Gespräche mit Autoren
Heinz Ludwig Arnold war einer der besten Kenner der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - und bis zu seinem Tod am 1. November 2011 ihr engagiertester Vermittler. Legendär sind seine ausführlichen Gespräche mit Autoren, die heute moderne...
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Produktinformationen zu „Gespräche mit Autoren “
Klappentext zu „Gespräche mit Autoren “
Heinz Ludwig Arnold war einer der besten Kenner der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - und bis zu seinem Tod am 1. November 2011 ihr engagiertester Vermittler. Legendär sind seine ausführlichen Gespräche mit Autoren, die heute moderne Klassiker sind: Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Hildesheimer, Jurek Becker, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Martin Walser, Rolf Hochhuth, Peter Handke. Dieser Band stellt die aufschlussreichsten Gespräche zusammen, viele davon in Buchform unveröffentlicht - ein Gipfeltreffen der Literaten, ein Fest für den Leser."Meine Gespräche sollten Lektüre nicht ersetzen, sondern darauf neugierig machen ... als neugieriger Partner der Schriftsteller im Gespräch wollte ich stellvertretend für ihre Leser fragen." Heinz Ludwig Arnold
Lese-Probe zu „Gespräche mit Autoren “
Gespräche mit Autoren von Heinz Ludwig ArnoldGESPRÄCH MIT HEINRICH BÖLL
Köln, 20. Juni 1971
»Im Grunde ist alles realistisch ...«
Aus welchen Motivationen und Antrieben heraus haben Sie begonnen, nach Ihren Kriegserfahrungen zu schreiben?
Ich habe schon vor dem Krieg geschrieben, ich wollte immer schreiben, aber die politischen Umstände haben es mir nicht erlaubt. Ich habe immer vorgehabt zu schreiben oder Schriftsteller zu werden, wie man das nennt.
Also als Schüler schon?
Natürlich, mit siebzehn, achtzehn habe ich Erzählungen, Kurzgeschichten, Romane, Gedichte geschrieben, die ich nicht sonderlich wichtig genommen habe, muss ich gestehen, aber es war mein Wunsch, mich schreibenderweise auszudrücken. Und nach dem Krieg war ich in einem Alter, wo man das ernsthaft versuchen konnte, und auch frei.
Publizieren konnten Sie vor dem Krieg naturgemäß nicht ...
Habe ich nicht versucht, auch während des Krieges nicht.
Haben Sie während des Krieges Tagebuch geführt?
Nein, ich habe kein Tagebuch geführt, hatte aber eine sehr umfangreiche Korrespondenz mit meiner späteren Frau, die möglicherweise tagebuchartigen Charakter hat.
Woher kommen denn die ersten Motivationen zum Schreiben?
Ich glaube, das ist ganz einfach, man will sich ausdrücken ...
Und ausgerechnet in dieser Zeit, in der Nazizeit!
... mehr
Warum nicht? Ich glaube, dass man die Geschichte, die einem Autor oder auch einem Zeitgenossen auferlegt wird oder die er miterlebt, als Motiv überschätzt. Wenn ich, hypothetisch gesprochen, 1880 geboren wäre und hätte dann ungefähr 1900 angefangen zu schreiben, im Frieden oder relativen Frieden, dann hätte ich wahrscheinlich auch geschrieben. Natürlich sind die Widerstände in einer Zeit der Diktatur und des Krieges größer.
Erkannten Sie damals, als Sie Ihre Beziehung zum Schreiben entdeckten, auch bereits den Zwang, unter dem Sie standen: dass Sie eben nicht publizieren konnten?
Ich habe das gar nicht versucht, und ich weiß nicht, ob ich's versucht hätte, wenn die politischen Umstände anders gewesen wären. Ich habe sie auf jeden Fall durchschaut, das ergab sich aus meiner Biographie und auch aus meinen Erlebnissen. Ich glaube nicht, dass ich, wenn kein Krieg gekommen wäre und ich 1942 mit 25 Jahren meinen ersten Roman geschrieben hätte, versucht hätte, den unter dem politischen Regime zu publizieren. Das ist natürlich hypothetisch, aber ich glaube nicht.
In welcher »Richtung« haben Sie damals geschrieben?
Ich vermute, dass ich unter dem Einfluss Dostojewskijs stand; dann haben wir sehr früh - ich sage wir, weil meine Frau und ich uns sehr lange kennen - und auch meine Geschwister, meine Familie, sehr gegensätzliche Autoren zu schätzen begonnen, also gegensätzlich zu Dostojewskij, etwa Chesterton, Bloy, Bernanos, wo dann natürlich wieder eine Beziehung zu Dostojewskij entsteht.
Vorwiegend katholische Schriftsteller, die Sie nennen ...
Ja, mehr oder weniger: vielleicht die ersten ernstzunehmenden katholischen Artikulationen dieses Jahrhunderts. Das ist nicht ganz gerecht, es gab auch im neunzehnten Jahrhundert einige.
Wissen Sie, diese Frage ist uninteressant; wer einen Autor beeinflusst hat, das kann man nie genau sagen, weil man die Zusammenhänge nicht rekonstruieren kann. Der Übergang vom Lesen zum Schreiben, oder auch der Übergang von nicht ernster Lektüre zu ernster, ist ja sehr plötzlich. Sie können bis zu Ihrem fünfzehnten Lebensjahr Karl May lesen, und plötzlich mit sechzehn lesen Sie Dostojewskij. Deshalb ist die Rekonstruierung des inneren Vorgangs fast nicht nachzuvollziehen.
