Glas
Roman. Dtsch. v. Walburg Wohlleben
Sie ist neu in dem Haus. Sie kennt niemanden und niemand kennt sie. Das Fenster zum Hof ist für die junge Frau Zugang zu einer anderen Welt, einer Welt aus Glas- durch die Scheiben dringt sie ein in fremde Leben: da wohnt ein einsamer alter Mann, über ihm...
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Produktinformationen zu „Glas “
Klappentext zu „Glas “
Sie ist neu in dem Haus. Sie kennt niemanden und niemand kennt sie. Das Fenster zum Hof ist für die junge Frau Zugang zu einer anderen Welt, einer Welt aus Glas- durch die Scheiben dringt sie ein in fremde Leben: da wohnt ein einsamer alter Mann, über ihm ein heißblütiges Paar. Noch weiter oben ist ein Fenster mit dichten roten Vorhängen zu sehen, die nur manchmal von einem weißen Arm geteilt werden. Doch eines Tages muß sie feststellen, daß sie nicht nur Beobachterin ist, sondern auch Beobachtete. Von Panik ergriffen, versucht sie herauszufinden, wer sie beobachtet. Sie macht sich auf die Suche und stößt auf ein schreckliches Geheimnis.
Lese-Probe zu „Glas “
Eines Nachts läutet es plötzlich, das Telefon. Es läutet, und es ist wie ein fremdes, selbstständiges Wesen, ganz unheimlich. Sie macht Licht und sieht das Telefon an. Sie wagt nicht abzuheben.Es läutet lange, hartnäckig, es ist keine Einbildung, und schließlich hebt sie ab.
Sie greift nach dem Hörer und sagt nichts, weiß nicht, was sie sagen soll, kann etwas hören, jemanden, der am anderen Ende der Leitung einfach nur atmet. Und schweigt. Lang zieht sich die Stille hin zwischen ihrem eigenen Atmen und dem des anderen, und sie ist völlig stumm, sie kann sich gar nicht mehr erinnern, was man sagen muß, ihr fällt nichts ein, sie denkt bloß, daß dort ein lebendiger Mensch sitzt, ein Mensch, der tatsächlich lebt, am anderen Ende der Leitung.
Ein Fremder. Und dieser Fremde atmet, sie kann es hören, sie hört die Luft ein- und ausgehen in einen Körper, den sie nicht sehen kann. Diese Vorstellung lähmt sie vollends. Sie kann nichts sagen, sie kann nichts unternehmen, nicht einmal auflegen. Selbst, wenn sie es gewollt hätte. Und sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis die Verbindung am anderen Ende schließlich unterbrochen wird. Viel Zeit, glaubt sie.
In den folgenden Tagen wartet sie darauf, daß das Telefon erneut klingelt. Es begleitet sie unentwegt, bei allem, was sie unternimmt, während sie still sitzt, während sie schläft, aufwacht. Ein einziges Warten. Es ist, als wüßte sie, daß es nicht beabsichtigt war, daß es nicht die Absicht des anderen war, nichts zu sagen. Daß es nicht überlegt geschehen ist. Und daß es deshalb erneut läuten muß, das Telefon. Aber es dauert länger, als sie geglaubt hatte. Es dauert so lange, daß sie schon aufgehört hatte zu warten und daß sie eines Abends nur auf die Stille um sich herum lauscht, anstatt auf das Telefon zu horchen. Dann läutet es.
Und sie hebt ab, und anfangs ist nur dieses Atmen, das gleiche wie beim letzten Mal, so kommt es ihr vor. Selbst wenn man keinen Unterschied beim Atmen merkt, kommt es ihr so
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vor, als wäre es das gleiche wie neulich. Aber diesmal ist sie besser vorbereitet.
Sie sagt: "Hallo." Zögernd. Prüfend. Sie sagt "hallo" und lauscht. Da ist eine Veränderung beim Atmen am anderen Ende der Leitung, eine kleine Veränderung. Und schließlich hört sie ihn sprechen:
"Du läufst nachts durch die Straßen. Warum läufst du nachts durch die Straßen?"
