Gierige Bestie
Erfolg. Demütigung. Rache
Erfolg. Demütigung. Rache. Der Bestseller des Star-Profilers. Thomas Müller gilt als einer der besten Kriminalpsychologen der Welt. In seinem neuen Buch geht er anhand eines wahren Falls der Frage nach, wie und warum der Mensch am Arbeitsplatz zum...
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Buch
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Produktinformationen zu „Gierige Bestie “
Erfolg. Demütigung. Rache. Der Bestseller des Star-Profilers. Thomas Müller gilt als einer der besten Kriminalpsychologen der Welt. In seinem neuen Buch geht er anhand eines wahren Falls der Frage nach, wie und warum der Mensch am Arbeitsplatz zum Verbrecher, ja sogar zum Mörder wird und damit kein Einzelfall ist. In einer Arbeitswelt, die immer anonymer wird, stellt die so genannte Workplace Violence eine der größten Herausforderungen unserer Zeit dar.
Klappentext zu „Gierige Bestie “
Thomas Müller gilt als einer der besten Kriminalpsychologen der Welt. In seinem neuen Buch geht er anhand eines wahren Falls der Frage nach, wie und warum der Mensch am Arbeitsplatz zum Verbrecher, ja sogar zum Mörder wird und damit kein Einzelfall ist. In einer Arbeitswelt, die immer anonymer wird, stellt die so genannte Workplace Violence eine der größten Herausforderungen unserer Zeit dar.
Lese-Probe zu „Gierige Bestie “
Gierige Bestie von Thomas Müller LESEPROBE eins19. Januar 2004, Virgental/Österreich, 14.05 Uhr. In Ermangelung einer Schneebrille und halbwegs vernünftiger Handschuhe gab es nur zwei Möglichkeiten - oder eigentlich drei. Ich konnte für wenige Minuten meine Hände schützend vor das Gesicht halten, uni zwischen den kleinen Spalten hindurchzuspähen, was den Effekt hatte, dass ich nach relativ kurzer Zeit die Hände abermals in meine zu engen Hosentaschen schieben musste und dabei Gefahr lief, die schwer unterkühlten Finger glattweg abzubrechen. Ich konnte die Hände gleich in den Taschen stecken lassen und versuchen, mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenem Kragen den entgegenkommenden Eiskristallen zu trotzen, in der Hoffnung, dass sich einer dieser kleinen Flugkörper nicht direkt in mein Auge bohrte. Oder ich ging einfach rückwärts, was aufgrund der katastrophalen Sicht ohnehin fast keinen Unterschied machte.
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Es war bitterkalt und der Schnee wehte waagrecht über die Berghänge herab. Der Wind, so schien mir, blies aus allen erdenklichen Richtungen. Er strich vom Felbertauern entlang der Nordseite des Virgentals. Manchmal hatte ich das Gefühl, er kam direkt von der anderen Richtung, von den Umballfällen, und zog Richtung Matrei. Dann und wann schien es, als würde er sich ausruhen, um anschließend noch stärker aus einer nicht vorhersehbaren Richtung abermals loszuheulen. Trotzdem musste ich lächeln. Ich hatte ihn lieb gewonnen, den Wind. Er war mein Freund. Ich mochte ihn und er war ein fast ständiger Begleiter meiner unterschiedlichen Lebensphasen geworden, egal wann und wo ich mich gerade aufhielt. Vor vielen Jahren, als ich noch als junger Polizist und Student Segelflugzeuge in den frühen Vormittagsstunden über Nadelwälder lenkte, war es die Thermik, die mir so herrlich zupass kam und mich mit meinem Segelflugzeug höher und höher nach oben trieb. Später dann, als ich unbedingt Motorflugzeuge fliegen wollte, war es der Windsack, der mir anzeigte, aus welcher Richtung mein Freund blies und mir die nötigen Informationen gab, ob ich nun die 10 oder 15 Grad Klappen ausfahren musste, um die zu übende Punktlandung durchzuführen. Und nochmals Jahre später, als ich in meinem fast grenzenlosen Ehrgeiz, alles ausprobieren zu wollen, was einen Menschen in der Luft halten konnte, mit einem kleinen Helikopter durch ein paar Alpentäler donnerte, war es abermals mein Freund, der die Rotorblätter zum Knattern brachte. Er hatte mir mit den kleinen grünlich- weißen Blättern einer herrlichen Platanenallee in der Nähe einer großen Maßregelvollzugsanstalt in Nordrhein-Westfalen eine unglaubliche Symphonie gespielt. Ich hatte ihn gespürt, als er ganze Gruppen von Nadelbäumen im nördlichen Waldviertel in Österreich hin und her bog und teilweise ein so schönes Rauschen erzeugte. Ich nahm ihn wahr, als er beim Morgensport in der FBI-Akademie in Quantico im Herbst mit den Blättern spielte, und ich hörte plötzlich wieder das regelmäßige Klappern von kleinen Stahlseilen an hohen Aluminiummasten angebundener Segelschiffe in Marseille.