Das ist sicher richtig. Nur, was ich hier meine: Hat es so etwas gegeben wie das Nachschreiben eines bestimmten Stils?
Nicht Stils; aber ganz sicher war das von Bloy und Dostojewskij sehr stark beeinflusst, ganz bestimmt; aber man schreibt ja nicht bewusst den Stil nach, praktisch wohl, sondern sucht seinen eigenen Ausdruck innerhalb der Spannungen des Autors, den man im Augenblick für vorbildlich hält. Der Vorgang ist interessant; aber ich glaube nicht, dass es irgendetwas über die Qualität eines Autors sagt, von wem er beeinflusst ist. Manchmal z. B. werde ich angeregt von einem blödsinnigen Film, den ich sehe, wo in irgendeiner Ecke eine Idee ist, die ich interessant finde und die vielleicht kitschig dargestellt ist Das kann viel wichtiger sein, als Einstieg wichtiger werden, als die Gesamtlektüre von etwa Camus, der für mich sehr interessant, sehr wichtig war. Verstehen Sie, das ist so kompliziert: Ich mache deshalb diese Einschränkung, weil es einfach nicht möglich ist, den Kontext wiederherzustellen; selbst für den Autor nicht. Und wenn er versucht, es exakt zu erklären, schwindelt er nicht gerade, aber er versucht etwas auszudrücken, was nicht präzise ist.
Aber zur inhaltlichen Darstellung dessen, was Sie damals geschrieben haben. Was war das, was hat Sie interessiert, welche Themen haben Sie in Ihrer Jugend interessiert?
Soweit ich mich erinnern kann, ich habe diese Sachen alle nicht mehr, war es sehr sozialkritisch. Die ersten Arbeiten stehen ganz sicher unter dem Einfluss der Dostojewskij-Lektüre. Das Ambiente von »Raskolnikow« und »Arme Leute« fand ich in der Nachbarschaft, in den Mietskasernen, in denen mein Vater seine Werkstatt hatte; das ganze Milieu war mir sehr vertraut. Das waren einfach Wohnviertel, die durchaus vergleichbar waren mit dem sozialen Material, dem Milieu-und Viertelmaterial, das ich aus dieser Lektüre kannte.
Wurde in Ihrem Hause dieses sozialkritische Engagement gepflegt?
Nein, nicht bewusst, das ergab sich aus der Geschichte des Milieus. Mein Vater war Bildhauer und Schreinermeister zugleich, er hatte also Bildhauer als Handwerk gelernt - das gab es im 19. Jahrhundert noch -, und er war ein sehr guter Handwerker bzw. Kunsthandwerker. Und wir haben den wirtschaftlichen Niedergang des Kleinbürgertums, soziologisch gesprochen, mit voller Wucht und sehr bewusst miterlebt: die Wirtschaftskrise, das alles, was mit der Arbeitslosigkeit zusammenhing; und daraus ergab sich natürlich eine sozialkritische Einstellung: aus dem Erlebnis und der Erfahrung.
Haben sich diese Motivationen durch den Krieg noch verstärkt, bis hin zur Nachkriegszeit und zur Erzählung »Der Zug war pünktlich «?
Ich glaube, dass der stärkste Eindruck von der sozialen Frage, nennen wir es so, in den frühen 30er Jahren liegt, stärker als während des Krieges und nach dem Krieg, weil ich doch ziemlich bewusst schon etwa 1945 diesen Zustand als Konsequenz des so intensiv Erlebten empfand. Die politische Entwicklung von 1933 an habe ich, obwohl ich sehr jung war, sehr bewusst verfolgt. Das ergab sich durch Gespräche mit meinen Eltern, Geschwistern, Freunden, wir hatten sehr viel Betrieb zu Hause, viel Besuch. Und so war1945 für mich ganz klar die Konsequenz von 1933. Das intensive Erlebnis des sozialen Elends aller Schichten liegt früher, weil es unmittelbar war und auch in einem Alter, wo ich selber gar nichts daran ändern konnte, während ich nach dem Kriege immerhin Ende zwanzig war, verheiratet und eigene Verantwortlichkeit hatte für mein wirtschaftliches Weiterkommen oder Durchkommen.
Gibt es in den 30er Jahren auch schon frühe Begegnungen mit sozialistischer Theorie oder sozialistischen Parteien?
Nein, überhaupt keine; es war eine ziemlich vage Sympathie, die sich während des Krieges, merkwürdigerweise in der deutschen Wehrmacht, verstärkt hat, wo ich zufällig lange Zeit mit ehemaligen Kommunisten zusammen war, zum Teil Berliner Kommunisten, die in irgendeiner Division auftauchten. Und dann hatte ich in der deutschen Wehrmacht einen Bekannten, ich möchte fast sagen Freund, der ein ganz bewusster Marxist war, mit dem ich zusammen im Lazarett lag und mit dem ich lange Transporte von Frankreich in die Sowjetunion erlebte, und der hat mir dann einiges beigebracht: ein bisschen dialektischen Materialismus - seltsamerweise also in der deutschen Wehrmacht. Bis 1933, ich war damals ja erst fünfzehn Jahre alt, war das mehr eine vage und ziemlich romantische Sympathie, die bestärkt wurde durch eine ziemlich radikale Haltung meiner Mutter, die nicht ideologisch geschult war, nicht im Geringsten, aber emotional und gut artikuliert Partei ergriff.
