Herbstvergessene
Maja Sternberg ist von Schuldgefühlen geplagt: Sie hatte zehn Jahre lang keinen Kontakt zu ihrer Mutter Lilli, nun ist Lilli tot. Angeblich hat sie sich selbst umgebracht, doch das kann Maja nicht glauben. Als sie eine Geburtsurkunde...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
3.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Herbstvergessene “
Maja Sternberg ist von Schuldgefühlen geplagt: Sie hatte zehn Jahre lang keinen Kontakt zu ihrer Mutter Lilli, nun ist Lilli tot. Angeblich hat sie sich selbst umgebracht, doch das kann Maja nicht glauben. Als sie eine Geburtsurkunde ihrer Mutter und ein Foto findet, wird sie neugierig. Denn das Bild zeigt ein Baby, das der blauäugigen Lilli so gar nicht ähnlich sieht. Maja beschließt, sich auf die Spuren ihrer Mutter zu begeben. Das führt sie nicht nur in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, sondern auch zu einem Familiengeheimnis, das ihr Leben komplett aus der Bahn wirft.
"Eine kraftvolle, spannende Geschichte für intensive Lesestunden."
LUDWIGSBURGER WOCHENBLATT
Lese-Probe zu „Herbstvergessene “
Herbstvergessene von Anja JonuleitProlog
... mehr
Das alles liegt nun so fern von mir, und an manchen Tagen, den handfesten, tatkräftigen Tagen, an denen die Sonne bis in alle Winkel vordringt, an denen sich Aufgabe an Aufgabe reiht, verscheucht das wirkliche Leben die Gespenster der Vergangenheit. Und dann machen meine Hände mich glauben, mit ihren unendlich langsamen Bewegungen, dass ich schuldlos bin, dass das hier mein Leben ist und immer war: eine Aneinanderreihung harmloser und alltäglicher Verrichtungen. Und dass mein Leben allein daraus besteht, einen Teller, eine Tasse auf den Tisch zu stellen, das Messer danebenzulegen, zu warten, bis das Wasser brodelt, um dann das Kaffeepulver zu bebrühen und mir ein Brot mit Butter zu bestreichen.
Früher hatten die Tage viele Stunden, heute haben die Nächte zu viele und die Tage zu wenige. Staubpartikel tanzen in der Luft, schwirren, flirren und erinnern mich daran, dass sich auf alles Gewesene der Staub der Zeit legt. Und wenn man nicht daran rührt, wenn man ihn nicht aufwirbelt, so bleibt er liegen und bedeckt die Geheimnisse der Vergangenheit unter einem grauen Tuch. Und an hellen Tagen wiege ich mich so in der Illusion, dass ich alles nur geträumt habe. Dass ich alte Frau mich in nichts unterscheide von anderen alten Frauen. Dass ich bin wie sie, gelebtes Leben, der Anfang, der zurückkehrt, und die Stunden des Tages, die gerade ausreichen, mich an- und wieder auszuziehen, langsam und bedächtig.
In einem Silberrahmen über meinem Sekretär hängt ein gemaltes Liebespaar. Eng umschlungen sitzt es da, in einen weiten, weiten Mantel gehüllt, sternenübersät. Um die Liebenden züngeln Flammen, Hände wie Klauen greifen nach ihnen und Dämonenfratzen grinsen hämisch. Doch die beiden scheinen nichts von alldem zu bemerken, sie halten sich. Die Gesichter einander zugewandt, sind sie versunken in ihrem Mantel aus Liebe.
Im Sternenmantel
Jahrelang habe ich mir gewünscht, ich könnte aufhören zu rauchen. Ich wollte frei sein von diesem Zwang, frei von dem Drang, nach einer bestimmten Zeit, spätestens nach zwei Stunden, wieder in die Packung zu greifen und mit spitzen Fingern eine Zigarette herauszuangeln. Der erste Zug war das eigentliche Antriebsmoment, schließlich ist nichts so gut wie das erste Mal. Und dabei meine ich nicht die ungeschickten Versuche zweier junger Menschen, sich körperlich näher zu kommen. Nein, ich spreche vom ersten Zug, vom ersten Schluck, egal, ob Kaffee, egal, ob Wein oder, wenn es sein musste, Grappa. Und manchmal musste es einfach sein.
Auf jeden Fall war das Nikotin ihr, Mutters, Erbe an mich, und wenn es eines gab, was wir gemeinsam hatten, dann war es unsere Leidenschaft fürs Rauchen im Allgemeinen und für den »ersten Zug« im Besonderen. Ich erinnere mich noch gut an ihren Gesichtsausdruck, wenn sie neben mir am Fenster stand, die Hand in den Ärmel geschoben, und ich hin und wieder ihr Profil betrachtete, unbemerkt zusah, wie sie die Augen schloss und inhalierte. Sie hatte dann für eine Weile - die Zeit, die es dauert, eine Zigarette zu rauchen - etwas Mildes und Ruhiges an sich, eine Kompromissbereitschaft, die kurz darauf, wenn sie mit ihren knochigen Fingern die Zigarette in den Aschenbecher aus Kristallglas drückte, verschwunden war. Und mit der Zigarette verglomm auch die fast schwesterliche Sympathie, die ich in diesen Augenblicken für sie empfand. Mutter.
Es hätte anders sein können, das Verhältnis zu meiner Mutter, und dass ich sie so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte, war allein meine Schuld. Ich hatte ihre Erwartungen nicht erfüllt. Sie hat es nie verwunden, dass ich kurz vor den Abschlussprüfungen zum Konferenzdolmetscher das Handtuch geworfen habe, ohne triftigen Grund, in ihren Augen. Trotz hervorragender Leistungen und der Aussicht auf einen Job bei den Vereinten Nationen. Ich hätte viel Geld verdient, regelmäßig noch dazu, doch was das Ausschlaggebende gewesen wäre: Sie hätte stolz auf mich sein können. Auf ihr Mädel, das es, wie sie, geschafft hatte. Aber leider oder Gott sei's gedankt war es beim Konjunktiv geblieben: Sie hätte stolz sein können! Ein Lehrsatz wie aus einem Standardwerk Deutsch für Ausländer. Stattdessen habe ich der Welt des geschliffenen Wortes und damit auch Mutter den Rücken gekehrt und das gemacht, was schon immer mein Traum gewesen war: Ich hatte bei einem Freund in England eine Ausbildung als Interior Decorator und Upholsterer gemacht. Was für eine brotlose Kunst!
