Hart aber Hilde
"Kurzweilig und unterhaltsam."
MÜNSTERLAND ZEITUNG
Pia hat so ziemlich alles, was man als Frau eigentlich überhaupt nicht brauchen kann: Miese auf dem Konto, einen blöden Chef und zu allem Überfluss auch noch Pech...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hart aber Hilde “
"Kurzweilig und unterhaltsam."
MÜNSTERLAND ZEITUNG
Pia hat so ziemlich alles, was man als Frau eigentlich überhaupt nicht brauchen kann: Miese auf dem Konto, einen blöden Chef und zu allem Überfluss auch noch Pech mit den Männern. Ihr Leben ändern? Nichts lieber als das. Aber dann hat Pia einen Unfall, bei dem sie die ältere Dame Hilde anfährt. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Doch eigentlich ist der Unfall das Beste, was Pia passieren konnte. Denn dadurch lernt sie Hilde kennen. Und das verändert nicht nur Pias Leben - sondern ist auch der Schlüssel zu ihrem Glück.
Lese-Probe zu „Hart aber Hilde “
Hart aber Hilde von Bettina HaskampFür meine Familie
1
Felix geht es nicht gut. Er hat Flecken. Dabei bekommt
jemand wie Felix nie Flecken. Jetzt hat er verschütteten
Kaffee auf dem Hemd und sogar im Gesicht Flecken. Rote.
Neben ihm spuckt einer der Kopierer irgendeine Doktorarbeit
aus. Blatt für Blatt stapelt sich in den schon reichlich
vollen Fächern. Felix guckt nicht hin. Er starrt mich
an. Aber nicht, weil ich so besonders gut aussehe. Felix hat
einen Copyshop und ist mein Teilzeitchef. Jedenfalls war er
das bis heute.
Es ist kurz nach sechs Uhr abends. Durch den Schleier
der Tränen in meinen Augen sehe ich undeutlich letzte
Kunden den kleinen Supermarkt gegenüber verlassen, während
der Lehrling mit dem Schlüssel neben der Tür steht
und von einem Bein aufs andere tritt. Normalerweise hätte
Felix auch unseren Laden um Punkt sechs abgeschlossen,
aber er ist im Moment wirklich nicht er selbst.
Und schuld bin ich. Pia Hartmann. Die Frau, auf die man
sich nicht verlassen kann.
... mehr
Dabei war der Tag bis um 14.14 Uhr völlig in Ordnung. Ich
würde sogar sagen, dass dieser Dienstag alle Anlagen hatte,
einer der besseren Tage in meinem Leben zu werden. Es
war ein freier Tag. Ich musste nicht in den Blumenladen,
wo mein anderer Chef zwischen zwei Grabkränzen gern
versucht, seine klebrigen Finger in die Nähe meiner Brüste
zu bringen. Ich konnte ausschlafen. Gegen zehn brachte
mir mein Sohn Niklas Kaffee ans Bett. Er kann ein echter
Schatz sein, wenn er will. Seit er siebzehn geworden ist, will
er allerdings selten. Niklas lächelte, und auch das war ungewöhnlich.
Ich glaube, dass Niklas den düsteren Gesichtsausdruck,
mit dem er durchs Leben schleicht, vor dem
Spiegel übt, weil so ein blasses Weltuntergangsgesicht deutlich
besser zu seiner vollständig schwarzen Kluft und dem
silbernen Totenschädel auf seinem T-Shirt passt als Grübchen.
Und natürlich auch zu seiner Rolle als Frontsänger
einer Metalband mit dem klangvollen Namen »Black Zombies
«. Nach meiner Schätzung sah ich ihn heute Vormittag
zum ersten Mal seit mindestens drei Wochen lächeln. Aus
der Tasse stieg verführerisch der Kaffeeduft auf. Ich nahm
sie ihm ab und lächelte auch. »Danke, mein Kleiner.«
Falscher Text. Das Lächeln verschwand so schnell wie
ein nervöser Schmetterling, und zurück blieb der finstere
Rocker. »Hab heute Probe, kann spät werden«, brummte
mein zweifelsohne großer Sohn - wenn er so weiterwächst,
kriegt er bestimmt bald ein Angebot für die Basketball-
Nationalmannschaft. Aber für mich ist er nun mal mein
Kleiner. Ich muss nur noch lernen, ihn nicht mehr so zu
nennen.
Im Bad zeigte die Waage ein Kilo weniger an als gestern.
So ein kleines fehlendes Kilo kann einer Frau, die ständig
mit ihrem Gewicht zu kämpfen hat, schon ganz allein die
Laune versüßen.
An Tagen wie diesem jogge ich in Rosa, weil ich fest
daran glaube, in Zukunft noch viel mehr solche süßen Tage
zu erleben. Rosa ist eine so optimistische Farbe. Rein theoretisch
hätte ich mal eben um unseren See mit dem grandiosen
Namen Zwischenahner Meer laufen können, aber
für die knapp vierzehn Kilometer reichte meine Kondition
denn doch noch nicht. Ich denke, dass ich immerhin drei
oder vier Kilometer schaffte, ehe ich schnaufend auf ein
Stück Wiese am Wasser sank. Ich war allein mit den Segelbooten,
die langsam über das ruhige Wasser glitten. Schön.