Waren Sie »jugendbewegt« in irgendeiner Weise?
Ja, aber sehr kurz; ein paar Monate oder ein halbes Jahr war ich in einem katholischen Jugendclub, den ich verließ, sobald die anfingen, Gleichschritt zu üben ...
Was Ihnen nicht sonderlich behagt hat ...
Nein, überhaupt nicht; das war sehr militärisch und sehr puritanisch von Jesuiten geleitet, und diese Art von Fithalterei durch die katholische Jugendbewegung passte mir nicht.
Also kann man in etwa sagen, dass der Krieg die Motivation des Schreibens vielleicht etwas verstärkt hat, aber dass sich das, was der Schriftsteller Böll 1945 zu publizieren begann, bereits von 1933 an kontinuierlich entwickelt hat?
Ich glaube das, aber ich kann das nicht beweisen, weil es ja hypothetisch ist. Meine eigene Biographie ist eben so verlaufen. Ich glaube nicht, dass es der Krieg war, ich vermute eher, dass das Erlebnis des sozialen Elends der zwanziger und 30er Jahre das Entscheidende war.
Haben Sie, als Sie 1949 »Ein Zug war pünktlich« publizierten, bereits damals so etwas wie Leserwirkung gespürt?
Nein; ich habe die ersten Kurzgeschichten 1945 und 1946 publiziert, gleich nach dem Krieg, und da gab es eine gewisse Leserwirkung, weil diese Zeitschriften damals vor der Währungsreform ziemlich hohe Auflagen hatten. Die ersten vier Buchpublikationen blieben völlig ohne Resonanz - nicht bei der Kritik, sondern beim Publikum. Für meinen ersten Roman, der im Großen und Ganzen sehr gut besprochen wurde, hat mein Verleger sechs oder sieben Jahre gebraucht, um 3000 Exemplare zu verkaufen. Deshalb bin ich nicht verwöhnt.
Aber irgendwelche Reaktionen auf das, was Sie geschrieben haben, haben Sie doch gespürt ...
Natürlich. Die Reaktion der Kritik war damals sehr wichtig, weil sich ja zwischen 1948 und 1955 ein neues intellektuelles Bewusstsein bildete. Und die ersten jungen Leute fingen an zu schreiben, Kritiker auch, die mehr oder weniger unbefangen diese komische neue deutsche Literatur betrachteten. Da bildeten sich einfach Beziehungen aus; auch bei Treffen, etwa der Gruppe 47 und von Rundfunkanstalten, bildete sich eine gewisse Kommunität. Insofern war das schon ein Echo, kein Publikumsecho, etwas aber das Echo einer neuen Publizistengeneration.
Das war aber ein gemeinschaftliches Echo ...
Ja, aber es war nicht unkritisch, das bedeutet es nicht; es war die Hoffnung auf eine neue, man könnte sagen, Linke, die damals entstand unter den Schriftstellern, Intellektuellen und Rundfunkleuten vor allem.
Hatten Sie damals schon Beziehungen zu den Schriftstellern um den »Ruf«, woraus sich dann ja die Gruppe 47 entwickelt hat?
Keine persönlichen, die hatte ich erst ab 1950.
Wann stellte sich denn so etwas wie Erfolg für den Schriftsteller Heinrich Böll ein?
Das kam mit dem zweiten Roman »Und sagte kein einziges Wort«, der, verglichen mit heutigen Bestsellerverkaufsvorstellungen, einen sehr bescheidenen Erfolg hatte. Ich glaube, mein Verleger war geradezu erstaunt und fast verwirrt, als die zweite Auflage innerhalb eines Jahres fällig wurde; das war offenbar sensationell. Wenn Sie bedenken, dass zwischen 1945 und 1955 der Nachholbedarf an versäumter und internationaler Literatur sehr groß war, war es für einen deutschen Autor, der damals anfing, natürlich fast unmöglich, sich durchzusetzen gegen etwa Sartre, Camus, Hemingway, Faulkner - das waren Entdeckungen, ein legitimer Vorgang, ein Nachholbedarf, ein großes Bedürfnis, ein großer Hunger, den ich selber auch empfand.
Wonach haben Sie am meisten verlangt?
Ich habe alles gelesen, was ich bekommen konnte an ausländischer und versäumter Literatur, auch solche, die zum Teil noch während der Nazizeit erschienen ist, etwa Faulkner. Wir haben das alles regelrecht verschlungen.
Wie sah die erstmals gespürte Resonanz bei den Lesern aus? Sie haben ja nicht nur Zustimmung erfahren.
Nein, im Gegenteil; es schreiben ja meist die Leute, die böse sind, so einfach ausgedrückt. Und in dem Roman »Und sagte kein einziges Wort« sind ja sehr oder einige sehr kritische, scheinbar kritische oder auch für kritisch gehaltene Elemente, die sich gegen den Amtskatholizismus wenden - da habe ich schon ziemlich böse Briefe bekommen, auch Drohungen, sogar schon vor 1953, weil offenbar das katholische Milieu böse erstaunt war und sich wehrte gegen diese Art, die ihnen neu erschien ...
