Ich war Kriegsbeute
"Komm, Frau, raboti"
Ein junges Mädchen in den Händen russischer Soldaten. Als Vierzehnjährige erlebt Leonie in der Stadt Breslau Vergewaltigung, Verschleppung und Zwangsarbeit.
Erschütternde Erinnerungen.
Leonie ist...
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Produktinformationen zu „Ich war Kriegsbeute “
Ein junges Mädchen in den Händen russischer Soldaten. Als Vierzehnjährige erlebt Leonie in der Stadt Breslau Vergewaltigung, Verschleppung und Zwangsarbeit.
Erschütternde Erinnerungen.
Leonie ist vierzehn Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder im Januar 1945 aus Breslau flüchten muss. Weit kommt sie nicht, denn die Rote Armee hat die Stadt in einem weitläufigen Ring umzingelt. Die Flüchtlinge müssen wieder umkehren und geraten schon Anfang Februar in die Hände der Russen. Es folgen Vergewaltigung, Verschleppung und Zwangsarbeit. Der drohenden Deportation nach Russland entgeht Leonie nur durch eine abenteuerliche Flucht mit Hilfe eines russischen Soldaten. In der fast völlig zerstörten Stadt Breslau beginnt nun der Kampf ums Überleben.
Lese-Probe zu „Ich war Kriegsbeute “
Ich war Kriegsbeute von Leonie BiallasKAPITEL 1
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Breslau ist zur Festung erklärt worden. Gauleiter Karl Hanke wird, wie alle Gauleiter im Osten, vom Führer zum Reichsverteidigungskommissar ernannt. Das bedeutet das Todesur-teil für unsere wunderschöne Stadt. Am 19. Januar 1945 ergeht ein Erlass, dass alle Zivilisten die Stadt zu verlassen haben. Die Bahnhöfe sind überfüllt. Es fahren nicht genügend Züge. Die Menschen warten in eisiger Kälte zwei bis drei Tage, bis sie fortkommen. Es entsteht ein fürchterliches Chaos. Mütter verlieren ihre Kinder, und Kinder schreien nach ihren Müttern. Schwangere gebären in zugigen Bahnhofshallen zu früh. Viele Menschen bleiben zurück oder müssen zu Fuß flüchten.
Verteidigen bis zum letzten Mann heißt die Devise.
Bis jetzt haben wir nicht viele Bombennächte erlebt. Flieger-alarm hat es oft gegeben, und viele Flugzeuge haben die Stadt überflogen. Ihre Bomben haben sie - ich weiß nicht wo - ab-geladen und sind dann zurückgekehrt, was uns das zweite Mal in der Nacht in den Luftschutzkeller getrieben hat. Manchmal haben sie auf dem Rückweg eine vergessene Bombe abgeworfen; oft ist das aber nicht geschehen. Somit ist die Stadt nahezu unversehrt geblieben.
Die Zerstörung der Stadt beginnt nun mit dem Bau einer Rollbahn mitten in Breslau. Rund um den Scheidniger Stern werden zuerst die alten Bäume gefällt und dann Häuser gesprengt. Ganze Straßenzüge sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Alle Frauen und Männer sowie Jungen ab zehn und Mädchen ab zwölf werden zur Arbeit zwangsverpflichtet. Es sind immer noch viele da, die dem Aufruf zur Flucht nicht gefolgt sind. Sie alle bekommen eine Arbeitskarte, die sie täglich abstempeln lassen müssen. Wenn sie sich nicht daran halten, bekommen sie keine Lebensmittelkarten.
Über den Rundfunk hört man immer wieder die Parolen:
»Unser Volk muss leben, wenn es auch unser kleines persönliches Leben kosten sollte! Es wird nicht kapituliert! Es wird gekämpft bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone! Es lebe unser geliebter Führer!«
Täglich werden standrechtliche Erschießungen vorgenommen:
Am 28. Januar wird Dr. Wolfgang Spielhagen, Vizebürgermeister der Stadt, erschossen.
Am 1. Februar Regierungsdirektor Dr. Felix Sommer.
Am 4. Februar der Bürgermeister von Brockau, Bruno Kurzbach.
Am 6. Februar der Bürgermeister von Klettendorf, Eugen Pfand.
Und das wegen angeblich defätistischer Äußerungen. Dieses Schicksal ereilt noch viele Namenlose, dazu Deserteure, die sich dem Flüchtlingsstrom anschließen wollen.
