Im Licht der Goldenen Stadt
Prag ist beliebter denn je. Die Goldene Stadt an der Moldau zieht mehr Besucher an als Venedig oder Florenz. Das Prag-Lesebuch lädt ein zu einer literarischen...
Prag ist beliebter denn je. Die Goldene Stadt an der Moldau zieht mehr Besucher an als Venedig oder Florenz. Das Prag-Lesebuch lädt ein zu einer literarischen Reise durch die Stadt der 100 Türme. Der Band versammelt herzerwärmende und nachdenkliche, spannende und schelmische Erzählungen klassischer wie moderner Autoren von Milan Kundera bis Bohumil Hrabal, von Jaroslav HaSek bis zu Franz Kafka.
Prag ist beliebter denn je. Die Goldene Stadt an der Moldau zieht mehr Besucher an als Venedig oder Florenz. Das Prag-Lesebuch lädt ein zu einer literarischen Reise durch die Stadt der 100 Türme. Der Band versammelt herzerwärmende und nachdenkliche, spannende und schelmische Erzählungen klassischer wie moderner Autoren von Milan Kundera bis Bohumil Hrabal, von Jaroslav Haš ek bis zu Franz Kafka.
"Zum erfundenen, projizierten, imaginierten Venedig sind schöne lange Texte zusammengestellt; begleitet von ausführlichen Kommentaren, bio- und bibliografischen Anmerkungen: Venedig zum Lesen." - Die Zeit über "Das Licht von San Marco. Ein Venedig-Lesebuch"
Im Licht der goldenen Stadt herausgegeben von Franz Loquai
LESEPROBE
Ota Filip
Prag ist eine europäische Stadt
Was blieb nach 1945 von der großartigen, natürlich vorwiegend deutschsprachigenjüdischen Kultur in Prag zurück? Der alte jüdische Friedhof mitten in Prag mitseinen in vier Jahrhunderten künstlich aufgeschütteten zwölf Erdschichten, mit ebensovielen Gräberschichten und mit mehr als 12|000 Grabsteinen,ist heute - leider - eine Touristenattraktion; es blieben die Alt-NeueSynagoge, ein jüdisches Museum, mehr als 77|000 von denNazis ermordete böhmische Juden und dann nur Geschichten, Legenden, Märchen undErzählungen aus einer großen, mehr als tausendjährigen Geschichte des PragerJudentums. Und Franz Kafka? Der wird in Prag inzwischen ganz geschickt vermarktet.Es wird nicht lange dauern, und westliche Touristen werden sich in Prag schickeT-Shirts mit der Aufschrift »I love Kafka« oder Wandteller mit Kafkas traurigemGesicht kaufen können. Erst dann wird es in Prag richtig »kafkaesk«. Aber wennSie Kafkas Prag erleben wollen, dann besuchen Sie Franz Kafka auf dem jüdischenTeil des Friedhofs in Prag- Olgany. Hier werden Sie bestimmt keine oder nurwenige Touristen antreffen. Der neue jüdische Friedhof kann den Besuchern nämlichnicht wie der alte, von Touristen überlaufene in der Nähe der Pariser Straßedas Grab des legendären Prager Rabbi Loewy bieten, der den berühmten Golemschuf (Gustav Meyrink schrieb 1915 über den Golem einen herrlichen Roman), auchkeine Berühmtheiten aus der Geschichte des Prager Ghettos, sondern nur denschlichten Grabstein mit Franz Kafkas Namen, mit den Namen seiner Eltern undSchwestern, und dann die Stille zwischen den schwarzen, von wildenHolundersträuchern überwachsenen Marmorsteinen mit ihren goldenen, längstvergessenen Namen von einst ehrwürdigen jüdischen Familien aus Prag undUmgebung. Die Geschichte wiederholt sich nicht, nicht einmal die Geschichte einerLiteratur. Diese Regel trifft auch auf die Geschichte der großartigen deutschenoder deutschsprachigen Literatur in Prag zu. Ihre achthundertjährige Geschichteist abgeschlossen und zu Ende. Das endgültige Aus der deutschen Sprache undLiteratur in Prag kam aber nicht mit der Vertreibung der Deutschen aus derTschechoslowakei in den Jahren 1945 und 1946, sondern