Gewitter über Pluto
Roman
Ein Erotikdarsteller, ein Strickwarenladen und der Urvogel Archaeopteryx... Lorenz Mohn ist ein Mann mit perfektem Körper und nicht ganz so perfekter Seele. Eines Tages beschließt Mohn, sein Leben radikal zu ändern... »Große Literatur!« Bayerischer Rundfunk.
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Produktinformationen zu „Gewitter über Pluto “
Ein Erotikdarsteller, ein Strickwarenladen und der Urvogel Archaeopteryx... Lorenz Mohn ist ein Mann mit perfektem Körper und nicht ganz so perfekter Seele. Eines Tages beschließt Mohn, sein Leben radikal zu ändern... »Große Literatur!« Bayerischer Rundfunk.
Klappentext zu „Gewitter über Pluto “
Ein Pornodarsteller, ein Strickwarenladen und der Urvogel Archaeopteryx ...Lorenz Mohn, ein Mann mit perfektem Körper und nicht ganz so perfekter Seele, begreift im vierzigsten Jahr seines Lebens, dass er selbiges radikal ändern muss und beendet seine Karriere als Pornodarsteller. Inspiriert vom Anblick einer Kollegin, die mit Vermeerscher Ruhe und Würde an einem Pullöverchen häkelt, eröffnet er einen Strickwarenladen. Geldgeberin ist die von Gerüchten umwehte Grande Dame der Wiener Unterwelt. Ihre einzige Bedingung für das zinslose Darlehen: es auf den Tag genau in sieben Jahren zurückzuzahlen oder aber an eben diesem 14. Juli 2015 ein Leben zu retten. Das ist auch der Tag, an dem die NASA-Sonde New Horizons den Planeten Pluto erreichen soll. Ein Zufall? Wohl kaum, wenn man den Namen von Mohns Strickwarengeschäft bedenkt: Plutos Liebe. Ein Sturm bricht los und reißt alle mit sich.
Lese-Probe zu „Gewitter über Pluto “
Gewitter über Pluto von Heinrich Steinfest2
Wie aus einem »y« ein »i« wird
Es soll hier in keiner Weise behauptet werden, daß die Pornoindustrie und die Unterwelt notwendigerweise miteinander verbandelt sind. Dennoch war es so, daß Lorenz im Laufe der Jahre Leute kennengelernt hatte, die sich zwar allesamt als Geschäftsmänner und Geschäftsfrauen bezeichneten, dieses auch waren, doch deren Geschäftspraktiken man nur schwer mit einem bürgerlichen Gesetzbuch in Einklang bringen konnte, selbst wenn deren Anwälte genau das hinbekamen.* Man könnte freilich sagen, daß derartiges für so gut wie jede geschäftliche Aktivität galt, ja daß Saubermänner in die Drogenhilfe und Altenpflege gehörten und nicht in eine der Auslese, dem Rivalen- und Revierkampf verpflichtete freie Marktwirtschaft. Trotzdem war es noch immer ein Unterschied, ob jemand seinen Kredit bei einer Bank aufnahm oder etwa bei einer Frau, die sich Claire Montbard nannte und die wegen ihrer Methoden der Geldeintreibung eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte.
Die Berühmtheit ergab sich daraus, daß niemand genau wußte, wie Frau Montbard sich ihre Schuldner gefügig machte. Aber es funktionierte. Es schien dabei keineswegs so zu sein, daß Claire Montbard den säumigen Kreditnehmern die Zähne ausschlagen ließ oder damit drohte, jemanden aus deren Familie entführen zu lassen. Man konnte nur feststellen, daß Personen, die sich von ihr Geld ausgeborgt hatten – und es waren nicht wenige in dieser Stadt –, niemals versuchten, dieses Geld schuldig zu bleiben. Und das mußte als ein echtes Wunder gelten. Denn so hart die Methoden offizieller wie inoffizieller Schuldeneintreibung auch sein mochten, viele Schuldner ließen sich immer wieder auf gefährliche Spielchen ein, versuchten, die
... mehr
Gläubiger auszutricksen, anzuwinseln, weichzuheulen, riskierten schon mal körperliche Zugriffe … Hingegen kam niemand auf die Idee, Claire Montbard austricksen oder anheulen zu wollen. Sie war auf eine namenlose Weise gefürchtet. Ein vernünftiger Mensch wird jetzt sagen: Na, da gehe ich aber lieber zu einer Bank. Und das tun ja vernünftige Menschen in der Regel auch. Interessanterweise bringen sich einige von ihnen später um. Andere werden verrückt und bringen zwar nicht sich selbst um, dafür aber ihre Familie. Die Mehrheit allerdings kommt ohne Mord aus, versinkt bloß in einem Strudel von Problemen. Und dann gibt es nicht zuletzt die, welche die Rückzahlung ihres Bankkredits vollkommen unversehrt überstehen. Die gibt es immer, wir kennen sie…also, wir kennen meistens einen oder einen vom Hörensagen – so wie wir ja auch einen kennen, dessen Kinder vom ersten Tag an durchgeschlafen haben, oder so wie man früher einen kannte, der einen Juden versteckt hatte, sodaß sich die Frage stellte, wo eigentlich alle diese versteckten Juden hingekommen sind.