Beim Bau der Rollbahn kommen viele Menschen um, weil jetzt russische Flugzeuge die Stadt täglich bombardieren. Trotzdem wird sie fertiggestellt. Ursprünglich sollten von dort aus Verwundete und Flüchtlingen ausgeflogen werden.
Es ist nur ein einziges Flugzeug gestartet - mit Gauleiter Hanke!
Keiner glaubt mehr an den Endsieg. Der gut ausgerüsteten Roten Armee stehen ausgemergelte, desillusionierte deutsche Soldaten gegenüber. Und der Volkssturm: Kinder und alte Männer. Die sowjetische Sechste Armee ist den deutschen Truppen um das Sechs- bis Achtfache überlegen. Die Menschen hoffen, dass die Russen die Stadt bald erobern, denn je länger es dauert, desto größer ist die Zerstörung durch Bomben und eigene Streitkräfte.
Es ist bitter kalt in diesen Januartagen des Jahres 1945. Flüchtlinge, die schon tagelang aus dem Osten unterwegs sind, berichten von schrecklichen Geschehnissen. Kinder, Kranke und Alte sind auf der Flucht umgekommen. Da der Boden hart gefroren ist, konnte man sie nicht beerdigen. Man hat sie unter Schneehügeln bestattet. Manchmal waren es so viele, dass man sie zu Haufen aufeinanderlegte und später in Massengräbern beisetzte. Die Menschen in Breslau fürchten, das gleiche Schicksal zu erleiden, und so wollen viele bleiben.
Am 20. Januar werden sie aber unter Druck gesetzt mit der Androhung, keine Lebensmittelkarten zu erhalten. Parteibonzen und Blockleiter jagen die Menschen förmlich aus ihren Wohnungen.
Wir wohnen im Stadtteil Bischofswalde am Ostrand. Die meisten Familien sind schon evakuiert. In den Häusern befinden sich bereits deutsche Soldaten.
Wir haben das Glück, dass mein Vater als Soldat auf dem Fliegerhorst Gandau stationiert ist. Er hat als Fourier für die Verpflegung der Truppe zu sorgen. Ihm stehen ein leichter, gummibereifter kleiner Wagen und ein Schimmel namens Timoschenko zur Verfügung. Damit wird er uns erst mal zu unseren Verwandten nach Malkwitz bringen. Der Ort liegt im Kreis Kanth, fünfzehn Kilometer westlich von Breslau.
Am Morgen des 21. Januar holt er uns ab. Wir laden so viel wie nötig und so wenig wie möglich auf den Wagen, nur das, was wir zur Not zur weiteren Flucht von Malkwitz mitnehmen können.
Papa bringt mir noch ein Paar blaue Pumps und eine hell-blaue Bluse mit. Diese Sachen sind noch haufenweise als Klei-dung für Luftwaffenhelferinnen gelagert worden. Er packt uns noch einige Köstlichkeiten ein, die wir unseren Verwandten mitnehmen sollen: Bohnenkaffee, Schokolade und Schnaps. Auf Nebenstraßen erreichen wir verhältnismäßig schnell unser Ziel. Mein Vater kennt sich gut aus. Er ist in Malkwitz geboren und aufgewachsen. Trotzdem sind auch hier Wagen und Flüchtlinge unterwegs. Wie gerne wäre er bei uns geblieben und mit uns geflüchtet, samt Pferd und Wagen. Aber es ist zu gefährlich. Er muss zurück zu seiner Einheit.
In der Stadt spitzt sich die Lage immer mehr zu. Die Rote Armee kreist die Stadt ein. Am 15. Februar ist der Belagerungsring geschlossen.
Aber immer noch lautet der Befehl aus Berlin: Breslau muss um jeden Preis gehalten werden. Man will die russischen Truppen möglichst lange beim Kampf um Breslau binden, um Berlin zu entlasten, was auch insofern Erfolg hat, dass Breslau zwei Tage später fällt als die deutsche Hauptstadt.
Jetzt kämpfen die deutschen Truppen an zwei Fronten. Während die Front im Osten der Stadt zunächst gehalten wird, marschiert der Feind von Westen her so schnell voran, dass er auf Flüchtlinge trifft, die ihm aus Breslau entgegenkommen.