Und als an diesem Sonntagvormittag das Telefon klingelte und Wolf mir den Hörer reichte und mit hochgezogenen Augenbrauen stumm die Worte »Lilli Sternberg« formte, wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Das Schweigen zwischen meiner Mutter und mir dauerte nun schon zehn Jahre und unser Verhältnis, wenn man es denn noch als ein solches bezeichnen konnte, war auf je zwei Postkarten pro Jahr geschrumpft: eine zu unseren Geburtstagen und eine zu Weihnachten. Wir tauschten diese Karten jedes Jahr und in stummer Sturheit aus, und da wir beide demselben Sternzeichen angehören, das für seine Ausdauer bekannt ist, hatte ich manchmal die Vorstellung, wir würden auch nach unserem Tod noch Grußkarten austauschen.
Wolf hielt mir immer noch gestikulierend den Hörer hin und rollte mit den Augen, bis ich mich überwand, danach zu greifen.
»Hallo? Wer spricht denn da?«, hörte ich mich selbst sagen, absurderweise. Ich hielt den Hörer fest umklammert, und als mir ein barsches »Nun tu doch nicht so gschamig« entgegenbellte, wusste ich, dass sie es wirklich war. Ich hielt den Atem an, trotz allem ungläubig, ihre Stimme zu hören, die noch rauer, noch krächzender geworden war, eine richtige Raucherstimme, ein weiblicher Joe Cocker. Einen kurzen Augenblick lang lauschten wir beide dem summenden Schweigen in der Leitung, und als täte ihr der harsche Auftakt plötzlich leid, fragte sie: »Wie geht's dir?«
Ich straffte die Schultern und wandte mich abrupt um, weg von Wolfs forschendem Blick, von der Besorgnis, die er ausstrahlte. Ich räusperte mich und antwortete mit fester Stimme: »Es geht uns gut. Danke.« Und eine Weile später, als ich die Stille nicht mehr aushielt, fragte ich: »Und dir? Bist du krank?«
Ich hörte sie schnauben, doch ihre Antwort klang überraschend milde, was mir mehr Sorgen machte, als wenn sie mich angeherrscht hätte.
»Es ist so: Ich muss mit dir über etwas sprechen.«
Ich zögerte. Mutter war nicht der Typ, der um den heißen Brei herumredete. Was ich oft bedauert hatte, denn ihre Direktheit war verletzend und ein bisschen mehr Diplomatie hätte ihr gut zu Gesicht gestanden. Was also konnte so wichtig sein, dass meine starrköpfige Mutter ihr über Jahre gehegtes Schweigen nun brach?
Sie sagte: »Es ist wichtig.«
»Na ... dann ... Ich hab Zeit. Du kannst sprechen.«
Sie schnaubte wieder und fuhr mich an: »Nicht am Telefon! Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss ... und zeigen. «
Ich überlegte. Was sollte das denn bedeuten? Wollte sie mich besuchen kommen? Mich mit Wolf unter die Lupe nehmen und womöglich feststellen, dass ...
»Es wäre das Beste, wenn du kämst«, schnitt sie meine Überlegungen ab.
»Na ja ...« Ich versuchte Zeit zu gewinnen. Im Moment war es schwer, hier alles stehen und liegen zu lassen. In der kommenden Woche konnte ich auf keinen Fall hier weg, denn ich musste den Fliesenlegern, die im Haus eines meiner Kunden arbeiteten, hin und wieder eine Stippvisite abstatten. Also sagte ich: »In einer Woche. Vorher geht's auf keinen Fall.«
Sie zögerte einen Moment, ehe sie mit etwas zittriger Stimme antwortete: »Also gut. Dann in einer Woche.«
Der Flieger kreiste über Schwechat, drehte nach Osten hin ab und landete in der Warteschleife. So hatte ich noch ein wenig Zeit nachzudenken. Durch den Nieselregen erkannte ich ein sumpfiges Gewässer, das ich früher nie gesehen hatte. Groß und grau und stumpf lag es da, umgeben von einem braunen Schilfgürtel, seltsam unberührt und wie herausgelöst aus der übrigen Landschaft, die aus Feldern und Siedlungen bestand. Als habe nie ein Mensch die Einsamkeit zu stören gewagt. Ich war nervös, ich hatte Lust zu rauchen, mich an etwas festzuhalten. Grübeleien kamen und gingen und irgendwann, vielleicht nach der dritten Schleife, nahm der Flieger wieder Kurs auf den Flughafen und wenig später, viel zu früh, spürte ich das Vibrieren der Räder auf Beton. Bald würde ich ihr gegenüberstehen.
Nach Oma Charlottes Tod war Mutter »ganz« nach Wien gegangen. Ganz bedeutete, dass sie Omas Haus in Lindau, in dem sie hin und wieder während ihrer Einsatzpausen gewohnt und Oma Gesellschaft geleistet hatte, an eine siebenköpfige Familie vermietet hatte. Das Ferienhaus an der ligurischen Küste hatte sie für ihren Gebrauch behalten. Ich dachte bedauernd daran, denn ich wäre gerne wieder einmal hingefahren.
Mutter war Dolmetscherin bei den Vereinten Nationen, ein mnemotechnisches Wunderkind, und ich wusste, dass man sie sogar jetzt noch, mit Mitte sechzig, hin und wieder holte. Denn das hatte neben dem obligatorischen wünscht dir Mutter auf der letzten Weihnachtskarte gestanden. Natürlich hatte sie es sich nicht verkneifen können, mir diese Nachricht zukommen zu lassen - und damit die Botschaft, dass sie immer noch »auf höchster Ebene« mitmischte.
Am Volkstheater verließ ich die U-Bahn und wartete oberirdisch auf die Straßenbahn. Wenn ich es recht in Erinnerung hatte, brauchte ich die Linie 19. Ich war die Einzige, die hier herumstand, und daraus schloss ich, dass ich sie gerade verpasst hatte. »Wie du die größte Chance deines Lebens verpasst hast«, hätte Mutter in ihrer pathetischen Art dazu sicher gesagt. Und hinzugefügt, dass ich ein schwieriges Kind gewesen sei.
Mir war kalt, aber vielleicht lag das an der Wiedersehensangst. Im Volkstheater waren schon die Lichter an. Eine Weile lang stand ich mit hochgezogenen Schultern herum und träumte mich in die Wärme. Und in die Sicherheit. Jetzt einfach so dasitzen und zwischen Unbekannten auf eine Bühne sehen dürfen.
