Hilflos
Die 9-jährige Rachel ist auffallend schön und aufgeweckt. Ron wird von einer so heftigen Liebe zu dem Kind ergriffen, dass er Rachel entführt.
"Barbara Gowdy bewegt sich stets in jenen Randzonen, in denen nur ein Wimpernschlag...
Die 9-jährige Rachel ist auffallend schön und aufgeweckt. Ron wird von einer so heftigen Liebe zu dem Kind ergriffen, dass er Rachel entführt.
"Barbara Gowdy bewegt sich stets in jenen Randzonen, in denen nur ein Wimpernschlag das Vertraute von dem Monströsen trennt."
Der Spiegel
LESEPROBE
An einem drückend heißen Nachmittag Anfang Juni stehtCelia Fox am Balkongeländer und raucht die vorletzte Zigarette, die sie sichvor der Arbeit gestattet.
DieWohnung ist klein und stickig (einer der Nachteile, wenn man im zweiten Stockeines viktorianischen Hauses wohnt), aber immerhin haben Celia und Racheldiesen riesigen Balkon, beschirmt von einer Rosskastanie, derenhandschuhförmige Blätter schon jetzt so groß sind, dass der Baum den ganzenVorgarten beschattet. Vom Balkongeländer aus überblickt man sowohl die Straßevorne als auch die kleine Straße, die hinter den Läden in der Parliament Streetverläuft. In der kleinen Straße ist meistens etwas los; im Augenblickallerdings hält sich wegen der Hitze kaum jemand draußen auf: nur ein Mann ohneBeine, der hinter den Müllcontainern von Shoppers Drogeriemarkt in seinemRollstuhl vor sich hin döst, und der steif wirkende Mann mit den Hunden, deralle Leinen in einer Faust hält, wie ein Kutscher. Der Lieferwagen eines Reparaturdienstesfür Hausgeräte fährt vorbei, und Celia fragt sich, ob Reparaturwerkstätten wohlgebrauchte Klimaanlagen verkaufen. Allerdings könnte sie sich auch einegebrauchte kaum leisten. Egal, jetzt muss sie erstmal das Bewerbungsformularfür die Fotomodellausbildung zu Ende ausfüllen, wenn sie den Abgabetermineinhalten will.
Willsie ihn denn einhalten? Sie ist noch unentschlossen. Neun kommt ihr einbisschen jung vor, um Geld mit seinem Aussehenzu verdienen, obwohl, wenn man dem Typen von der Modelagentur glauben darf,dann ist neun schon an der Verfallsgrenze. Als sie ihm sagte, wie alt Rachelist, meinte er, er hätte sie auf siebeneinhalb geschätzt, höchstens acht.»Macht aber nichts«, sagte er und musterte Rachel wie einen Gebrauchtwagen,
Dabereute Celia bereits, dass sie seine Einladung zum Eistee ins Café JavaVille angenommen hatte, aber er war ihnen auf der Parliament Streethartnäckig gefolgt und hatte im ersten Moment einen so sympathischen,jungenhaften Eindruck gemacht.
»KleineMädchen sind zurzeit äußerst gefragt«, erklärte er ihr. »Für mancheHochglanzanzeigen erhalten sie bis zu tausend Dollar, plus Extras.«
Rachelblickte abrupt von ihrem Buch auf. »Tausend Dollar?«
»Ganzrecht.«
»Ichkönnte tausend Dollar verdienen?«
»Sobaldwir dein Gesicht publik machen.« Er versicherte Celia, dass die Model-Schulebei Mädchen mit Rachels Potential auf die Gebühren verzichtete.
»Wasbedeutet Potential?« wollte Rachel wissen.
»Schönheit«,antwortete er. »Dir ist doch klar, dass du wunderschön bist, oder?«
Rachelzuckte die Achseln.
»Glaubmir, das bist du.« Er ließ den Blick zwischen ihr und Celia hin und herschweifen und fragte sich eindeutig das, was sich jeder fragte, der den beidenzum ersten Mal begegnete. Da nahm Celia die Broschüre und das Anmeldeformularvom Tisch. »Wir müssen uns erst alles durchlesen«, sagte sie. Sie hatte nichtvor, seine Neugier zu befriedigen, aber sie war auchnicht gekränkt. Fragte sie sich nicht selbst andauernd, wie es sein konnte,dass sie tatsächlich die leibliche Mutter ihrer Tochter war? Sie schob ihrenStuhl zurück und erkannte dann an Rachels geneigtem Kopf, dass der Mann dochnoch ins Bild gesetzt werden würde.