Und die sie gar nicht gewöhnt waren ...
Diesen Ton waren sie nicht gewöhnt, und vor allen Dingen diese Frechheit und Freiheit, mit der ich diesen Ton anwandte, das war offenbar für das Milieu ein Schock.
Wie wirkt nun die Wirkung des Autors beim Publikum auf den Autor zurück?
Die Schwierigkeit ist, dass ein Autor überhaupt keine Möglichkeit hat, die Wirkung zu kontrollieren. Wenn ich vier Briefe bekommen oder damals vielleicht zehn bekommen habe - meistens böse -, und das Buch hatte vielleicht eine Verbreitung von 15000, dann kann ich nicht wissen, was es bei den anderen angerichtet hat. Man weiß nicht, was man anrichtet, positiv und negativ nicht; deshalb kann das für mich, ob es böse oder zustimmend ist, beides bestärkend sein - auch das Böse. Aber es gibt keine Möglichkeit, auch nur annähernd die Gesamtwirkung zu beurteilen.
Bekommt man auch Briefe, aus denen man etwas lernt?
Selbstverständlich; das sind aber meistens Briefe von sehr aufmerksamen Lesern, die einen auf sachliche Fehler aufmerksam machen. Das ist natürlich schon eine wichtige Korrektur.
Aber über die sachlichen Fehler hinaus?
Die Gesamtwirkung - das kann ich aber erst heute sagen, nachdem ich sehr viel geschrieben habe und sehr viel höre und zu hören bekomme -, die Gesamtwirkung ist die, dass man als Autor möglicherweise zu viel oder zu wenig voraussetzt. Das kann ich nicht ändern. Ich schreibe das, was ich für richtig halte im Augenblick, und auch gegen das Publikum, wenn es sein muss. Ich denke gar nicht daran.
Sie sehen das Publikum überhaupt nicht?
Das interessiert mich gar nicht. Es kann mich auch gar nicht beeinflussen; aber das ist eine sehr späte Erkenntnis, dass man - nicht bei Romanen und bei erzählerischen Dingen, sondern bei Reden, bei Essays, bei publizistischen Arbeiten - zu viel voraussetzt, was einem selbst selbstverständlich geworden ist. Das nenne ich die Unmöglichkeit, den inneren und äußeren Kontext herzustellen. Es gibt tausend Dinge, die einen beeinflussen: es sind intellektuelle Vorgänge; es kann eine Stimmung, es kann eine schlaflose Nacht sein, in der man nachdenkt, oder ich sehe auf die Straße, irgendeine Handbewegung: diesen Kontext wiederherzustellen ist unmöglich. Und alle diese Dinge finden ihren Ausdruck - nicht nur diese Dinge, die ich aufzähle, es können auch tausend andere sein: Wohlbefinden, Missbehagen körperlicher Art gemischt mit psychischem usw.; und das drückt sich nicht immer böse aus, aber manchmal ironisch oder missverständlich, lebensfreudig, und offenbar ist das Sensorium für Ironie, Spott und auch gelegentliche Bosheit schlecht entwickelt in Deutschland, nicht nur in der Bundesrepublik, das kann man wohl von Deutschland sagen, weil die literarische Tradition, auch die literarische Polemik, zu wenig bekannt ist. Das nenne ich dann: zu viel vorausgesetzt. Aber indem man's macht, indem man sich diesem Missverständnis aussetzt - das Missverständnis kann in der Zustimmung oder einer Ablehnung bestehen -, schafft man möglicherweise ein Sensorium für diese Dinge. Es gibt so wenig Satirisches und wenig Ironisches in der deutschen Literatur, und das wird offenbar missverstanden.
Nun werden Sie ja in der letzten Zeit immer ironischer.
Ja? Würde ich nicht sagen ...
Ihr »Ende einer Dienstfahrt« ist zwar keine Ironie im Sinne Thomas Manns; denn die Thomas Mann'sche Ironie, finde ich, ist inhuman* ...
Ja, sie ist auch zu bürgerlich ...
Sie seziert; während Ihre Ironie doch in vielem, was Sie geschrieben haben, eigentlich Partei ergreift für die Außenseiter der Gesellschaft; für das, was eben nicht Norm ist.
Ich weiß eben nicht, ob das noch Ironie ist. Ironie heißt ja Verstellung; und ich weiß nicht - ich meine jetzt gar nicht positiv oder negativ, das ist mir gleichgültig -, ob Ironie dafür noch das richtige Wort ist, ob die Distanz, die zur Ironie gehört, noch so stark ist. Es mag sein, dass sie noch zu stark ist, dass man also selber als Autor nicht so verletzlich ist wie der Zustand, den man ironisch darstellt. Ich glaube, dass die Verletzlichkeit des Autors - nicht meine nur, sondern aller anderen auch - größer geworden ist. Das ist gut, ich finde es gut ...
Verletzlichkeit in Hinsicht auf was?
