Im Namen der Lüge
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Allison Pagone war eine angesehene, erfolgreiche Autorin. Jetzt ist sie tot. Je tiefer die Polizei in ihre Vergangenheit eintaucht, umso verworrener wird der Fall. Stück für Stück entfaltet sich ein Minenfeld aus Intrigen, Verrat und...
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Produktinformationen zu „Im Namen der Lüge “
Allison Pagone war eine angesehene, erfolgreiche Autorin. Jetzt ist sie tot. Je tiefer die Polizei in ihre Vergangenheit eintaucht, umso verworrener wird der Fall. Stück für Stück entfaltet sich ein Minenfeld aus Intrigen, Verrat und kaltblütiger Berechnung, das bis in die Spitzen des weltweiten Terrorismus reicht.
Klappentext zu „Im Namen der Lüge “
Die Wahrheit kennt nur der TodAllison Pagone war eine erfolgreiche Autorin, jetzt ist sie tot. Wurde sie ermordet? Je tiefer das FBI in ihre Vergangenheit eintaucht, umso mehr Ungereimtheiten ergeben sich. Könnte ihr Liebhaber etwas mit dem brisanten Todesfall zu tun haben? Stück für Stück entfaltet sich ein Minenfeld aus Intrigen, Verrat und kaltblütiger Berechnung, das bis in die Spitzen des weltweiten Terrorismus reicht.
Lese-Probe zu „Im Namen der Lüge “
Im Namen der Lüge von David EllisSamstag, 5. Juni
McCoy dringt als Erste in das Haus ein. Sie hört den Mann durch den Flur rennen, seine nackten Füße klatschen über das blanke Parkett. »Hinteres Schlafzimmer«, zischt ihr ein Teammitglied über Headset ins Ohr. Der Beamte ist auf der Rückseite des Hauses postiert, wo er durchs Küchenfenster späht und den Fluchtweg abriegelt. In ihrem unmittelbaren Gefolge stürmt ein Team von acht FBI-Beamten das Haus, doch niemand ist vor McCoy im Flur. Den Rücken flach an die Wand gepresst, die Glock im Anschlag, bewegt sie sich auf die Schlafzimmertür zu. Sie lauscht. Über das Getrappel ihrer Leute hinweg kann sie ein dumpfes Schluchzen vernehmen.
Rasch streckt sie den Arm aus und drückt die Klinke. Die Tür öffnet sich einen Spalt. McCoy stößt sie mit dem Fuß weiter auf, wirbelt herum und zielt mit der Waffe in den Raum. Das Bild, das sich ihr bietet, entspricht in etwa dem, was sie erwartet hat. Er steht am anderen Ende des Schlafzimmers, zwischen einer Art begehbarem Wandschrank und der Badtür.
Ein breites Doppelbett trennt McCoy von dem Mann. McCoy hebt in ihrem Rücken die Hand, ihre Leute im Flur verharren regungslos, dann kehrt ihre Hand an die Glock zurück.
»Legen Sie die Waffe weg, Doktor«, befiehlt sie. Doktor Lomas ist ein gebrochener Mann, nur noch ein Schatten der stolzen Persönlichkeit, die sie auf den Hochglanzfotos der Firmenbroschüren
gesehen hat. Sie unterdrückt den instinktiven Impuls, ihn als bloßes Opfer zu betrachten, auch wenn er in gewisser Hinsicht genau das ist, ein Opfer. So wie er jetzt vor ihr steht, mit nackten Füßen, in Boxershorts und zerknittertem, verschwitztem T-Shirt, mit schütterem Haar und ausgemergelten Gliedern, erkennt sie in ihm nur mit Mühe den genialen Wissenschaftler
... mehr
wieder. Der Doktor schluchzt inzwischen hemmungslos, sein Brustkasten bebt, Tränen laufen ihm über die Wangen. Und obwohl es zu ihrem Job gehört, in menschliche Abgründe zu blicken und immer wieder mitzuerleben, wie Existenzen in sich zusammenbrechen, hat sie es doch nur selten mit jemandem zu tun, der sich eine Pistole an die Schläfe presst. McCoy hört, wie ein Beamter hinter ihr einen Rettungswagen anfordert. Andere durchsuchen das Haus, treten die Türen von Zimmern und Schränken ein. »Ich wusste ja nicht …«, stammelt Lomas zwischen Weinkrämpfen und verrät damit lediglich, dass er sehr wohl Bescheid wusste oder doch zumindest etwas vermutet hat. »Ich hatte … ich hatte ja keine Ahnung.«
»Ich glaube Ihnen, Doktor«, sagt sie ruhig.