Ein Mann. Sie glaubt, es ist eine Männerstimme, etwas heiser, schwer zu sagen, wie alt. "Wer ist da?" fragt sie.
"Du bist allein. Hast du keine Angst, allein zu sein?" "Wer ist da?" wiederholt sie.
"Du solltest Angst haben, allein zu sein. Das ist nicht gut." Sie wirft den Hörer auf die Gabel, legt die Arme um ihren Körper und wippt leicht vor und zurück. Als würde das helfen. Dann läutet es wieder. Sie hebt ab in der unwahrscheinlichen, idiotischen Hoffnung, es könnte jemand anderes sein. Hilfe. Als könnte es Hilfe sein. "Ich habe deine Nummer", sagt die Männerstimme.
Sie legt wieder auf. Es läutet. Sie schaut das Telefon an. Dann zieht sie den Stecker heraus. Aber die Stille macht sie nicht ruhiger. Sie lauert, ist abwartend. Sie geht hinaus an die Eingangstür, um nachzusehen, ob sie abgeschlossen ist. Natürlich ist sie das. Sie ist abgeschlossen, die Klinke fühlt sich unter ihren Händen aber nicht sehr stabil an. Leicht zu zerstören.
Dann geht sie zurück ins Wohnzimmer. Stellt sich ans Fenster und schaut hinaus.
Nur an einer Stelle ist Licht. In der roten Wohnung. In dem Spalt zwischen den Vorhängen, die nicht ganz zugezogen sind. Unwillkürlich tritt sie einen Schritt zurück, als könne man sie sehen, durch den schmalen Spalt hindurch. Als würde sie von dort drüben jemand beobachten.
Sie hat obenherum nur ein dünnes Unterhemd an. Aber untenherum nichts. So ist sie immer schlafen gegangen. So haben sie immer geschlafen. Sie und er. Mit verschlungenen Beinen.
Ihre langen Beine und seine noch längeren. Wie zwei Rehe im Wald. So haben sie geschlafen. So schläft sie noch immer. Sie tritt vom Fenster einen Schritt zurück. Trotzdem legt sie die Hände über ihren Unterleib. Als könne man sie sehen. Sie steht dort und starrt auf den schmalen Spalt in dem roten Vorhang und stellt sich vor, er wäre es.
Der Mann. Der Ehemann von der Frau mit dem weißen Arm, der manchmal im Spalt auftaucht. Sie hat ihn noch nie gesehen. Keinen von beiden. Hat noch nie einen Menschen in der roten Wohnung ganz gesehen. Oder ein Gesicht. Aber sie stellt sich vor, er wäre es. Er würde sich langweilen. Er würde sie beobachten, weil er sich langweilt. Daran wäre nichts Schlimmes, nichts Besonderes.
Sie stellt sich vor, die Frau wäre diesmal vor dem Mann ins Bett gegangen. Sie wäre müde gewesen, eingeschlafen. Und er hätte mit einem Mal, wider Erwarten, die Wohnung für sich allein. Die Wohnung und die Aussicht. Und er hätte dort gestanden und zu ihren Fenstern herübergeschaut. Durch den kleinen Spalt. Zu ihren Fenstern, wo jetzt schützende Gardinen davorhängen.
Und frustriert, wie er war, hat er zum Telefon gegriffen. Hat ihre Nummer gewählt. Bei ihr angerufen.
Sie stellt sich vor, daß es so war. Die Vorstellung, er wäre jetzt genau gegenüber, ist ihr unheimlich und läßt sie frösteln. Er, der anruft, wäre jetzt genau gegenüber und nicht allein wie sie, sondern mit seiner Frau, die hinter ihm im Bett schläft. Seine unschuldig schlafende Frau. Die Vorstellung ist ihr unheimlich und läßt sie frösteln. Aber er ist ungefährlich. Er würde ihr nie etwas antun, der Mann von gegenüber.