»Du willst dein Leben damit verbringen, den Leuten zu sagen, wo sie ihre Sessel hinstellen sollen?«, hatte Mutter bleich, die Lippen ein Strich, herausgepresst, als ich ihr verkündete, was ich in Zukunft tun wollte. Und das war für Jahre der letzte Satz gewesen, den ich mir angehört hatte. In der Zeit, die darauf folgte, war es meine Großmutter Charlotte, die hin und wieder ein Wort über Mutter verlor, sodass ich zumindest wusste, dass sie noch lebte. In diesen Jahren schafften meine Mutter und ich es manchmal, uns nur ein paar Stunden voneinander getrennt die Klinke in Charlottes Haus in die Hand zu geben. Nachdem das Schweigen fünf Jahre gedauert hatte, war es Charlotte zu bunt geworden und sie hatte diese Stunden herausgeschnitten und uns, Mutter und mich, zeitgleich in ihr Haus gelockt. Dort war es dann zu einer Art zähneknirschenden Versöhnung gekommen, bei der keine von uns echte Einsicht zeigte und sich entschuldigte (wofür auch!). Und auf die Phase des verbissenen Schweigens war dann eine Phase der verbissenen Weihnachtsgrüße gefolgt, die irgendwann auch Geburtstagskarten einschloss. Das einzige Mal, das ich Mutter nach diesem unfreiwilligen Treffen in Oma Charlottes Haus wiedersah, war bei deren Beerdigung.
Meine Mutter hat mir nie verziehen, dass ich nicht die gleichen Träume habe, die gleichen Vorstellungen davon, was im Leben erstrebenswert ist. Sie hat mir nie verziehen, dass ich nicht wie sie bin. Das klingt hart, aber es trifft den Nagel auf den Kopf. Sie war schon immer stark und sicher, extrem selbstbewusst. Mutter hatte Gewissheiten. Sie konnte charmant sein, hatte Humor und zeigte ihn auch (wenn sie wollte und wenn sie jemanden mochte). Aber sie konnte genauso gut beißend und zynisch sein (wenn sie jemanden nicht mochte). Vor allem aber glänzte sie auf gesellschaftlichem Parkett und betrieb Konversation par excellence. Eine Kunst, die mir immer fremd gewesen ist.
Durch den eisigen Nieselregen sah ich in die Richtung, aus der die Straßenbahn kommen sollte. Am Sonntag war der erste Advent und die Straßen und Schaufenster waren schon geschmückt. Ich liebte all die Lichter und den festlichen Glanz, auch wenn das natürlich nur dazu diente, das Vorweihnachtsgeschäft anzukurbeln. Als die Tram nach zehn Minuten noch immer nicht kam, nahm meine Ungeduld überhand. Ich trat aus dem Wartehäuschen in den Regen, zurrte mir den Schal zurecht, stellte den Kragen auf und lief los. Das hatte nichts damit zu tun, dass ich Mutter nun doch so schnell wie möglich sehen wollte. Ich war nur generell unfähig, längere Zeit auf etwas zu warten.
Der Nieselregen ließ mein Gesicht prickeln, Nässe kroch unter meinen Kragen und ich fluchte darüber, dass ich keinen Schirm dabeihatte. Wolf rührte jetzt wahrscheinlich gerade in den Töpfen und kochte sich ein feines Abendessen, wobei er sich ab und zu einen Schluck Rioja genehmigte. Mir wurde warm ums Herz und die Ressentiments gegen ihn, die ich in den letzten Monaten immer öfter gehabt hatte, waren plötzlich wie weggewischt. Meine verkrampften Gesichtsmuskeln entspannten sich und unwillkürlich lächelte ich: Morgen wäre ich wieder zurück, Wolf würde mich vom Flughafen abholen, nach Hause fahren und etwas Leckeres für mich kochen. Alles Unangenehme läge hinter mir und er und ich würden wieder neu beginnen.
Als ich eine halbe Stunde später vor der Haustür stand, lag die Feuchtigkeit wie ein Gewicht auf meinen Schultern. Ich schloss kurz die Augen und klingelte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, meine Handflächen schwitzten, die Finger waren steif vor Kälte. Gleich würde sie den Summer betätigen, die Tür würde aufgehen, ich würde die vier Stockwerke zu Fuß hinaufgehen, nicht weil ich so sportlich war, sondern weil ich es im Moment nicht ertragen könnte, irgendwo herumzustehen - auch nicht in einem ratternden Jugendstilaufzug, dessen skurrile Eleganz ich sonst gerne bewundert hätte. Ich klingelte noch einmal. Vielleicht hatte sie es nicht gehört. Ich starrte die Tür an, ratlos, abwartend. Hinter mir rauschte der Regen, ich drehte mich um und sah zu, wie die Tropfen auf den Bürgersteig fielen und zerplatzten. Meine Fußspitzen in den Lederstiefeln waren kalt und feucht, das Braun des Leders war dunkel, fast schwarz. Als nach wiederholtem Klingeln immer noch nichts geschah, regte sich Unmut in mir. Wo war sie? Abrupt wandte ich mich ab. Dann eben nicht! Dachte sie, ich würde hier auf sie warten wie ein entlaufenes Hündchen? Nein, nicht mit mir. Ich würde jetzt gemütlich ins Hotel gehen, duschen, mir trockene Sachen anziehen und dann weitersehen.
Das Hotel Kugel lag ebenfalls in der Siebensterngasse, nur ein paar Häuser weiter. Ich öffnete die Tür und ein überheizter Vorraum empfing mich. Der Mann an der Rezeption war groß und dürr. Er schaute mich mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit an, ich nannte meinen Namen, schob ihm meinen Pass zu, woraufhin er ein Formular vor mich hinlegte. Hinter ihm an der Wand hing ein altmodisches Schild, auf dem die verehrten Gäste darauf hingewiesen wurden, dass man hier nur bar bezahlen konnte. Und im Voraus. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht, doch der Wunsch nach heißem Wasser und trockenen Kleidern war übermächtig. Also bezahlte ich für eine Nacht und nahm den Zimmerschlüssel für die 101 entgegen. Zwischen Fahrstuhl und Rezeption stand ein altmodischer Schuhputzapparat, mit Bürsten in Schwarz und Braun und einer Trittfläche aus schwarzem Profilgummi. Ich trat darauf und sah zu, wie die Bürsten losratterten und meine wasserfleckigen Stiefel polierten. Ich stieg die roten Teppichstufen hinauf, die beiden Taschen über der rechten Schulter. Ich hatte für die eine Nacht nicht viel mitgenommen. Morgen säße ich schon wieder im Flieger Richtung Deutschland und das Gespräch mit meiner Mutter wäre Vergangenheit.