»Legen sie die Waffe aufs Bett und lassen Sie uns reden.«
»Sie werden mich töten«, sagt er.
Und damit meint er nicht die FBI-Agenten, die momentan sein Haus durchstöbern. McCoy weiß das. Und Doktor Lomas weiß, dass sie es weiß. »Sie können Ihnen nichts mehr anhaben, Doktor. Wir haben sie alle geschnappt. Sie sind der Letzte.«
Er scheint nicht zuzuhören. Die Angst vor dem Tod ist ganz offensichtlich nicht seine größte Sorge. Was seine Brust zum Beben und seinen Arm zum Zittern bringt, so dass er kaum die Pistole gegen den Schädel halten kann, sind nicht die gegenwärtigen, sondern die bereits vergangenen Schrecken. Im Fernseher auf der dunklen Eichenkommode laufen die Nachrichten. Der Text am unteren Bildrand verkündet:
»Muhsin al-Bakhari gefasst!« Reporter berichten live aus dem Norden des Sudan, Kameras zeigen den Schauplatz eines Angriffs auf einen Terroristen- Konvoi, bei dem die »Nummer zwei« der Befreiungsfront gefasst wurde.
»Wissen Sie, warum wir Sie als Letzten verhaften?«, fragt McCoy so gelassen wie möglich.
»Weil wir Sie nicht als große Gefahr betrachten. Sie sind kein böser Mensch. Wir wissen, Sie wurden
getäuscht.« McCoy deutet auf den Bildschirm.
»Sehen Sie das, Doktor? Sehen Sie, dass wir Mushi erwischt haben?«
Doktor Lomas blinzelt, als überrasche ihn der plötzliche Themenwechsel. Selbstmorde sind häufig die Folge gedanklicher Einbahnstraßen. Menschen erkennen ihren letzten Ausweg darin, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen oder die Pulsadern aufzuschneiden. Eine mögliche Rettung besteht darin, ihren Tunnelblick zu weiten, sie abzulenken, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen können.
»Na und?«, stößt er mit krächzender Stimme hervor. Sein Finger krümmt sich um den Abzug. Er ist kaum fünf Schritte von McCoy entfernt, aber das Bett unterbindet jeden Versuch, ihn blitzartig außer Gefecht zu setzen.
Wenn dieser Kerl partout sterben will, wird sie es nicht verhindern können.
»Mag sein, dass Sie Ihren Teil dazu beigetragen haben.«
McCoy nickt und deutet dann wieder in Richtung Bildschirm.
»Aber was ist mit den Hauptübeltätern?«
»Die …?« Lomas’ Gesicht verzerrt sich zu einer zittrigen Grimmasse, und sein schiefer Mund formt mühsam Die Worte: »Für die … für die war das alles bestimmt? Für Terroristen?« »Wir konnten noch rechtzeitig einschreiten«, beruhigt McCoy ihn rasch. »Die Formel ist in unseren Händen. Es ist vorbei, Doktor. Niemand ist zu Schaden gekommen.«
»Allison Pagone«, jammert er. »Ich bin schuld an ihrem Tod. Ich wusste, es war kein Selbstmord«, fügt er leise hinzu.
»Die haben sie ermordet.« Erneut beginnt sein ganzer Körper zu beben, als würde er von Stromstößen durchzuckt. »Hören Sie, Doktor, Allison Pagone…«
»Keinen Schritt näher.« Lomas weicht zurück und stößt dabei gegen die Wand. Durch den Aufprall wird sein Ellbogen nach unten gedrückt, die Waffe rutscht von seiner Schläfe, und die Mündung zeigt für einen Moment zur Decke.