Ja, so war das mit den Bankkrediten. Und weil nun noch dazukam, daß Banken nicht jedermann in den Genuß einer solchen Buße kommen ließen, ergab sich für Lorenz Mohn – der über kein Vermögen verfügte, lediglich eine kleine Eigentumswohnung besaß – die Überlegung, ob es nicht besser sein würde, wegen eines Darlehens bei Frau Montbard vorzusprechen.
Keiner ihrer Kreditnehmer hatte sich umgebracht, keiner war in den Ruin geschlittert. Blieb allein der markante Umstand, daß auch keiner von ihnen je ein Wort über die Kreditgeberin verloren hatte, während ja umgekehrt konventionelle Schuldner ständig ihre Haßtiraden gegen die Geldinstitute und die ganze Geldwirtschaft verlautbaren.
Frau Montbard hatte einige der Filme mitproduziert, in denen Lorenz aufgetreten war. Wozu glücklicherweise nicht derjenige gehörte, dessen letzte Szene er soeben geschmissen hatte. Was allerdings kein echtes Problem darstellte, da es ja bloß um eine letzte Einstellung ging, in welcher man nicht unbedingt Lorenz’ Gesicht sehen mußte. Und auch wenn Männer das gar nicht gerne hören, muß gesagt werden, daß Schwänze lange nicht so unterschiedlich sind, wie gerne angenommen wird. Lorenz war Claire Montbard bei der einen oder anderen Party begegnet, aber sie hatten nie ein Wort miteinander gewechselt.
Wenn Lorenz jetzt daran dachte, sich ausgerechnet an diese dubiose Person wegen eines Darlehens zu wenden, dann aus zwei Gründen. Erstens vermutete er, daß eine Frau seinen Übertritt von der Pornographie zur Strickware eher verstehen würde. Und zweitens war ihm die Vorstellung einer mysteriösen Macht, die von dieser Frau ausging, lieber als das Risiko, welches sich im Falle der üblichen Kredithaie und kriminellen Geldverleiher ergab. Er fürchtete mehr das Zähneausschlagen als eine quasi metaphysische Bedrohung. Das war natürlich ein bißchen naiv, sich vor Dingen zu ängstigen, die man sah, und jene zu unterschätzen, die man nicht sah. Als wäre die unsichtbare Tiefe eines Gewässers dazu angetan, nicht unterzugehen. Doch Lorenz genehmigte sich eine solche Naivität.
Ja, er würde Claire Montbard um Geld bitten. Zuerst aber wollte er ein geeignetes Geschäftslokal finden. Und weil er das Bedürfnis hatte, soviel wie möglich an diesem einen Tag zu erledigen, zumindest die wichtigsten Entscheidungen zu treffen, marschierte er durch die Stadt, vollkommen überzeugt, daß sich ihm der einzig richtige, der einzige in Frage kommende Laden praktisch von selbst offenbaren würde, daß dieses Geschäft – gleich, was darin bisher untergebracht gewesen war – nur darum existierte, um diesem einen Zweck zu dienen: Plutos Liebe zu beherbergen.
Gerne hätte Lorenz die Augen geschlossen, um sich besser auf den unsichtbaren Faden zu konzentrieren, der ihn leitete. Leider stand diesem Ansinnen der Straßenverkehr im Wege, welcher im übrigen so gut wie jedem Ansinnen im Wege steht. Während nämlich in der Tat eine schicksalhafte Bindung zwischen Menschen und Orten gegeben ist, eine schnurartige Passage, vor allem aber auch zwischen Menschen und Menschen sowie Menschen und Tieren, bildet der Straßenverkehr eine gleichzeitig gottlose wie unnatürliche, von keiner Evolution vorausgesehene oder eingliederbare Barriere. Der Straßenverkehr ist sehr viel weniger darum so schlimm, weil er unsere Luft verpestet, sondern weil er verhindert, daß Dinge und Lebewesen zueinanderkommen, die füreinander bestimmt sind. Würde der Straßenverkehr fehlen, könnten sich jene Menschen begegnen, die gemäß einem logischen Plan sich versprochen sind und wie kosmische Brocken aufeinander zu fliegen. So aber müssen sie ständig dem Verkehr ausweichen, Umwege nehmen, mit dem Wahnsinn der Fahrer rechnen, kontrollierte Übergänge aufsuchen…oder sie sitzen selbst in einem Wagen, fabrizieren selbst die Barrieren, die ein solch fatales Unglück in ihr Leben tragen. Der Verkehr ist ein Teufelsding, viel schlimmer als der Umweltschutz und die Parkplatzjammerer meinen.
Das wußte Lorenz. Zumindest ahnte er es in diesem besonderen Moment. Rang also um höchste Konzentration. Und versuchte, nach einer jeden durch den Verkehr erzeugten Unterbrechung den Faden wieder neu aufzunehmen. Denn auch wenn ein solcher Faden unsichtbar war, so besaß er dennoch eine gewisse Spannung, eine durch den Zug zwischen A und B sich ergebende Elektrizität. Etwas, was viele Leute mit Magie verwechselten. Es gibt nichts Übernatürliches, es gibt nur Dinge, die, will man sie erkennen, ein gutes Meßgerät benötigen. Vielleicht eines, das noch gar nicht erfunden wurde.
