Ich klage an
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Ayaan Hirsi Ali, geboren 1969 in Somalia, flieht 1992 in die Niederlande. Trotz ständiger Morddrohungen islamischer Fanatiker kehrt sie Anfang 2005 aus einem sicheren Versteck in die Öffentlichkeit zurück.
LESEPROBE
Plädoyer für die Befreiung der muslimischen FrauenMuslimische Frauen, fordert Eure Rechte ein!
Ich wurde inSomalia geboren und wuchs in einer islamischen Familie auf. Als muslimischesMädchen wurde ich mit einem Cousin verheiratet und sollte danach meinrestliches Leben als Hausfrau und Mutter in Isolation verbringen. Doch ich bingeflohen und in die Niederlande gekommen. Das war vor zehn Jahren. In denNiederlanden konnte ich studieren und arbeiten. Hier kann ich auch meineMeinung sagen. Doch diese Meinung wird nicht immer verstanden. Oft werde ichgefragt, warum ich gerade den Islam und die Stellung der Frauen im Islam sokritisiere. Mir wird vorgeworfen, in meinen Äußerungen und Bemerkungen dieseReligion zu diskreditieren. Ich schaffe angeblich ein Bild, wonach allemuslimischen Männer »dumme und gewalttätige Rüpel sind, die ihre Frauenunterdrücken«. Weiter wird mir vorgeworfen, Populisten und Rassisten in dieHände zu spielen. Man sagt, sie würden meine Äußerungen mißbrauchen, um Muslimezu unterdrücken. So sehe ich mich genötigt zu erklären, warum ich dieBehandlung der Frauen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft kritisiere. VierGründe gibt es für meine Kritik:
Mit meinerKenntnis des muslimischen Glaubens und meiner eigenen Erfahrung damit kann ichhoffentlich zur Beendigung der menschenunwürdigen Behandlung muslimischerFrauen und Mädchen beitragen. Ich bin fest von der universellen Gültigkeit derMenschenrechte überzeugt. Als Mitglied des Vorstands von Amnesty Internationalerfüllt es mich mit Sorge, daß die große Mehrheit muslimischer Frauen immernoch dem Dogma der Jungfräulichkeit unterworfen wird. Es verlangt, daß Frauenvöllig unerfahren in die Ehe eintreten. Erfahrungen mit Liebe und Sexualitätvor der Ehe sind ein absolutes Tabu. Dieses Tabu gilt nicht für Männer.Generell haben Männer und Frauen
Ich verabscheueden Islam nicht. Mir ist bewußt, für welche edlen Werte die Religion eintritt,wie zum Beispiel Wohltätigkeit, Gastfreundschaft und Solidarität mit Armen undSchwächeren. Doch wenn es um Frauen geht, muß man klar sehen, daß diemuslimische Religion nicht nur aus Güte und Friedfertigkeit besteht. Im Namendes Islam werden grausame und schreckliche Praktiken aufrechterhalten. Ist esnicht völlig normal, daß man sich als Bürger bemüht, solche Mißstände wieFrauenbeschneidung und Verstoßung an den Pranger zu stellen? Wenn eineangesehene Wissenschaftlerin wie Margo Trappenburg in ihrer Kolumne im NRCHandelsblad die frauenfeindlichen Vorhaben der Christdemokraten in derneuen Regierung kritisiert, wird sie kein rechtschaffener Mensch desChristenhasses bezichtigen.
Natürlichverhalten sich keineswegs alle muslimischen Männer respektlos oder gewalttätiggegenüber Frauen. Ich kenne unzählige wunderbare muslimische Männer, die ihreMütter, Schwestern und Frauen anständig behandeln. Außerdem sind die Männergenauso Opfer dieses Kultes der Jungfräulichkeit, wenn auch nur indirekt. Siewerden dadurch nicht von einer gesunden, ausgeglichenen und gebildeten Muttererzogen, was wiederum einen Nachteil in Hinsicht auf Bildung, Beschäftigung undsoziale Entwicklung darstellt.