Verletzlich auch dem dargestellten Stoff oder der dargestellten Story gegenüber und auch verletzlich im soziologischen Sinne. Es ist nicht mehr der abgeschlossene Herr oder die Dame, die da sitzen und irgendetwas schreiben und völlig unberührt bleiben; die Multiplizität der Publikationsmittel schließt das schon aus. Ich glaube, dass man diesen Unterschied noch nicht wahrgenommen hat. Nicht nur was die Literatur betrifft, auch was die Politik, was kirchliche Kreise betrifft. Ich glaube, die Leute wissen nicht, dass die Quantität des Ausgesetztseins größere Verletzlichkeit schafft für den, der irgendwas macht, ob es nun für die einen gut und für die anderen schlecht ist und umgekehrt. Wenn Sie sich vorstellen, dass ein Nachrichtensprecher wahrscheinlich an einem Tag von dreißig Millionen Menschen gesehen wird - das ist irre; oder wenn Sie sich vorstellen, dass der Papst, wenn er nur eine kleine Ansprache auf dem Petersplatz hält, wahrscheinlich von 150 Millionen Menschen gesehen wird! Ich glaube, dass die Politiker, die Kirchenleute und alle Leute, die sich dieser sogenannten Massenmedien bedienen, noch nicht kapiert haben, was das bedeutet.
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Warum nicht? Ich glaube, dass man die Geschichte, die einem Autor oder auch einem Zeitgenossen auferlegt wird oder die er miterlebt, als Motiv überschätzt. Wenn ich, hypothetisch gesprochen, 1880 geboren wäre und hätte dann ungefähr 1900 angefangen zu schreiben, im Frieden oder relativen Frieden, dann hätte ich wahrscheinlich auch geschrieben. Natürlich sind die Widerstände in einer Zeit der Diktatur und des Krieges größer.
Erkannten Sie damals, als Sie Ihre Beziehung zum Schreiben entdeckten, auch bereits den Zwang, unter dem Sie standen: dass Sie eben nicht publizieren konnten?
Ich habe das gar nicht versucht, und ich weiß nicht, ob ich's versucht hätte, wenn die politischen Umstände anders gewesen wären. Ich habe sie auf jeden Fall durchschaut, das ergab sich aus meiner Biographie und auch aus meinen Erlebnissen. Ich glaube nicht, dass ich, wenn kein Krieg gekommen wäre und ich 1942 mit 25 Jahren meinen ersten Roman geschrieben hätte, versucht hätte, den unter dem politischen Regime zu publizieren. Das ist natürlich hypothetisch, aber ich glaube nicht.
In welcher »Richtung« haben Sie damals geschrieben?
Ich vermute, dass ich unter dem Einfluss Dostojewskijs stand; dann haben wir sehr früh - ich sage wir, weil meine Frau und ich uns sehr lange kennen - und auch meine Geschwister, meine Familie, sehr gegensätzliche Autoren zu schätzen begonnen, also gegensätzlich zu Dostojewskij, etwa Chesterton, Bloy, Bernanos, wo dann natürlich wieder eine Beziehung zu Dostojewskij entsteht.
Vorwiegend katholische Schriftsteller, die Sie nennen ...
Ja, mehr oder weniger: vielleicht die ersten ernstzunehmenden katholischen Artikulationen dieses Jahrhunderts. Das ist nicht ganz gerecht, es gab auch im neunzehnten Jahrhundert einige.
Wissen Sie, diese Frage ist uninteressant; wer einen Autor beeinflusst hat, das kann man nie genau sagen, weil man die Zusammenhänge nicht rekonstruieren kann. Der Übergang vom Lesen zum Schreiben, oder auch der Übergang von nicht ernster Lektüre zu ernster, ist ja sehr plötzlich. Sie können bis zu Ihrem fünfzehnten Lebensjahr Karl May lesen, und plötzlich mit sechzehn lesen Sie Dostojewskij. Deshalb ist die Rekonstruierung des inneren Vorgangs fast nicht nachzuvollziehen.
Das ist sicher richtig. Nur, was ich hier meine: Hat es so etwas gegeben wie das Nachschreiben eines bestimmten Stils?
Nicht Stils; aber ganz sicher war das von Bloy und Dostojewskij sehr stark beeinflusst, ganz bestimmt; aber man schreibt ja nicht bewusst den Stil nach, praktisch wohl, sondern sucht seinen eigenen Ausdruck innerhalb der Spannungen des Autors, den man im Augenblick für vorbildlich hält. Der Vorgang ist interessant; aber ich glaube nicht, dass es irgendetwas über die Qualität eines Autors sagt, von wem er beeinflusst ist. Manchmal z. B. werde ich angeregt von einem blödsinnigen Film, den ich sehe, wo in irgendeiner Ecke eine Idee ist, die ich interessant finde und die vielleicht kitschig dargestellt ist Das kann viel wichtiger sein, als Einstieg wichtiger werden, als die Gesamtlektüre von etwa Camus, der für mich sehr interessant, sehr wichtig war. Verstehen Sie, das ist so kompliziert: Ich mache deshalb diese Einschränkung, weil es einfach nicht möglich ist, den Kontext wiederherzustellen; selbst für den Autor nicht. Und wenn er versucht, es exakt zu erklären, schwindelt er nicht gerade, aber er versucht etwas auszudrücken, was nicht präzise ist.