Lorenz aber folgte auch ohne eine derartige Apparatur dem angespannten Faden, folgte der Elektrizität und tat dies mit offenen, freilich in sich geschlossenen Augen, die Beachtung des Straßenverkehrs auf ein Mindestmaß, ein Überlebensmaß reduzierend. Wobei er zwischendurch immer wieder erschöpft auf einer Bank Platz nehmen mußte oder sich gegen eine Häuserwand lehnte. Seine im Laufsport erarbeitete Ausdauer nutzte jetzt nichts. Hier war eine andere Kondition gefragt. Immerhin konnte er sich solche Pausen gönnen, da es sich bei seinem Ziel nicht um einen seinerseits bewegten, seinerseits ständig dem Verkehr ausweichenden Menschen handelte, sondern um ein still auf seinem Platz stehendes Haus.
Es war bereits spät am Nachmittag, als Lorenz im Rücken einer Kirche zu halten kam. Er befand sich im Schatten des Turms wie unter einem breiten Schiffsrumpf. Von der rechten Seite fiel rötliches Licht auf den mit Pflastersteinen ausgelegten Boden, ebenso auf die Fassaden nahtlos verbundener alter Häuser. Der Lärm des Verkehrs kam von der Vorderseite der Kirche. Hier hinten jedoch durften keine Autos fahren, es handelte sich um eine reine Zone für Fußgänger und Tauben. Man hätte also auf dieser nicht allzu langen Straße einen Faden zwischen zwei Menschen spannen können, die sich sodann kaum noch hätten verfehlen, ja die sich beim besten Willen nicht hätten ausweichen können. Aber welcher Gott wäre so gütig gewesen, zwei zusammengehörende Menschen zur gleichen Zeit in eine solche Gasse zu führen? Ein solches Gäßchen, eine Pflastersteinidylle?
Mit Häusern war es da einfacher. Lorenz erkannte es sofort, das kleine Geschäftslokal in dem mit einem kalten, grauen Rosa bestrichenen schmalen Gebäude, einem einfachen, glatten Bau, der mit erstaunlicher Kaltblütigkeit zwischen zwei historische Häuser gezwängt worden war, derart, daß man den Eindruck bekommen konnte, es handle sich um die simple Füllung einer Lücke, wie man Fugen mit Polyester füllt oder zwei Tortenteile mit einer Cremeschichte verbindet. Es war also so, daß Lorenz’ zukünftiger Laden zwar an einem verträumten, weltfernen Ort lag, aber ausgerechnet im einzigen häßlichen Gebäude der Straße. Das Lokal selbst bestand nach vorne hin aus zwei kurzen Auslagenscheiben und einer mittigen Eingangstüre, die alle in einen gemeinsamen Raum wiesen. Dieser leere Raum war nicht ganz so klein, wie es Lorenz erwartet hatte. Aber sicherlich klein genug. Ganz abgesehen davon, daß er natürlich genau die Größe besaß, die er besitzen mußte.
Dem oben auf der Fassade angebrachten Schild nach zu urteilen, war zuletzt eine Bäckerei hier ansässig gewesen. Keine von den bekannten Ketten, sondern eine Bäckerei Nix. Netter Name, dachte Lorenz. Mehr dachte er nicht. Hätte er jedoch über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen bezüglich der äußeren Zone unseres Sonnensystems Bescheid gewußt, wäre er doch sehr verblüfft gewesen ob dieses Namens. Beziehungsweise hätte er begriffen, daß sein Eindruck, an einem Faden zu diesem Lokal hingeleitet worden zu sein, mehr als ein bloßes Gefühl bedeutete. Es war nämlich so, daß die NASA – auch so eine Abkürzung, hinter der eigentlich nur eine Verschwörung stecken kann –, daß die NASA also erst im Oktober 2005 die Entdeckung zweier weiterer Plutomonde verlautbart hatte. Und daß im Juni 2006 die IAU (dieselben Mafiosi, dank derer Pluto um seinen Planetenstatus gebracht worden war) dem größeren der beiden kleinen Monde den Namen Nix gegeben hatte. Der Name bezog sich auf Nyx, die Königin der Nacht. Allerdings hieß so bereits ein Asteroid mit der Nummer 3908. (Das war, als wäre eine kleine häßliche Rauhhaardackeldame mit einer vierstelligen Steuernummer auf den Namen Madonna getauft worden, bevor noch eine nicht minder rauhhaarige amerikanische Sängerin auf diese Idee hatte kommen können.) Jedenfalls war man gezwungen gewesen, das »y« durch ein »i« zu ersetzen, um diesen Namen verwenden zu können. Worauf man keinesfalls hatte verzichten wollen, da die Göttin der Nacht auch als die Mutter von Charon fungierte, jener Charon, nach welchem Plutos größter Mond benannt war.
Wenn man nun bedachte, daß es die Bäckerei Nix gar nicht mehr gab und deren Gründung mindestens ein paar Jahre zurückliegen mußte, als niemand hatte ahnen können, daß dort oben zwei weitere Plutomonde existierten und man aus einem mythologischen Zusammenhang heraus bei der Namensgebung des einen Mondes orthographisch ein wenig würde schummeln müssen, und wenn man zudem bedachte, daß Lorenz Mohn erst kurz zuvor auf die Idee gekommen war – aber eben noch weit weg von diesem Ort –, seinen zukünftigen Kurzwarenladen Plutos Liebe zu nennen, ja dann mußte einem der Gedanke kommen, daß es so etwas wie eine ordnende Kraft gab, eine Kraft, die Zufälle hervorbrachte, die dann also gar keine Zufälle waren.