Die zurückliegende Woche hatte ich damit zugebracht, mir unser Wiedersehen in den verschiedensten Farben auszumalen. Da gab es die tränenreiche und pathetische Reunited- Version, bei der sie mich für ihre Versäumnisse um Verzeihung bat und mir reumütig versicherte, sie habe Unrecht gehabt und endlich eingesehen, dass jeder Mensch »seinen eigenen Weg« gehen müsste. Eine andere Version, die wie ein Super-8-Film vor mir ablief, war die Enterbungsszene: Mutter, die wie ein Scherenschnitt vor mir stand und mir eröffnete, dass ich von ihr keinen Cent erhielte und dass Omas und Mutters Vermögen karitativen Zwecken zur Verfügung gestellt werden würde. Und dann gab es noch die »Mir bleibt nur wenig Zeit«-Version, in der sie mir gefasst, aber mit tränenfeuchten Augen von einer unheilbaren Krankheit berichten würde. Und noch eine letzte Möglichkeit war mir eingefallen - »die Chronik einer angekündigten Hochzeit«: Mutter, die (nach dem Pech mit meinem Vater - auch etwas, was sie mich hatte spüren lassen) verkündete: »Ich habe einen Menschen gefunden, mit dem ich alt werden möchte. Ich werde heiraten.« Ich würde eine etwas ältliche, aber elegante Brautjungfer abgeben und in einem schlichten eierschalenfarbenen Kostüm Blumen werfen.
Als ich in meinem feuchten Mantel in dem überhitzten Gang vor der Nummer 101 stand, fühlte ich mich wie eine Dampfkartoffel. Grimmig stellte ich fest, dass die Zimmertür genau gegenüber vom Fahrstuhl lag.
Immerhin war es im Zimmer nicht ganz so heiß wie auf dem Korridor. Ich stellte meine Tasche auf die Gepäckablage, zog Mantel und Stiefel aus und öffnete das Fenster. Das Zischen von Autoreifen auf Asphalt und das Summen einer anfahrenden Tram drangen herein. Ich kramte in meiner Tasche und stellte mich rauchend ans Fenster. Einen Moment lang schloss ich die Augen, inhalierte tief und fühlte, wie ich mich entspannte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hingen vor einem Geschäft indische Seidenschals in allen erdenklichen Farben; daneben war eine Bäckerei, deren Lichter hell und freundlich in die hereinbrechende Dämmerung schimmerten. An der Tramhaltestelle war jetzt nur noch ein Mann mit einem altmodischen Hut, wie ihn Männer in amerikanischen Filmen aus den Vierzigern und Fünfzigern trugen. Er hatte keinen Schirm und stand einfach so da, im Regen. Sein Gesicht lag im Schatten des Hutes, doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass er zu mir heraufblickte und mich ansah.
Eine Stunde später trat ich, den Schirm des Portiers in der Hand, erneut auf die Straße. Inzwischen war es dunkel geworden, die Bäckerei und der indische Laden hatten geschlossen. Wieder wartete ich vergeblich, trat von einem Bein auf das andere und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte Hunger, denn seit dem trockenen Sandwich im Flieger waren Stunden vergangen. Ich überlegte, ins Siebensternbräu zu gehen, etwas zu essen und von dort aus immer mal wieder anzurufen. Die Gastwirtschaft lag nur ein paar Häuser von der Wohnung meiner Mutter entfernt. Ich könnte auch im Café Kairo warten, das direkt gegenüber lag und von dem aus man die Haustür im Blick hatte. Ich wandte mich ab, als eine Frau, etwa im Alter meiner Mutter, an mir vorbeiging, zwei Einkaufstüten von Billa abstellte und den Schlüssel ins Türschloss steckte. Ich zögerte einen kurzen Moment, dann sagte ich seltsam stockend: »Verzeihen Sie, ich ... wollte zu Frau Sternberg. Aber sie ist nicht da. «
Die Frau, die gerade dabei war, die Tür aufzustemmen, ließ diese wieder zufallen. Sie war klein und mit einem Gesicht voller Misstrauen gesegnet, und als ich nichts weiter sagte, baute sie sich vor mir auf, so gut das eben ging bei einer Körpergröße von 1,50 Meter, und fuhr mich an: »Habt's ihr denn nichts Bessres zu tun, als euch am Unglück andrer zu ergötzen!«
Wovon sprach sie? Ich räusperte mich und wollte nachfragen, doch sie hatte sich schon wieder umgedreht und die Haustür erneut aufgeschlossen. Als sie nach den Tüten griff, glaubte ich die Worte »Journalistengeschwerl von der Kronenzeitung« zu verstehen. Bevor sie mir die Tür vor der Nase zudrückte, rief ich: »Ich bin doch nicht von der Zeitung. Ich bin die Tochter. Frau Sternberg ist meine Mutter.«
Bei diesen Worten hielt sie inne und grinste hämisch: »So, so, die Tochter! Aus welcher Versenkung ist die denn plötzlich aufgetaucht!« Ihr Lachen klang bitter, offenbar glaubte sie mir nicht.
Ich rief ihr hinterher: »Aber ich bin Frau Sternbergs Tochter. Ich bin heute aus Deutschland gekommen. Meine Mutter hat mich angerufen. Vor einer Woche. Sie wollte mich ... « Ich verstummte. Was tat ich da eigentlich? Wieso legte ich einer fremden Frau Rechenschaft darüber ab, wer ich war? Etwas in meinem Schweigen schien die Frau zu berühren, denn sie war stehen geblieben und sah mich nun mit einem forschenden Blick an. Mit einem Mal wirkte sie unsicher. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, schien jedoch nicht recht zu wissen, was oder wie. Als sie dann doch sprach, klang ihre Stimme auf einmal leise und ich hatte Mühe, sie zu verstehen: »Ja, dann können Sie es freilich noch gar nicht wissen ... « Ihr Blick ging mir durch Mark und Bein, und noch bevor sie weitersprach, wusste ich, dass etwas Entsetzliches passiert sein musste.
Sie hielt mir die Wohnungstür auf und führte mich zu einem Stuhl, auf den ich mich jedoch nicht setzte.
»Die Tochter san S'?«
Meine Finger umfassten die Stuhllehne. Ich nickte und sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick.
