Herr Lehmann
Der Kreuzberger Kellner Lehmann liebt sein eintöniges Leben. Die Wiedervereinigung stellt ihn auf eine harte Probe.
Der Kreuzberger Kellner Lehmann liebt sein eintöniges Leben. Die Wiedervereinigung stellt ihn auf eine harte Probe.
Herr Lehmann von Sven Regener
LESEPROBE
MUTTER
»Frank,bist du das? Du klingst so komisch. Es hat so lange geklingelt, bis durangegangen bist, da hab ich schon gedacht, du bist gar nicht da. Ich wollteschon wieder auflegen. «
HerrLehmann liebte seine Eltern. Er war ihnen für vieles dankbar, und sie lebtenweit weg von Westberlin, in Bremen, das ergab einen Abstand von zweiStaatsgrenzen und einigen hundert Kilometern. Was er auch sehr an ihnenschätzte, war die Tatsache, daß sie niemals im Leben auf die Idee kämen, ihnmit Herr Lehmann anzusprechen. Das einzige Problem mit ihnen war: Sie standengerne früh auf und riefen gerne früh an.
»Mutter!«sagte Herr Lehmann.
»Ich wollteschon wieder auflegen.«
Warum,dachte Herr Lehmann, hast du es nicht getan. Ich, dachte Herr Lehmann, der sichauf seine Rücksichtnahme, die Bedürfnisse anderer Menschen betreffend,durchaus etwas zugute hielt, hätte es getan. Genauer gesagt, dachte HerrLehmann, hätte ich es vor allem nicht dreißigmal klingeln lassen, damit geht'sdoch schon mal los, dachte er. Fünfmal, das ist okay, zumal die meisten LeuteAnrufbeantworter haben, die nicht ohne Grund schon nach vier- oder fünfmaligemKlingeln anspringen, dachte Herr Lehmann und bedauerte, daß er sich noch immernicht ein solches Gerät angeschafft hatte, aber der Gedanke, zu Karstadt amHermannplatz, also im Grunde nach Neukölln zu gehen, um so etwas zu kaufen, warihm zutiefst zuwider.
»Frank,bist du noch da?«
HerrLehmann seufzte.
»Mutter«,sagte er, »Mutter. Es ist ... «, Herr Lehmann, der schon lange keinefunktionierende Uhr mehr brauchte, weil er ein ausgezeichnetes Zeitgefühlentwickelt hatte und im Notfall immer noch auf öffentliche Uhren oder die telefonischeZeitansage zurückgreifen konnte, dachte kurz nach, » ... höchstens zehn Uhr!Wenn du doch weißt, daß ich nachts ...
»SchonViertel nach zehn, da schläft man doch nicht mehr, da wundere ich mich schon,daß du noch schläfst, ich bin schon seit sieben auf den Beinen«, sagte seineMutter auf eine so auftrumpfende Weise, daß sich Herr Lehmann, der sicheigentlich für einen durchweg ausgeglichenen Menschen hielt, dessen Temperamentsich mit den Jahren abgelagert hatte wie der Griselkram in altem, teurem Rotwein,zu einer scharfen Gegenreaktion provoziert sah.
»Warum?«fragte er.
»Ich wollteschon wieder auflegen, aber dann habe ich gedacht, das kann ja nicht sein, daßdu schon aus dem Haus bist, du arbeitest doch immer so spät.«
»Eben,Mutter, eben«, sagte Herr Lehmann, fest entschlossen, diesen seiner Erfahrungnach typisch mütterlichen Versuch, einer Frage auszuweichen, nicht durchgehenzu lassen. »Aber das war nicht die Frage, Mutter! «
»WelcheFrage denn?« kam es ärgerlich zurück.
»Warum,Mutter. Ich fragte: Warum? Warum bist du seit sieben Uhr auf den Beinen?« (...)
© EichbornAG, Frankfurt am Main, 2001
Autoren-Porträt von Sven Regener
Sven Regener wurde am 1. Januar 1961 in Bremen geboren. NachSchulbesuch, Bundeswehr- und Zivildienst kam er über Hamburg nach Berlin. Dortmachte er in vielen Übungsräumen als Trompeter mit vielen verschiedenen LeutenLärm. 1982 nahm er seine erste LP mit der Band "Zatopek"auf. 1984 kam er zur Band "Neue Liebe", einer Art Punk-Funkband mitKunstanspruch und vielen Bläsern. Nach deren Auflösung gründete er 1985 mitanderen die Band "Element of Crime",die mit deutschsprachigen Alben wie Damals hinterm Mond und WeißesPapier eine große Popularität erlangte. Sven Regenerist Sänger, Texter und Trompeter der Gruppe. Er gilt als "einer derfeinsten Pop-Poeten des deutschen Sprachraums." (zitty)
- Autor: Sven Regener
- 2003, 288 Seiten, Maße: 12,4 x 18,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442456843
- ISBN-13: 9783442456840
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