Im Sommer der Stürme
Roman
Stürmische Gefühle und eine mitreißende Heldin
Als der Unabhängigkeitskrieg am Horizont von Virginia aufzieht, nimmt Charmaine Ryan eine Stelle als Gouvernante bei den wohlhabenden Duvoisins an. Auf der Plantage der Familie, die sich...
Als der Unabhängigkeitskrieg am Horizont von Virginia aufzieht, nimmt Charmaine Ryan eine Stelle als Gouvernante bei den wohlhabenden Duvoisins an. Auf der Plantage der Familie, die sich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Sommer der Stürme “
Stürmische Gefühle und eine mitreißende Heldin
Als der Unabhängigkeitskrieg am Horizont von Virginia aufzieht, nimmt Charmaine Ryan eine Stelle als Gouvernante bei den wohlhabenden Duvoisins an. Auf der Plantage der Familie, die sich auf einer Karibikinsel befindet, gerät Charmaine in eine Welt leidenschaftlicher Gefühle, Verrat und gut gehüteter Geheimnisse. Doch mit ihrer herzlichen Art gelingt es ihr bald, jedes Mitglied des Clans für sich zu gewinnen. Selbst den undurchschaubaren, draufgängerischen und illegitimen Sohn Paul Duvoisin ...
Der fesselnde Auftakt einer großen Saga um eine zerrissene Familie in einer faszinierenden Zeit.
Als der Unabhängigkeitskrieg am Horizont von Virginia aufzieht, nimmt Charmaine Ryan eine Stelle als Gouvernante bei den wohlhabenden Duvoisins an. Auf der Plantage der Familie, die sich auf einer Karibikinsel befindet, gerät Charmaine in eine Welt leidenschaftlicher Gefühle, Verrat und gut gehüteter Geheimnisse. Doch mit ihrer herzlichen Art gelingt es ihr bald, jedes Mitglied des Clans für sich zu gewinnen. Selbst den undurchschaubaren, draufgängerischen und illegitimen Sohn Paul Duvoisin ...
Der fesselnde Auftakt einer großen Saga um eine zerrissene Familie in einer faszinierenden Zeit.
Klappentext zu „Im Sommer der Stürme “
Als der Unabhängigkeitskrieg am Horizont von Virginia aufzieht, nimmt Charmaine Ryan eine Stelle als Gouvernante bei den wohlhabenden Duvoisins an. Auf der Plantage der Familie, die sich auf einer Karibikinsel befindet, gerät Charmaine in eine Welt leidenschaftlicher Gefühle, Verrat und gut gehüteter Geheimnisse. Doch mit ihrer herzlichen Art gelingt es ihr bald, jedes Mitglied des Clans für sich zu gewinnen. Selbst den undurchschaubaren, draufgängerischen und illegitimen Sohn Paul Duvoisin ...
Lese-Probe zu „Im Sommer der Stürme “
Im Sommer der Stürme von Deva GanttAus dem Amerikanischen von Monika Koch
Prolog
Herbst 1833
Ein Gebet
Abendlicher Nebel senkte sich über die Kirche und breitete
einen Schleier der Hoffnungslosigkeit über die bemoosten
Mauern. Ein einsamer Besucher saß auf einer der
Bänke, sank nach vorn und bedachte die düsteren Schatten
um ihn her mit abfälligen Bemerkungen. Er musste etwas
trinken. Der teure Whisky hatte ihm keinen Frieden
geschenkt. Ja, er hatte nicht einmal sein Bewusstsein getrübt.
Doch was hatte er hier im Haus Gottes zu suchen,
wenn er nicht betrunken war? Zum Teufel! Ein Glucksen
entfuhr ihm, gefolgt von irrem Gelächter, das in haltlosem
Schluckauf mündete. Er war hier, um den Allmächtigen
um etwas zu bitten - um einen Tod zu erbitten. Nein,
nicht seinen eigenen. So edelmütig war er nicht. Jedenfalls
noch nicht. Statt seiner sollte Gott einen anderen abberufen.