Und weil der Tag so herrlich, so sonnig, so vollkommen war,
gedachte ich ihn noch ein Weilchen zu genießen.
Ich lag im Gras, hielt die Nase in den Wind, schnupperte
dem Duft einer Vanilleblume nach, die irgendwo in der
Nähe blühen musste, und malte mir wunderbare Dinge aus.
Ein großer wunderschöner Mann und ich auf einer Yacht.
Leichte Winde bringen uns von einer Palmeninsel zur
nächsten, langsam versinkt die selbstverständlich perfekt
rote Sonne im Meer. Mein blonder Held bringt mir einen
Sundowner ... Irgendwann wurde mir bewusst, dass mein
aktueller Lover Charlie mir bestenfalls in seinem rostigen
Golf einen Joint anbieten würde. Na ja.
Für den Augenblick hätte es mir schon gereicht, die
Stelle zu bekommen, auf die ich mich beworben hatte.
Heute um fünfzehn Uhr war das Vorstellungsgespräch. Nie
mehr bei Blumen-Schmidt »'n bisschen was mit Schleier-
kraut für fünf Euro« binden, sondern bei »Art de fleurs«
floristische Kunstwerke kreieren. Kein widerlicher Grab-
scher mehr, stattdessen ein schönes Ambiente. Vielleicht
zahlte der Laden ja sogar so gut, dass ich nicht mehr drei
Jobs machen musste, um über die Runden zu kommen.
Gott, war die Sonne warm und angenehm. Eine vorwitzige
Drossel pickte neben meinem rechten Arm nach Würmern,
und ich sah ihr zu, bis mir die Augen zufielen. Mein
Zug fuhr um 14.13 Uhr.
Um 14.14 Uhr stand ich hechelnd und schwitzend am Gleis
und starrte den Schlussleuchten nach.
Um 14.18 Uhr stand ich hechelnd und schwitzend vor
Felix. Obwohl nicht Samstag war.
»Du weißt genau, dass ich den Chrysler PT Cruiser Limited
2.4 nicht verleihe!«
»Felix, bitte, das ist ein Notfall! Ich muss den neuen Job
haben, und der Zug ist weg; ich schaff das nicht ohne Auto!«
Felix nennt sein Heiligtum stets beim vollen Namen. Für
ihn ist das kein Auto, sondern sein bester Freund. Ich habe
Felix im Verdacht, dass er in seinem Chrysler PT Cruiser
Limited 2.4 gelegentlich sogar schläft. Gesichert ist, dass er
ihn jeden Morgen und jeden Abend durch die Waschanlage
fährt.
»Frag jemand anderen.«
»Felix, ich kann jetzt so schnell kein anderes Auto auftreiben.«
Dies war nicht der rechte Moment, ihn wissen zu lassen,
dass ich gerade keinen gültigen Führerschein hatte, weil
ich vor ein paar Wochen mit dem Wagen von Freundin Eva
über eine rote Ampel gebraust und geblitzt worden war.
»Bitte! Felix, du bist jetzt echt meine einzige Hoffnung,
nun komm schon. Das ist so, als wärst du endlich zu ›Wer
wird Millionär‹ eingeladen, und dann sperren sie direkt vor
dir die Autobahn für die nächsten sechs Stunden.«
»Ich fahre bereits am Vortag nach Köln, wenn es so
weit ist. Im Gegensatz zu dir, Pia, bin ich ein umsichtiger
Mensch. Mir passiert so etwas nicht.«
Es gibt Leute, die sagen, dass meine Augen ein ganz besonderes
Blau bekommen, wenn ich etwas wirklich haben
will. Ein Blau wie das von dunklen Kornblumen, aber mit
glitzernden Pünktchen darin. Und dass mein eher kleiner
draller Körper dann größer wird.
Ich glitzerte Felix, diesen Spießer, fast auf Augenhöhe an.
»Du hast ja recht, ich werde mich bessern, bestimmt,
aber bitte hilf mir dieses eine Mal! Um sechs sind der Chrysler
PT Cruiser Limited 2.4 und ich wieder hier. Pünktlich.
Und ohne die allerkleinste Schramme. Du kannst dich auf
mich verlassen - bitte!«
»Wer sich auf dich verlässt, ist verlassen, aber - na gut!«,
seufzte Felix geschlagen und gab mir den Schlüssel. Hah!
14.30 Uhr. Eine halbe Stunde, um nach Oldenburg zu
fahren, einen Parkplatz zu finden und zu »Art de fleurs«
zu laufen. Das konnte ich schaffen. Der Chrysler stand nur
drei Straßen entfernt vom Copyshop. Das ist einer der Vorteile,
wenn man in einem kleinen Ort lebt; alles ist so schön
nah beieinander. Vom Bahnhof zu Felix zum Beispiel sind es
zu Fuß nur drei Minuten.
Den Wagen aufschließen. Vorsichtig auf den Sitz gleiten,
sonst knittert der Rock. Anschnallen, durchatmen. Ganz
ruhig jetzt, Pia, du hast Zeit. Komm erst mal runter. Ich ließ
mich ins Polster sinken und schloss für einen Moment die
Augen. Felix hatte nicht ganz unrecht. Ein bisschen mehr
Planung, ein bisschen weniger Chaos in meinem Leben
wären nicht schlecht. Ich sollte mich ändern. Grundsätzlich.