Wegen derunverhältnismäßig starken Betonung von »Männlichkeit« in der muslimischenErziehung und wegen der physischen und geistigen Trennung der Geschlechterhaben Männer kaum Gelegenheit, die für ein harmonisches Familienlebenerforderliche Kommunikationsfähigkeit zu erwerben. Daher überrascht es nicht,daß zahlreiche muslimische Frauen in den Niederlanden sich beklagen, daß ihreMänner selten mit ihnen sprechen1. Die Ehen, welche die Familien fürdie noch sehr jungen Töchter im voraus arrangieren, erlegen dem Mann eineschwere Verantwortung auf, die er nicht selbst gewählt hat - für ein Mädchen,das er kaum kennt. Das alles führt häufig zu mangelndem Verständnis, Wut undeinem Gefühl der Ohnmacht. Wenn man als Mann darüber hinaus mit der Vorstellungaufgewachsen ist, daß man eine Frau schlagen darf, ist es nur noch ein kleinerSchritt zur Anwendung von Gewalt. Gegenwärtig haben Frauenhäuser in denNiederlanden einen großen Zustrom von muslimischen Frauen zu verzeichnen. Eswurden sogar eigene Frauenhäuser für muslimische Mädchen eingerichtet, die ausihrem Elternhaus fliehen.
Ironischerweisewird die Unterdrückung von Frauen zu einem großen Teil von anderen Frauenaufrechterhalten. Hier ist ein Zitat von Fatma Katirci2, einertürkischen Imama in Amsterdam, über den Vers im Koran, der Männern das Rechteinräumt, ihre Frauen zu schlagen: »Ja, aber nicht in einem Streit darum, wasan diesem Abend auf den Tisch kommt. Es muß um eine ernsthaftere Sache gehen,etwa um eine Frage der Ehre, wie zum Beispiel Untreue. Wenn eine Frau mit ihremVerhalten den Ruf der Familie schädigt... Wissen Sie, manche Frauen lernenschon aus einem guten Gespräch. Andere ändern ihr Verhalten erst, wenn die Bettengetrennt werden, und manche verhalten sich wirklich neurotisch. Bei denletzteren kann ein kleiner Klaps das letzte Mittel sein, um ihnen den Fehler inihrem Verhalten einsichtig zu machen. Sie dürfen mich nicht mißverstehen: Ichbin dagegen. Schlagen ist entwürdigend, doch wenn es wirklich keine Alternativegibt, muß es sein.«
Diese Äußerungmacht deutlich, daß auch gebildete Frauen oft Probleme haben, Vorstellungenaufzugeben, die ihnen von Kindheit an eingeimpft worden sind. In dentraditionell ausgerichteten muslimischen Gemeinschaften sind es oft die Mütter,die ihre Töchter unter ihrer Fuchtel halten, und die Schwiegermütter, die ihrenSchwiegertöchtern das Leben unerträglich machen. Cousinen und Tanten tratschenendlos übereinander und über andere und tragen mit dieser sozialen Kontrollezum Erhalt ihrer eigenen Unterdrückung bei.
Der zweite Grundfür meine kritische Haltung ist die Gefahr, daß ohne die Emanzipation dermuslimischen Frauen die soziale Benachteiligung der Muslime andauern wird. Ichsehe eine direkte Verbindung zwischen der schlechten Stellung muslimischerFrauen auf der einen Seite und der Rückständigkeit der Muslime in der Bildungund auf dem Arbeitsmarkt, der hohen Rate von Straffälligkeit unter denJugendlichen und ihrer starken Inanspruchnahme von Sozialeinrichtungen auf deranderen Seite. Tatsächlich verweigert die Erziehung den muslimischen MädchenUnabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit - Werte, die von wesentlicherBedeutung für das Vorankommen in den Niederlanden sind.