Als sie auf die roten Vorhänge schaut, hat sie den Eindruck, sie bewegten sich. Sie tritt von ihrer eigenen schützenden Gardine weiter zurück und folgt aufmerksam dem roten Vorhang, der sich jetzt etwas mehr bewegt, und fast meint sie, sie könnte ihn sehen, einen großen, dunklen Schatten hinter dem Vorhang, einen großen, viereckigen, dunklen Schatten.
Dann schimmert es weiß im Spalt. Der weiße, nackte Frauenarm, den sie früher schon gesehen hatte, erscheint erneut und zieht die Vorhänge dichter zusammen. Es ist die Frau. Dann löst sich alles au£ Alles, was sie sich vorgestellt hat. Sie weiß nicht mehr, wer es ist, der anruft. Sie weiß nicht mehr, ob sie in Gefahr ist.
Sie geht hinaus und zieht noch einmal vorsorglich an der Wohnungstür. Abgeschlossen. Danach geht sie sofort zurück ins Bett.
Aber eine einzige kleine Lampe läßt sie brennen. Damit sie nicht völlig vom Dunkel umgeben ist.
Ein paar Tage später merkt sie, daß der Stecker vom Telefon noch immer herausgezogen ist. Und da fällt ihr Blick auf die leere Steckdose in der Wand.
Mit starrem Blick auf das Telefon stöpselt sie den Stecker wieder ein, als glaubte sie, es würde wieder auf der Stelle zu läuten anfangen. Aber nichts geschieht, und nach einer Weile vergißt sie es. Vergißt diese Nacht und lebt mit der gleichen Stille, die sie erneut einhüllt wie eine schützende Decke. Solange es still ist, kann sie sich scheinbar wie im Halbschlaf bewegen, sozusagen mit halboffenen Augen, während die Seele in völliger Ruhe verweilt, ausgeschaltet. Wo sie selbst beinahe nichts anderes ist als dieser Körper, der die täglichen Handlungen ausführt, aufsteht, sich wäscht, ißt. Zum Fenster hinausschaut. Hinüber zu den anderen.
Da ist der alte Mann, dessen Beschäftigungen sich mit verzweifelter Einförmigkeit wiederholen. Mit unordentlichem, weißem Haar. Im Unterhemd, mit dunkler Brille. Als wäre es das, was ihn zusammenhält. Als existierte für ihn sonst nichts.
Oder dort die Küche, ganz ohne Gardinen, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringen. Sie und er. Sie und er, die unerträglich - sich immerfort anfassen müssen, Küsse durch die Luft schicken, oder sich einfach nur auf eine Art anschauen, wie in ständiger Sehnsucht, in ständigem Verlangen, das nie aufhört, auch wenn es gerade befriedigt wurde. Dieses Küchenfenster, das so wehtut, daß sie nur ganz selten hinübersieht, aus Versehen.
Oder das grüne Fenster, zugewachsen mit Grün, wo flinke Hände unablässig zwischen den Blättern und Ranken in Bewegung sind. Zupfen, aufrichten oder einfach nur berühren. Sie sieht niemals das Gesicht der Person, nimmt aber an, es ist das einer Frau. Mit diesen Händen, diesen flinken, sicheren, liebkosenden Händen zwischen den Blättern.
Meistens aber schaut sie zu der roten Wohnung hinüber. Zu den roten Vorhängen, die fast immer dicht zugezogen sind. So, daß sich in dem Bild plötzlich eine beinahe alarmierende Veränderung vollzieht, falls sich ihrem Blick einmal, selten zwar, etwas anderes bietet als diese dunkelrote Fläche. Sie meint, nackte Haut gesehen zu haben. Außer der des Armes. Sie meint, zwischendurch einmal größere nackte Hautpartien zu sehen. Einen Rücken. Schultern. Zu flüchtig, um zu sehen, ob es ein Mann war oder eine Frau.
Und sie ist beunruhigt. Beunruhigt, weil es nicht zu ihrem Bild dieser beiden paßt, des Ehepaares von gegenüber. Eines ganz normalen Ehepaares. In gewohnter Vertrautheit. Daß sie unbekleidet herumlaufen. Den ganzen Tag. Hinter den roten Vorhängen.