Meine Schulden loswerden, nicht mehr von Job zu Job
hetzen, im Lotto gewinnen, sobald ich mir ein Los leisten
konnte, einen netten soliden Mann finden - das würde
auch Niklas guttun. Es musste ja nicht gerade ein Felix
sein. Aber ein fleckenfreies Leben wäre doch schön. Mit
einem Lehrer vielleicht, so einem richtigen Vorbild mit geregeltem
Einkommen. Jedenfalls nicht mit einem Loser wie
Charlie. Vielleicht zahlte mir die Krankenkasse eine Therapie,
in der ich lernte, mir nicht immer die falschen Männer
auszusuchen. Oder die falschen Entscheidungen zu treffen.
Ich musste lachen und machte die Augen wieder auf. Mein
Blick fiel auf die Uhr. Oh verdammt. Jetzt aber los.
Den Spiegel einstellen, nach hinten gucken. Kann man
den Sitz höherstellen? Keine Ahnung. Warum bin ich bloß
so klein? Es muss auch so gehen.
Motor anlassen, kuppeln, Rückwärtsgang einlegen, Kupplung
kommen lassen. Oh, die kommt aber schnell.
Buummpf.
Es war kein angemessenes Geräusch für eine Katastrophe.
Natürlich nicht. Ich war schließlich nur irgendwo angestoßen.
Wer würde da gleich von einer Katastrophe reden?
Trotzdem war ich im selben Moment, als das Geräusch erklang,
wie schockgefrostet. Es waren höchstens zwei, drei
Sekunden, in denen ich mich nicht rühren konnte, aber es
waren Sekunden, die ein Jahr dauerten. Und in denen mir
ein tobender Felix erschien.
Auf dem Bürgersteig gestikulierten aufgeregt Leute. Das
wunderte mich, die konnten doch wohl nicht alle meinen
Chef und dessen Auto kennen? Schließlich stieg ich
aus und ging langsam und angespannt um den schwarzen
Mittelpunkt von Felix' Leben herum. Erst einmal um den
Kühler, auch wenn das hässliche Geräusch von hinten gekommen
war. Ich versuchte mich zu beruhigen. Sooo doll
hatte es ja nicht geknallt. Sooo doll konnte der Schaden
gar nicht sein. Felix würde mich schon nicht umbringen.
Als ich das Heck des Wagens erreichte, sah ich sie.
Zwei magere Beine. Sie ragten hinter dem Auto hervor.
Magere Beine mit einem schuhlosen Fuß und einem, an
dem ein edler dunkelblauer Pumps steckte. Oh Gott! Die
Beine gehörten zu einem kleinen Körper, der erschütternd
still hinter dem Auto auf dem Pflaster lag.
Spontan verließ mein Magen seinen angestammten Platz
und hüpfte mir in die Kehle, während sich mein Kreislauf
in Richtung Keller verabschiedete. Es fehlte nicht viel, und
ich wäre gleich neben dem blauen Pumps auf die Straße gekippt.
Ich hatte schreckliche Angst. Um mich herum laute,
aufgeregte Stimmen. »Hat wer einen Krankenwagen gerufen?
« - »Kommt!« Langsam sank ich neben der Frau auf
die Knie. Sie kam mir so winzig und zerbrechlich vor wie
ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen.
»Hallo, hallo, können Sie mich hören?« Ich schaffte nur
ein heiseres Flüstern. »Hallo, haben Sie Schmerzen? Hallo?
Bitte, nicht bewegen!«
Dabei wünschte ich mir nichts mehr, als dass sich dieser
viel zu ruhige kleine Körper bewegen möge. Neben der Frau
lag eine umgekippte Gehhilfe - eines von diesen Wägelchen
mit Sitz, die bei uns wegen der vielen Senioren schon
zum Stadtbild gehören.
Offenbar hatte ich nicht einfach jemanden umgefahren,
nein, ich hatte ein armes gehbehindertes Mütterlein niedergemacht.
Da kann man mal sehen, was dabei herauskommt, wenn
ich mein Leben ändern will.
Die mageren Beine begannen zu zucken. Ich sah, wie sich
der schuhlose Fuß leicht hob, hörte ein leises Stöhnen. Die
Frau kam zu sich. Gott sei Dank.
Die Augenlider in ihrem grauen Gesicht, in dem die rosafarben
geschminkten Lippen wie eine zu hell geratene
Wunde wirkten, begannen zu flattern. Die Frau hob den
Kopf ein bisschen und sah erst mich an, dann die anderen
Menschen auf dem Bürgersteig. Sah sie uns wirklich? Mir
kam ihr Blick irgendwie milchig vor. Ich hatte lange keinem
alten Menschen mehr in die Augen gesehen. War das normal?
Oder war sie mit dem Kopf aufgeschlagen? Es war kein
Blut zu sehen, doch das musste nichts heißen.