Doch wozu? Nur, weil Ordnung schöner war als Unordnung?
Oder steckte vielleicht sogar eine Bösartigkeit dahinter, ein raffiniertes Manöver, mit dem Ziel irgendeiner Zerstörung oder Demütigung?
Es war wohl besser, daß Lorenz den Nix-Nyx-Charon-Pluto- Zusammenhang nicht erkannte. – Besser für wen? Am nächsten Tag rief Lorenz einen Freund an, von dem er wußte, daß er hin und wieder mit Claire Montbard zu tun hatte. »Ich würde dir nicht empfehlen, dich mit dieser Frau einzulassen «, sagte der Freund.
»Wie?« staunte Lorenz. »Aber du hast dich doch auch mit ihr eingelassen! «
»Na, warum glaubst du, daß ich dich warne?«
»Was ist denn so schrecklich an ihr?« fragte Lorenz.
»Das kann man nicht erklären«, antwortete der Freund. »Man muß es selbst herausfinden. Oder es bleibenlassen. Wozu ich dir nur raten kann. Es ist nicht nötig, alles zu wissen.«
Lorenz ignorierte die Warnung und verlangte eine Telefonnummer. »Du denkst wohl, jeder hat ein Recht auf sein eigenes Unglück«, meinte der Freund.
Was Lorenz aber wirklich dachte, war, daß Montbards unheimlicher Ruf eine bloße Legende darstellte. Etwas, mit dem Leute, die sie kannten, ein wenig angeben konnten. Ohne etwas Konkretes in der Hand zu haben. Das Konkrete existierte einfach nicht. (Wie so häufig. Die meisten Ereignisse, die kolportiert werden, sind pure Erfindung. Würde man sich die Mühe machen und einmal nachrechnen, könnte man feststellen, daß viel Berichtetes zeitmäßig gar nicht möglich ist, etwa Politiker, welche das und das dort und dort gesagt haben sollen. Leute, die gleichzeitig bei einer Grundsteinlegung dabei sind und im Bundestag reden. Als verfügten sie über professionelle Doppelgänger.)
»Also gut«, servierte der Freund ein Seufzen. »Ich gebe dir eine Nummer, mit der du es versuchen kannst: 13 43 40.«
»Danke dir«, sagte Lorenz.
»Wofür?« Der Freund legte auf.
Sofort gab Lorenz die sechs Ziffern ein. Ein Mann meldete sich mit einem »Ja!«, welches genügend Energie besaß, um damit eine Brotschneidemaschine zu bedienen. Zumindest eine Scheibe lang. »Ich würde gerne mit Frau Montbard sprechen. Mein Name ist Lorenz Mohn.«
»Sie sind dieser Schwanzlutscher, was?«
»Nein, im Gegenteil …« Aber wozu sollte er sich einem Mann erklären, dessen subalterne Aufgabe es offensichtlich war, das Telefon zu bewachen. »Können Sie mich verbinden oder nicht?«
»Ich schaue mal …«, sagte der Mann.
Dann war eine Weile Ruhe. So eine rauschende Ruhe, wie man sich vorstellt, daß es im Weltraum tönt. Wenn das Nichts murmelt. Lorenz dachte schon, er wäre auf ewig auf ein Abstellgleis verbannt worden, als sich endlich eine Frau meldete. Sie schien Unhöflichkeit nicht nötig zu haben. Ihre Stimme besaß das Timbre von Wasser. Wasser klingt auf eine geschmeidige Weise selbstsicher und auf eine erhabene Weise rücksichtsvoll. Frau Montbard bat um Entschuldigung für die lange Wartezeit. Dann fragte sie: »Sind Sie der Lorenz Mohn vom Film?«
Das war sehr nett von ihr, es so gesagt zu haben. Lorenz antwortete:
»Bis gestern. Ich habe damit aufgehört.«
»Das ist wahrscheinlich vernünftig. Ich glaube auch nicht, daß der Pornographie die Zukunft gehört.«
»Exakt darum belästige ich Sie«, sagte Lorenz. »Einer Zukunft wegen, in der die Pornographie keine Chance hat.«
»Na, ich hoffe, Sie wollen die Zukunft nicht retten. Da müßten Sie nämlich in Hollywood anrufen.«
»Es geht allein um meine persönliche Zukunft.«
»Brauchen Sie Geld?«
»Ich würde Ihnen gerne erst einmal erzählen, was ich im Sinn habe«, sagte Lorenz.
»Mein Gott, sind Sie denn unter die Erfinder gegangen?«
»Es ist ganz undramatisch«, versicherte Lorenz.
»Warum wenden Sie sich gerade an mich, Herr Mohn?« fragte die Frau mit der Wasserstimme, die natürlich nichts von einem Wasserfall hatte. Eher reines Wasser in einem sauberen Glas. Beinahe bewegungslos.
»Man hat mir dazu geraten«, log Lorenz.