Daß er es sein könnte. Er, der Anrufer. Falls er es ist, der anruft. Daß er hinter seinem Vorhang stünde, mit dem Telefon in der Hand. Und würde zu ihrem Fenster herüberschauen. Unbekleidet. Das macht es noch schlimmer. In gewisser Weise macht es das noch schlimmer.
Sie weist den Gedanken von sich, bis sie es erneut sieht, einen weißen Körper zwischen den Vorhängen auftauchen sieht. Sie ist sich beinahe sicher, daß es diesmal eine Frau ist. War da nicht die Andeutung einer Brust? Eine Rundung? Etwas Schweres?
Und sie überlegt, daß es vielleicht nur sie ist, die Frau, die unbekleidet herumläuft. Vielleicht ist es gar nicht er. Und das macht die Sache besser, es macht es ein bißchen besser, daß sie nicht auch noch daran denken muß. An ihn, völlig nackt.
Sie sagt: "Hallo." Zögernd. Prüfend. Sie sagt "hallo" und lauscht. Da ist eine Veränderung beim Atmen am anderen Ende der Leitung, eine kleine Veränderung. Und schließlich hört sie ihn sprechen:
"Du läufst nachts durch die Straßen. Warum läufst du nachts durch die Straßen?"
Ein Mann. Sie glaubt, es ist eine Männerstimme, etwas heiser, schwer zu sagen, wie alt. "Wer ist da?" fragt sie.
"Du bist allein. Hast du keine Angst, allein zu sein?" "Wer ist da?" wiederholt sie.
"Du solltest Angst haben, allein zu sein. Das ist nicht gut." Sie wirft den Hörer auf die Gabel, legt die Arme um ihren Körper und wippt leicht vor und zurück. Als würde das helfen. Dann läutet es wieder. Sie hebt ab in der unwahrscheinlichen, idiotischen Hoffnung, es könnte jemand anderes sein. Hilfe. Als könnte es Hilfe sein. "Ich habe deine Nummer", sagt die Männerstimme.
Sie legt wieder auf. Es läutet. Sie schaut das Telefon an. Dann zieht sie den Stecker heraus. Aber die Stille macht sie nicht ruhiger. Sie lauert, ist abwartend. Sie geht hinaus an die Eingangstür, um nachzusehen, ob sie abgeschlossen ist. Natürlich ist sie das. Sie ist abgeschlossen, die Klinke fühlt sich unter ihren Händen aber nicht sehr stabil an. Leicht zu zerstören.
Dann geht sie zurück ins Wohnzimmer. Stellt sich ans Fenster und schaut hinaus.
Nur an einer Stelle ist Licht. In der roten Wohnung. In dem Spalt zwischen den Vorhängen, die nicht ganz zugezogen sind. Unwillkürlich tritt sie einen Schritt zurück, als könne man sie sehen, durch den schmalen Spalt hindurch. Als würde sie von dort drüben jemand beobachten.
Sie hat obenherum nur ein dünnes Unterhemd an. Aber untenherum nichts. So ist sie immer schlafen gegangen. So haben sie immer geschlafen. Sie und er. Mit verschlungenen Beinen.
Ihre langen Beine und seine noch längeren. Wie zwei Rehe im Wald. So haben sie geschlafen. So schläft sie noch immer. Sie tritt vom Fenster einen Schritt zurück. Trotzdem legt sie die Hände über ihren Unterleib. Als könne man sie sehen. Sie steht dort und starrt auf den schmalen Spalt in dem roten Vorhang und stellt sich vor, er wäre es.
Der Mann. Der Ehemann von der Frau mit dem weißen Arm, der manchmal im Spalt auftaucht. Sie hat ihn noch nie gesehen. Keinen von beiden. Hat noch nie einen Menschen in der roten Wohnung ganz gesehen. Oder ein Gesicht. Aber sie stellt sich vor, er wäre es. Er würde sich langweilen. Er würde sie beobachten, weil er sich langweilt. Daran wäre nichts Schlimmes, nichts Besonderes.