Vergeltung - Gerechtigkeit. Er verzog die Lippen. Ein
bestechender Gedanke. Der Tod ... Die Lösung war so einfach.
»Erlöse ihn von seinem Übel. Erlöse mich von meinem
Übel«, nuschelte er und sah dann zu dem hölzernen Kruzifix
über dem Altar auf. »Hörst du mich?«
Als er abrupt seinen Kopf bewegte, schienen die Wände
zu taumeln und die Statuen in einen geisterhaften Tanz zu
versetzen, sodass ihm übel wurde. Er griff nach der Bank,
um dem Taumel Einhalt zu gebieten, doch seine Hand verfehlte
ihr Ziel. Es krachte vernehmlich, als sein Kopf ge-
gen die Bank prallte. Stöhnend sank der Besucher auf die
Steinfliesen, bevor graublauer Nebel seinen Schmerz einhüllte
und in gnädiger Bewusstlosigkeit auflöste.
... mehr
Marie Ryan hastete über die Steinfliesen des schwach erleuchteten
Innenhofs. Das Klappern ihrer Absätze hallte
von den Mauern wider. Trotz der vielen Jahre, die sie
im Waisenhaus von St. Jude im Herzen von Richmond,
Virginia, gelebt hatte, hatte sie sich nicht den leichtfüßigen
Gang der Schwestern angeeignet, mit dem diese Tag
für Tag auf leisen Sohlen über das Pflaster zur Andacht eilten.
Marie kam zu spät, und das, obwohl die Unterredung
nur für sie anberaumt worden war. Doch mit dem heutigen
Abend waren alle Pläne ohnehin hinfällig. Sie würde
das Waisenhaus nie mehr verlassen. Dieses Heim war ihr
Zuhause und ihre Zuflucht. Der Ort, wo sie hingehörte.
Weder die Drohungen ihres Mannes noch ihre eigene,
von einem schweren Schicksal geprägte Vergangenheit
würden sie je wieder aus der Geborgenheit dieser Mauern
vertreiben. An diesem Abend hatte sie ein Zeichen
empfangen.
Seit man sie vor dreißig Jahren als kleines Kind auf den
Stufen von St. Jude ausgesetzt hatte, hatte Gott keine
Mühe gescheut, um sie als seine Dienerin zu gewinnen.
Aber während der letzten sechzehn Jahre hatte sie sich
nicht mehr um ihn geschert. Doch von nun an würde sich
das ändern. Von heute Abend an wollte sie ihm folgen.
Das Leben außerhalb der Kirchenmauern konnte sie nicht
länger mit leeren Versprechungen locken. Die wahre Welt
umfasste zwei völlig unterschiedliche Arten von Menschen,
die jedoch voneinander abhängig waren: und zwar
diejenigen, die unter dem Leben und seinen Zerrbildern
litten, und diejenigen, die dem Leben zu Diensten waren.
Heute Abend wollte sie Ersteren aus dem Weg gehen und
die Letzteren umarmen. Ihre Buße war abgeleistet.
Marie betrat das Pfarrhaus und grüßte die wartenden
Personen mit zögerlichem Nicken: Sister Elizabeth,
Father Michael Andrews und Joshua Harrington. Letzterer
war ein älterer Gentleman und wohlhabender Geschäftsmann,
der nach einer passenden Gesellschafterin für seine
Ehefrau suchte. Nachdem die fünf Söhne geheiratet hatten
und fortgezogen waren, litt Loretta Harrington unter der
Leere zu Hause.