»Ach!?« sagte Montbard, wie man sagt: Die Flugangst ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Dann schwieg sie. Das Schweigen dehnte sich zur kleinen Pause. Aber es war sicher nicht so, daß Claire Montbard überlegte. Sie gehörte nicht zu denen, die nachdenken mußten. Bei ihr war das scheinbare Nachdenken bloß eine Geste an die Welt, welche Nachdenklichkeit für eine Stärke hielt, einen Prozeß des Erkennens. Dabei war es fraglos so, daß man etwas sofort erkannte oder überhaupt nicht. Denn, bitte, wie lange mußte jemand auf einen Tisch schauen, um die daraufstehende Schale zu entdecken? Wenn der Betreffende wiederum blind war, konnte er schauen, bis er tot umfiel. – Claire Montbards Entscheidung war also längst gefällt. Sie wartete noch ein wenig, dann sagte sie: »Sagen wir Montag, fünfzehn Uhr. In meinem Haus. Das ist Ihnen doch recht?«
»Wunderbar!« meinte Lorenz.
»Hat Sie denn eigentlich gar keiner vor mir gewarnt?« schickte Montbard eine Frage hinterher, wie einen kleinen Wind, der Kerzen ausbläst und Seemänner tötet.
Lorenz antwortete: »Wenn Sie erlauben, ich glaube nicht, daß Sie der Teufel sind.«
Sie lachte. Nettes Lachen. Was konnte einem ein solches Lachen sagen? Daß die Welt gar nicht so böse war, wie alle meinten? Daß die Welt vielleicht sogar noch viel schlimmer war?
Lorenz jedenfalls – der seit ein paar Stunden gerne in Strickwaren dachte – erschien dieses Lachen als ein leichtes, weißes, gehäkeltes Häubchen, das allen Gram zudeckte. Unter dem Häubchen mochte der Gram weiterkochen und weiterbrodeln, er hatte indes keine Chance. Das Häubchen war massiver als jeder Kern.
»Ich werde pünktlich sein«, sagte Lorenz. Er war voller Zuversicht.
© 2009 Piper Verlag GmbH, München
Ja, so war das mit den Bankkrediten. Und weil nun noch dazukam, daß Banken nicht jedermann in den Genuß einer solchen Buße kommen ließen, ergab sich für Lorenz Mohn – der über kein Vermögen verfügte, lediglich eine kleine Eigentumswohnung besaß – die Überlegung, ob es nicht besser sein würde, wegen eines Darlehens bei Frau Montbard vorzusprechen.
Keiner ihrer Kreditnehmer hatte sich umgebracht, keiner war in den Ruin geschlittert. Blieb allein der markante Umstand, daß auch keiner von ihnen je ein Wort über die Kreditgeberin verloren hatte, während ja umgekehrt konventionelle Schuldner ständig ihre Haßtiraden gegen die Geldinstitute und die ganze Geldwirtschaft verlautbaren.
Frau Montbard hatte einige der Filme mitproduziert, in denen Lorenz aufgetreten war. Wozu glücklicherweise nicht derjenige gehörte, dessen letzte Szene er soeben geschmissen hatte. Was allerdings kein echtes Problem darstellte, da es ja bloß um eine letzte Einstellung ging, in welcher man nicht unbedingt Lorenz’ Gesicht sehen mußte. Und auch wenn Männer das gar nicht gerne hören, muß gesagt werden, daß Schwänze lange nicht so unterschiedlich sind, wie gerne angenommen wird. Lorenz war Claire Montbard bei der einen oder anderen Party begegnet, aber sie hatten nie ein Wort miteinander gewechselt.
Wenn Lorenz jetzt daran dachte, sich ausgerechnet an diese dubiose Person wegen eines Darlehens zu wenden, dann aus zwei Gründen. Erstens vermutete er, daß eine Frau seinen Übertritt von der Pornographie zur Strickware eher verstehen würde. Und zweitens war ihm die Vorstellung einer mysteriösen Macht, die von dieser Frau ausging, lieber als das Risiko, welches sich im Falle der üblichen Kredithaie und kriminellen Geldverleiher ergab. Er fürchtete mehr das Zähneausschlagen als eine quasi metaphysische Bedrohung. Das war natürlich ein bißchen naiv, sich vor Dingen zu ängstigen, die man sah, und jene zu unterschätzen, die man nicht sah. Als wäre die unsichtbare Tiefe eines Gewässers dazu angetan, nicht unterzugehen. Doch Lorenz genehmigte sich eine solche Naivität.
Ja, er würde Claire Montbard um Geld bitten. Zuerst aber wollte er ein geeignetes Geschäftslokal finden. Und weil er das Bedürfnis hatte, soviel wie möglich an diesem einen Tag zu erledigen, zumindest die wichtigsten Entscheidungen zu treffen, marschierte er durch die Stadt, vollkommen überzeugt, daß sich ihm der einzig richtige, der einzige in Frage kommende Laden praktisch von selbst offenbaren würde, daß dieses Geschäft – gleich, was darin bisher untergebracht gewesen war – nur darum existierte, um diesem einen Zweck zu dienen: Plutos Liebe zu beherbergen.