Der milchige Blick richtete sich wieder auf mich und
wurde klarer. Und dann, ich konnte es nicht glauben, lächelte
die Alte mich an. Ein winziges Lächeln nur, aber ich
schwöre, es war da. Ich hörte eine weiche Stimme murmeln:
»Nun machen Sie doch nicht so ein Aufhebens um
mich!«
Sie konnte sprechen! Sie klang ganz normal! Vor lauter
Erleichterung fing ich fast an zu heulen, riss mich aber zusammen
und lächelte auch. »Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte
ich leise, »gleich kommt der Krankenwagen, alles wird wieder
gut, bestimmt wird alles wieder gut, es tut mir so leid.«
Fünf Minuten später war der Krankenwagen da, Sanitäter
schnallten die alte Frau auf eine Trage. Sie ließ sich alles
klaglos gefallen. Dann verschwand die Trage im Inneren
des Krankenwagens, und die Tür schlug vor meinen Augen
zu.
Hinter mir hörte ich eine tiefe Stimme: »Sind Sie die
Fahrerin des Wagens?« Ich drehte mich um und sah mich
einem dunkelblau gekleideten Mann mit Mütze gegenüber.
Sein Gesicht strahlte die Freundlichkeit eines Vampirs aus -
eines Vampirs kurz vor dem ersten Biss nach siebzig durstigen
Jahren. Er nahm mich mit auf die Wache.
Ein paar Minuten vor sechs war ich wieder bei Felix. Immerhin
pünktlich. Felix wurde auch erst nervös, nachdem
ich mit dem Klassiker »Ich muss dir was sagen!« raus
rückte.
»Der Chrysler PT Cruiser Limited 2.4?«
Ich konnte nur nicken. Das war der Moment, in dem der
Kaffee auf Felix' Hemd landete. Und in dem sein Gesicht
blass wurde. Die roten Flecken kamen, als ich anfing zu
weinen. Ach was, zu weinen. Ich schluchzte wie Michael
Jacksons größter Fan bei dessen Beerdigung.
Felix starrt mich immer noch an, während der Kopierer
weiter Papier um Papier auswirft.
»So schlimm?« Seine Stimme klingt erstickt.
»Schlimmer! Ich hab jemanden umgefahren! Und ich
hab doch gerade keinen Führerschein!«
Ich bin mir selbst peinlich, aber ich kann nicht richtig
reden, nur zwischen Schluchzern Sätze ausstoßen. »Und
der Polizist hat gesagt, das wird teuer, und ich kriege wahrscheinlich
einen Prozess.«
»Du hast jemanden umgefahren?«
Felix steht da wie ein Salzteigmännchen, dem jemand
ungeschickt rote Bäckchen gemalt hat.
»Hmmmmh.« Noch mehr Tränen. »Die Frau liegt im
Krankenhaus, oh Gott, Felix, es ist so furchtbar.«
Ich kann überhaupt nicht aufhören mit der Heulerei. Die
ganze Zeit bei der Polizei habe ich mich zusammengerissen,
aber jetzt ist es vorbei mit der Selbstbeherrschung.
»Lebensgefährlich?«
»Was?«
»Ist die Frau lebensgefährlich verletzt?«
»Nnnneiin, sie hat einen Schock und wahrscheinlich einen
gebrochenen Arm.«
»Und der Chrysler PT Cruiser Limited 2.4?«
»Weiß nicht so genau, ein paar Beulen am Heck. Du
kannst ihn morgen abholen.«
Der soll mir jetzt bloß nicht mit seinem blöden Auto
kommen. Ich habe größere Sorgen. Und ich brauche dringend
jemanden, der mich tröstet, aber ganz bestimmt niemanden,
der mir Vorwürfe macht. Das kann ich schon
selbst. »Hast du ein Taschentuch?« - »Ja klar, warte - hier.«
Er zieht ein gefaltetes Stofftaschentuch aus der Tasche. Ich
wusste gar nicht, dass es noch Leute gibt, die so was benutzen.
Er gibt es mir, räuspert sich und sagt: »Nun beruhige
dich mal, das kommt schon alles wieder ins Lot.« Ich kann
sehen, dass ihn dieser Satz richtig Kraft kostet. Sieh an,
mein Chef hat ein Herz. »Wir reden morgen über alles«,
sagt er jetzt. »Geh erst mal nach Hause, mach dir einen
Tee, und morgen ist ein neuer Tag.« Nicht sehr originell,
der Gute, aber das ist wirklich lieb von ihm. Unbeholfen
nimmt er mich sogar kurz in den Arm und schiebt mich zur
Tür.
Ich weiß, die Glücksforschung hat gezeigt, dass es besser
ist, sich an einem kleinen Moment des Glücks zu freuen,
als sich wegen der restlichen dreiundzwanzig Stunden und
neunundfünfzig Minuten des Tages zu grämen. Ich sollte
mich also ganz auf die Sekunden konzentrieren, in denen
ich Felix' Deo in der Nase hatte. An gewöhnlichen Tagen
bin ich gut in so was. Positives Denken ist sozusagen meine
zweite Natur. Alle meine Freunde würden jederzeit bestätigen,
dass ich auch im größten Schlamassel noch lächeln
und einen Witz reißen kann.
Aber nicht heute. Heute kann ich nur an die Frau im
Krankenhaus denken und daran, dass es morgen, wenn Felix
seinen Chrysler abholt, mit seiner Gelassenheit vorbei
sein wird. Und dann ist mein Samstagsjob Vergangenheit.