»Halten Sie mich bitte nicht für undankbar, Mr. Harrington«,
entschuldigte sich Marie, nachdem sie einander
vorgestellt worden waren, »doch ich fürchte, ich habe
meine Meinung inzwischen geändert.«
Father Andrews stand wie vom Donner gerührt da. Die
junge Frau hatte größtes Interesse an dieser Stellung im
Haus der Harringtons bekundet und ihn gebeten, die Unterredung
für sie zu organisieren. Außerdem wäre der ansehnliche
Lohn ein wahrer Segen für sie. »Ist etwas geschehen, Marie?«
Sie zögerte. »Ich habe endlich begriffen, dass ich hierher
gehöre. Hierher in dieses Haus. Ja, ich weiß, ich habe
ein eigenes Zuhause, aber ich will mich in Zukunft hier
in St. Jude um alle kümmern, die mich wirklich brauchen.«
Der Pastor staunte immer mehr. Obgleich Maries Tochter
Charmaine die Elementarschule von Sister Elizabeth
in St. Jude besuchte, überschritt Marie die Schwelle der
Kirche so gut wie nie. »Aber dein Mann ...«, begann er.
»... wird es verstehen müssen«, antwortete Marie.
»Ich bin ja nicht einmal sicher, ob ich es verstehe. Ich
dachte, du bräuchtest diese Stellung.«
Marie seufzte. »Heute Abend war ein Mann in der Kirche.
Er war krank.«
»Wieder so ein Bettler«, spottete Father Michael in ungewöhnlich
hartem Ton.
»Nein, kein Bettler«, widersprach Marie und wunderte
sich über seine barsche Reaktion. »Der Mann war vornehm
gekleidet, und doch befand er sich in einem bedauernswerten
Zustand: Er war ohnmächtig. Ich glaube, er hat
sich den Kopf an einer der Bänke angeschlagen. Ich ließ
ihn von Matthew in den Aufenthaltsraum bringen und
blieb bei ihm, bis er aufwachte. Ich fürchte, er hat viel
durchgemacht. Und das nicht nur äußerlich. Ich möchte,
dass Sie sich um ihn kümmern, Father.«
»Ich begreife trotzdem nicht, wie dich dieser Fremde zu
einem solchen Sinneswandel bewegen konnte.«
»Es war etwas, das er gesagt hat«, erwiderte Marie mit
einer gewissen Zurückhaltung. »Ich glaube, dass Gott ihn
nicht nur nach St. Jude, sondern direkt zu mir geschickt
hat, um mir zu zeigen, wo ich wirklich gebraucht werde.
Wohin ich gehöre. Ich entschuldige mich noch einmal
ganz ausdrücklich, Mr. Harrington. Ich hätte Sie nicht so
lange von Ihrer Frau fernhalten dürfen. Doch ich hoffe, Sie
verstehen, dass ich hier in St. Jude bleiben muss.«
Father Michael Andrews lächelte Marie an. Sechzehn
lange Jahre hatte er ihre Gegenwart vermissen müssen.
Doch heute Abend war sie zurückgekehrt.
John Ryan erhob sich von dem wackeligen Stuhl, auf dem
er am Fenster gesessen hatte, und stolzierte wie ein Pfau
durch die kleine Küche. Er massierte seinen aufgeblähten
Bauch und fuhr dann mit vergilbten Nägeln durch sein
angegrautes Haar, das gleich darauf wieder seine finstere
Miene verhüllte.
Voll Abscheu wandte Charmaine sich ab und machte
sich an die Zubereitung des Abendessens. Das angeberische
Gehabe ihres Vaters widerstrebte ihr zutiefst. In Au-
genblicken wie diesen dankte sie Gott, dass er sie als Frau
erschaffen hatte.
Sie seufzte. Offenbar verspätete sich ihre Mutter. Das
Gespräch mit Joshua Harrington hatte schon vor mehr als
zwei Stunden begonnen. Ihr Vater hielt das zwar für ein
gutes Zeichen, doch sie war anderer Meinung.