Gerne hätte Lorenz die Augen geschlossen, um sich besser auf den unsichtbaren Faden zu konzentrieren, der ihn leitete. Leider stand diesem Ansinnen der Straßenverkehr im Wege, welcher im übrigen so gut wie jedem Ansinnen im Wege steht. Während nämlich in der Tat eine schicksalhafte Bindung zwischen Menschen und Orten gegeben ist, eine schnurartige Passage, vor allem aber auch zwischen Menschen und Menschen sowie Menschen und Tieren, bildet der Straßenverkehr eine gleichzeitig gottlose wie unnatürliche, von keiner Evolution vorausgesehene oder eingliederbare Barriere. Der Straßenverkehr ist sehr viel weniger darum so schlimm, weil er unsere Luft verpestet, sondern weil er verhindert, daß Dinge und Lebewesen zueinanderkommen, die füreinander bestimmt sind. Würde der Straßenverkehr fehlen, könnten sich jene Menschen begegnen, die gemäß einem logischen Plan sich versprochen sind und wie kosmische Brocken aufeinander zu fliegen. So aber müssen sie ständig dem Verkehr ausweichen, Umwege nehmen, mit dem Wahnsinn der Fahrer rechnen, kontrollierte Übergänge aufsuchen…oder sie sitzen selbst in einem Wagen, fabrizieren selbst die Barrieren, die ein solch fatales Unglück in ihr Leben tragen. Der Verkehr ist ein Teufelsding, viel schlimmer als der Umweltschutz und die Parkplatzjammerer meinen.
Das wußte Lorenz. Zumindest ahnte er es in diesem besonderen Moment. Rang also um höchste Konzentration. Und versuchte, nach einer jeden durch den Verkehr erzeugten Unterbrechung den Faden wieder neu aufzunehmen. Denn auch wenn ein solcher Faden unsichtbar war, so besaß er dennoch eine gewisse Spannung, eine durch den Zug zwischen A und B sich ergebende Elektrizität. Etwas, was viele Leute mit Magie verwechselten. Es gibt nichts Übernatürliches, es gibt nur Dinge, die, will man sie erkennen, ein gutes Meßgerät benötigen. Vielleicht eines, das noch gar nicht erfunden wurde.
Lorenz aber folgte auch ohne eine derartige Apparatur dem angespannten Faden, folgte der Elektrizität und tat dies mit offenen, freilich in sich geschlossenen Augen, die Beachtung des Straßenverkehrs auf ein Mindestmaß, ein Überlebensmaß reduzierend. Wobei er zwischendurch immer wieder erschöpft auf einer Bank Platz nehmen mußte oder sich gegen eine Häuserwand lehnte. Seine im Laufsport erarbeitete Ausdauer nutzte jetzt nichts. Hier war eine andere Kondition gefragt. Immerhin konnte er sich solche Pausen gönnen, da es sich bei seinem Ziel nicht um einen seinerseits bewegten, seinerseits ständig dem Verkehr ausweichenden Menschen handelte, sondern um ein still auf seinem Platz stehendes Haus.
Es war bereits spät am Nachmittag, als Lorenz im Rücken einer Kirche zu halten kam. Er befand sich im Schatten des Turms wie unter einem breiten Schiffsrumpf. Von der rechten Seite fiel rötliches Licht auf den mit Pflastersteinen ausgelegten Boden, ebenso auf die Fassaden nahtlos verbundener alter Häuser. Der Lärm des Verkehrs kam von der Vorderseite der Kirche. Hier hinten jedoch durften keine Autos fahren, es handelte sich um eine reine Zone für Fußgänger und Tauben. Man hätte also auf dieser nicht allzu langen Straße einen Faden zwischen zwei Menschen spannen können, die sich sodann kaum noch hätten verfehlen, ja die sich beim besten Willen nicht hätten ausweichen können. Aber welcher Gott wäre so gütig gewesen, zwei zusammengehörende Menschen zur gleichen Zeit in eine solche Gasse zu führen? Ein solches Gäßchen, eine Pflastersteinidylle?
Mit Häusern war es da einfacher. Lorenz erkannte es sofort, das kleine Geschäftslokal in dem mit einem kalten, grauen Rosa bestrichenen schmalen Gebäude, einem einfachen, glatten Bau, der mit erstaunlicher Kaltblütigkeit zwischen zwei historische Häuser gezwängt worden war, derart, daß man den Eindruck bekommen konnte, es handle sich um die simple Füllung einer Lücke, wie man Fugen mit Polyester füllt oder zwei Tortenteile mit einer Cremeschichte verbindet. Es war also so, daß Lorenz’ zukünftiger Laden zwar an einem verträumten, weltfernen Ort lag, aber ausgerechnet im einzigen häßlichen Gebäude der Straße. Das Lokal selbst bestand nach vorne hin aus zwei kurzen Auslagenscheiben und einer mittigen Eingangstüre, die alle in einen gemeinsamen Raum wiesen. Dieser leere Raum war nicht ganz so klein, wie es Lorenz erwartet hatte. Aber sicherlich klein genug. Ganz abgesehen davon, daß er natürlich genau die Größe besaß, die er besitzen mußte.