Das Glück ist sowieso für andere Leute erfunden worden.
Mit dem schlurfenden Gang einer Achtzigjährigen gehe
ich durch die halbherzige Fußgängerzone unseres Ortes, in
der es Parkplätze gibt und durch die Autos im Schneckentempo
fahren dürfen. Über das Kopfsteinpflaster rumpeln,
noch langsamer als die Autos, mindestens zehn Gehhilfen.
Alte Frauen und Männer schieben ihre Einkäufchen durch
die Abendsonne zur Seniorenresidenz. Mein müdes Schlurfen
fällt hier gar nicht auf. Das Heim liegt gleich am Ende
der verkehrsberuhigten Zone. Wenigstens führt mein Weg
nach Hause nicht daran vorbei.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe
© 2010 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Erschienen im Marion von Schröder Verlag
Umschlaggestaltung: Alexandra Dohse, www.grafikkiosk.de, München
Umschlagmotiv: © Gerhard Glück
Gesamtherstellung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-802-9
Dabei war der Tag bis um 14.14 Uhr völlig in Ordnung. Ich
würde sogar sagen, dass dieser Dienstag alle Anlagen hatte,
einer der besseren Tage in meinem Leben zu werden. Es
war ein freier Tag. Ich musste nicht in den Blumenladen,
wo mein anderer Chef zwischen zwei Grabkränzen gern
versucht, seine klebrigen Finger in die Nähe meiner Brüste
zu bringen. Ich konnte ausschlafen. Gegen zehn brachte
mir mein Sohn Niklas Kaffee ans Bett. Er kann ein echter
Schatz sein, wenn er will. Seit er siebzehn geworden ist, will
er allerdings selten. Niklas lächelte, und auch das war ungewöhnlich.
Ich glaube, dass Niklas den düsteren Gesichtsausdruck,
mit dem er durchs Leben schleicht, vor dem
Spiegel übt, weil so ein blasses Weltuntergangsgesicht deutlich
besser zu seiner vollständig schwarzen Kluft und dem
silbernen Totenschädel auf seinem T-Shirt passt als Grübchen.
Und natürlich auch zu seiner Rolle als Frontsänger
einer Metalband mit dem klangvollen Namen »Black Zombies
«. Nach meiner Schätzung sah ich ihn heute Vormittag
zum ersten Mal seit mindestens drei Wochen lächeln. Aus
der Tasse stieg verführerisch der Kaffeeduft auf. Ich nahm
sie ihm ab und lächelte auch. »Danke, mein Kleiner.«
Falscher Text. Das Lächeln verschwand so schnell wie
ein nervöser Schmetterling, und zurück blieb der finstere
Rocker. »Hab heute Probe, kann spät werden«, brummte
mein zweifelsohne großer Sohn - wenn er so weiterwächst,
kriegt er bestimmt bald ein Angebot für die Basketball-
Nationalmannschaft. Aber für mich ist er nun mal mein
Kleiner. Ich muss nur noch lernen, ihn nicht mehr so zu
nennen.
Im Bad zeigte die Waage ein Kilo weniger an als gestern.
So ein kleines fehlendes Kilo kann einer Frau, die ständig
mit ihrem Gewicht zu kämpfen hat, schon ganz allein die
Laune versüßen.
An Tagen wie diesem jogge ich in Rosa, weil ich fest
daran glaube, in Zukunft noch viel mehr solche süßen Tage
zu erleben. Rosa ist eine so optimistische Farbe. Rein theoretisch
hätte ich mal eben um unseren See mit dem grandiosen
Namen Zwischenahner Meer laufen können, aber
für die knapp vierzehn Kilometer reichte meine Kondition
denn doch noch nicht. Ich denke, dass ich immerhin drei
oder vier Kilometer schaffte, ehe ich schnaufend auf ein
Stück Wiese am Wasser sank. Ich war allein mit den Segelbooten,
die langsam über das ruhige Wasser glitten. Schön.
Und weil der Tag so herrlich, so sonnig, so vollkommen war,
gedachte ich ihn noch ein Weilchen zu genießen.
Ich lag im Gras, hielt die Nase in den Wind, schnupperte
dem Duft einer Vanilleblume nach, die irgendwo in der
Nähe blühen musste, und malte mir wunderbare Dinge aus.
Ein großer wunderschöner Mann und ich auf einer Yacht.
Leichte Winde bringen uns von einer Palmeninsel zur
nächsten, langsam versinkt die selbstverständlich perfekt
rote Sonne im Meer. Mein blonder Held bringt mir einen
Sundowner ... Irgendwann wurde mir bewusst, dass mein
aktueller Lover Charlie mir bestenfalls in seinem rostigen
Golf einen Joint anbieten würde. Na ja.
Für den Augenblick hätte es mir schon gereicht, die
Stelle zu bekommen, auf die ich mich beworben hatte.
Heute um fünfzehn Uhr war das Vorstellungsgespräch. Nie
mehr bei Blumen-Schmidt »'n bisschen was mit Schleier-
kraut für fünf Euro« binden, sondern bei »Art de fleurs«
floristische Kunstwerke kreieren. Kein widerlicher Grab-
scher mehr, stattdessen ein schönes Ambiente. Vielleicht
zahlte der Laden ja sogar so gut, dass ich nicht mehr drei
Jobs machen musste, um über die Runden zu kommen.