Aber zur inhaltlichen Darstellung dessen, was Sie damals geschrieben haben. Was war das, was hat Sie interessiert, welche Themen haben Sie in Ihrer Jugend interessiert?
Soweit ich mich erinnern kann, ich habe diese Sachen alle nicht mehr, war es sehr sozialkritisch. Die ersten Arbeiten stehen ganz sicher unter dem Einfluss der Dostojewskij-Lektüre. Das Ambiente von »Raskolnikow« und »Arme Leute« fand ich in der Nachbarschaft, in den Mietskasernen, in denen mein Vater seine Werkstatt hatte; das ganze Milieu war mir sehr vertraut. Das waren einfach Wohnviertel, die durchaus vergleichbar waren mit dem sozialen Material, dem Milieu-und Viertelmaterial, das ich aus dieser Lektüre kannte.
Wurde in Ihrem Hause dieses sozialkritische Engagement gepflegt?
Nein, nicht bewusst, das ergab sich aus der Geschichte des Milieus. Mein Vater war Bildhauer und Schreinermeister zugleich, er hatte also Bildhauer als Handwerk gelernt - das gab es im 19. Jahrhundert noch -, und er war ein sehr guter Handwerker bzw. Kunsthandwerker. Und wir haben den wirtschaftlichen Niedergang des Kleinbürgertums, soziologisch gesprochen, mit voller Wucht und sehr bewusst miterlebt: die Wirtschaftskrise, das alles, was mit der Arbeitslosigkeit zusammenhing; und daraus ergab sich natürlich eine sozialkritische Einstellung: aus dem Erlebnis und der Erfahrung.
Haben sich diese Motivationen durch den Krieg noch verstärkt, bis hin zur Nachkriegszeit und zur Erzählung »Der Zug war pünktlich «?
Ich glaube, dass der stärkste Eindruck von der sozialen Frage, nennen wir es so, in den frühen 30er Jahren liegt, stärker als während des Krieges und nach dem Krieg, weil ich doch ziemlich bewusst schon etwa 1945 diesen Zustand als Konsequenz des so intensiv Erlebten empfand. Die politische Entwicklung von 1933 an habe ich, obwohl ich sehr jung war, sehr bewusst verfolgt. Das ergab sich durch Gespräche mit meinen Eltern, Geschwistern, Freunden, wir hatten sehr viel Betrieb zu Hause, viel Besuch. Und so war1945 für mich ganz klar die Konsequenz von 1933. Das intensive Erlebnis des sozialen Elends aller Schichten liegt früher, weil es unmittelbar war und auch in einem Alter, wo ich selber gar nichts daran ändern konnte, während ich nach dem Kriege immerhin Ende zwanzig war, verheiratet und eigene Verantwortlichkeit hatte für mein wirtschaftliches Weiterkommen oder Durchkommen.
Gibt es in den 30er Jahren auch schon frühe Begegnungen mit sozialistischer Theorie oder sozialistischen Parteien?
Nein, überhaupt keine; es war eine ziemlich vage Sympathie, die sich während des Krieges, merkwürdigerweise in der deutschen Wehrmacht, verstärkt hat, wo ich zufällig lange Zeit mit ehemaligen Kommunisten zusammen war, zum Teil Berliner Kommunisten, die in irgendeiner Division auftauchten. Und dann hatte ich in der deutschen Wehrmacht einen Bekannten, ich möchte fast sagen Freund, der ein ganz bewusster Marxist war, mit dem ich zusammen im Lazarett lag und mit dem ich lange Transporte von Frankreich in die Sowjetunion erlebte, und der hat mir dann einiges beigebracht: ein bisschen dialektischen Materialismus - seltsamerweise also in der deutschen Wehrmacht. Bis 1933, ich war damals ja erst fünfzehn Jahre alt, war das mehr eine vage und ziemlich romantische Sympathie, die bestärkt wurde durch eine ziemlich radikale Haltung meiner Mutter, die nicht ideologisch geschult war, nicht im Geringsten, aber emotional und gut artikuliert Partei ergriff.
Waren Sie »jugendbewegt« in irgendeiner Weise?
Ja, aber sehr kurz; ein paar Monate oder ein halbes Jahr war ich in einem katholischen Jugendclub, den ich verließ, sobald die anfingen, Gleichschritt zu üben ...
Was Ihnen nicht sonderlich behagt hat ...
Nein, überhaupt nicht; das war sehr militärisch und sehr puritanisch von Jesuiten geleitet, und diese Art von Fithalterei durch die katholische Jugendbewegung passte mir nicht.
Also kann man in etwa sagen, dass der Krieg die Motivation des Schreibens vielleicht etwas verstärkt hat, aber dass sich das, was der Schriftsteller Böll 1945 zu publizieren begann, bereits von 1933 an kontinuierlich entwickelt hat?
Ich glaube das, aber ich kann das nicht beweisen, weil es ja hypothetisch ist. Meine eigene Biographie ist eben so verlaufen. Ich glaube nicht, dass es der Krieg war, ich vermute eher, dass das Erlebnis des sozialen Elends der zwanziger und 30er Jahre das Entscheidende war.
Haben Sie, als Sie 1949 »Ein Zug war pünktlich« publizierten, bereits damals so etwas wie Leserwirkung gespürt?