bereits am 15. März 1939,als Hitlers Wehrmacht die Rest-Tschechoslowakei und Prag besetzte. Danach undbis 1945, als Prag der Sitz der sogenannten »Reichsprotektoren « und dieHauptstadt des »Protektorates Böhmen und Mähren« wurde, gab es in der»hunderttürmigen Stadt« keine deutsche Literatur mehr, sondern nur ein von Dr.Goebbels gesteuertes, propagandistisch mißbrauchtes deutsches Schrifttum. Diedeutsche Sprache, die nach dem 15. März 1939 in Prag gesprochen und geschriebenwurde, war nicht mehr die Sprache eines Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, MaxBrod oder Franz Kafka, die Sprache der großen jüdischen Vermittler undÜbersetzer tschechischer Literatur. Es war auch nicht mehr die Sprache von mehrals 10|000 deutschen Emigranten, die von 1933 bis 1939in der Stadt an der Moldau Rettung vor den Nazis gesucht und auch gefundenhaben. Es ist schon traurig, wenn heute festgestellt werden muß: Die PragerDeutschen, wohlhabende und gebildete Menschen, seit 800 Jahren in der Stadt,interessierten sich für die tschechische Kultur fast überhaupt nicht, ja, dieMehrzahl der Prager Deutschen bemühte sich nicht einmal mehr, ein wenigTschechisch zu lernen. Die Tatsache, daß über 10|000 Deutsche,die sich als die geistige Elite in der Stadt sahen und tatsächlich zurintellektuellen und wirtschaftlichen Oberschicht in Prag gehörten, am 16. März 1939auf der Prager Burg Hitler stürmisch begrüßten, war aus heutiger Sicht eine dertragisch-ironischsten Inszenierungen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundertsvon der großen Geschichte auf Europas Bühne aufgeführt wurde. Die Prager Deutschenwußten nicht, was sie taten: Sie jubelten Hitler und zugleich dem endgültigenUntergang und dem Ende ihrer Geschichte in der Stadt zu. Prag ist eine Stadt,die in dem vergangenen halben Jahrhundert mehrmals ihre Eliten verloren hat:1939 verschwanden die Juden aus Prag, und Prag ohne Juden ist eben nicht mehrPrag. Die große Zeit des Café Arco, des literarischen Kaffeehauses derdeutsch-jüdischen Dichter, Journalisten und Intellektuellen in derHybern-Gasse, war damit endgültig vergangen. Prag war ärmer geworden. Im Jahr1945 wurden auf eine beschämend grausame Art und Weise die letzten Deutschenaus Prag vertrieben. Die Tschechen haben die Deutschen in Prag nie gemocht, abersie gehörten doch seit acht Jahrhunderten in diese Stadt. Und als sie gegangenwaren, war die Stadt noch ärmer geworden. Deutsch war für die Prager nie eineFremdsprache, sondern nur eine andere Sprache gewesen. Und welche Menschenwaren das, diese deutsch sprechenden Prager? Sie waren in der Stadt zwar einefeine und reiche, aber dennoch eine Minderheit; trotzdem leisteten sie sich im Nostiz-Theaterein hervorragendes deutsches Schauspielhaus, sie errichteten eine deutscheOper, sie finanzierten eine deutsche Philharmonie, gaben zwei hervorragendeTageszeitungen heraus, das »Prager Tagblatt« und die »Bohemia«; wenn ich richtiggezählt habe, gab es in Prag vor Hitlers Einmarsch zwölf deutsche Verlage. DasAdjektiv »deutsch« im Zusammenhang mit Prag verwende ich, ohne die Deutschenkränken zu wollen, mit einem gewissen Vorbehalt; mehr als die Hälfte der deutschsprachigenBevölkerung Prags waren seit Jahrhunderten Juden. War also Prag eine deutscheStadt? Als im Februar 1948 die Kommunisten in Prag an die Macht kamen, warenauch die Stunden der tschechischen Gesellschaft gezählt. 