In Breslau werden jetzt Barrikaden gebaut. Mein Vater gehört nun auch einem Spreng- und Brandkommando an. Es werden systematisch Brandstätten errichtet. Möbel, Bettzeug, Bücher und alles andere Brennbare werden auf die Straße geworfen und angezündet. Das Feuer darf nicht verlöschen. Auch wertvolle Möbel werden nicht ausgenommen.
Mein Vater aber wirft nicht alles ins Feuer. Heimlich belädt er seinen Wagen mit Nützlichem, das verbrannt werden soll, und ab geht's mit Timoschenko nach Bischofswalde. So bringt er Decken, Wäsche, Kleidung und Stoffballen in unsere Wohnung. Er stapelt die Sachen auf dem Boden, im Keller und im Gartenhäuschen, zusammen mit Lebensmitteln: Dosen, Dauer-wurst, ein Sack Mehl, ein Sack Zucker und vieles mehr.
Als wir ein halbes Jahr später zurückkommen, wird eine Menge geplündert sein, aber immer noch ist genug da, um mit dem Verkauf von vielen nützlichen Sachen unseren Lebensunterhalt teilweise bestreiten zu können.
Er darf sich dabei natürlich nicht erwischen lassen, denn das wäre unerlaubte Entfernung von der Truppe und Plünderung gewesen. Das hätte Standgericht bedeutet.
Für die Barrikaden werden Steine von Gräbern und Gruften auf der Straße gestapelt.
Im Westen der Stadt fängt man an, schöne alte Villen mit allen kostbaren Möbeln einfach zu sprengen. Systematisch wird nun zerstört, um die Russen aufzuhalten.
Die Russen stellen ein Ultimatum:
»Deutsche Soldaten und Offiziere. Der Staatsmann Hitler hat in der Heimat eine Willkürherrschaft errichtet. Die völlige Einkreisung der Stadt Breslau und der deutschen Truppen ist abgeschlossen. Stellen Sie die verbrecherische und sinnlose Ausrottung Ihrer Truppen ein. Stellen Sie das Schießen ein.«
Keine Reaktion von deutscher Seite. So wird dann zu Ostern die Zerstörung der Stadt vervollständigt. Bei einem Luftangriff werden fünftausend Bomben, hauptsächlich Brandbomben, ab-geworfen. Ein orkanartiger Sturm facht das Feuer zusätzlich an. Die vorher zerstörten Häuser brennen nun vollständig aus und dazu noch viele, die verschont geblieben waren. Und viele Menschen sterben sinnlos, obwohl der Krieg schon verloren ist. Breslau brennt zwei Monate lang. Das Inferno ist kilometer-weit zu sehen. Es wird nicht dunkel in jenen Nächten.
In Malkwitz wohnen zwei Brüder von Papa mit ihren Familien. Jeder besitzt einen Bauernhof. Onkel Paul und Tante Ma-riechen haben eine Tochter Hertha, sechzehn, und einen Sohn Lothar, fünfzehn Jahre alt. Ihnen gehört der größere Hof. Onkel Reinhold (ist beim Volkssturm) und Tante Hedel haben drei Kinder, Manfred fünfzehn, Helga vierzehn und Ludwig neun Jahre alt.
Das Dorf rüstet ebenfalls zum Aufbruch. Papa rät uns, es mit der Bahn zu versuchen. Er hat erfahren, dass immer noch ab und zu Züge fahren. Auch meine Tante Else ist noch in Breslau und wartet auf die Möglichkeit, die Stadt auf dem Schienen-wege verlassen zu können. So beschließen wir, den Versuch zu unternehmen, mit der Bahn wegzukommen.
Ein Kilometer von Malkwitz entfernt liegt der Bahnhof Sadewitz. Wir erfahren, dass gestern noch Züge gefahren sind und auch hier gehalten haben. Wir wissen, dass die Züge bombardiert werden, aber das werden die Flüchtlingstrecks ebenfalls. Haben wir überhaupt eine Wahl? Wir wollen weg. Das Risiko scheint uns kleiner zu sein als hier zu bleiben. Aber ob und wann die Züge fahren, kann man uns nur am Bahnhof sagen. Mein Bruder und ich marschieren also an einem Vormittag los. Es ist ein strahlender Wintertag. Der frisch gefallene Schnee glitzert in der Morgensonne. Wir möchten am liebsten über die weiten Felder laufen und uns im Schnee wälzen. Aber mein Onkel hat uns eingeschärft:
»Bleibt auf der Allee, da könnt ihr euch besser hinter den Bäumen verstecken. Auf den weißen Feldern hebt ihr euch viel zu sehr ab. Ein Flugzeug kann euch schon aus relativ weiter Entfernung sehen. Der Bahnhof ist schon ein paar Mal beschossen worden.«
Die Straße ist recht belebt mit Menschen, die auf dem Weg zum Bahnhof sind, und anderen, die schon zurückkommen. Sie ziehen Schlitten hinter sich her, hoch beladen mit ihren Habseligkeiten.