McCoy feuert einmal, direkt in das Nervengeflecht oberhalb seines rechten Schlüsselbeins.
Die Pistole fliegt ihm aus der Hand, poltert zu Boden und bleibt innerhalb des Wandschranks
liegen. Der Schuss in den Armnerv hat zwei große Vorteile: Der Getroffene kann keine Waffe mehr halten; und Schulterverletzungen heilen zumeist ohne bleibende Schäden, während ein Schuss in die Hand diese womöglich für immer unbrauchbar macht.
Gleich darauf ist sie über ihm, während er langsam zu Boden sinkt. Lomas unternimmt keinen Versuch, seine Waffe zu erreichen. Nicht einmal die Wunde scheint er richtig zu bemerken, ein roter, sich rasch ausbreitender Fleck mit dunklem Mittelpunkt auf seinem T-Shirt.
McCoy schnappt sich das erstbeste Wäschestück, ein Paar Unterhosen, knüllt sie zusammen und presst sie auf die Wunde. Doktor Lomas stiert mit aufgerissenen Augen ins Leere, aus seiner Kehle dringt ein dumpfes Stöhnen. McCoy redet ihm zu, fordert ihn auf, durchzuhalten. Als sie aufblickt, bemerkt sie das kleine Loch in der Wand. Ein glatter Durchschuss also. Kein Querschläger, der womöglich lebenswichtige Organe verletzt hat. Er hat Glück gehabt. Mehr als mancher andere. Die Notärzte treffen ein und übernehmen.
Im Bad spritzt McCoy sich Wasser ins Gesicht und stößt einen tiefen Seufzer aus. Hinter ihr steht ihr Partner Owen Harrick und lächelt ihr im Spiegel zu.
»Geschafft, Janey«, sagt er. »Es ist vorbei.«
»Ja.« Sie schüttelt sich das Wasser von den Händen. »Jetzt bleibt nur noch eines zu tun«, sagt Harrick. »Zu vergessen, wie alles anfing.«
Ein Tag zuvor
Freitag, 4. Juni
Keiner wird entkommen, und nur wenige werden überleben. Er weiß das in dem Augenblick, als ihn die ohrenbetäubende Explosion aus seinem Dämmerzustand auf der Ladefläche des dunklen Trucks reißt. Der Lastwagen kommt auf dem unebenen Terrain rutschend zum Stehen, die Männer links und rechts auf den schmalen Bänken fallen übereinander und werden dann zu Boden geschleudert, als der nachfolgende Truck in ihr Heck kracht.
Schon während er und die anderen im zweiten Lastwagen des Konvois hektisch nach ihren Waffen kramen, ist ihm klar, was geschehen wird. Er hört die Schreie seiner Brüder, das Fwip, Fwip, Fwip der Raketen – die unzweifelhaft dem letzten Truck des Konvois gelten – gefolgt von der gewaltigen Detonation, als sie in den Benzintank einschlagen.
Er weiß, die Amerikaner haben sie gefunden. Und sie sind offensichtlich genau darüber informiert, wer in diesem Konvoi mitreist. Deshalb konzentriert sich ihre erste Angriffswelle auf die Vor- und die Nachhut. In weniger als zehn Sekunden sind der erste und der letzte Lastwagen völlig zerstört und die beiden mittleren Fahrzeuge auf der schmalen, gewundenen Straße eingeschlossen. Ram Haroon blickt zum Heck, wo die Verdeckplane lose im Wind flattert. Rote und orangefarbene Benzinflammen schlagen aus dem hintersten Fahrzeug.
Haroon stürzt zum Ausgang, als das Gewehrfeuer losbricht – das trockene Pop, Pop, Pop der M4s, das Rat-a-tattat der Maschinengewehre –, Kugeln das Leinwandverdeck zerfetzen und auf Schädel, Rümpfe und Knochen treffen. Haroon macht sich so lang wie möglich, als er durch die Öffnung in der Plane hechtet, um nur ein Minimum an Zielfläche zu bieten. Er versucht, den überwältigenden Gestank nach Blut, sich entleerenden Gedärmen und Tod auszublenden.
