verrückter, für einen wie mich? Aber dann kamen ziemlich schnell die feuchtenAugen. Ich war plötzlich völligst eingenommen von dem Gedanken, wirklich hartgearbeitet zu haben - erst die ganzen Strafstunden unter Hollis Fuchtel,danach, als sie mich auf Hollis Drängen übernommen hatten, der Zivildienst.Bis dahin galt ja: Geburtstag, Blumen, Superidee, gähn. Aber dann krieg ich einmal selbst welche - und halt den Straußin der Hand, steck meine Nase rein und bin so durchgerührt, dass mir die Tränenkommen.
HeuteNachmittag ist es übrigens mein Opa, der jede Menge Blumen überreicht bekommt.Um hier keine schlechten Witze zu reißen: Opa ist tot, er ist vor fünf Tagen gestorben,ich bin gerade unterwegs zu seiner Beerdigung. Er hat die letzten Jahre vor derWende schon in der DDR gelebt und ist dann dageblieben. Ma sollte vorletzteWoche hinfahren, um ihn zu identifizieren, aber sie hat den Leuten am Telefongesagt, sie sei für länger krankgeschrieben und könne das auf keinen Fall, inein Leichenschauhaus oder so was. Also ist dies hier schon der zweite Akt ohnesie. Ma fühlt sich nicht in der Lage, an der Beisetzung teilzunehmen; alleinüber der Schleife des Kranzes, der hinten im Bus liegt, hat sie ungefährhundert Jahre gebrütet. Seitenweise Zettel voll gekritzelt. Ich weiß gar nicht,was sie letztendlich draufgeschrieben hat, sie hat ihn mir in so einemhellblauen Müllsack in die Hand gedrückt.
(...)
© RowohltVerlag
- Autor: Jan Böttcher
- 2006, 304 Seiten, Maße: 13,6 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 387134530X
- ISBN-13: 9783871345302
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