»Wann genau war deine Mutter denn verabredet?«
Charmaine schrak zusammen. »Ich glaube, sie hat fünf Uhr gesagt.«
»Du glaubst? Guter Gott, Mädchen, weißt du das denn nicht?«
»Nein, nicht mit Sicherheit«, erwiderte sie gereizt. Mit
stumpfem Blick sah sie ihrem Vater nach, als er ins Schlafzimmer ging.
Sie musste an sich halten. Im Augenblick brachte sie alles
in Wut, was ihr Vater tat. Wenn sich ihre Mutter unter
seinen Schimpftiraden duckte, wurde Charmaines Wut
nur umso größer. Vermutlich wagte sie diese Art von Widerspruch
nur deshalb, weil ihr Vater nie die Hand gegen
sie erhob. Was das anging, so war Marie weniger glücklich.
Niemand hatte sie gelehrt, die Überlegenheit ihres Mannes
anzuzweifeln, und so schwieg sie, um den empfindlichen
Frieden nicht zu gefährden.
Charmaine saß oft in der ärmlichen Küche des schäbigen
Häuschens mit nur drei Zimmern, starrte vor sich
hin, dachte über die Beziehung zwischen John Ryan und
Marie St. Jude nach, und versuchte, die Umstände zu begreifen,
die einst zur Ehe ihrer Eltern geführt hatten. Aus
dem Vorleben ihrer Mutter wusste sie nur, dass sie einst
auf den Stufen der St. Jude Thaddeus Church ausgesetzt
worden war, und von ihrem Vater wusste sie noch sehr
viel weniger. Er kam oder ging, ganz wie es ihm gefiel,
und ließ seine Frau und seine Tochter oft mehrere Tage
lang allein. Was Charmaine jedoch gefiel, denn je weniger
sie von dem Mann sah, desto besser. Hatte er außer seiner
Frau und seiner Tochter womöglich noch eine zweite
Familie? Dies war nur eine von vielen unbeantworteten
Fragen. Mit Sicherheit wusste Charmaine nur, dass John
Ryan ein schlecht erzogener, ungebildeter Trunkenbold
war. Er arbeitete nur selten, und wenn er Geld für Alkohol
benötigte, trieb er sich im Hafen und in den Docks von
Richmond herum und nahm irgendwelche Gelegenheitsarbeiten an.
Wie hatte ein solcher Taugenichts das Herz ihrer Mutter
gewinnen können? Eine weitere unergründete Frage. Eigentlich
hatte Marie als Novizin ins Kloster eintreten und
das Gelübde ablegen wollen, sich mit Gott und der Heiligen
Kirche zu verheiraten. Stattdessen hatte sie mit achtzehn
Jahren das Waisenhaus von St. Jude Thaddeus verlassen
und einen Mann geheiratet, der angeblich nett zu
ihr gewesen war, wie sie behauptete. Aus der Ehe war ein
einziges Kind hervorgegangen - eine Tochter, die nach der
Großmutter väterlicherseits auf den Namen Haley Charmaine
getauft worden war. Die Großmutter hatte Charmaine
nie zu Gesicht bekommen, und ihr Vater war weit
und breit der Einzige, der sie Haley nannte. Ihre Mutter
bevorzugte den Namen Charmaine, weil der Klang dieses
Namens sie an eine Zeit und einen Ort gemahnte, ohne
dass sie sich genauer daran erinnern konnte.
»Wir fangen schon einmal ohne sie an.«
Charmaine zuckte zusammen. Dieser Mann beherrschte
das heimliche Anschleichen vollendet. »In Ordnung«, sagte
sie und stellte das Essen auf den Tisch. Von dem wenigen
Geld, das ihr die alte Jungfer von nebenan zugesteckt hatte,
hatte sie ein kleines Stück Schweinefleisch besorgt, um
heute Abend den Erfolg ihrer Mutter zu feiern.
»Ich hoffe nur, dass dieser Harrington auch ein Auge für
eine tüchtige Arbeitskraft hat«, bemerkte John Ryan und
setzte sich auf den Stuhl am Kopf der Tafel. Charmaine
schwieg, während ihr Vater das Holzbrett zu sich heranzog
und die Fettkruste von dem dampfenden Braten abschnitt.