Er landet auf der Kühlerhaube des dritten Trucks, sein Kopf knallt gegen das kalte Blech, und alles um ihn herum versinkt im Dunkel. Zuerst träumt er von Gerüchen – brennendes Benzin, der Kupfergeruch nach verbranntem Fleisch. Dann von Staub, der seinen Mund füllt, von Schmerzensschreien und letzten Stoßgebeten vor dem Tod. Er träumt von seiner Mutter und seiner Schwester. Und davon, dass sein Bein in Flammen steht.
Er träumt von einem Mann, der in gebrochenem Arabisch auf ihn einbrüllt, und Haroons Augen öffnen sich. Zwei Paar Stiefel, zwei Paar Beine, und die Mündung zweier M4-Gewehre direkt neben seiner Wange.
»Irka«, schreit eines der Beinpaare. »Auf die Knie, du Scheißkerl. «
U.S. Army Rangers suchen in Zweierteams nach Überlebenden und stellen den Tod der Übrigen fest. Einer der beiden Rangers tritt zurück, die Waffe weiter auf ihn gerichtet, während der andere ihn nach Sprengstoff abtastet.
Dann packt er Haroon am Hemd und zerrt ihn auf die Knie. Das Hemd wird ihm brutal vom Körper gerissen, die Hände fesseln sie ihm mit Kabelbindern auf den Rücken.
Er kennt den Grund für den Angriff der Rangers, weiß, hinter wem sie her sind. Der Mann steht ganz oben auf der Fahndungsliste der meistgesuchten Männer: Muhsin al- Bakhari. Haroon versucht sich zu orientieren. Sein Körper ist durch den plötzlichen Überfall wie gelähmt, seine Gedanken sind in heilloser Auflösung. Er befindet sich im Norden des Sudan. Es ist Anfang Juni. Kurz vor Mitternacht.
»Kiff! Kiff!«, herrscht ihn der Ranger an, zerrt ihn auf die Beine.
Eine schwarze Kapuze wird ihm über den Kopf gestülpt, und er stolpert auf wackligen Beinen voran, gestützt von der Hand des Rangers unter seiner Achsel. Sorg dafür, dass sie dich niemals lebend kriegen, hatte man ihm eingeschärft. Sie werden dich foltern. Sie werden deinen Geist verwirren. Sie bringen dich nach Guantánamo Bay und zwingen dich, deine Brüder zu verraten. Kämpfe und stirb in Würde, hatte es geheißen. Doch in diesem Fall war jeder Widerstand zwecklos.
Die Amerikaner wollten kein offenes Gefecht, sie waren auf ein Massaker aus. Ram Haroon erinnert sich an eine weitere Empfehlung, die man ihm mitgegeben hat, allerdings in Abwesenheit der Anführer. Zeig ihnen deine leeren Hände, und sie werden dich nicht töten.
Er hört das Wuup, Wuup der Rotoren eines Chinook- Helikopters, während sie ihn vorwärtsstoßen und zu einem leichten Trab zwingen. Sie nähern sich dem Chinook, er spürt den heftigen Wind von den Rotoren, die direkt über ihm kreisen, und eine Hand drückt seinen Kopf nach unten. Jemand dreht ihn um und zwingt ihn, sich auf den kalten Aluminiumboden im Inneren des Hubschraubers zu setzen. Er zittert. Die Rotoren drehen sich schneller und lauter, der Helikopter schwankt – und obwohl Haroon sitzt, kippt er zur Seite und stößt gegen den Lauf eines auf ihn gerichteten Gewehrs. Der Hubschrauber schwankt erneut und hebt ab.
Er spürt eine Stiefelspitze an seinem Arm. »Hal Tatakalm Alingli’zia? «, brüllt ein Amerikaner in passablem Arabisch.
»Ma Ismok?«
»Zulfikar «, antwortet er erschöpft.