» Sie hat von Ihnen erzählt, manchmal. Sie wohnen am Bodensee, nicht?« Und schließlich, als es nichts anderes mehr zu fragen und zu sagen gab, hörte ich die Worte, die später noch lange in mir nachhallen sollten, so unbegreiflich und furchtbar waren sie:
» Sie ist tot. Ihre Mutter ist tot. «
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Das alles liegt nun so fern von mir, und an manchen Tagen, den handfesten, tatkräftigen Tagen, an denen die Sonne bis in alle Winkel vordringt, an denen sich Aufgabe an Aufgabe reiht, verscheucht das wirkliche Leben die Gespenster der Vergangenheit. Und dann machen meine Hände mich glauben, mit ihren unendlich langsamen Bewegungen, dass ich schuldlos bin, dass das hier mein Leben ist und immer war: eine Aneinanderreihung harmloser und alltäglicher Verrichtungen. Und dass mein Leben allein daraus besteht, einen Teller, eine Tasse auf den Tisch zu stellen, das Messer danebenzulegen, zu warten, bis das Wasser brodelt, um dann das Kaffeepulver zu bebrühen und mir ein Brot mit Butter zu bestreichen.
Früher hatten die Tage viele Stunden, heute haben die Nächte zu viele und die Tage zu wenige. Staubpartikel tanzen in der Luft, schwirren, flirren und erinnern mich daran, dass sich auf alles Gewesene der Staub der Zeit legt. Und wenn man nicht daran rührt, wenn man ihn nicht aufwirbelt, so bleibt er liegen und bedeckt die Geheimnisse der Vergangenheit unter einem grauen Tuch. Und an hellen Tagen wiege ich mich so in der Illusion, dass ich alles nur geträumt habe. Dass ich alte Frau mich in nichts unterscheide von anderen alten Frauen. Dass ich bin wie sie, gelebtes Leben, der Anfang, der zurückkehrt, und die Stunden des Tages, die gerade ausreichen, mich an- und wieder auszuziehen, langsam und bedächtig.
In einem Silberrahmen über meinem Sekretär hängt ein gemaltes Liebespaar. Eng umschlungen sitzt es da, in einen weiten, weiten Mantel gehüllt, sternenübersät. Um die Liebenden züngeln Flammen, Hände wie Klauen greifen nach ihnen und Dämonenfratzen grinsen hämisch. Doch die beiden scheinen nichts von alldem zu bemerken, sie halten sich. Die Gesichter einander zugewandt, sind sie versunken in ihrem Mantel aus Liebe.
Im Sternenmantel
Jahrelang habe ich mir gewünscht, ich könnte aufhören zu rauchen. Ich wollte frei sein von diesem Zwang, frei von dem Drang, nach einer bestimmten Zeit, spätestens nach zwei Stunden, wieder in die Packung zu greifen und mit spitzen Fingern eine Zigarette herauszuangeln. Der erste Zug war das eigentliche Antriebsmoment, schließlich ist nichts so gut wie das erste Mal. Und dabei meine ich nicht die ungeschickten Versuche zweier junger Menschen, sich körperlich näher zu kommen. Nein, ich spreche vom ersten Zug, vom ersten Schluck, egal, ob Kaffee, egal, ob Wein oder, wenn es sein musste, Grappa. Und manchmal musste es einfach sein.
Auf jeden Fall war das Nikotin ihr, Mutters, Erbe an mich, und wenn es eines gab, was wir gemeinsam hatten, dann war es unsere Leidenschaft fürs Rauchen im Allgemeinen und für den »ersten Zug« im Besonderen. Ich erinnere mich noch gut an ihren Gesichtsausdruck, wenn sie neben mir am Fenster stand, die Hand in den Ärmel geschoben, und ich hin und wieder ihr Profil betrachtete, unbemerkt zusah, wie sie die Augen schloss und inhalierte. Sie hatte dann für eine Weile - die Zeit, die es dauert, eine Zigarette zu rauchen - etwas Mildes und Ruhiges an sich, eine Kompromissbereitschaft, die kurz darauf, wenn sie mit ihren knochigen Fingern die Zigarette in den Aschenbecher aus Kristallglas drückte, verschwunden war. Und mit der Zigarette verglomm auch die fast schwesterliche Sympathie, die ich in diesen Augenblicken für sie empfand. Mutter.
Es hätte anders sein können, das Verhältnis zu meiner Mutter, und dass ich sie so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte, war allein meine Schuld. Ich hatte ihre Erwartungen nicht erfüllt. Sie hat es nie verwunden, dass ich kurz vor den Abschlussprüfungen zum Konferenzdolmetscher das Handtuch geworfen habe, ohne triftigen Grund, in ihren Augen. Trotz hervorragender Leistungen und der Aussicht auf einen Job bei den Vereinten Nationen. Ich hätte viel Geld verdient, regelmäßig noch dazu, doch was das Ausschlaggebende gewesen wäre: Sie hätte stolz auf mich sein können. Auf ihr Mädel, das es, wie sie, geschafft hatte. Aber leider oder Gott sei's gedankt war es beim Konjunktiv geblieben: Sie hätte stolz sein können! Ein Lehrsatz wie aus einem Standardwerk Deutsch für Ausländer. Stattdessen habe ich der Welt des geschliffenen Wortes und damit auch Mutter den Rücken gekehrt und das gemacht, was schon immer mein Traum gewesen war: Ich hatte bei einem Freund in England eine Ausbildung als Interior Decorator und Upholsterer gemacht. Was für eine brotlose Kunst!
Und als an diesem Sonntagvormittag das Telefon klingelte und Wolf mir den Hörer reichte und mit hochgezogenen Augenbrauen stumm die Worte »Lilli Sternberg« formte, wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Das Schweigen zwischen meiner Mutter und mir dauerte nun schon zehn Jahre und unser Verhältnis, wenn man es denn noch als ein solches bezeichnen konnte, war auf je zwei Postkarten pro Jahr geschrumpft: eine zu unseren Geburtstagen und eine zu Weihnachten. Wir tauschten diese Karten jedes Jahr und in stummer Sturheit aus, und da wir beide demselben Sternzeichen angehören, das für seine Ausdauer bekannt ist, hatte ich manchmal die Vorstellung, wir würden auch nach unserem Tod noch Grußkarten austauschen.
Wolf hielt mir immer noch gestikulierend den Hörer hin und rollte mit den Augen, bis ich mich überwand, danach zu greifen.