Der Wind ist mein Freund, man kann ihn nicht greifen und er ist in der Regel auch vollkommen lautlos. Es sind meist die Gegenstände, die er berührt, mit denen er spielt, die dann, sich bewegend, einen Klang, einen Ton, ein Rauschen, ein Pfeifen oder aber auch ein tiefes Brummen erzeugen. Das Bild, wo der Wind mit der Bibel spielte, die auf dem schlichten Holzsarg von Papst Johannes Paul II. lag, ging um die Welt und jeder, der dieses Bild sah, egal welche Sprache er sprach, ob er nun traurig oder glücklich, reich oder arm, alt oder jung war, konnte erkennen, dass es der Wind war, der hier eine kleine Botschaft hinterließ. Aber niemand konnte ihn sehen.
So mochte ich ihn auch an diesem Tage, obwohl er mir das Leben nicht leicht machte. Aber ich stemmte mich ihm entgegen und hatte dabei gleichzeitig das Gefühl - so kindlich das auch klingen mag -, dass ich nicht allein war. Mein grobes Schuhwerk versuchte Halt zu finden, was schwer war, denn die Wege waren stark vereist. Teilweise hatte mein luftiger Freund kleine Schneezungen auf der steilen Straße gezeichnet, die er dann und wann zu kleinen Wechten anwachsen ließ. Andere wiederum löschte er einfach aus und fegte die abertausend kleinen, weißen, gefrorenen Bausteinchen ziellos in die damit gänzlich bedeckten angrenzenden Felder und Wiesen. Der ansteigende Weg, der eisige Untergrund, auf dem mein Schuhwerk zurückglitt, der dicke Pullover, die schwere pelzige Kopfbedeckung, aber vor allem meine innerliche Unruhe ließen mich schwer keuchen. Ich keuchte nicht nur, sondern ich schwitzte auch, trotz der eisigen Temperaturen und abermals: Es war nicht nur die dicke Kleidung und meine fast hektisch laufende, humpelnde Bewegung, die mir das Wasser aus so vielen Poren drückte. Nein, es war geradezu eine fiebrige Wahnvorstellung, dass ich den Ort nicht finden würde. Den Ort, den hier zwar jeder kannte, aber das Ereignis, das sich dort abspielen sollte, wollte keiner so wirklich in Worte fassen. Jeder hatte eine andere Interpretation dafür. Jeder wusste ein bisschen, aber keiner wusste alles. Es muss ein Ereignis des Schreckens und des Entsetzens gewesen sein. Ein Mahnmal für jeden vernünftig denkenden Menschen, und würde das Ereignis eine Stimme, einen Ton bekommen, würde es wahrscheinlich alles übertönen. Das entsetzliche Wimmern, die flehentlichen Rufe, die jammernden, zusammenhanglosen Worte, bis schlussendlich das entsetzliche Geschrei des Opfers alles andere nur da Gewesene um das Tausendfache überstimmt. Selbst wenn mein Freund sich von der Brise zu einem kleinen Sturm und schließlich zu einem peitschenden Orkan mit jaulenden Böen emporgearbeitet hätte, er wäre machtlos gewesen gegen die Stimme des sterbenden Kindes.
Ich hatte in meiner beruflichen Tätigkeit Hunderte von Tötungsdelikten bearbeitet, analysiert, wissenschaftlich untersucht oder als Sachverständiger vor Gericht befundet und begutachtet. Vielleicht war es auch schon eine vierstellige Anzahl. Eine weitaus kleinere Anzahl von Sexualdelikten, Nötigungen, Schändungen und sexuellen Missbrauchsfällen für diverse Justizbehörden, in- oder ausländische Polizeidienststellen aus kriminalpsychologischer Sicht analysiert, um ausschließlich eine Hilfestellung für jene anderen Organe der Strafrechtspflege zu geben, die sie unter Umständen gebraucht hatten. Aber die komplexesten Fälle, die trotz der zwanghaftesten Einhaltung sämtlicher psychologischer Regeln immer noch zu den kompliziertesten und am wenigsten nachvollziehbarsten zählten, waren jene Delikte, wo sich die Täter Kinder als Opfer ausgesucht hatten. Die Schwächsten der Schwachen in der Gesellschaft. Jene, die sich am wenigsten wehren konnten. Jene, die dem diabolischen Grinsen manch Erwachsener noch freundlich gefolgt waren, weil sie es fälschlicherweise für ein Lächeln hielten. Jene, die der Täuschung und Tarnung deswegen erlegen waren, weil sie in ihrem jungen Leben noch nicht die Chance hatten, Vergleichswerte dagegenzustellen. Jene, die einfach Schmerz, Schmach und Schande über sich ergehen lassen mussten, in der Hoffnung, dass es bald vorbei wäre, um später, wenn sie als Mädchen geboren wurden, sich selbst zu schädigen, und wenn sie als Junge das Licht der Welt erblickten, im Erwachsenenalter andere zu schänden.