»Sorirart Biro’ aitak.«
Ein Moment verstreicht. Die Amerikaner sprechen aufgeregt miteinander. Die Rangers haben allen Anlass zu feiern. Ein Schwindel überfällt Ram Haroon, das Schwanken des Helikopters und der Gestank nach verbranntem Fleisch, der immer noch in seiner Nase hängt, lassen ihn würgen. Sie sind bester Laune, diese Amerikaner. Auf diesen Moment haben sie seit Jahren gelauert – die Festnahme von Muhsin al-Bakhari. Ein Sieg, von dem sie noch ihren Enkelkindern berichten werden. Wo sie ihn jetzt hinschaffen, weiß er nicht. Die wenigen Überlebenden haben sie sofort abtransportiert. Auch denjenigen, nach dem sie so dringend gefahndet haben. Zurück bleibt ein Ort der Verwüstung und des Todes. Über dreißig massakrierte islamische Soldaten. Und dann fällt Ram Haroon etwas ein. Er erinnert sich an die Frau auf dem amerikanischen Flughafen vor vier Tagen. McCoy, richtig, so war ihr Name. Die Frau auf dem Flughafen wusste, was hier geschehen würde. Haroon schüttelt stumm den Kopf. Vielleicht werden sie auch ihn nach Guantánamo Bay schaffen, gemeinsam mit den anderen. Er wird seine Heimat niemals wiedersehen. Sein Leben wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Was wohl aus seinen Partnern in den Staaten geworden ist? Vermutlich befinden auch sie sich bereits in U.S.-Haft. Und wenn es den Amerikanern gelungen ist, einen derartigen Überfall zu bewerkstelligen, dürften sie inzwischen wohl auch wissen, was Allison Pagone, der amerikanischen Autorin, wirklich zugestoßen ist.
Übersetzung: Alexander Wagner
Copyright © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Ich glaube Ihnen, Doktor«, sagt sie ruhig.
»Legen sie die Waffe aufs Bett und lassen Sie uns reden.«
»Sie werden mich töten«, sagt er.
Und damit meint er nicht die FBI-Agenten, die momentan sein Haus durchstöbern. McCoy weiß das. Und Doktor Lomas weiß, dass sie es weiß. »Sie können Ihnen nichts mehr anhaben, Doktor. Wir haben sie alle geschnappt. Sie sind der Letzte.«
Er scheint nicht zuzuhören. Die Angst vor dem Tod ist ganz offensichtlich nicht seine größte Sorge. Was seine Brust zum Beben und seinen Arm zum Zittern bringt, so dass er kaum die Pistole gegen den Schädel halten kann, sind nicht die gegenwärtigen, sondern die bereits vergangenen Schrecken. Im Fernseher auf der dunklen Eichenkommode laufen die Nachrichten. Der Text am unteren Bildrand verkündet:
»Muhsin al-Bakhari gefasst!« Reporter berichten live aus dem Norden des Sudan, Kameras zeigen den Schauplatz eines Angriffs auf einen Terroristen- Konvoi, bei dem die »Nummer zwei« der Befreiungsfront gefasst wurde.
»Wissen Sie, warum wir Sie als Letzten verhaften?«, fragt McCoy so gelassen wie möglich.
»Weil wir Sie nicht als große Gefahr betrachten. Sie sind kein böser Mensch. Wir wissen, Sie wurden
getäuscht.« McCoy deutet auf den Bildschirm.
»Sehen Sie das, Doktor? Sehen Sie, dass wir Mushi erwischt haben?«
Doktor Lomas blinzelt, als überrasche ihn der plötzliche Themenwechsel. Selbstmorde sind häufig die Folge gedanklicher Einbahnstraßen. Menschen erkennen ihren letzten Ausweg darin, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen oder die Pulsadern aufzuschneiden. Eine mögliche Rettung besteht darin, ihren Tunnelblick zu weiten, sie abzulenken, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen können.