»Es fährt kein Zug mehr«, sagen sie.
»Gestern fuhr der letzte. Doch der war schon so voll, dass wir nicht mitgekommen sind.«
Manchmal springen die Leute auf langsam fahrende Züge auf. Das Gepäck lassen sie zurück. Es werden auch Koffer aus dem Zug geworfen, um mehr Flüchtlingen Platz zu schaffen. So stapeln sich Gepäckstücke auf den Bahnhöfen, und selbst auf freier Strecke liegen sie herum. Kein Mensch beachtet sie.
Wir gehen trotzdem noch zum Bahnhof. Da ist sogar noch Personal. Aber keiner weiß etwas Genaues. Plötzlich, wie ein Wunder, nähert sich ein Zug. Er bleibt stehen. Er ist zwar voll, aber es ist immer noch Platz vorhanden. Die Menschen, welche auf dem Bahnhof gehofft und gewartet haben, steigen ein. Und dann passiert noch ein Wunder. Wir hören unsere Namen: Tante Else ist im Zug. Sie hatte gehofft, uns zu treffen.
»Gott sei dank«, ruft sie, »kommt, steigt ein!«
»Aber Mutti ist nicht dabei. Wir wollten uns doch bloß mal erkundigen.«
Sie kann es nicht fassen und drängt uns, trotzdem mitzufahren. Aber wir wollen nicht ohne unsere Mutter weg.
Der Zug fährt an. Eine letzte Umarmung. Wir bleiben zurück. Versprechen, es morgen mit Mutti zu versuchen. Doch das ist nun wirklich der allerletzte Zug gewesen.
Traurig trotten wir nach Hause. Da, plötzlich Motorengeräusch! Die Menschen springen in den Straßengraben, wir gleichfalls. Und schon hören wir Maschinengewehrfeuer. Die einmotorigen Doppeldecker fliegen langsam und so niedrig, dass wir die Gesichter der Besatzung erkennen können. Auch sie sehen uns - aber erst als sie direkt über uns sind. Und da sind sie auch schon weg.
»Los, rennt schnell auf die andere Seite, hinter die Büsche, sie kommen zurück!«, schreit ein Mann.
»Das machen die immer so.«
Und wirklich dauert es nicht lange: Die vier Flugzeuge kehren zurück. Wieder schießen sie und verschwinden, ohne jemanden getroffen zu haben.
Im Dorf herrscht Aufbruchstimmung. Die Bauern beladen ihre Wagen, überlegen, laden ab und um. Möbel werden aufgeladen sowie Hausrat. Und vor allen Dingen Betten.
Alles wird mit Schnüren festgezurrt. Die Betten werden so platziert, dass Kinder, Alte und Kranke darauf sitzen können.
Der Treck muss organisiert werden. Es wird festgelegt, in welcher Reihenfolge sich die Wagen in den großen Flüchtlings-strom einreihen sollen.
Aber nicht alle besitzen Pferde. Auch meine Verwandten nicht. Wer nicht über Transportmittel verfügt, bekommt einen Platz auf einem der anderen Wagen. So dürfen wir unsere Sachen auf den Wagen von Familie M. laden. Platz ist knapp und begrenzt.
Am 30. Januar brechen wir auf. Nur wenige bleiben im Dorf zurück.
Auf der Hauptstraße quält sich der Flüchtlingsstrom voran. Aus den Nebenstraßen quellen weitere Wagen und verstopfen die Kreuzungen.
Es dauert Stunden, bis wir uns in den Treck eingereiht haben. Immer wieder kommt es zum Stillstand. Manchmal steht ein Wagen quer. Pferde, die schon tagelang unterwegs sind, brechen erschöpft zusammen. Wir sind den ganzen Tag unter-wegs und schaffen dabei nur fünfzehn Kilometer.
In einem kleinen Dorf machen wir Halt. Es ist wie ausgestorben.
Aber die Einwohner können noch nicht lange weg sein, viel-leicht einen, höchstens zwei Tage.