»Hallo? Wer spricht denn da?«, hörte ich mich selbst sagen, absurderweise. Ich hielt den Hörer fest umklammert, und als mir ein barsches »Nun tu doch nicht so gschamig« entgegenbellte, wusste ich, dass sie es wirklich war. Ich hielt den Atem an, trotz allem ungläubig, ihre Stimme zu hören, die noch rauer, noch krächzender geworden war, eine richtige Raucherstimme, ein weiblicher Joe Cocker. Einen kurzen Augenblick lang lauschten wir beide dem summenden Schweigen in der Leitung, und als täte ihr der harsche Auftakt plötzlich leid, fragte sie: »Wie geht's dir?«
Ich straffte die Schultern und wandte mich abrupt um, weg von Wolfs forschendem Blick, von der Besorgnis, die er ausstrahlte. Ich räusperte mich und antwortete mit fester Stimme: »Es geht uns gut. Danke.« Und eine Weile später, als ich die Stille nicht mehr aushielt, fragte ich: »Und dir? Bist du krank?«
Ich hörte sie schnauben, doch ihre Antwort klang überraschend milde, was mir mehr Sorgen machte, als wenn sie mich angeherrscht hätte.
»Es ist so: Ich muss mit dir über etwas sprechen.«
Ich zögerte. Mutter war nicht der Typ, der um den heißen Brei herumredete. Was ich oft bedauert hatte, denn ihre Direktheit war verletzend und ein bisschen mehr Diplomatie hätte ihr gut zu Gesicht gestanden. Was also konnte so wichtig sein, dass meine starrköpfige Mutter ihr über Jahre gehegtes Schweigen nun brach?
Sie sagte: »Es ist wichtig.«
»Na ... dann ... Ich hab Zeit. Du kannst sprechen.«
Sie schnaubte wieder und fuhr mich an: »Nicht am Telefon! Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss ... und zeigen. «
Ich überlegte. Was sollte das denn bedeuten? Wollte sie mich besuchen kommen? Mich mit Wolf unter die Lupe nehmen und womöglich feststellen, dass ...
»Es wäre das Beste, wenn du kämst«, schnitt sie meine Überlegungen ab.
»Na ja ...« Ich versuchte Zeit zu gewinnen. Im Moment war es schwer, hier alles stehen und liegen zu lassen. In der kommenden Woche konnte ich auf keinen Fall hier weg, denn ich musste den Fliesenlegern, die im Haus eines meiner Kunden arbeiteten, hin und wieder eine Stippvisite abstatten. Also sagte ich: »In einer Woche. Vorher geht's auf keinen Fall.«
Sie zögerte einen Moment, ehe sie mit etwas zittriger Stimme antwortete: »Also gut. Dann in einer Woche.«
Der Flieger kreiste über Schwechat, drehte nach Osten hin ab und landete in der Warteschleife. So hatte ich noch ein wenig Zeit nachzudenken. Durch den Nieselregen erkannte ich ein sumpfiges Gewässer, das ich früher nie gesehen hatte. Groß und grau und stumpf lag es da, umgeben von einem braunen Schilfgürtel, seltsam unberührt und wie herausgelöst aus der übrigen Landschaft, die aus Feldern und Siedlungen bestand. Als habe nie ein Mensch die Einsamkeit zu stören gewagt. Ich war nervös, ich hatte Lust zu rauchen, mich an etwas festzuhalten. Grübeleien kamen und gingen und irgendwann, vielleicht nach der dritten Schleife, nahm der Flieger wieder Kurs auf den Flughafen und wenig später, viel zu früh, spürte ich das Vibrieren der Räder auf Beton. Bald würde ich ihr gegenüberstehen.
Nach Oma Charlottes Tod war Mutter »ganz« nach Wien gegangen. Ganz bedeutete, dass sie Omas Haus in Lindau, in dem sie hin und wieder während ihrer Einsatzpausen gewohnt und Oma Gesellschaft geleistet hatte, an eine siebenköpfige Familie vermietet hatte. Das Ferienhaus an der ligurischen Küste hatte sie für ihren Gebrauch behalten. Ich dachte bedauernd daran, denn ich wäre gerne wieder einmal hingefahren.
Mutter war Dolmetscherin bei den Vereinten Nationen, ein mnemotechnisches Wunderkind, und ich wusste, dass man sie sogar jetzt noch, mit Mitte sechzig, hin und wieder holte. Denn das hatte neben dem obligatorischen wünscht dir Mutter auf der letzten Weihnachtskarte gestanden. Natürlich hatte sie es sich nicht verkneifen können, mir diese Nachricht zukommen zu lassen - und damit die Botschaft, dass sie immer noch »auf höchster Ebene« mitmischte.
Am Volkstheater verließ ich die U-Bahn und wartete oberirdisch auf die Straßenbahn. Wenn ich es recht in Erinnerung hatte, brauchte ich die Linie 19. Ich war die Einzige, die hier herumstand, und daraus schloss ich, dass ich sie gerade verpasst hatte. »Wie du die größte Chance deines Lebens verpasst hast«, hätte Mutter in ihrer pathetischen Art dazu sicher gesagt. Und hinzugefügt, dass ich ein schwieriges Kind gewesen sei.
Mir war kalt, aber vielleicht lag das an der Wiedersehensangst. Im Volkstheater waren schon die Lichter an. Eine Weile lang stand ich mit hochgezogenen Schultern herum und träumte mich in die Wärme. Und in die Sicherheit. Jetzt einfach so dasitzen und zwischen Unbekannten auf eine Bühne sehen dürfen.
»Du willst dein Leben damit verbringen, den Leuten zu sagen, wo sie ihre Sessel hinstellen sollen?«, hatte Mutter bleich, die Lippen ein Strich, herausgepresst, als ich ihr verkündete, was ich in Zukunft tun wollte. Und das war für Jahre der letzte Satz gewesen, den ich mir angehört hatte. In der Zeit, die darauf folgte, war es meine Großmutter Charlotte, die hin und wieder ein Wort über Mutter verlor, sodass ich zumindest wusste, dass sie noch lebte. In diesen Jahren schafften meine Mutter und ich es manchmal, uns nur ein paar Stunden voneinander getrennt die Klinke in Charlottes Haus in die Hand zu geben. Nachdem das Schweigen fünf Jahre gedauert hatte, war es Charlotte zu bunt geworden und sie hatte diese Stunden herausgeschnitten und uns, Mutter und mich, zeitgleich in ihr Haus gelockt. Dort war es dann zu einer Art zähneknirschenden Versöhnung gekommen, bei der keine von uns echte Einsicht zeigte und sich entschuldigte (wofür auch!). Und auf die Phase des verbissenen Schweigens war dann eine Phase der verbissenen Weihnachtsgrüße gefolgt, die irgendwann auch Geburtstagskarten einschloss. Das einzige Mal, das ich Mutter nach diesem unfreiwilligen Treffen in Oma Charlottes Haus wiedersah, war bei deren Beerdigung.