»Na und?«, stößt er mit krächzender Stimme hervor. Sein Finger krümmt sich um den Abzug. Er ist kaum fünf Schritte von McCoy entfernt, aber das Bett unterbindet jeden Versuch, ihn blitzartig außer Gefecht zu setzen.
Wenn dieser Kerl partout sterben will, wird sie es nicht verhindern können.
»Mag sein, dass Sie Ihren Teil dazu beigetragen haben.«
McCoy nickt und deutet dann wieder in Richtung Bildschirm.
»Aber was ist mit den Hauptübeltätern?«
»Die …?« Lomas’ Gesicht verzerrt sich zu einer zittrigen Grimmasse, und sein schiefer Mund formt mühsam Die Worte: »Für die … für die war das alles bestimmt? Für Terroristen?« »Wir konnten noch rechtzeitig einschreiten«, beruhigt McCoy ihn rasch. »Die Formel ist in unseren Händen. Es ist vorbei, Doktor. Niemand ist zu Schaden gekommen.«
»Allison Pagone«, jammert er. »Ich bin schuld an ihrem Tod. Ich wusste, es war kein Selbstmord«, fügt er leise hinzu.
»Die haben sie ermordet.« Erneut beginnt sein ganzer Körper zu beben, als würde er von Stromstößen durchzuckt. »Hören Sie, Doktor, Allison Pagone…«
»Keinen Schritt näher.« Lomas weicht zurück und stößt dabei gegen die Wand. Durch den Aufprall wird sein Ellbogen nach unten gedrückt, die Waffe rutscht von seiner Schläfe, und die Mündung zeigt für einen Moment zur Decke.
McCoy feuert einmal, direkt in das Nervengeflecht oberhalb seines rechten Schlüsselbeins.
Die Pistole fliegt ihm aus der Hand, poltert zu Boden und bleibt innerhalb des Wandschranks
liegen. Der Schuss in den Armnerv hat zwei große Vorteile: Der Getroffene kann keine Waffe mehr halten; und Schulterverletzungen heilen zumeist ohne bleibende Schäden, während ein Schuss in die Hand diese womöglich für immer unbrauchbar macht.
Gleich darauf ist sie über ihm, während er langsam zu Boden sinkt. Lomas unternimmt keinen Versuch, seine Waffe zu erreichen. Nicht einmal die Wunde scheint er richtig zu bemerken, ein roter, sich rasch ausbreitender Fleck mit dunklem Mittelpunkt auf seinem T-Shirt.
McCoy schnappt sich das erstbeste Wäschestück, ein Paar Unterhosen, knüllt sie zusammen und presst sie auf die Wunde. Doktor Lomas stiert mit aufgerissenen Augen ins Leere, aus seiner Kehle dringt ein dumpfes Stöhnen. McCoy redet ihm zu, fordert ihn auf, durchzuhalten. Als sie aufblickt, bemerkt sie das kleine Loch in der Wand. Ein glatter Durchschuss also. Kein Querschläger, der womöglich lebenswichtige Organe verletzt hat. Er hat Glück gehabt. Mehr als mancher andere. Die Notärzte treffen ein und übernehmen.
Im Bad spritzt McCoy sich Wasser ins Gesicht und stößt einen tiefen Seufzer aus. Hinter ihr steht ihr Partner Owen Harrick und lächelt ihr im Spiegel zu.
»Geschafft, Janey«, sagt er. »Es ist vorbei.«
»Ja.« Sie schüttelt sich das Wasser von den Händen. »Jetzt bleibt nur noch eines zu tun«, sagt Harrick. »Zu vergessen, wie alles anfing.«
Ein Tag zuvor
Freitag, 4. Juni
Keiner wird entkommen, und nur wenige werden überleben. Er weiß das in dem Augenblick, als ihn die ohrenbetäubende Explosion aus seinem Dämmerzustand auf der Ladefläche des dunklen Trucks reißt. Der Lastwagen kommt auf dem unebenen Terrain rutschend zum Stehen, die Männer links und rechts auf den schmalen Bänken fallen übereinander und werden dann zu Boden geschleudert, als der nachfolgende Truck in ihr Heck kracht.