Sie stellt sich vor, die Frau wäre diesmal vor dem Mann ins Bett gegangen. Sie wäre müde gewesen, eingeschlafen. Und er hätte mit einem Mal, wider Erwarten, die Wohnung für sich allein. Die Wohnung und die Aussicht. Und er hätte dort gestanden und zu ihren Fenstern herübergeschaut. Durch den kleinen Spalt. Zu ihren Fenstern, wo jetzt schützende Gardinen davorhängen.
Und frustriert, wie er war, hat er zum Telefon gegriffen. Hat ihre Nummer gewählt. Bei ihr angerufen.
Sie stellt sich vor, daß es so war. Die Vorstellung, er wäre jetzt genau gegenüber, ist ihr unheimlich und läßt sie frösteln. Er, der anruft, wäre jetzt genau gegenüber und nicht allein wie sie, sondern mit seiner Frau, die hinter ihm im Bett schläft. Seine unschuldig schlafende Frau. Die Vorstellung ist ihr unheimlich und läßt sie frösteln. Aber er ist ungefährlich. Er würde ihr nie etwas antun, der Mann von gegenüber.
Als sie auf die roten Vorhänge schaut, hat sie den Eindruck, sie bewegten sich. Sie tritt von ihrer eigenen schützenden Gardine weiter zurück und folgt aufmerksam dem roten Vorhang, der sich jetzt etwas mehr bewegt, und fast meint sie, sie könnte ihn sehen, einen großen, dunklen Schatten hinter dem Vorhang, einen großen, viereckigen, dunklen Schatten.
Dann schimmert es weiß im Spalt. Der weiße, nackte Frauenarm, den sie früher schon gesehen hatte, erscheint erneut und zieht die Vorhänge dichter zusammen. Es ist die Frau. Dann löst sich alles au£ Alles, was sie sich vorgestellt hat. Sie weiß nicht mehr, wer es ist, der anruft. Sie weiß nicht mehr, ob sie in Gefahr ist.
Sie geht hinaus und zieht noch einmal vorsorglich an der Wohnungstür. Abgeschlossen. Danach geht sie sofort zurück ins Bett.
Aber eine einzige kleine Lampe läßt sie brennen. Damit sie nicht völlig vom Dunkel umgeben ist.
Ein paar Tage später merkt sie, daß der Stecker vom Telefon noch immer herausgezogen ist. Und da fällt ihr Blick auf die leere Steckdose in der Wand.
Mit starrem Blick auf das Telefon stöpselt sie den Stecker wieder ein, als glaubte sie, es würde wieder auf der Stelle zu läuten anfangen. Aber nichts geschieht, und nach einer Weile vergißt sie es. Vergißt diese Nacht und lebt mit der gleichen Stille, die sie erneut einhüllt wie eine schützende Decke. Solange es still ist, kann sie sich scheinbar wie im Halbschlaf bewegen, sozusagen mit halboffenen Augen, während die Seele in völliger Ruhe verweilt, ausgeschaltet. Wo sie selbst beinahe nichts anderes ist als dieser Körper, der die täglichen Handlungen ausführt, aufsteht, sich wäscht, ißt. Zum Fenster hinausschaut. Hinüber zu den anderen.
Da ist der alte Mann, dessen Beschäftigungen sich mit verzweifelter Einförmigkeit wiederholen. Mit unordentlichem, weißem Haar. Im Unterhemd, mit dunkler Brille. Als wäre es das, was ihn zusammenhält. Als existierte für ihn sonst nichts.
Oder dort die Küche, ganz ohne Gardinen, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringen. Sie und er. Sie und er, die unerträglich - sich immerfort anfassen müssen, Küsse durch die Luft schicken, oder sich einfach nur auf eine Art anschauen, wie in ständiger Sehnsucht, in ständigem Verlangen, das nie aufhört, auch wenn es gerade befriedigt wurde. Dieses Küchenfenster, das so wehtut, daß sie nur ganz selten hinübersieht, aus Versehen.