Gott, war die Sonne warm und angenehm. Eine vorwitzige
Drossel pickte neben meinem rechten Arm nach Würmern,
und ich sah ihr zu, bis mir die Augen zufielen. Mein
Zug fuhr um 14.13 Uhr.
Um 14.14 Uhr stand ich hechelnd und schwitzend am Gleis
und starrte den Schlussleuchten nach.
Um 14.18 Uhr stand ich hechelnd und schwitzend vor
Felix. Obwohl nicht Samstag war.
»Du weißt genau, dass ich den Chrysler PT Cruiser Limited
2.4 nicht verleihe!«
»Felix, bitte, das ist ein Notfall! Ich muss den neuen Job
haben, und der Zug ist weg; ich schaff das nicht ohne Auto!«
Felix nennt sein Heiligtum stets beim vollen Namen. Für
ihn ist das kein Auto, sondern sein bester Freund. Ich habe
Felix im Verdacht, dass er in seinem Chrysler PT Cruiser
Limited 2.4 gelegentlich sogar schläft. Gesichert ist, dass er
ihn jeden Morgen und jeden Abend durch die Waschanlage
fährt.
»Frag jemand anderen.«
»Felix, ich kann jetzt so schnell kein anderes Auto auftreiben.«
Dies war nicht der rechte Moment, ihn wissen zu lassen,
dass ich gerade keinen gültigen Führerschein hatte, weil
ich vor ein paar Wochen mit dem Wagen von Freundin Eva
über eine rote Ampel gebraust und geblitzt worden war.
»Bitte! Felix, du bist jetzt echt meine einzige Hoffnung,
nun komm schon. Das ist so, als wärst du endlich zu ›Wer
wird Millionär‹ eingeladen, und dann sperren sie direkt vor
dir die Autobahn für die nächsten sechs Stunden.«
»Ich fahre bereits am Vortag nach Köln, wenn es so
weit ist. Im Gegensatz zu dir, Pia, bin ich ein umsichtiger
Mensch. Mir passiert so etwas nicht.«
Es gibt Leute, die sagen, dass meine Augen ein ganz besonderes
Blau bekommen, wenn ich etwas wirklich haben
will. Ein Blau wie das von dunklen Kornblumen, aber mit
glitzernden Pünktchen darin. Und dass mein eher kleiner
draller Körper dann größer wird.
Ich glitzerte Felix, diesen Spießer, fast auf Augenhöhe an.
»Du hast ja recht, ich werde mich bessern, bestimmt,
aber bitte hilf mir dieses eine Mal! Um sechs sind der Chrysler
PT Cruiser Limited 2.4 und ich wieder hier. Pünktlich.
Und ohne die allerkleinste Schramme. Du kannst dich auf
mich verlassen - bitte!«
»Wer sich auf dich verlässt, ist verlassen, aber - na gut!«,
seufzte Felix geschlagen und gab mir den Schlüssel. Hah!
14.30 Uhr. Eine halbe Stunde, um nach Oldenburg zu
fahren, einen Parkplatz zu finden und zu »Art de fleurs«
zu laufen. Das konnte ich schaffen. Der Chrysler stand nur
drei Straßen entfernt vom Copyshop. Das ist einer der Vorteile,
wenn man in einem kleinen Ort lebt; alles ist so schön
nah beieinander. Vom Bahnhof zu Felix zum Beispiel sind es
zu Fuß nur drei Minuten.
Den Wagen aufschließen. Vorsichtig auf den Sitz gleiten,
sonst knittert der Rock. Anschnallen, durchatmen. Ganz
ruhig jetzt, Pia, du hast Zeit. Komm erst mal runter. Ich ließ
mich ins Polster sinken und schloss für einen Moment die
Augen. Felix hatte nicht ganz unrecht. Ein bisschen mehr
Planung, ein bisschen weniger Chaos in meinem Leben
wären nicht schlecht. Ich sollte mich ändern. Grundsätzlich.
Meine Schulden loswerden, nicht mehr von Job zu Job
hetzen, im Lotto gewinnen, sobald ich mir ein Los leisten
konnte, einen netten soliden Mann finden - das würde
auch Niklas guttun. Es musste ja nicht gerade ein Felix
sein. Aber ein fleckenfreies Leben wäre doch schön. Mit
einem Lehrer vielleicht, so einem richtigen Vorbild mit geregeltem
Einkommen. Jedenfalls nicht mit einem Loser wie
Charlie. Vielleicht zahlte mir die Krankenkasse eine Therapie,
in der ich lernte, mir nicht immer die falschen Männer
auszusuchen. Oder die falschen Entscheidungen zu treffen.
Ich musste lachen und machte die Augen wieder auf. Mein
Blick fiel auf die Uhr. Oh verdammt. Jetzt aber los.
Den Spiegel einstellen, nach hinten gucken. Kann man
den Sitz höherstellen? Keine Ahnung. Warum bin ich bloß
so klein? Es muss auch so gehen.