Meine Mutter hat mir nie verziehen, dass ich nicht die gleichen Träume habe, die gleichen Vorstellungen davon, was im Leben erstrebenswert ist. Sie hat mir nie verziehen, dass ich nicht wie sie bin. Das klingt hart, aber es trifft den Nagel auf den Kopf. Sie war schon immer stark und sicher, extrem selbstbewusst. Mutter hatte Gewissheiten. Sie konnte charmant sein, hatte Humor und zeigte ihn auch (wenn sie wollte und wenn sie jemanden mochte). Aber sie konnte genauso gut beißend und zynisch sein (wenn sie jemanden nicht mochte). Vor allem aber glänzte sie auf gesellschaftlichem Parkett und betrieb Konversation par excellence. Eine Kunst, die mir immer fremd gewesen ist.
Durch den eisigen Nieselregen sah ich in die Richtung, aus der die Straßenbahn kommen sollte. Am Sonntag war der erste Advent und die Straßen und Schaufenster waren schon geschmückt. Ich liebte all die Lichter und den festlichen Glanz, auch wenn das natürlich nur dazu diente, das Vorweihnachtsgeschäft anzukurbeln. Als die Tram nach zehn Minuten noch immer nicht kam, nahm meine Ungeduld überhand. Ich trat aus dem Wartehäuschen in den Regen, zurrte mir den Schal zurecht, stellte den Kragen auf und lief los. Das hatte nichts damit zu tun, dass ich Mutter nun doch so schnell wie möglich sehen wollte. Ich war nur generell unfähig, längere Zeit auf etwas zu warten.
Der Nieselregen ließ mein Gesicht prickeln, Nässe kroch unter meinen Kragen und ich fluchte darüber, dass ich keinen Schirm dabeihatte. Wolf rührte jetzt wahrscheinlich gerade in den Töpfen und kochte sich ein feines Abendessen, wobei er sich ab und zu einen Schluck Rioja genehmigte. Mir wurde warm ums Herz und die Ressentiments gegen ihn, die ich in den letzten Monaten immer öfter gehabt hatte, waren plötzlich wie weggewischt. Meine verkrampften Gesichtsmuskeln entspannten sich und unwillkürlich lächelte ich: Morgen wäre ich wieder zurück, Wolf würde mich vom Flughafen abholen, nach Hause fahren und etwas Leckeres für mich kochen. Alles Unangenehme läge hinter mir und er und ich würden wieder neu beginnen.
Als ich eine halbe Stunde später vor der Haustür stand, lag die Feuchtigkeit wie ein Gewicht auf meinen Schultern. Ich schloss kurz die Augen und klingelte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, meine Handflächen schwitzten, die Finger waren steif vor Kälte. Gleich würde sie den Summer betätigen, die Tür würde aufgehen, ich würde die vier Stockwerke zu Fuß hinaufgehen, nicht weil ich so sportlich war, sondern weil ich es im Moment nicht ertragen könnte, irgendwo herumzustehen - auch nicht in einem ratternden Jugendstilaufzug, dessen skurrile Eleganz ich sonst gerne bewundert hätte. Ich klingelte noch einmal. Vielleicht hatte sie es nicht gehört. Ich starrte die Tür an, ratlos, abwartend. Hinter mir rauschte der Regen, ich drehte mich um und sah zu, wie die Tropfen auf den Bürgersteig fielen und zerplatzten. Meine Fußspitzen in den Lederstiefeln waren kalt und feucht, das Braun des Leders war dunkel, fast schwarz. Als nach wiederholtem Klingeln immer noch nichts geschah, regte sich Unmut in mir. Wo war sie? Abrupt wandte ich mich ab. Dann eben nicht! Dachte sie, ich würde hier auf sie warten wie ein entlaufenes Hündchen? Nein, nicht mit mir. Ich würde jetzt gemütlich ins Hotel gehen, duschen, mir trockene Sachen anziehen und dann weitersehen.
Das Hotel Kugel lag ebenfalls in der Siebensterngasse, nur ein paar Häuser weiter. Ich öffnete die Tür und ein überheizter Vorraum empfing mich. Der Mann an der Rezeption war groß und dürr. Er schaute mich mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit an, ich nannte meinen Namen, schob ihm meinen Pass zu, woraufhin er ein Formular vor mich hinlegte. Hinter ihm an der Wand hing ein altmodisches Schild, auf dem die verehrten Gäste darauf hingewiesen wurden, dass man hier nur bar bezahlen konnte. Und im Voraus. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht, doch der Wunsch nach heißem Wasser und trockenen Kleidern war übermächtig. Also bezahlte ich für eine Nacht und nahm den Zimmerschlüssel für die 101 entgegen. Zwischen Fahrstuhl und Rezeption stand ein altmodischer Schuhputzapparat, mit Bürsten in Schwarz und Braun und einer Trittfläche aus schwarzem Profilgummi. Ich trat darauf und sah zu, wie die Bürsten losratterten und meine wasserfleckigen Stiefel polierten. Ich stieg die roten Teppichstufen hinauf, die beiden Taschen über der rechten Schulter. Ich hatte für die eine Nacht nicht viel mitgenommen. Morgen säße ich schon wieder im Flieger Richtung Deutschland und das Gespräch mit meiner Mutter wäre Vergangenheit.
Die zurückliegende Woche hatte ich damit zugebracht, mir unser Wiedersehen in den verschiedensten Farben auszumalen. Da gab es die tränenreiche und pathetische Reunited- Version, bei der sie mich für ihre Versäumnisse um Verzeihung bat und mir reumütig versicherte, sie habe Unrecht gehabt und endlich eingesehen, dass jeder Mensch »seinen eigenen Weg« gehen müsste. Eine andere Version, die wie ein Super-8-Film vor mir ablief, war die Enterbungsszene: Mutter, die wie ein Scherenschnitt vor mir stand und mir eröffnete, dass ich von ihr keinen Cent erhielte und dass Omas und Mutters Vermögen karitativen Zwecken zur Verfügung gestellt werden würde. Und dann gab es noch die »Mir bleibt nur wenig Zeit«-Version, in der sie mir gefasst, aber mit tränenfeuchten Augen von einer unheilbaren Krankheit berichten würde. Und noch eine letzte Möglichkeit war mir eingefallen - »die Chronik einer angekündigten Hochzeit«: Mutter, die (nach dem Pech mit meinem Vater - auch etwas, was sie mich hatte spüren lassen) verkündete: »Ich habe einen Menschen gefunden, mit dem ich alt werden möchte. Ich werde heiraten.« Ich würde eine etwas ältliche, aber elegante Brautjungfer abgeben und in einem schlichten eierschalenfarbenen Kostüm Blumen werfen.