Nein; ich habe die ersten Kurzgeschichten 1945 und 1946 publiziert, gleich nach dem Krieg, und da gab es eine gewisse Leserwirkung, weil diese Zeitschriften damals vor der Währungsreform ziemlich hohe Auflagen hatten. Die ersten vier Buchpublikationen blieben völlig ohne Resonanz - nicht bei der Kritik, sondern beim Publikum. Für meinen ersten Roman, der im Großen und Ganzen sehr gut besprochen wurde, hat mein Verleger sechs oder sieben Jahre gebraucht, um 3000 Exemplare zu verkaufen. Deshalb bin ich nicht verwöhnt.
Aber irgendwelche Reaktionen auf das, was Sie geschrieben haben, haben Sie doch gespürt ...
Natürlich. Die Reaktion der Kritik war damals sehr wichtig, weil sich ja zwischen 1948 und 1955 ein neues intellektuelles Bewusstsein bildete. Und die ersten jungen Leute fingen an zu schreiben, Kritiker auch, die mehr oder weniger unbefangen diese komische neue deutsche Literatur betrachteten. Da bildeten sich einfach Beziehungen aus; auch bei Treffen, etwa der Gruppe 47 und von Rundfunkanstalten, bildete sich eine gewisse Kommunität. Insofern war das schon ein Echo, kein Publikumsecho, etwas aber das Echo einer neuen Publizistengeneration.
Das war aber ein gemeinschaftliches Echo ...
Ja, aber es war nicht unkritisch, das bedeutet es nicht; es war die Hoffnung auf eine neue, man könnte sagen, Linke, die damals entstand unter den Schriftstellern, Intellektuellen und Rundfunkleuten vor allem.
Hatten Sie damals schon Beziehungen zu den Schriftstellern um den »Ruf«, woraus sich dann ja die Gruppe 47 entwickelt hat?
Keine persönlichen, die hatte ich erst ab 1950.
Wann stellte sich denn so etwas wie Erfolg für den Schriftsteller Heinrich Böll ein?
Das kam mit dem zweiten Roman »Und sagte kein einziges Wort«, der, verglichen mit heutigen Bestsellerverkaufsvorstellungen, einen sehr bescheidenen Erfolg hatte. Ich glaube, mein Verleger war geradezu erstaunt und fast verwirrt, als die zweite Auflage innerhalb eines Jahres fällig wurde; das war offenbar sensationell. Wenn Sie bedenken, dass zwischen 1945 und 1955 der Nachholbedarf an versäumter und internationaler Literatur sehr groß war, war es für einen deutschen Autor, der damals anfing, natürlich fast unmöglich, sich durchzusetzen gegen etwa Sartre, Camus, Hemingway, Faulkner - das waren Entdeckungen, ein legitimer Vorgang, ein Nachholbedarf, ein großes Bedürfnis, ein großer Hunger, den ich selber auch empfand.
Wonach haben Sie am meisten verlangt?
Ich habe alles gelesen, was ich bekommen konnte an ausländischer und versäumter Literatur, auch solche, die zum Teil noch während der Nazizeit erschienen ist, etwa Faulkner. Wir haben das alles regelrecht verschlungen.
Wie sah die erstmals gespürte Resonanz bei den Lesern aus? Sie haben ja nicht nur Zustimmung erfahren.
Nein, im Gegenteil; es schreiben ja meist die Leute, die böse sind, so einfach ausgedrückt. Und in dem Roman »Und sagte kein einziges Wort« sind ja sehr oder einige sehr kritische, scheinbar kritische oder auch für kritisch gehaltene Elemente, die sich gegen den Amtskatholizismus wenden - da habe ich schon ziemlich böse Briefe bekommen, auch Drohungen, sogar schon vor 1953, weil offenbar das katholische Milieu böse erstaunt war und sich wehrte gegen diese Art, die ihnen neu erschien ...
Und die sie gar nicht gewöhnt waren ...
Diesen Ton waren sie nicht gewöhnt, und vor allen Dingen diese Frechheit und Freiheit, mit der ich diesen Ton anwandte, das war offenbar für das Milieu ein Schock.
Wie wirkt nun die Wirkung des Autors beim Publikum auf den Autor zurück?
Die Schwierigkeit ist, dass ein Autor überhaupt keine Möglichkeit hat, die Wirkung zu kontrollieren. Wenn ich vier Briefe bekommen oder damals vielleicht zehn bekommen habe - meistens böse -, und das Buch hatte vielleicht eine Verbreitung von 15000, dann kann ich nicht wissen, was es bei den anderen angerichtet hat. Man weiß nicht, was man anrichtet, positiv und negativ nicht; deshalb kann das für mich, ob es böse oder zustimmend ist, beides bestärkend sein - auch das Böse. Aber es gibt keine Möglichkeit, auch nur annähernd die Gesamtwirkung zu beurteilen.
Bekommt man auch Briefe, aus denen man etwas lernt?
Selbstverständlich; das sind aber meistens Briefe von sehr aufmerksamen Lesern, die einen auf sachliche Fehler aufmerksam machen. Das ist natürlich schon eine wichtige Korrektur.
Aber über die sachlichen Fehler hinaus?