Motor anlassen, kuppeln, Rückwärtsgang einlegen, Kupplung
kommen lassen. Oh, die kommt aber schnell.
Buummpf.
Es war kein angemessenes Geräusch für eine Katastrophe.
Natürlich nicht. Ich war schließlich nur irgendwo angestoßen.
Wer würde da gleich von einer Katastrophe reden?
Trotzdem war ich im selben Moment, als das Geräusch erklang,
wie schockgefrostet. Es waren höchstens zwei, drei
Sekunden, in denen ich mich nicht rühren konnte, aber es
waren Sekunden, die ein Jahr dauerten. Und in denen mir
ein tobender Felix erschien.
Auf dem Bürgersteig gestikulierten aufgeregt Leute. Das
wunderte mich, die konnten doch wohl nicht alle meinen
Chef und dessen Auto kennen? Schließlich stieg ich
aus und ging langsam und angespannt um den schwarzen
Mittelpunkt von Felix' Leben herum. Erst einmal um den
Kühler, auch wenn das hässliche Geräusch von hinten gekommen
war. Ich versuchte mich zu beruhigen. Sooo doll
hatte es ja nicht geknallt. Sooo doll konnte der Schaden
gar nicht sein. Felix würde mich schon nicht umbringen.
Als ich das Heck des Wagens erreichte, sah ich sie.
Zwei magere Beine. Sie ragten hinter dem Auto hervor.
Magere Beine mit einem schuhlosen Fuß und einem, an
dem ein edler dunkelblauer Pumps steckte. Oh Gott! Die
Beine gehörten zu einem kleinen Körper, der erschütternd
still hinter dem Auto auf dem Pflaster lag.
Spontan verließ mein Magen seinen angestammten Platz
und hüpfte mir in die Kehle, während sich mein Kreislauf
in Richtung Keller verabschiedete. Es fehlte nicht viel, und
ich wäre gleich neben dem blauen Pumps auf die Straße gekippt.
Ich hatte schreckliche Angst. Um mich herum laute,
aufgeregte Stimmen. »Hat wer einen Krankenwagen gerufen?
« - »Kommt!« Langsam sank ich neben der Frau auf
die Knie. Sie kam mir so winzig und zerbrechlich vor wie
ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen.
»Hallo, hallo, können Sie mich hören?« Ich schaffte nur
ein heiseres Flüstern. »Hallo, haben Sie Schmerzen? Hallo?
Bitte, nicht bewegen!«
Dabei wünschte ich mir nichts mehr, als dass sich dieser
viel zu ruhige kleine Körper bewegen möge. Neben der Frau
lag eine umgekippte Gehhilfe - eines von diesen Wägelchen
mit Sitz, die bei uns wegen der vielen Senioren schon
zum Stadtbild gehören.
Offenbar hatte ich nicht einfach jemanden umgefahren,
nein, ich hatte ein armes gehbehindertes Mütterlein niedergemacht.
Da kann man mal sehen, was dabei herauskommt, wenn
ich mein Leben ändern will.
Die mageren Beine begannen zu zucken. Ich sah, wie sich
der schuhlose Fuß leicht hob, hörte ein leises Stöhnen. Die
Frau kam zu sich. Gott sei Dank.
Die Augenlider in ihrem grauen Gesicht, in dem die rosafarben
geschminkten Lippen wie eine zu hell geratene
Wunde wirkten, begannen zu flattern. Die Frau hob den
Kopf ein bisschen und sah erst mich an, dann die anderen
Menschen auf dem Bürgersteig. Sah sie uns wirklich? Mir
kam ihr Blick irgendwie milchig vor. Ich hatte lange keinem
alten Menschen mehr in die Augen gesehen. War das normal?
Oder war sie mit dem Kopf aufgeschlagen? Es war kein
Blut zu sehen, doch das musste nichts heißen.
Der milchige Blick richtete sich wieder auf mich und
wurde klarer. Und dann, ich konnte es nicht glauben, lächelte
die Alte mich an. Ein winziges Lächeln nur, aber ich
schwöre, es war da. Ich hörte eine weiche Stimme murmeln:
»Nun machen Sie doch nicht so ein Aufhebens um
mich!«
Sie konnte sprechen! Sie klang ganz normal! Vor lauter
Erleichterung fing ich fast an zu heulen, riss mich aber zusammen
und lächelte auch. »Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte
ich leise, »gleich kommt der Krankenwagen, alles wird wieder
gut, bestimmt wird alles wieder gut, es tut mir so leid.«
Fünf Minuten später war der Krankenwagen da, Sanitäter
schnallten die alte Frau auf eine Trage. Sie ließ sich alles
klaglos gefallen. Dann verschwand die Trage im Inneren
des Krankenwagens, und die Tür schlug vor meinen Augen
zu.
Hinter mir hörte ich eine tiefe Stimme: »Sind Sie die
Fahrerin des Wagens?« Ich drehte mich um und sah mich
einem dunkelblau gekleideten Mann mit Mütze gegenüber.
Sein Gesicht strahlte die Freundlichkeit eines Vampirs aus -
eines Vampirs kurz vor dem ersten Biss nach siebzig durstigen
Jahren. Er nahm mich mit auf die Wache.