Denn jedes Mal, wenn ich einen derartigen Fall analysierte, war mir Folgendes klar: Wenn das Gericht ein irdisches Urteil über den Täter fällte und man für Monate oder Jahre verhinderte, dass er abermals schändete, missbrauchte, vergewaltigte oder tötete, waren dadurch gleichzeitig die Opfer, die in diesen Verfahren teilweise noch als Zeugen erschienen, mit Sicherheit für ihr Leben gezeichnet und würden ohne fremde massive Hilfe später sehr wahrscheinlich selbst zu Tätern werden. Ich war in der Tat nicht so naiv zu glauben, dass diese Form der Gewalt gegen die Schwächsten der Gesellschaft vor irgendeiner sozialen Schicht, geografischen Örtlichkeit, einer Jahreszeit oder einem kirchlichen Feiertag Halt machen würde. Aber dass eine derartig nackte Gewalt sich bis an den entlegensten Ort, an dem ich mich nunmehr befand, fortgepflanzt hatte, das war jener Punkt, der mich in den nahezu wahnhaften Zustand versetzte, dass ich so rasch wie möglich Zeuge dieser Untat werden wollte. Einmal in meinem Leben wollte ich rechtzeitig kommen, um etwas zu verhindern; einmal wollte ich es mit eigenen Augen sehen, um eingreifen zu können.
Ich hastete und quälte mich weiter, rutschte aus, fiel hin und gelangte endlich zu jener Anordnung von Holzhäusern, die man mir immer wieder genannt hatte. Die Hände waren zwischenzeitlich bläulich, weiß und rot, weil ich mich fortwährend abstützen musste. Die Fellkappe, der Kragen, meine Wimpern und auch die Bartstoppeln mit Schnee bedeckt, hastete ich zwischen den Holzhäusern hindurch. Alte übereinander geschichtete Balken, wo jeder von ihnen wahrscheinlich tausend kleine Geschichten erzählen konnte, von Sonne, Wind, Wetter, Frost, Nebel, naturfarben gegerbt, und die Menschen in ihrem Inneren schützend. Mag es am Sturm gelegen sein, an den waagrecht daherfliegenden Schnee- und Eiskristallen oder auch an der Uhrzeit, das kleine Dörfchen schien wie leer gefegt. Niemand, der sich auf die Straße gewagt hätte. Da und dort ein kleines beleuchtetes Fenster, eine rasch vorbeihuschende Gestalt, nicht zu erkennen, ob Mann oder Frau. Die scheinbaren Nebelschwaden, die sich aus den Kaminen für ein paar Meter ersichtlich zeigten, deuteten nur näherungsweise an, dass die Öfen im Inneren der Häuser ständig unter Feuer gehalten wurden, um dem Frost, der so unbarmherzig kriechenden Kälte, zumindest in ein paar Zimmerchen der alten Holzhäuser den Garaus zu machen. Ich stolperte über einen kleinen Holzsteg, der ein kleines Bächlein überquerte. Nur an manchen Stellen ließ das durchsichtige Eis erkennen, dass darunter auch tatsächlich etwas Wasser floss. Aber die Schneewechten, die sich hinter manchen Steinen bereits bildeten, waren gefährliche Vorboten für all jene, die glaubten, das Bächlein überqueren zu können, ohne den Steg benützen zu müssen. „Steig nie in den Schnee, der höher ist als die Umgebung", hieß es in jener Gegend, wo ich aufgewachsen war. „Du weißt nicht, was sich darunter verbirgt. Ein Stein, ein Hohlraum oder einfach nur lockerer Schnee." Dieser Gedanke blitzte kurz in meinem Kopf auf, als ich abermals einen steilen Anstieg nach oben hechelte.