Schon während er und die anderen im zweiten Lastwagen des Konvois hektisch nach ihren Waffen kramen, ist ihm klar, was geschehen wird. Er hört die Schreie seiner Brüder, das Fwip, Fwip, Fwip der Raketen – die unzweifelhaft dem letzten Truck des Konvois gelten – gefolgt von der gewaltigen Detonation, als sie in den Benzintank einschlagen.
Er weiß, die Amerikaner haben sie gefunden. Und sie sind offensichtlich genau darüber informiert, wer in diesem Konvoi mitreist. Deshalb konzentriert sich ihre erste Angriffswelle auf die Vor- und die Nachhut. In weniger als zehn Sekunden sind der erste und der letzte Lastwagen völlig zerstört und die beiden mittleren Fahrzeuge auf der schmalen, gewundenen Straße eingeschlossen. Ram Haroon blickt zum Heck, wo die Verdeckplane lose im Wind flattert. Rote und orangefarbene Benzinflammen schlagen aus dem hintersten Fahrzeug.
Haroon stürzt zum Ausgang, als das Gewehrfeuer losbricht – das trockene Pop, Pop, Pop der M4s, das Rat-a-tattat der Maschinengewehre –, Kugeln das Leinwandverdeck zerfetzen und auf Schädel, Rümpfe und Knochen treffen. Haroon macht sich so lang wie möglich, als er durch die Öffnung in der Plane hechtet, um nur ein Minimum an Zielfläche zu bieten. Er versucht, den überwältigenden Gestank nach Blut, sich entleerenden Gedärmen und Tod auszublenden.
Er landet auf der Kühlerhaube des dritten Trucks, sein Kopf knallt gegen das kalte Blech, und alles um ihn herum versinkt im Dunkel. Zuerst träumt er von Gerüchen – brennendes Benzin, der Kupfergeruch nach verbranntem Fleisch. Dann von Staub, der seinen Mund füllt, von Schmerzensschreien und letzten Stoßgebeten vor dem Tod. Er träumt von seiner Mutter und seiner Schwester. Und davon, dass sein Bein in Flammen steht.
Er träumt von einem Mann, der in gebrochenem Arabisch auf ihn einbrüllt, und Haroons Augen öffnen sich. Zwei Paar Stiefel, zwei Paar Beine, und die Mündung zweier M4-Gewehre direkt neben seiner Wange.
»Irka«, schreit eines der Beinpaare. »Auf die Knie, du Scheißkerl. «
U.S. Army Rangers suchen in Zweierteams nach Überlebenden und stellen den Tod der Übrigen fest. Einer der beiden Rangers tritt zurück, die Waffe weiter auf ihn gerichtet, während der andere ihn nach Sprengstoff abtastet.
Dann packt er Haroon am Hemd und zerrt ihn auf die Knie. Das Hemd wird ihm brutal vom Körper gerissen, die Hände fesseln sie ihm mit Kabelbindern auf den Rücken.
Er kennt den Grund für den Angriff der Rangers, weiß, hinter wem sie her sind. Der Mann steht ganz oben auf der Fahndungsliste der meistgesuchten Männer: Muhsin al- Bakhari. Haroon versucht sich zu orientieren. Sein Körper ist durch den plötzlichen Überfall wie gelähmt, seine Gedanken sind in heilloser Auflösung. Er befindet sich im Norden des Sudan. Es ist Anfang Juni. Kurz vor Mitternacht.
»Kiff! Kiff!«, herrscht ihn der Ranger an, zerrt ihn auf die Beine.
Eine schwarze Kapuze wird ihm über den Kopf gestülpt, und er stolpert auf wackligen Beinen voran, gestützt von der Hand des Rangers unter seiner Achsel. Sorg dafür, dass sie dich niemals lebend kriegen, hatte man ihm eingeschärft. Sie werden dich foltern. Sie werden deinen Geist verwirren. Sie bringen dich nach Guantánamo Bay und zwingen dich, deine Brüder zu verraten. Kämpfe und stirb in Würde, hatte es geheißen. Doch in diesem Fall war jeder Widerstand zwecklos.