Wir werden auf die einzelnen Höfe und Häuser verteilt. Die Pferde werden ausgespannt und versorgt. Wir hören überall Kühe, die vor Schmerz brüllen. Bäuerinnen machen sich auf den Weg, um sie zu melken. Manche Euter sind schon entzündet. Diese Tiere werden bald sterben, denn niemand kann ihnen helfen. Es liegen schon Kadaver herum.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Breslau ist zur Festung erklärt worden. Gauleiter Karl Hanke wird, wie alle Gauleiter im Osten, vom Führer zum Reichsverteidigungskommissar ernannt. Das bedeutet das Todesur-teil für unsere wunderschöne Stadt. Am 19. Januar 1945 ergeht ein Erlass, dass alle Zivilisten die Stadt zu verlassen haben. Die Bahnhöfe sind überfüllt. Es fahren nicht genügend Züge. Die Menschen warten in eisiger Kälte zwei bis drei Tage, bis sie fortkommen. Es entsteht ein fürchterliches Chaos. Mütter verlieren ihre Kinder, und Kinder schreien nach ihren Müttern. Schwangere gebären in zugigen Bahnhofshallen zu früh. Viele Menschen bleiben zurück oder müssen zu Fuß flüchten.
Verteidigen bis zum letzten Mann heißt die Devise.
Bis jetzt haben wir nicht viele Bombennächte erlebt. Flieger-alarm hat es oft gegeben, und viele Flugzeuge haben die Stadt überflogen. Ihre Bomben haben sie - ich weiß nicht wo - ab-geladen und sind dann zurückgekehrt, was uns das zweite Mal in der Nacht in den Luftschutzkeller getrieben hat. Manchmal haben sie auf dem Rückweg eine vergessene Bombe abgeworfen; oft ist das aber nicht geschehen. Somit ist die Stadt nahezu unversehrt geblieben.
Die Zerstörung der Stadt beginnt nun mit dem Bau einer Rollbahn mitten in Breslau. Rund um den Scheidniger Stern werden zuerst die alten Bäume gefällt und dann Häuser gesprengt. Ganze Straßenzüge sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Alle Frauen und Männer sowie Jungen ab zehn und Mädchen ab zwölf werden zur Arbeit zwangsverpflichtet. Es sind immer noch viele da, die dem Aufruf zur Flucht nicht gefolgt sind. Sie alle bekommen eine Arbeitskarte, die sie täglich abstempeln lassen müssen. Wenn sie sich nicht daran halten, bekommen sie keine Lebensmittelkarten.
Über den Rundfunk hört man immer wieder die Parolen:
»Unser Volk muss leben, wenn es auch unser kleines persönliches Leben kosten sollte! Es wird nicht kapituliert! Es wird gekämpft bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone! Es lebe unser geliebter Führer!«
Täglich werden standrechtliche Erschießungen vorgenommen:
Am 28. Januar wird Dr. Wolfgang Spielhagen, Vizebürgermeister der Stadt, erschossen.
Am 1. Februar Regierungsdirektor Dr. Felix Sommer.
Am 4. Februar der Bürgermeister von Brockau, Bruno Kurzbach.
Am 6. Februar der Bürgermeister von Klettendorf, Eugen Pfand.
Und das wegen angeblich defätistischer Äußerungen. Dieses Schicksal ereilt noch viele Namenlose, dazu Deserteure, die sich dem Flüchtlingsstrom anschließen wollen.
Beim Bau der Rollbahn kommen viele Menschen um, weil jetzt russische Flugzeuge die Stadt täglich bombardieren. Trotzdem wird sie fertiggestellt. Ursprünglich sollten von dort aus Verwundete und Flüchtlingen ausgeflogen werden.
Es ist nur ein einziges Flugzeug gestartet - mit Gauleiter Hanke!
Keiner glaubt mehr an den Endsieg. Der gut ausgerüsteten Roten Armee stehen ausgemergelte, desillusionierte deutsche Soldaten gegenüber. Und der Volkssturm: Kinder und alte Männer. Die sowjetische Sechste Armee ist den deutschen Truppen um das Sechs- bis Achtfache überlegen. Die Menschen hoffen, dass die Russen die Stadt bald erobern, denn je länger es dauert, desto größer ist die Zerstörung durch Bomben und eigene Streitkräfte.