Eine für dieEmanzipation muslimischer Frauen gefährliche Entwicklung ist die Tatsache, daßdas Alter für die Verheiratung junger Mädchen in den letzten Jahren gesunkenist. Jemanden zu verheiraten bedeutet, ein Mädchen oder eine junge Frau einemunbekannten Mann zur Verfügung zu stellen, der sie dann sexuell ausnutzen kann.Je jünger die Braut, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie Jungfrauist. Tatsächlich handelt es sich hier um eine mit Zustimmung der gesamtenFamilie arrangierte Vergewaltigung. Die Verheiratung bedeutet normalerweise,daß das Mädchen seine Ausbildung nicht abschließen kann oder darf. Leiderwerden immer noch zahlreiche muslimische Mädchen dieser Praxis unterworfen.
Mädchen, denen esnicht gelingt, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, oder die befürchten, daß siein ihrer Hochzeitsnacht nicht bluten (obwohl sie noch nie Sex hatten), lassensich ihr Jungfernhäutchen operativ wiederherstellen. Etwa 10 bis 15 solcherOperationen werden jeden Monat in niederländischen Krankenhäusern durchgeführt.Durch die Tabuisierung des Themas Sex - und auch der Sexualerziehung - werdenmuslimische Mädchen und Frauen ungewollt schwanger oder infizieren sich mitsexuell übertragbaren Krankheiten. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche nimmtwegen des Zustroms marokkanischer und türkischer Frauen zu.
Der dritte Grund,warum ich meine Stimme erhebe, ist der, daß kaum einmal jemand muslimischenFrauen zuhört. Die offiziellen Interessenvertreter sind fast durchweg Männer.Bedenkt man, in welchem Ausmaß die Betroffenen leiden, gibt es zu wenigesoziale Einrichtungen und politische Parteien, die sich aktiv für eineVerbesserung des Schicksals muslimischer Frauen einsetzen. Sprechermuslimischer Organisationen, zugewanderte Politiker mit muslimischem Hintergrundsowie andere Fürsprecher für die Rechte bestimmter Gruppen überbieten sichdarin, die enormen Probleme muslimischer Mädchen und Frauen im Westen zuleugnen, zu trivialisieren oder auszublenden.
In einemInterview3 sagte die Parlamentsabgeordnete Khadija Arib von der(sozialistischen) Partij van de Arbeid folgendes zur Stellungmuslimischer Frauen: »Man glaubt anscheinend, zugewanderte Frauen wollen denganzen Tag isoliert zu Hause sitzen. Das tun sie aber hauptsächlich deshalb,weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen.«
Bei der Eröffnungeiner Mutter-und-Kind-Krippe im Amsterdamer Vorort Bos en Lommer in diesemFrühjahr schlug sie eine spezielle Einrichtung vor, wo Frauen sich den ganzenTag beschäftigen können. Damit leugnet sie den Kern des Problems. In einemgroßen Teil der muslimischen Gemeinschaft existiert immer noch die Vorstellung,Frauen sollten nicht die Freiheit haben, sich außerhalb des Hauses zu bewegenoder zu arbeiten. Eine deutliche Kritik dieses Gedankenguts würde denmuslimischen Frauen mehr nutzen als die Schaffung spezieller»Beschäftigungszentren« für Frauen.
Mein letzterGrund ist die feste Überzeugung, daß die Betonung einer muslimischen Identitätund der entsprechenden Rechte für bestimmte Gruppen nachteilig für muslimischeFrauen wäre. 1999 begann die Feministin und Professorin für Politologie SusanMoller Okin in den Vereinigten Staaten eine Diskussion zwischen denFürsprechern des Multikulturalismus, welche die Förderung und den Erhaltislamischer (und anderer) Gruppenkulturen wünschen, und den Gegnern desMultikulturalismus, zu denen Okin selbst zählt. Ihrer Ansicht nach steht diePolitik zahlreicher westlicher Regierungen, die auf den Erhalt dieserGruppenkulturen ausgerichtet ist, in Konflikt mit ihrer Verfassung: Schließlichsind darin die Prinzipien der Freiheit des einzelnen und die Gleichwertigkeitvon Mann und Frau verankert. Unter anderem kritisiert sie, daß dieMultikulturalisten das Privatleben in den von ihnen verteidigten Kulturenvernachlässigen. Doch genau hier zeigen sich die Unterschiede in derMachtverteilung und die Unterdrückung der Frauen am deutlichsten.