Undschon kam es: »Manche Leute wollen wissen, ob ich adoptiert bin. Bin ich abernicht.«
»Allesklar«, sagte der Typ.
»MeinVater ist ein Schwarzer. Sieht man vermutlich.«
»Hatteich mir gedacht, ja.«
Miteiner ganz neuen Nuance von Stolz oder Aufsässigkeit in der Stimme, so als seiihr eben erst klar geworden, dass diese Information nicht unbedingtvorhersehbar war, sagte Rachel: »Er ist Architekt und lebt in New York. Erheißt Robert Smith.«
»Cool«, sagte der Typ. »Architekt in NewYork.«
OderTierarzt in Hoboken. Celia hat nicht die leiseste Ahnung. Sie ist noch nichtmal sicher, dass er wirklich Smith heißt.
Siegeht rein und liest eine deprimierende Geschichte in Harpers Bazaar, übereinen Ehemann, der den grotesken Nervenzusammenbruch seiner Frau miterlebt.Dann schubst sie die Katze vom Klavier, übt ungefähr eine halbe Stunde lang»Besame Mucho« und nimmt sich dann seufzend noch einmal das Bewerbungsformularder Model-Schule vor. Sie ist noch nicht über die erste Seite hinausgekommen(»Würden Sie sagen, dass Ihr Kind überempfindlich auf Kritik reagiert?« »HatIhr Kind Angst vor Hunden?«), als Rachel nach Hause kommt und ihr zuruft,Leonard wolle auch Fotomodell werden. Für kostenlose Klavierstunden begleiteter Rachel in die Schule und auch wieder nach Hause. Er ist zwölf, benimmt sichaber wie vierzig, ein fürchterlich hochmütiger Junge, derregelmäßig sein Taschengeld an ein Waisenhaus in Shanghaischickt. »Das geborene Model ist er nicht gerade«, sagt Celia taktvoll. »Weißich«, sagt Rachel. »Er braucht eine Zahnspange. Das habe ich ihm aber nichtgesagt.« Sie kommt zu Celia und reibt mit der flachen Hand über deren nackte,schwitzige Schultern.
»Heh!«Sie hat das Formular entdeckt. »Was macht das denn noch hier?« Schnell nimmtsie es hoch.
»Mirsind Zweifel gekommen«, gibt Celia zu. »Möchtest du ein Glas Limonade?«
»Jetztnicht«, sagt Rachel kühl.
Celiagreift nach ihren Zigaretten. »Komm, gehen wir raus.«
»Dutust so, als wäre es dir ganz egal, dass wir arm sind«, sagt Rachel, währendsie Celia auf den Balkon folgt. Sie lässt sich auf das Sofa fallen und fängtan, an einem Loch im Polster zu pulen und den Schaumstoff herauszuklauben.
Celiahat sich ans Geländer gestellt. »Hör auf damit« Sie macht eine Kopfbewegungzum Polster. »Wir sind nicht arm.«
»Wasauch immer.«
»Wirleben genügsam.« Celia zündet ihre Zigarette an.
»Willstdu denn wirklich Fotomodell werden? Mal abgesehen vom Geld? Willst du deineFreizeit nach der Schule und am Wochenende damit verbringen, von einemProbeshooting zum nächsten zu hetzen und stundenlang unter heißen Scheinwerfernzu sitzen, anstatt zu spielen?«
»DerTyp hat von tausend Dollar gesprochen.«
»Esist nicht deine Aufgabe, dich um Geld zu kümmern.«
»Wenndu dich zu Tode geraucht hast, muss ich es doch.«
»Ichrauch ja schon weniger.«
»Lügnerin.«Sie springt auf, geht zu Celia und legt die
Händeauf ihren Arm. »Lügnerin, Lügnerin!« ruft sie theatralisch.
»Durauchst sogar mehr als Mika.«
...
©Kunstmann Verlag
Übersetzung:Ulrike Becker
- Autor: Barbara Gowdy
- 2007, 2. Aufl., 336 Seiten, Maße: 14,3 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Ulrike Becker
- Verlag: Verlag Antje Kunstmann
- ISBN-10: 3888974623
- ISBN-13: 9783888974625
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