40 Jahre, mit Ausnahmeder acht Monate des Prager Frühlings 1968, war Prag zwar noch immer einegroßartige Kulisse, vor der aber entweder ein grausames, klassenkämpferisches oderein langweiliges Spiel ohne Witz und ohne Geist aufgeführt wurde. DieHauptdarsteller fehlten in diesem so widersprüchlichen, ja manchmalunglückseligen, seit Jahrhunderten auf drei Prager Bühnen von der Geschichteinszenierten Drama mit ironischem Beigeschmack: die Juden, die Deutschen undauch die Träger der tschechischen Gesellschaft. Der Aderlaß war eben zu groß,Prag blutete in den Jahren von 1939 bis 1968, also in nicht ganz 30 Jahren,intellektuell fünfmal aus: Die Stadt verlor ihre deutschsprachigen Eliten, dieJuden und die große Prager deutsche Literatur; im Zweiten Weltkrieg haben dieNazis vor allem die tschechische Intelligenz dezimiert, vergast undhingerichtet; im Frühling 1945 gingen die Deutschen, drei Jahre späterliquidierten die Kommunisten die demokratischen Tschechen, und nach demScheitern des Prager Frühlings 1968 wurde die gesamte tschechische Gesellschaftfür weitere 20 Jahre wortwörtlich lahmgelegt, geistig und auch physischvergewaltigt. Das kulturelle Leben der Stadt wurde von allen sogenanntenantisozialistischen Elementen gesäubert. Der freie tschechische Geist, diewahre Literatur, Kunst und Wissenschaft konnten in Prag bis zum Sieg dersanften Revolution im Herbst 1989 nur im Untergrund oder im Exil überleben. Praghat sich von den Umwälzungen, Umstürzen, von zwei Okkupationen durch fremde Armeen,von seinen lähmenden Illusionen, von seinen Hoffnungen, die nie wirklich inErfüllung gingen, und von zahlreichen ideologischen Gehirnwäschen, die dieStadt von 1939 bis 1989 erleben und über sich ergehen lassen mußte, noch nichterholt. Die Kulisse ist farbiger geworden, seit Václav Havel - von 1970 bisHerbst 1989 in Prag ein verbotener Bürger und Dichter - als Staatspräsident dererneuerten Demokratie auf der Prager Burg residiert. Aber ein Blick hinter dieaufgeputzten Fassaden der Altstadt und der Kleinseite läßt auch einen Fremdenin Prag das Ausmaß der Katastrophe erahnen, die diese Stadt in der Zeit dervierzigjährigen kommunistischen Herrschaft betroffen hat. Im Sommer 1990 sprachich mit dem damaligen Prager Oberbürgermeister Jan Koran und fragte ihn: »Wannwird die Gemeinde Prag endlich die Restaurierung der zum Teil schon verfallenenKleinseite in Angriff nehmen?« Der Oberbürgermeister, 1970-1989 ebenfalls einverbotener Dichter und Übersetzer, schaute mich nur traurig an und erwiderte:»Wir haben nicht einmal genug Geld, um die Kleinseite vor dem weiteren Verfallzu retten.« Prag hat dennoch wieder eine Zukunft. Die Stadt kehrt nach einemhalben Jahrhundert der Abwesenheit nach Westeuropa zurück. Prag wird nun vonEuropa neu entdeckt - und all die Westeuropäer, die zum erstenmal in die Stadtkommen, erleben hier ein seltsames Gefühl: Einige hundert Kilometer östlich vonFrankfurt, von Paris, Mailand, Florenz, von Rom, weniger von Wien entfernt,befinden sie sich mitten in der westeuropäischen Geschichte. Prof. Dr. h.c.Heinz Friedrich, der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste inMünchen, äußerte nach seinem ersten Prag-Besuch im Herbst 1991: »Prag ist wedereine deutsche noch eine tschechische, sondern eine europäische Stadt.«
© Goldmann Verlag
- Autoren: Milan Kundera , Ota Filip , Bohumil Hrabal , Jaroslav Hasek , Franz Kafka
- 2006, 576 Seiten, Maße: 11,4 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Hrsg. v. Franz Loquai
- Herausgegeben: Franz Loquai
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442077516
- ISBN-13: 9783442077519
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