Letztendlichwerden muslimische Frauen in den Niederlanden von der herrschenden westlichenKultur, der die Mehrheit der Bevölkerung folgt, eher profitieren. Sie bietetihnen gute Chancen, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Ich binder lebende Beweis dafür. Deshalb fühle ich mich auch verantwortlich dafür, dasdemokratische System, dem ich persönlich so viel verdanke, zu erhalten und zubeschützen. Im Prinzip haben auch alle niederländischen Muslime dieselbenMenschenrechte, doch überholte religiöse Ansichten hindern sie größtenteils,diese Rechte umzusetzen. Daß das hauptsächlich Frauen betrifft, erfüllt michmit Sorge.
Meiner Ansichtnach sollten die, die denselben Glauben haben wie die unterdrückten Frauen unddie in der niederländischen Gesellschaft erfolgreich sind (ihre Zahl istübrigens nicht sehr groß), sich mehr für ihre Schwestern und Brüder einsetzen.Ich möchte Frauen wie die Schriftstellerin Naima El Bezaz, die offen überFrauen und Sexualität schreibt, ermuntern, religiöse Barrieren zu überwindenund den Kult der Jungfräulichkeit (Koran, Hadith: Traditionen und diedaraus folgenden Praktiken) in Frage zu stellen, anstatt die etablierteTradition einfach weiter hinzunehmen. Das würde ihnen selbst und ihrenSchicksalsgenossinnen nutzen, die bislang weniger Gelegenheit hatten, sich zuentwickeln. Ich erinnere Volksvertreter wie Khadija Arib, Nebahat Albayrak,Naima Azough und Fatima Elatik an ihre Verantwortung. Wir müssen Prioritätensetzen, das heißt, die wichtigsten Dinge zuerst zu erledigen. Weniger wichtigeThemen wie »das Image des Islam« müssen deshalb zurückstehen. Ist dieVorstellung nicht absurd, Allah in all seiner Größe sorge sich um sein Image?
Ich lade dieFürsprecher der multikulturellen Gesellschaft ein, sich mit den Leiden derFrauen vertraut zu machen, die im Namen der Religion zu Hause versklavt werden.Müssen sie erst selbst schlecht behandelt, vergewaltigt, eingesperrt undunterdrückt werden, damit sie sich in die Situation anderer hineinversetzenkönnen? Ist es nicht Heuchelei, solche Praktiken zu verharmlosen oder zutolerieren, während man selbst in Freiheit vom Fortschritt der Menschheitprofitiert?
MinisterpräsidentBalkenende erinnere ich an sein Versprechen, das er im Vorfeld derParlamentswahlen im Mai 2002 gegeben hat, daß eine multikulturelle Gesellschaftfür ihn kein Ziel an sich sei. Was will er gegen die islamische Erziehung undall die anderen Organisationen tun, die zur eigenen Absonderung führen und sozur Fortdauer einer aussichtslosen Tyrannei über Frauen und Kinder beitragen?Oder waren seine Worte nur Wahlrhetorik?
© Piper Verlag
Übersetzung: Anna Berger und Jonathan Krämer
- Autor: Ayaan Hirsi Ali
- 2005, 4. Aufl., 213 Seiten, Maße: 12,6 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Anna Berger, Jonathan Krämer
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492047939
- ISBN-13: 9783492047937
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