Die Amerikaner wollten kein offenes Gefecht, sie waren auf ein Massaker aus. Ram Haroon erinnert sich an eine weitere Empfehlung, die man ihm mitgegeben hat, allerdings in Abwesenheit der Anführer. Zeig ihnen deine leeren Hände, und sie werden dich nicht töten.
Er hört das Wuup, Wuup der Rotoren eines Chinook- Helikopters, während sie ihn vorwärtsstoßen und zu einem leichten Trab zwingen. Sie nähern sich dem Chinook, er spürt den heftigen Wind von den Rotoren, die direkt über ihm kreisen, und eine Hand drückt seinen Kopf nach unten. Jemand dreht ihn um und zwingt ihn, sich auf den kalten Aluminiumboden im Inneren des Hubschraubers zu setzen. Er zittert. Die Rotoren drehen sich schneller und lauter, der Helikopter schwankt – und obwohl Haroon sitzt, kippt er zur Seite und stößt gegen den Lauf eines auf ihn gerichteten Gewehrs. Der Hubschrauber schwankt erneut und hebt ab.
Er spürt eine Stiefelspitze an seinem Arm. »Hal Tatakalm Alingli’zia? «, brüllt ein Amerikaner in passablem Arabisch.
»Ma Ismok?«
»Zulfikar «, antwortet er erschöpft.
»Sorirart Biro’ aitak.«
Ein Moment verstreicht. Die Amerikaner sprechen aufgeregt miteinander. Die Rangers haben allen Anlass zu feiern. Ein Schwindel überfällt Ram Haroon, das Schwanken des Helikopters und der Gestank nach verbranntem Fleisch, der immer noch in seiner Nase hängt, lassen ihn würgen. Sie sind bester Laune, diese Amerikaner. Auf diesen Moment haben sie seit Jahren gelauert – die Festnahme von Muhsin al-Bakhari. Ein Sieg, von dem sie noch ihren Enkelkindern berichten werden. Wo sie ihn jetzt hinschaffen, weiß er nicht. Die wenigen Überlebenden haben sie sofort abtransportiert. Auch denjenigen, nach dem sie so dringend gefahndet haben. Zurück bleibt ein Ort der Verwüstung und des Todes. Über dreißig massakrierte islamische Soldaten. Und dann fällt Ram Haroon etwas ein. Er erinnert sich an die Frau auf dem amerikanischen Flughafen vor vier Tagen. McCoy, richtig, so war ihr Name. Die Frau auf dem Flughafen wusste, was hier geschehen würde. Haroon schüttelt stumm den Kopf. Vielleicht werden sie auch ihn nach Guantánamo Bay schaffen, gemeinsam mit den anderen. Er wird seine Heimat niemals wiedersehen. Sein Leben wird nie mehr so sein, wie es einmal war. Was wohl aus seinen Partnern in den Staaten geworden ist? Vermutlich befinden auch sie sich bereits in U.S.-Haft. Und wenn es den Amerikanern gelungen ist, einen derartigen Überfall zu bewerkstelligen, dürften sie inzwischen wohl auch wissen, was Allison Pagone, der amerikanischen Autorin, wirklich zugestoßen ist.
Übersetzung: Alexander Wagner
Copyright © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von David Ellis
David Ellis machte 1993 an der Northwestern Law School seinen Abschluss und arbeitet heute in Chicago als Anwalt mit Schwerpunkt Verfassungsrecht. Für seinen Debütroman "Line of Vision" erhielt er 2002 den Edgar-Allan-Poe-Award. David Ellis lebt mit seiner Frau, einer Tochter und zwei Hunden in Springfield, Illinois.
Bibliographische Angaben
- Autor: David Ellis
- 2009, 429 Seiten, Maße: 11,8 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Wagner, Alexander
- Übersetzer: Alexander Wagner
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453433890
- ISBN-13: 9783453433892
Rezension zu „Im Namen der Lüge “
"Ein nervenzerreißender Thriller der Extraklasse."
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