© Rowohlt Verlag
Der Wind ist mein Freund, man kann ihn nicht greifen und er ist in der Regel auch vollkommen lautlos. Es sind meist die Gegenstände, die er berührt, mit denen er spielt, die dann, sich bewegend, einen Klang, einen Ton, ein Rauschen, ein Pfeifen oder aber auch ein tiefes Brummen erzeugen. Das Bild, wo der Wind mit der Bibel spielte, die auf dem schlichten Holzsarg von Papst Johannes Paul II. lag, ging um die Welt und jeder, der dieses Bild sah, egal welche Sprache er sprach, ob er nun traurig oder glücklich, reich oder arm, alt oder jung war, konnte erkennen, dass es der Wind war, der hier eine kleine Botschaft hinterließ. Aber niemand konnte ihn sehen.
So mochte ich ihn auch an diesem Tage, obwohl er mir das Leben nicht leicht machte. Aber ich stemmte mich ihm entgegen und hatte dabei gleichzeitig das Gefühl - so kindlich das auch klingen mag -, dass ich nicht allein war. Mein grobes Schuhwerk versuchte Halt zu finden, was schwer war, denn die Wege waren stark vereist. Teilweise hatte mein luftiger Freund kleine Schneezungen auf der steilen Straße gezeichnet, die er dann und wann zu kleinen Wechten anwachsen ließ. Andere wiederum löschte er einfach aus und fegte die abertausend kleinen, weißen, gefrorenen Bausteinchen ziellos in die damit gänzlich bedeckten angrenzenden Felder und Wiesen. Der ansteigende Weg, der eisige Untergrund, auf dem mein Schuhwerk zurückglitt, der dicke Pullover, die schwere pelzige Kopfbedeckung, aber vor allem meine innerliche Unruhe ließen mich schwer keuchen. Ich keuchte nicht nur, sondern ich schwitzte auch, trotz der eisigen Temperaturen und abermals: Es war nicht nur die dicke Kleidung und meine fast hektisch laufende, humpelnde Bewegung, die mir das Wasser aus so vielen Poren drückte. Nein, es war geradezu eine fiebrige Wahnvorstellung, dass ich den Ort nicht finden würde. Den Ort, den hier zwar jeder kannte, aber das Ereignis, das sich dort abspielen sollte, wollte keiner so wirklich in Worte fassen. Jeder hatte eine andere Interpretation dafür. Jeder wusste ein bisschen, aber keiner wusste alles. Es muss ein Ereignis des Schreckens und des Entsetzens gewesen sein. Ein Mahnmal für jeden vernünftig denkenden Menschen, und würde das Ereignis eine Stimme, einen Ton bekommen, würde es wahrscheinlich alles übertönen. Das entsetzliche Wimmern, die flehentlichen Rufe, die jammernden, zusammenhanglosen Worte, bis schlussendlich das entsetzliche Geschrei des Opfers alles andere nur da Gewesene um das Tausendfache überstimmt. Selbst wenn mein Freund sich von der Brise zu einem kleinen Sturm und schließlich zu einem peitschenden Orkan mit jaulenden Böen emporgearbeitet hätte, er wäre machtlos gewesen gegen die Stimme des sterbenden Kindes.
Ich hatte in meiner beruflichen Tätigkeit Hunderte von Tötungsdelikten bearbeitet, analysiert, wissenschaftlich untersucht oder als Sachverständiger vor Gericht befundet und begutachtet. Vielleicht war es auch schon eine vierstellige Anzahl. Eine weitaus kleinere Anzahl von Sexualdelikten, Nötigungen, Schändungen und sexuellen Missbrauchsfällen für diverse Justizbehörden, in- oder ausländische Polizeidienststellen aus kriminalpsychologischer Sicht analysiert, um ausschließlich eine Hilfestellung für jene anderen Organe der Strafrechtspflege zu geben, die sie unter Umständen gebraucht hatten. Aber die komplexesten Fälle, die trotz der zwanghaftesten Einhaltung sämtlicher psychologischer Regeln immer noch zu den kompliziertesten und am wenigsten nachvollziehbarsten zählten, waren jene Delikte, wo sich die Täter Kinder als Opfer ausgesucht hatten. Die Schwächsten der Schwachen in der Gesellschaft. Jene, die sich am wenigsten wehren konnten. Jene, die dem diabolischen Grinsen manch Erwachsener noch freundlich gefolgt waren, weil sie es fälschlicherweise für ein Lächeln hielten. Jene, die der Täuschung und Tarnung deswegen erlegen waren, weil sie in ihrem jungen Leben noch nicht die Chance hatten, Vergleichswerte dagegenzustellen. Jene, die einfach Schmerz, Schmach und Schande über sich ergehen lassen mussten, in der Hoffnung, dass es bald vorbei wäre, um später, wenn sie als Mädchen geboren wurden, sich selbst zu schädigen, und wenn sie als Junge das Licht der Welt erblickten, im Erwachsenenalter andere zu schänden.