Es ist bitter kalt in diesen Januartagen des Jahres 1945. Flüchtlinge, die schon tagelang aus dem Osten unterwegs sind, berichten von schrecklichen Geschehnissen. Kinder, Kranke und Alte sind auf der Flucht umgekommen. Da der Boden hart gefroren ist, konnte man sie nicht beerdigen. Man hat sie unter Schneehügeln bestattet. Manchmal waren es so viele, dass man sie zu Haufen aufeinanderlegte und später in Massengräbern beisetzte. Die Menschen in Breslau fürchten, das gleiche Schicksal zu erleiden, und so wollen viele bleiben.
Am 20. Januar werden sie aber unter Druck gesetzt mit der Androhung, keine Lebensmittelkarten zu erhalten. Parteibonzen und Blockleiter jagen die Menschen förmlich aus ihren Wohnungen.
Wir wohnen im Stadtteil Bischofswalde am Ostrand. Die meisten Familien sind schon evakuiert. In den Häusern befinden sich bereits deutsche Soldaten.
Wir haben das Glück, dass mein Vater als Soldat auf dem Fliegerhorst Gandau stationiert ist. Er hat als Fourier für die Verpflegung der Truppe zu sorgen. Ihm stehen ein leichter, gummibereifter kleiner Wagen und ein Schimmel namens Timoschenko zur Verfügung. Damit wird er uns erst mal zu unseren Verwandten nach Malkwitz bringen. Der Ort liegt im Kreis Kanth, fünfzehn Kilometer westlich von Breslau.
Am Morgen des 21. Januar holt er uns ab. Wir laden so viel wie nötig und so wenig wie möglich auf den Wagen, nur das, was wir zur Not zur weiteren Flucht von Malkwitz mitnehmen können.
Papa bringt mir noch ein Paar blaue Pumps und eine hell-blaue Bluse mit. Diese Sachen sind noch haufenweise als Klei-dung für Luftwaffenhelferinnen gelagert worden. Er packt uns noch einige Köstlichkeiten ein, die wir unseren Verwandten mitnehmen sollen: Bohnenkaffee, Schokolade und Schnaps. Auf Nebenstraßen erreichen wir verhältnismäßig schnell unser Ziel. Mein Vater kennt sich gut aus. Er ist in Malkwitz geboren und aufgewachsen. Trotzdem sind auch hier Wagen und Flüchtlinge unterwegs. Wie gerne wäre er bei uns geblieben und mit uns geflüchtet, samt Pferd und Wagen. Aber es ist zu gefährlich. Er muss zurück zu seiner Einheit.
In der Stadt spitzt sich die Lage immer mehr zu. Die Rote Armee kreist die Stadt ein. Am 15. Februar ist der Belagerungsring geschlossen.
Aber immer noch lautet der Befehl aus Berlin: Breslau muss um jeden Preis gehalten werden. Man will die russischen Truppen möglichst lange beim Kampf um Breslau binden, um Berlin zu entlasten, was auch insofern Erfolg hat, dass Breslau zwei Tage später fällt als die deutsche Hauptstadt.
Jetzt kämpfen die deutschen Truppen an zwei Fronten. Während die Front im Osten der Stadt zunächst gehalten wird, marschiert der Feind von Westen her so schnell voran, dass er auf Flüchtlinge trifft, die ihm aus Breslau entgegenkommen.
In Breslau werden jetzt Barrikaden gebaut. Mein Vater gehört nun auch einem Spreng- und Brandkommando an. Es werden systematisch Brandstätten errichtet. Möbel, Bettzeug, Bücher und alles andere Brennbare werden auf die Straße geworfen und angezündet. Das Feuer darf nicht verlöschen. Auch wertvolle Möbel werden nicht ausgenommen.
Mein Vater aber wirft nicht alles ins Feuer. Heimlich belädt er seinen Wagen mit Nützlichem, das verbrannt werden soll, und ab geht's mit Timoschenko nach Bischofswalde. So bringt er Decken, Wäsche, Kleidung und Stoffballen in unsere Wohnung. Er stapelt die Sachen auf dem Boden, im Keller und im Gartenhäuschen, zusammen mit Lebensmitteln: Dosen, Dauer-wurst, ein Sack Mehl, ein Sack Zucker und vieles mehr.
Als wir ein halbes Jahr später zurückkommen, wird eine Menge geplündert sein, aber immer noch ist genug da, um mit dem Verkauf von vielen nützlichen Sachen unseren Lebensunterhalt teilweise bestreiten zu können.