Die Gesamtwirkung - das kann ich aber erst heute sagen, nachdem ich sehr viel geschrieben habe und sehr viel höre und zu hören bekomme -, die Gesamtwirkung ist die, dass man als Autor möglicherweise zu viel oder zu wenig voraussetzt. Das kann ich nicht ändern. Ich schreibe das, was ich für richtig halte im Augenblick, und auch gegen das Publikum, wenn es sein muss. Ich denke gar nicht daran.
Sie sehen das Publikum überhaupt nicht?
Das interessiert mich gar nicht. Es kann mich auch gar nicht beeinflussen; aber das ist eine sehr späte Erkenntnis, dass man - nicht bei Romanen und bei erzählerischen Dingen, sondern bei Reden, bei Essays, bei publizistischen Arbeiten - zu viel voraussetzt, was einem selbst selbstverständlich geworden ist. Das nenne ich die Unmöglichkeit, den inneren und äußeren Kontext herzustellen. Es gibt tausend Dinge, die einen beeinflussen: es sind intellektuelle Vorgänge; es kann eine Stimmung, es kann eine schlaflose Nacht sein, in der man nachdenkt, oder ich sehe auf die Straße, irgendeine Handbewegung: diesen Kontext wiederherzustellen ist unmöglich. Und alle diese Dinge finden ihren Ausdruck - nicht nur diese Dinge, die ich aufzähle, es können auch tausend andere sein: Wohlbefinden, Missbehagen körperlicher Art gemischt mit psychischem usw.; und das drückt sich nicht immer böse aus, aber manchmal ironisch oder missverständlich, lebensfreudig, und offenbar ist das Sensorium für Ironie, Spott und auch gelegentliche Bosheit schlecht entwickelt in Deutschland, nicht nur in der Bundesrepublik, das kann man wohl von Deutschland sagen, weil die literarische Tradition, auch die literarische Polemik, zu wenig bekannt ist. Das nenne ich dann: zu viel vorausgesetzt. Aber indem man's macht, indem man sich diesem Missverständnis aussetzt - das Missverständnis kann in der Zustimmung oder einer Ablehnung bestehen -, schafft man möglicherweise ein Sensorium für diese Dinge. Es gibt so wenig Satirisches und wenig Ironisches in der deutschen Literatur, und das wird offenbar missverstanden.
Nun werden Sie ja in der letzten Zeit immer ironischer.
Ja? Würde ich nicht sagen ...
Ihr »Ende einer Dienstfahrt« ist zwar keine Ironie im Sinne Thomas Manns; denn die Thomas Mann'sche Ironie, finde ich, ist inhuman* ...
Ja, sie ist auch zu bürgerlich ...
Sie seziert; während Ihre Ironie doch in vielem, was Sie geschrieben haben, eigentlich Partei ergreift für die Außenseiter der Gesellschaft; für das, was eben nicht Norm ist.
Ich weiß eben nicht, ob das noch Ironie ist. Ironie heißt ja Verstellung; und ich weiß nicht - ich meine jetzt gar nicht positiv oder negativ, das ist mir gleichgültig -, ob Ironie dafür noch das richtige Wort ist, ob die Distanz, die zur Ironie gehört, noch so stark ist. Es mag sein, dass sie noch zu stark ist, dass man also selber als Autor nicht so verletzlich ist wie der Zustand, den man ironisch darstellt. Ich glaube, dass die Verletzlichkeit des Autors - nicht meine nur, sondern aller anderen auch - größer geworden ist. Das ist gut, ich finde es gut ...
Verletzlichkeit in Hinsicht auf was?
Verletzlich auch dem dargestellten Stoff oder der dargestellten Story gegenüber und auch verletzlich im soziologischen Sinne. Es ist nicht mehr der abgeschlossene Herr oder die Dame, die da sitzen und irgendetwas schreiben und völlig unberührt bleiben; die Multiplizität der Publikationsmittel schließt das schon aus. Ich glaube, dass man diesen Unterschied noch nicht wahrgenommen hat. Nicht nur was die Literatur betrifft, auch was die Politik, was kirchliche Kreise betrifft. Ich glaube, die Leute wissen nicht, dass die Quantität des Ausgesetztseins größere Verletzlichkeit schafft für den, der irgendwas macht, ob es nun für die einen gut und für die anderen schlecht ist und umgekehrt. Wenn Sie sich vorstellen, dass ein Nachrichtensprecher wahrscheinlich an einem Tag von dreißig Millionen Menschen gesehen wird - das ist irre; oder wenn Sie sich vorstellen, dass der Papst, wenn er nur eine kleine Ansprache auf dem Petersplatz hält, wahrscheinlich von 150 Millionen Menschen gesehen wird! Ich glaube, dass die Politiker, die Kirchenleute und alle Leute, die sich dieser sogenannten Massenmedien bedienen, noch nicht kapiert haben, was das bedeutet.
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Autoren-Porträt von Heinz Ludwig Arnold
Prof. Heinz Ludwig Arnold, geb. 1940, ist weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als einer der besten Kenner der Gegenwartsliteratur bekannt. Er ist Herausgeber der Zeitschrift 'TEXT + KRITIK', des 'Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur' (KLG) und des 'Kritischen Lexikons zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur' (KLfG).
Bibliographische Angaben
- Autor: Heinz Ludwig Arnold
- 2012, 723 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968805971
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