Große Reise ins Feuer
Große Reise ins Feuer vonSeyran Ateş
LESEPROBE
Die Geschichte meiner Eltern
Mein Großvater Ahmetwar ein richtiger kurdischer Patriarch. Er regierte über drei Ehefrauen, neunKinder und vier Schwiegertöchter. Seine ersten beiden Frauen musste erentführen, weil man sie ihm nicht freiwillig gab. Zeynep, die erste Frau,stammte aus dem Dorf Alemli, das sich in der Nähe von Nevşehir inKappadokien befindet. Die zweite Frau Seyran stammte aus Agri, aus dem Ostender Türkei. Beide Frauen waren Kurdinnen.
DieEntführung einer Frau ist in der Türkei nichts Ungewöhnliches. Auch in derMigration in Deutschland wird an dieser Tradition festgehalten. Dabei gibt eszwei Varianten: die Entführung mit Einverständnis der Braut und die Entführunggegen den Willen der Braut. «Entführung mit Einverständnis der Braut» istsprachlich nicht ganz korrekt. Stattdessen müsste es eigentlich heißen, dassdas Paar gemeinsam abgehauen ist, was einen aktiven Anteil der Braut an demGeschehen voraussetzt. So wird es in der türkisch-kurdischen Gesellschaftjedoch selten bezeichnet.
Wenn zwei Menschen sich ineinander verliebten, konntensie natürlich nicht einfach zusammen durch die Gegend laufen, damals noch vielweniger als heute. Das Leben im Dorf ließ das keinesfalls zu. Die einzigeMöglichkeit, zusammen zu sein, war zu heiraten. Und zwar mit Einverständnisder Eltern. Mein Großvater sah bei seinen ersten beiden Frauen realistischerweisekeine Chance, die Einwilligung der Brauteltern zu bekommen. Also hat er seineFrauen entführt, wenigstens hatte er deren Einverständnis.
Seinezweite Ehefrau Seyran war sogar bereits verheiratet und hatte zwei Kinder. Dahatte er also erst recht keine Aussicht auf Zustimmung von irgendeiner Seite.Während der Ehemann von Seyran beim Militär war, ließ sie sich von meinemGroßvater entführen, besser gesagt, brannte sie mit ihm durch. Die Familieihres Mannes sei sehr schlecht zu ihr gewesen, erzählte sie später, sie sei frohgewesen, dass mein Großvater sie heiraten wollte. Sie ließ ihre Kinder zurückund ging mit meinem Großvater auf und davon.
Seyranwusste, dass mein Großvater bereits verheiratet war und Kinder hatte. Siewusste auch, dass sie mit der ersten Frau zusammenleben würde. Das machte ihrnichts aus. Es war nichts Ungewöhnliches, dass ein Mann mehrere Frauen hatte,und sie schien Gefallen an meinem Opa gefunden zu haben. Das Leben mit ihm botoffensichtlich etwas Besseres als das, was sie bis dahin gehabt hatte.
MeineMutter erinnert sich mit großer Zuneigung an Seyran, sie war immer sehr gut zuihr. Auch Zeynep, die Stiefmutter meines Vaters, behandelte ihre Schwiegertochterhöchst anständig. Von dem Rest der Familie kann man das leider nicht behaupten.
MeinemGroßvater reichten irgendwann seine beiden Ehefrauen nicht aus. Er hatte einAuge auf eine Frau namens Gülperi geworfen, eine Witwe, die in unserem Dorf lebte.Er nahm Gülperi als dritte Ehefrau zu sich. Für eine Witwe war es in unseremDorf nicht einfach, allein zu leben, ohne männlichen Schutz. Durch die Heiratmit meinem Großvater konnte sie sich der Belästigung durch Männer entziehen.Deshalb stimmte Gülperi zu.
DerPatriarch entschied in dieser Frage ganz allein, ohne Rücksicht darauf, ob esden ersten beiden Frauen gefiel oder nicht. Es ist ein natürliches Recht, vondem sehr viele Männer ganz selbstverständlich Gebrauch machten und heute nochmachen.
Seyran kammit dieser Situation aber nicht besonders gut klar. Mit der ersten Frau Zeynepvertrug sie sich sehr gut. Beide Frauen liebten und respektierten einander. Alsaber die dritte Frau ins Haus kam, wurde Seyran krank. Weder mein Vater nochmeine Mutter können sagen, woran genau sie litt. Sie wissen lediglich, dasssie alle zwei Wochen Ohnmachtsanfälle hatte. Dazu kamen extreme Kopfschmerzen,verbunden mit heftigen Zuckungen am ganzen Körper und Schaum vor dem Mund. Dasklingt alles ziemlich grausam. Noch grausamer finde ich allerdings die Tatsache,dass meine Eltern offensichtlich nicht wussten, was mit ihr geschah, und dassauch niemand auf die Idee kam, sie zum Arzt zu bringen. Der Arzt war in der nächstengrößeren Ortschaft und kostete Geld. Das ist ein wesentlicher Grund, warumviele Menschen in der Türkei damals und leider heute noch früher sterben alsnötig und Jahre ihres Lebens mit Leiden ungeklärter Ursache verbringen. Sofand Seyran einen unnötig frühen Tod, der vielleicht hätte verhindert werdenkönnen. (...)
© 2003 byRowohlt - Berlin Verlag GmbH, Berlin
- Autor: Seyran Ates
- 2003, 256 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871344524
- ISBN-13: 9783871344527
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