Dem oben auf der Fassade angebrachten Schild nach zu urteilen, war zuletzt eine Bäckerei hier ansässig gewesen. Keine von den bekannten Ketten, sondern eine Bäckerei Nix. Netter Name, dachte Lorenz. Mehr dachte er nicht. Hätte er jedoch über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen bezüglich der äußeren Zone unseres Sonnensystems Bescheid gewußt, wäre er doch sehr verblüfft gewesen ob dieses Namens. Beziehungsweise hätte er begriffen, daß sein Eindruck, an einem Faden zu diesem Lokal hingeleitet worden zu sein, mehr als ein bloßes Gefühl bedeutete. Es war nämlich so, daß die NASA – auch so eine Abkürzung, hinter der eigentlich nur eine Verschwörung stecken kann –, daß die NASA also erst im Oktober 2005 die Entdeckung zweier weiterer Plutomonde verlautbart hatte. Und daß im Juni 2006 die IAU (dieselben Mafiosi, dank derer Pluto um seinen Planetenstatus gebracht worden war) dem größeren der beiden kleinen Monde den Namen Nix gegeben hatte. Der Name bezog sich auf Nyx, die Königin der Nacht. Allerdings hieß so bereits ein Asteroid mit der Nummer 3908. (Das war, als wäre eine kleine häßliche Rauhhaardackeldame mit einer vierstelligen Steuernummer auf den Namen Madonna getauft worden, bevor noch eine nicht minder rauhhaarige amerikanische Sängerin auf diese Idee hatte kommen können.) Jedenfalls war man gezwungen gewesen, das »y« durch ein »i« zu ersetzen, um diesen Namen verwenden zu können. Worauf man keinesfalls hatte verzichten wollen, da die Göttin der Nacht auch als die Mutter von Charon fungierte, jener Charon, nach welchem Plutos größter Mond benannt war.
Wenn man nun bedachte, daß es die Bäckerei Nix gar nicht mehr gab und deren Gründung mindestens ein paar Jahre zurückliegen mußte, als niemand hatte ahnen können, daß dort oben zwei weitere Plutomonde existierten und man aus einem mythologischen Zusammenhang heraus bei der Namensgebung des einen Mondes orthographisch ein wenig würde schummeln müssen, und wenn man zudem bedachte, daß Lorenz Mohn erst kurz zuvor auf die Idee gekommen war – aber eben noch weit weg von diesem Ort –, seinen zukünftigen Kurzwarenladen Plutos Liebe zu nennen, ja dann mußte einem der Gedanke kommen, daß es so etwas wie eine ordnende Kraft gab, eine Kraft, die Zufälle hervorbrachte, die dann also gar keine Zufälle waren.
Doch wozu? Nur, weil Ordnung schöner war als Unordnung?
Oder steckte vielleicht sogar eine Bösartigkeit dahinter, ein raffiniertes Manöver, mit dem Ziel irgendeiner Zerstörung oder Demütigung?
Es war wohl besser, daß Lorenz den Nix-Nyx-Charon-Pluto- Zusammenhang nicht erkannte. – Besser für wen? Am nächsten Tag rief Lorenz einen Freund an, von dem er wußte, daß er hin und wieder mit Claire Montbard zu tun hatte. »Ich würde dir nicht empfehlen, dich mit dieser Frau einzulassen «, sagte der Freund.
»Wie?« staunte Lorenz. »Aber du hast dich doch auch mit ihr eingelassen! «
»Na, warum glaubst du, daß ich dich warne?«
»Was ist denn so schrecklich an ihr?« fragte Lorenz.
»Das kann man nicht erklären«, antwortete der Freund. »Man muß es selbst herausfinden. Oder es bleibenlassen. Wozu ich dir nur raten kann. Es ist nicht nötig, alles zu wissen.«
Lorenz ignorierte die Warnung und verlangte eine Telefonnummer. »Du denkst wohl, jeder hat ein Recht auf sein eigenes Unglück«, meinte der Freund.
Was Lorenz aber wirklich dachte, war, daß Montbards unheimlicher Ruf eine bloße Legende darstellte. Etwas, mit dem Leute, die sie kannten, ein wenig angeben konnten. Ohne etwas Konkretes in der Hand zu haben. Das Konkrete existierte einfach nicht. (Wie so häufig. Die meisten Ereignisse, die kolportiert werden, sind pure Erfindung. Würde man sich die Mühe machen und einmal nachrechnen, könnte man feststellen, daß viel Berichtetes zeitmäßig gar nicht möglich ist, etwa Politiker, welche das und das dort und dort gesagt haben sollen. Leute, die gleichzeitig bei einer Grundsteinlegung dabei sind und im Bundestag reden. Als verfügten sie über professionelle Doppelgänger.)
»Also gut«, servierte der Freund ein Seufzen. »Ich gebe dir eine Nummer, mit der du es versuchen kannst: 13 43 40.«
»Danke dir«, sagte Lorenz.
»Wofür?« Der Freund legte auf.
Sofort gab Lorenz die sechs Ziffern ein. Ein Mann meldete sich mit einem »Ja!«, welches genügend Energie besaß, um damit eine Brotschneidemaschine zu bedienen. Zumindest eine Scheibe lang. »Ich würde gerne mit Frau Montbard sprechen. Mein Name ist Lorenz Mohn.«
»Sie sind dieser Schwanzlutscher, was?«
»Nein, im Gegenteil …« Aber wozu sollte er sich einem Mann erklären, dessen subalterne Aufgabe es offensichtlich war, das Telefon zu bewachen. »Können Sie mich verbinden oder nicht?«
»Ich schaue mal …«, sagte der Mann.