Als ich in meinem feuchten Mantel in dem überhitzten Gang vor der Nummer 101 stand, fühlte ich mich wie eine Dampfkartoffel. Grimmig stellte ich fest, dass die Zimmertür genau gegenüber vom Fahrstuhl lag.
Immerhin war es im Zimmer nicht ganz so heiß wie auf dem Korridor. Ich stellte meine Tasche auf die Gepäckablage, zog Mantel und Stiefel aus und öffnete das Fenster. Das Zischen von Autoreifen auf Asphalt und das Summen einer anfahrenden Tram drangen herein. Ich kramte in meiner Tasche und stellte mich rauchend ans Fenster. Einen Moment lang schloss ich die Augen, inhalierte tief und fühlte, wie ich mich entspannte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hingen vor einem Geschäft indische Seidenschals in allen erdenklichen Farben; daneben war eine Bäckerei, deren Lichter hell und freundlich in die hereinbrechende Dämmerung schimmerten. An der Tramhaltestelle war jetzt nur noch ein Mann mit einem altmodischen Hut, wie ihn Männer in amerikanischen Filmen aus den Vierzigern und Fünfzigern trugen. Er hatte keinen Schirm und stand einfach so da, im Regen. Sein Gesicht lag im Schatten des Hutes, doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass er zu mir heraufblickte und mich ansah.
Eine Stunde später trat ich, den Schirm des Portiers in der Hand, erneut auf die Straße. Inzwischen war es dunkel geworden, die Bäckerei und der indische Laden hatten geschlossen. Wieder wartete ich vergeblich, trat von einem Bein auf das andere und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich hatte Hunger, denn seit dem trockenen Sandwich im Flieger waren Stunden vergangen. Ich überlegte, ins Siebensternbräu zu gehen, etwas zu essen und von dort aus immer mal wieder anzurufen. Die Gastwirtschaft lag nur ein paar Häuser von der Wohnung meiner Mutter entfernt. Ich könnte auch im Café Kairo warten, das direkt gegenüber lag und von dem aus man die Haustür im Blick hatte. Ich wandte mich ab, als eine Frau, etwa im Alter meiner Mutter, an mir vorbeiging, zwei Einkaufstüten von Billa abstellte und den Schlüssel ins Türschloss steckte. Ich zögerte einen kurzen Moment, dann sagte ich seltsam stockend: »Verzeihen Sie, ich ... wollte zu Frau Sternberg. Aber sie ist nicht da. «
Die Frau, die gerade dabei war, die Tür aufzustemmen, ließ diese wieder zufallen. Sie war klein und mit einem Gesicht voller Misstrauen gesegnet, und als ich nichts weiter sagte, baute sie sich vor mir auf, so gut das eben ging bei einer Körpergröße von 1,50 Meter, und fuhr mich an: »Habt's ihr denn nichts Bessres zu tun, als euch am Unglück andrer zu ergötzen!«
Wovon sprach sie? Ich räusperte mich und wollte nachfragen, doch sie hatte sich schon wieder umgedreht und die Haustür erneut aufgeschlossen. Als sie nach den Tüten griff, glaubte ich die Worte »Journalistengeschwerl von der Kronenzeitung« zu verstehen. Bevor sie mir die Tür vor der Nase zudrückte, rief ich: »Ich bin doch nicht von der Zeitung. Ich bin die Tochter. Frau Sternberg ist meine Mutter.«
Bei diesen Worten hielt sie inne und grinste hämisch: »So, so, die Tochter! Aus welcher Versenkung ist die denn plötzlich aufgetaucht!« Ihr Lachen klang bitter, offenbar glaubte sie mir nicht.
Ich rief ihr hinterher: »Aber ich bin Frau Sternbergs Tochter. Ich bin heute aus Deutschland gekommen. Meine Mutter hat mich angerufen. Vor einer Woche. Sie wollte mich ... « Ich verstummte. Was tat ich da eigentlich? Wieso legte ich einer fremden Frau Rechenschaft darüber ab, wer ich war? Etwas in meinem Schweigen schien die Frau zu berühren, denn sie war stehen geblieben und sah mich nun mit einem forschenden Blick an. Mit einem Mal wirkte sie unsicher. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, schien jedoch nicht recht zu wissen, was oder wie. Als sie dann doch sprach, klang ihre Stimme auf einmal leise und ich hatte Mühe, sie zu verstehen: »Ja, dann können Sie es freilich noch gar nicht wissen ... « Ihr Blick ging mir durch Mark und Bein, und noch bevor sie weitersprach, wusste ich, dass etwas Entsetzliches passiert sein musste.
Sie hielt mir die Wohnungstür auf und führte mich zu einem Stuhl, auf den ich mich jedoch nicht setzte.
»Die Tochter san S'?«
Meine Finger umfassten die Stuhllehne. Ich nickte und sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick.
» Sie hat von Ihnen erzählt, manchmal. Sie wohnen am Bodensee, nicht?« Und schließlich, als es nichts anderes mehr zu fragen und zu sagen gab, hörte ich die Worte, die später noch lange in mir nachhallen sollten, so unbegreiflich und furchtbar waren sie:
» Sie ist tot. Ihre Mutter ist tot. «
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Anja Jonuleit
ANJA JONULEIT (*1965)»Herbstvergessene« ist ihr zweiter Roman, eine intensive Familiengeschichte, die sich spannend liest wie ein Krimi. Jonuleit arbeitet als Übersetzerin und Dolmetscherin und lebt mit ihrer Familie am Bodensee.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anja Jonuleit
- 480 Seiten, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008284
- ISBN-13: 9783868008289
Kommentare zu "Herbstvergessene"
0 Gebrauchte Artikel zu „Herbstvergessene“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 14Schreiben Sie einen Kommentar zu "Herbstvergessene".
Kommentar verfassen