Denn jedes Mal, wenn ich einen derartigen Fall analysierte, war mir Folgendes klar: Wenn das Gericht ein irdisches Urteil über den Täter fällte und man für Monate oder Jahre verhinderte, dass er abermals schändete, missbrauchte, vergewaltigte oder tötete, waren dadurch gleichzeitig die Opfer, die in diesen Verfahren teilweise noch als Zeugen erschienen, mit Sicherheit für ihr Leben gezeichnet und würden ohne fremde massive Hilfe später sehr wahrscheinlich selbst zu Tätern werden. Ich war in der Tat nicht so naiv zu glauben, dass diese Form der Gewalt gegen die Schwächsten der Gesellschaft vor irgendeiner sozialen Schicht, geografischen Örtlichkeit, einer Jahreszeit oder einem kirchlichen Feiertag Halt machen würde. Aber dass eine derartig nackte Gewalt sich bis an den entlegensten Ort, an dem ich mich nunmehr befand, fortgepflanzt hatte, das war jener Punkt, der mich in den nahezu wahnhaften Zustand versetzte, dass ich so rasch wie möglich Zeuge dieser Untat werden wollte. Einmal in meinem Leben wollte ich rechtzeitig kommen, um etwas zu verhindern; einmal wollte ich es mit eigenen Augen sehen, um eingreifen zu können.
Ich hastete und quälte mich weiter, rutschte aus, fiel hin und gelangte endlich zu jener Anordnung von Holzhäusern, die man mir immer wieder genannt hatte. Die Hände waren zwischenzeitlich bläulich, weiß und rot, weil ich mich fortwährend abstützen musste. Die Fellkappe, der Kragen, meine Wimpern und auch die Bartstoppeln mit Schnee bedeckt, hastete ich zwischen den Holzhäusern hindurch. Alte übereinander geschichtete Balken, wo jeder von ihnen wahrscheinlich tausend kleine Geschichten erzählen konnte, von Sonne, Wind, Wetter, Frost, Nebel, naturfarben gegerbt, und die Menschen in ihrem Inneren schützend. Mag es am Sturm gelegen sein, an den waagrecht daherfliegenden Schnee- und Eiskristallen oder auch an der Uhrzeit, das kleine Dörfchen schien wie leer gefegt. Niemand, der sich auf die Straße gewagt hätte. Da und dort ein kleines beleuchtetes Fenster, eine rasch vorbeihuschende Gestalt, nicht zu erkennen, ob Mann oder Frau. Die scheinbaren Nebelschwaden, die sich aus den Kaminen für ein paar Meter ersichtlich zeigten, deuteten nur näherungsweise an, dass die Öfen im Inneren der Häuser ständig unter Feuer gehalten wurden, um dem Frost, der so unbarmherzig kriechenden Kälte, zumindest in ein paar Zimmerchen der alten Holzhäuser den Garaus zu machen. Ich stolperte über einen kleinen Holzsteg, der ein kleines Bächlein überquerte. Nur an manchen Stellen ließ das durchsichtige Eis erkennen, dass darunter auch tatsächlich etwas Wasser floss. Aber die Schneewechten, die sich hinter manchen Steinen bereits bildeten, waren gefährliche Vorboten für all jene, die glaubten, das Bächlein überqueren zu können, ohne den Steg benützen zu müssen. „Steig nie in den Schnee, der höher ist als die Umgebung", hieß es in jener Gegend, wo ich aufgewachsen war. „Du weißt nicht, was sich darunter verbirgt. Ein Stein, ein Hohlraum oder einfach nur lockerer Schnee." Dieser Gedanke blitzte kurz in meinem Kopf auf, als ich abermals einen steilen Anstieg nach oben hechelte.
© Rowohlt Verlag
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Autoren-Porträt von Thomas Müller
Dr. Thomas Müller, verantwortlicher Aktuar bei einer Versicherungsgesellschaft, Lehrauftrag an der Uni Basel zu "Finanztheorie für Aktuare" im Jahr 2010/2011.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Müller
- 2008, 192 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499622335
- ISBN-13: 9783499622335
Rezension zu „Gierige Bestie “
Rein statistisch ist inzwischen jeder zweite Betrieb von Workplace Violence betroffen. Thomas Müller
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