Dann war eine Weile Ruhe. So eine rauschende Ruhe, wie man sich vorstellt, daß es im Weltraum tönt. Wenn das Nichts murmelt. Lorenz dachte schon, er wäre auf ewig auf ein Abstellgleis verbannt worden, als sich endlich eine Frau meldete. Sie schien Unhöflichkeit nicht nötig zu haben. Ihre Stimme besaß das Timbre von Wasser. Wasser klingt auf eine geschmeidige Weise selbstsicher und auf eine erhabene Weise rücksichtsvoll. Frau Montbard bat um Entschuldigung für die lange Wartezeit. Dann fragte sie: »Sind Sie der Lorenz Mohn vom Film?«
Das war sehr nett von ihr, es so gesagt zu haben. Lorenz antwortete:
»Bis gestern. Ich habe damit aufgehört.«
»Das ist wahrscheinlich vernünftig. Ich glaube auch nicht, daß der Pornographie die Zukunft gehört.«
»Exakt darum belästige ich Sie«, sagte Lorenz. »Einer Zukunft wegen, in der die Pornographie keine Chance hat.«
»Na, ich hoffe, Sie wollen die Zukunft nicht retten. Da müßten Sie nämlich in Hollywood anrufen.«
»Es geht allein um meine persönliche Zukunft.«
»Brauchen Sie Geld?«
»Ich würde Ihnen gerne erst einmal erzählen, was ich im Sinn habe«, sagte Lorenz.
»Mein Gott, sind Sie denn unter die Erfinder gegangen?«
»Es ist ganz undramatisch«, versicherte Lorenz.
»Warum wenden Sie sich gerade an mich, Herr Mohn?« fragte die Frau mit der Wasserstimme, die natürlich nichts von einem Wasserfall hatte. Eher reines Wasser in einem sauberen Glas. Beinahe bewegungslos.
»Man hat mir dazu geraten«, log Lorenz.
»Ach!?« sagte Montbard, wie man sagt: Die Flugangst ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Dann schwieg sie. Das Schweigen dehnte sich zur kleinen Pause. Aber es war sicher nicht so, daß Claire Montbard überlegte. Sie gehörte nicht zu denen, die nachdenken mußten. Bei ihr war das scheinbare Nachdenken bloß eine Geste an die Welt, welche Nachdenklichkeit für eine Stärke hielt, einen Prozeß des Erkennens. Dabei war es fraglos so, daß man etwas sofort erkannte oder überhaupt nicht. Denn, bitte, wie lange mußte jemand auf einen Tisch schauen, um die daraufstehende Schale zu entdecken? Wenn der Betreffende wiederum blind war, konnte er schauen, bis er tot umfiel. – Claire Montbards Entscheidung war also längst gefällt. Sie wartete noch ein wenig, dann sagte sie: »Sagen wir Montag, fünfzehn Uhr. In meinem Haus. Das ist Ihnen doch recht?«
»Wunderbar!« meinte Lorenz.
»Hat Sie denn eigentlich gar keiner vor mir gewarnt?« schickte Montbard eine Frage hinterher, wie einen kleinen Wind, der Kerzen ausbläst und Seemänner tötet.
Lorenz antwortete: »Wenn Sie erlauben, ich glaube nicht, daß Sie der Teufel sind.«
Sie lachte. Nettes Lachen. Was konnte einem ein solches Lachen sagen? Daß die Welt gar nicht so böse war, wie alle meinten? Daß die Welt vielleicht sogar noch viel schlimmer war?
Lorenz jedenfalls – der seit ein paar Stunden gerne in Strickwaren dachte – erschien dieses Lachen als ein leichtes, weißes, gehäkeltes Häubchen, das allen Gram zudeckte. Unter dem Häubchen mochte der Gram weiterkochen und weiterbrodeln, er hatte indes keine Chance. Das Häubchen war massiver als jeder Kern.
»Ich werde pünktlich sein«, sagte Lorenz. Er war voller Zuversicht.
© 2009 Piper Verlag GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von Heinrich Steinfest
Heinrich Steinfest, geb. 1961. Albury, Wien, Stuttgart das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Kriminalautors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, erhielt den Stuttgarter Krimipreis 2009 und den Heimito-von-Doderer-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heinrich Steinfest
- 2009, 422 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492053106
- ISBN-13: 9783492053105
Rezension zu „Gewitter über Pluto “
»Heinrich Steinfest zelebriert eine eiskalte Logik des Irrsinns. So skurril die Plots seiner Geschichten sind, so präzise fallen die zahllosen kleinen bösartigen und großteils extrem klug und raffiniert gesponnenen Alltagsbeobachtungen und Analysen dazwischen aus.« Der Standard »Sag einer, was er will: Steinfest ist einer der großen deutschsprachigen Schriftsteller. Und >Gewitter über Pluto< ist ein erzählerisches Glanzstück.« Hamburger Abendblatt »Wie viel Verrücktes passt auf 400 Seiten? Zum Glück viel.« # Petra »Steinfest ist mit seinem wilden Witz und seiner Tüftelfreude ein echter Volltreffer.« Brigitte »Aus Krimi und Science-Fiction, voll absurder Vergleiche und skurriler Figuren. Großartig!« Emotion
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