Er darf sich dabei natürlich nicht erwischen lassen, denn das wäre unerlaubte Entfernung von der Truppe und Plünderung gewesen. Das hätte Standgericht bedeutet.
Für die Barrikaden werden Steine von Gräbern und Gruften auf der Straße gestapelt.
Im Westen der Stadt fängt man an, schöne alte Villen mit allen kostbaren Möbeln einfach zu sprengen. Systematisch wird nun zerstört, um die Russen aufzuhalten.
Die Russen stellen ein Ultimatum:
»Deutsche Soldaten und Offiziere. Der Staatsmann Hitler hat in der Heimat eine Willkürherrschaft errichtet. Die völlige Einkreisung der Stadt Breslau und der deutschen Truppen ist abgeschlossen. Stellen Sie die verbrecherische und sinnlose Ausrottung Ihrer Truppen ein. Stellen Sie das Schießen ein.«
Keine Reaktion von deutscher Seite. So wird dann zu Ostern die Zerstörung der Stadt vervollständigt. Bei einem Luftangriff werden fünftausend Bomben, hauptsächlich Brandbomben, ab-geworfen. Ein orkanartiger Sturm facht das Feuer zusätzlich an. Die vorher zerstörten Häuser brennen nun vollständig aus und dazu noch viele, die verschont geblieben waren. Und viele Menschen sterben sinnlos, obwohl der Krieg schon verloren ist. Breslau brennt zwei Monate lang. Das Inferno ist kilometer-weit zu sehen. Es wird nicht dunkel in jenen Nächten.
In Malkwitz wohnen zwei Brüder von Papa mit ihren Familien. Jeder besitzt einen Bauernhof. Onkel Paul und Tante Ma-riechen haben eine Tochter Hertha, sechzehn, und einen Sohn Lothar, fünfzehn Jahre alt. Ihnen gehört der größere Hof. Onkel Reinhold (ist beim Volkssturm) und Tante Hedel haben drei Kinder, Manfred fünfzehn, Helga vierzehn und Ludwig neun Jahre alt.
Das Dorf rüstet ebenfalls zum Aufbruch. Papa rät uns, es mit der Bahn zu versuchen. Er hat erfahren, dass immer noch ab und zu Züge fahren. Auch meine Tante Else ist noch in Breslau und wartet auf die Möglichkeit, die Stadt auf dem Schienen-wege verlassen zu können. So beschließen wir, den Versuch zu unternehmen, mit der Bahn wegzukommen.
Ein Kilometer von Malkwitz entfernt liegt der Bahnhof Sadewitz. Wir erfahren, dass gestern noch Züge gefahren sind und auch hier gehalten haben. Wir wissen, dass die Züge bombardiert werden, aber das werden die Flüchtlingstrecks ebenfalls. Haben wir überhaupt eine Wahl? Wir wollen weg. Das Risiko scheint uns kleiner zu sein als hier zu bleiben. Aber ob und wann die Züge fahren, kann man uns nur am Bahnhof sagen. Mein Bruder und ich marschieren also an einem Vormittag los. Es ist ein strahlender Wintertag. Der frisch gefallene Schnee glitzert in der Morgensonne. Wir möchten am liebsten über die weiten Felder laufen und uns im Schnee wälzen. Aber mein Onkel hat uns eingeschärft:
»Bleibt auf der Allee, da könnt ihr euch besser hinter den Bäumen verstecken. Auf den weißen Feldern hebt ihr euch viel zu sehr ab. Ein Flugzeug kann euch schon aus relativ weiter Entfernung sehen. Der Bahnhof ist schon ein paar Mal beschossen worden.«
Die Straße ist recht belebt mit Menschen, die auf dem Weg zum Bahnhof sind, und anderen, die schon zurückkommen. Sie ziehen Schlitten hinter sich her, hoch beladen mit ihren Habseligkeiten.
»Es fährt kein Zug mehr«, sagen sie.
»Gestern fuhr der letzte. Doch der war schon so voll, dass wir nicht mitgekommen sind.«
Manchmal springen die Leute auf langsam fahrende Züge auf. Das Gepäck lassen sie zurück. Es werden auch Koffer aus dem Zug geworfen, um mehr Flüchtlingen Platz zu schaffen. So stapeln sich Gepäckstücke auf den Bahnhöfen, und selbst auf freier Strecke liegen sie herum. Kein Mensch beachtet sie.