Oder das grüne Fenster, zugewachsen mit Grün, wo flinke Hände unablässig zwischen den Blättern und Ranken in Bewegung sind. Zupfen, aufrichten oder einfach nur berühren. Sie sieht niemals das Gesicht der Person, nimmt aber an, es ist das einer Frau. Mit diesen Händen, diesen flinken, sicheren, liebkosenden Händen zwischen den Blättern.
Meistens aber schaut sie zu der roten Wohnung hinüber. Zu den roten Vorhängen, die fast immer dicht zugezogen sind. So, daß sich in dem Bild plötzlich eine beinahe alarmierende Veränderung vollzieht, falls sich ihrem Blick einmal, selten zwar, etwas anderes bietet als diese dunkelrote Fläche. Sie meint, nackte Haut gesehen zu haben. Außer der des Armes. Sie meint, zwischendurch einmal größere nackte Hautpartien zu sehen. Einen Rücken. Schultern. Zu flüchtig, um zu sehen, ob es ein Mann war oder eine Frau.
Und sie ist beunruhigt. Beunruhigt, weil es nicht zu ihrem Bild dieser beiden paßt, des Ehepaares von gegenüber. Eines ganz normalen Ehepaares. In gewohnter Vertrautheit. Daß sie unbekleidet herumlaufen. Den ganzen Tag. Hinter den roten Vorhängen.
Daß er es sein könnte. Er, der Anrufer. Falls er es ist, der anruft. Daß er hinter seinem Vorhang stünde, mit dem Telefon in der Hand. Und würde zu ihrem Fenster herüberschauen. Unbekleidet. Das macht es noch schlimmer. In gewisser Weise macht es das noch schlimmer.
Sie weist den Gedanken von sich, bis sie es erneut sieht, einen weißen Körper zwischen den Vorhängen auftauchen sieht. Sie ist sich beinahe sicher, daß es diesmal eine Frau ist. War da nicht die Andeutung einer Brust? Eine Rundung? Etwas Schweres?
Und sie überlegt, daß es vielleicht nur sie ist, die Frau, die unbekleidet herumläuft. Vielleicht ist es gar nicht er. Und das macht die Sache besser, es macht es ein bißchen besser, daß sie nicht auch noch daran denken muß. An ihn, völlig nackt.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Juliane Preisler
- 2001, 176 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423242396
- ISBN-13: 9783423242394
Rezension zu „Glas “
"'Glas' ist so klar, so ursprünglich und so bewegend wie eine Mischung aus Hitchcock und Polanski. Der Leser ist gezwungen, den Blicken und Sehnsüchten der Frau zu folgen, wird gegen seinen Willen in das Lebensvakuum der Frau gesogen. Und was dort stattfindet, ist die geniale Transgression von Trash zu einer wirklich wüsten und schamlosen Pulp Fiction." Weekendavisen"Die außerordentlich klare, ökonomisch erzählte Geschichte aus der klaustrophobischen Perspektive einer unbekannten Frau. Sie sieht die Welt durch Glasscheiben, die sie einerseits schützen, andererseits ausschließen vom Leben. Die erotische Spannung ist hier zwischen allen Zeilen spürbar als Mischung aus Angst und verzehrender Sehnsucht. Die Sprache ist außerordentlich fein differenziert, dabei ganz einfach und unglaublich suggestiv." Jyllands-Posten
"Das Faszinierende ... an Juliane Preislers Portraits besteht darin, dass sie sich den innersten Kräften des Lebens mittels der Sprache nähert und genau dort die Leidenschaften enthüllt, wo Sprache aufhört." Christian Bundegaard in 'Fyens Stifstidende'
"Preislers Sprache wogt, atmet, weitet sich aus und zieht sich zusammen, rhythmisch pulsierend." Anne Weber Carlsen in 'Århus Stiftstidende' "Das ist einfach grausam und schön."
F. P. Jae in 'Ekstra Bladet'br>"Sie sollten dieses Buch lesen, wenn Sie sich gerne gruseln und es lieben, von einem schaurigen, fast unangenehmen Gefühl gepackt zu werden."'WDR'
Kommentar zu "Glas"
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