Ein paar Minuten vor sechs war ich wieder bei Felix. Immerhin
pünktlich. Felix wurde auch erst nervös, nachdem
ich mit dem Klassiker »Ich muss dir was sagen!« raus
rückte.
»Der Chrysler PT Cruiser Limited 2.4?«
Ich konnte nur nicken. Das war der Moment, in dem der
Kaffee auf Felix' Hemd landete. Und in dem sein Gesicht
blass wurde. Die roten Flecken kamen, als ich anfing zu
weinen. Ach was, zu weinen. Ich schluchzte wie Michael
Jacksons größter Fan bei dessen Beerdigung.
Felix starrt mich immer noch an, während der Kopierer
weiter Papier um Papier auswirft.
»So schlimm?« Seine Stimme klingt erstickt.
»Schlimmer! Ich hab jemanden umgefahren! Und ich
hab doch gerade keinen Führerschein!«
Ich bin mir selbst peinlich, aber ich kann nicht richtig
reden, nur zwischen Schluchzern Sätze ausstoßen. »Und
der Polizist hat gesagt, das wird teuer, und ich kriege wahrscheinlich
einen Prozess.«
»Du hast jemanden umgefahren?«
Felix steht da wie ein Salzteigmännchen, dem jemand
ungeschickt rote Bäckchen gemalt hat.
»Hmmmmh.« Noch mehr Tränen. »Die Frau liegt im
Krankenhaus, oh Gott, Felix, es ist so furchtbar.«
Ich kann überhaupt nicht aufhören mit der Heulerei. Die
ganze Zeit bei der Polizei habe ich mich zusammengerissen,
aber jetzt ist es vorbei mit der Selbstbeherrschung.
»Lebensgefährlich?«
»Was?«
»Ist die Frau lebensgefährlich verletzt?«
»Nnnneiin, sie hat einen Schock und wahrscheinlich einen
gebrochenen Arm.«
»Und der Chrysler PT Cruiser Limited 2.4?«
»Weiß nicht so genau, ein paar Beulen am Heck. Du
kannst ihn morgen abholen.«
Der soll mir jetzt bloß nicht mit seinem blöden Auto
kommen. Ich habe größere Sorgen. Und ich brauche dringend
jemanden, der mich tröstet, aber ganz bestimmt niemanden,
der mir Vorwürfe macht. Das kann ich schon
selbst. »Hast du ein Taschentuch?« - »Ja klar, warte - hier.«
Er zieht ein gefaltetes Stofftaschentuch aus der Tasche. Ich
wusste gar nicht, dass es noch Leute gibt, die so was benutzen.
Er gibt es mir, räuspert sich und sagt: »Nun beruhige
dich mal, das kommt schon alles wieder ins Lot.« Ich kann
sehen, dass ihn dieser Satz richtig Kraft kostet. Sieh an,
mein Chef hat ein Herz. »Wir reden morgen über alles«,
sagt er jetzt. »Geh erst mal nach Hause, mach dir einen
Tee, und morgen ist ein neuer Tag.« Nicht sehr originell,
der Gute, aber das ist wirklich lieb von ihm. Unbeholfen
nimmt er mich sogar kurz in den Arm und schiebt mich zur
Tür.
Ich weiß, die Glücksforschung hat gezeigt, dass es besser
ist, sich an einem kleinen Moment des Glücks zu freuen,
als sich wegen der restlichen dreiundzwanzig Stunden und
neunundfünfzig Minuten des Tages zu grämen. Ich sollte
mich also ganz auf die Sekunden konzentrieren, in denen
ich Felix' Deo in der Nase hatte. An gewöhnlichen Tagen
bin ich gut in so was. Positives Denken ist sozusagen meine
zweite Natur. Alle meine Freunde würden jederzeit bestätigen,
dass ich auch im größten Schlamassel noch lächeln
und einen Witz reißen kann.
Aber nicht heute. Heute kann ich nur an die Frau im
Krankenhaus denken und daran, dass es morgen, wenn Felix
seinen Chrysler abholt, mit seiner Gelassenheit vorbei
sein wird. Und dann ist mein Samstagsjob Vergangenheit.
Das Glück ist sowieso für andere Leute erfunden worden.
Mit dem schlurfenden Gang einer Achtzigjährigen gehe
ich durch die halbherzige Fußgängerzone unseres Ortes, in
der es Parkplätze gibt und durch die Autos im Schneckentempo
fahren dürfen. Über das Kopfsteinpflaster rumpeln,
noch langsamer als die Autos, mindestens zehn Gehhilfen.
Alte Frauen und Männer schieben ihre Einkäufchen durch
die Abendsonne zur Seniorenresidenz. Mein müdes Schlurfen
fällt hier gar nicht auf. Das Heim liegt gleich am Ende
der verkehrsberuhigten Zone. Wenigstens führt mein Weg
nach Hause nicht daran vorbei.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe
© 2010 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Erschienen im Marion von Schröder Verlag
Umschlaggestaltung: Alexandra Dohse, www.grafikkiosk.de, München
Umschlagmotiv: © Gerhard Glück
Gesamtherstellung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-802-9
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Bibliographische Angaben
- Autor: Bettina Haskamp
- 285 Seiten, Maße: 13,2 x 19,2 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008020
- ISBN-13: 9783868008029
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