Wir gehen trotzdem noch zum Bahnhof. Da ist sogar noch Personal. Aber keiner weiß etwas Genaues. Plötzlich, wie ein Wunder, nähert sich ein Zug. Er bleibt stehen. Er ist zwar voll, aber es ist immer noch Platz vorhanden. Die Menschen, welche auf dem Bahnhof gehofft und gewartet haben, steigen ein. Und dann passiert noch ein Wunder. Wir hören unsere Namen: Tante Else ist im Zug. Sie hatte gehofft, uns zu treffen.
»Gott sei dank«, ruft sie, »kommt, steigt ein!«
»Aber Mutti ist nicht dabei. Wir wollten uns doch bloß mal erkundigen.«
Sie kann es nicht fassen und drängt uns, trotzdem mitzufahren. Aber wir wollen nicht ohne unsere Mutter weg.
Der Zug fährt an. Eine letzte Umarmung. Wir bleiben zurück. Versprechen, es morgen mit Mutti zu versuchen. Doch das ist nun wirklich der allerletzte Zug gewesen.
Traurig trotten wir nach Hause. Da, plötzlich Motorengeräusch! Die Menschen springen in den Straßengraben, wir gleichfalls. Und schon hören wir Maschinengewehrfeuer. Die einmotorigen Doppeldecker fliegen langsam und so niedrig, dass wir die Gesichter der Besatzung erkennen können. Auch sie sehen uns - aber erst als sie direkt über uns sind. Und da sind sie auch schon weg.
»Los, rennt schnell auf die andere Seite, hinter die Büsche, sie kommen zurück!«, schreit ein Mann.
»Das machen die immer so.«
Und wirklich dauert es nicht lange: Die vier Flugzeuge kehren zurück. Wieder schießen sie und verschwinden, ohne jemanden getroffen zu haben.
Im Dorf herrscht Aufbruchstimmung. Die Bauern beladen ihre Wagen, überlegen, laden ab und um. Möbel werden aufgeladen sowie Hausrat. Und vor allen Dingen Betten.
Alles wird mit Schnüren festgezurrt. Die Betten werden so platziert, dass Kinder, Alte und Kranke darauf sitzen können.
Der Treck muss organisiert werden. Es wird festgelegt, in welcher Reihenfolge sich die Wagen in den großen Flüchtlings-strom einreihen sollen.
Aber nicht alle besitzen Pferde. Auch meine Verwandten nicht. Wer nicht über Transportmittel verfügt, bekommt einen Platz auf einem der anderen Wagen. So dürfen wir unsere Sachen auf den Wagen von Familie M. laden. Platz ist knapp und begrenzt.
Am 30. Januar brechen wir auf. Nur wenige bleiben im Dorf zurück.
Auf der Hauptstraße quält sich der Flüchtlingsstrom voran. Aus den Nebenstraßen quellen weitere Wagen und verstopfen die Kreuzungen.
Es dauert Stunden, bis wir uns in den Treck eingereiht haben. Immer wieder kommt es zum Stillstand. Manchmal steht ein Wagen quer. Pferde, die schon tagelang unterwegs sind, brechen erschöpft zusammen. Wir sind den ganzen Tag unter-wegs und schaffen dabei nur fünfzehn Kilometer.
In einem kleinen Dorf machen wir Halt. Es ist wie ausgestorben.
Aber die Einwohner können noch nicht lange weg sein, viel-leicht einen, höchstens zwei Tage.
Wir werden auf die einzelnen Höfe und Häuser verteilt. Die Pferde werden ausgespannt und versorgt. Wir hören überall Kühe, die vor Schmerz brüllen. Bäuerinnen machen sich auf den Weg, um sie zu melken. Manche Euter sind schon entzündet. Diese Tiere werden bald sterben, denn niemand kann ihnen helfen. Es liegen schon Kadaver herum.
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Autoren-Porträt von Leonie Biallas
Leonie Biallas, geboren 1930 in Breslau, verheiratet, zwei Kinder, zwei Enkelinnen.Wohnhaft in Hürth bei Köln seit 1971. Lyrik und Prosa Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitungen und Broschüren. Mitglied in der Schreibwerkstatt „Gedankensprung" Köln, zahlreiche Lesungen und Preisträgerin beim Autorenwettbewerb in Lohmar zum Thema „Frauenbilder 2005".
Bibliographische Angaben
- Autor: Leonie Biallas
- 176 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654420
- ISBN-13: 9783863654429
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