Anschließend suchte er sich seine Scheiben aus und legte
die restlichen Stücke auf Charmaines Teller. »Deine Mutter
kann hart arbeiten«, fuhr er fort. »Wenn sie sich richtig
Mühe gibt, kann keiner mit ihr mithalten. Ich möchte
dem Kerl raten, das genauso zu sehen.«
»Ja, Sir«, entgegnete Charmaine widerwillig. Es war abstoßend,
wie unverfroren ihr Vater von Fremden Respekt
für die Tüchtigkeit seiner Frau einforderte. Diese Gedanken
verblüfften Charmaine immer wieder, und wenn die
Situation nicht so trostlos gewesen wäre, hätte sie am
liebsten über seine großspurige Redeweise gelacht.
»Ich hoffe, dass er sie wenigstens anständig bezahlt.«
Die Worte wurden von dem Stück Fleisch erstickt, das er
sich in den Mund stopfte. »Kein Mitglied meiner Familie
darf für einen Hungerlohn arbeiten. Nein, Sir. Ich hoffe,
er gehört nicht zu diesen verdammten, geizigen Aris-to-
kraten, die immer nur einen Hungerlohn zahlen wollen.
Nicht mit mir! Das erlaube ich nicht.«
Wieder biss sich Charmaine auf die Zunge. Sollte sie
ihm vielleicht vorhalten, dass er seine Frau zur Arbeit
schickte und anschließend ihren Lohn für sich beanspruchte?
Das war sinnlos. Abgesehen davon tat es Marie
gut, wenn sie eine Stellung bekam, die sie unabhängig
machte. Sie selbst ging zusammen mit den Waisenkindern
in St. Jude Thaddeus zur Schule, wo sie vor den Brutalitäten
ihres Vater geschützt war. Doch was besaß Marie?
Sie hatte nur das schäbige Haus, in dem sie wohnten, und
nicht die geringste Hoffnung, dass sich das in nächster
Zeit ändern würde. Doch nun hatte sich etwas geändert.
Vom heutigen Tag an würde das Haus der Harringtons ihrer
Mutter eine Zufluchtsstätte bieten.
»Guter Gott, Frau, wie konntest du nur so dumm sein?«
»Es tut mir leid, John« - Marie versuchte ihren Mann
zu beschwichtigen -, »aber ich konnte einfach nichts dagegen tun.«
»Nichts dagegen tun?« Er schnaubte. »Und das soll ich
dir glauben? Ich weiß genau, wie es war. Du wolltest die
Stelle gar nicht! Du warst dir für die Arbeit zu schade.«
»Nein, das stimmt nicht, John. Ich habe dir gesagt, dass
Mr. Harrington lieber eine jüngere Frau möchte. Eher eine
Tochter, die seine Frau unter ihre Fittiche nehmen kann.«
Dieser Satz zog einen neuen Fluch nach sich. »Dann
schick ihnen doch Haley«, meinte John Ryan.
»Wie bitte?«
»Du hast mich genau verstanden.« Je länger er darüber
nachdachte, desto breiter wurde sein Grinsen. »Sie
ist noch jung und genau das, was die Harringtons wollen.
Sie wird der feinen Lady bestimmt gefallen.«
»Nicht doch, John. Charmaine ist viel zu jung und muss
erst die Schule beenden.«
»Die Schule«, giftete er. »Wenn du mich fragst, war sie
lange genug in dem verdammten St. Jude. Was hat sie dort
schon gelernt, außer mir zu widersprechen? Es wird Zeit,
dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient!«
»Das ist nicht nötig«, widersprach Marie unvorsichtig.
»Ich werde mich weiter nach Arbeit umsehen, und bis ich
etwas Passendes finde, werden wir mit dem auskommen,
was du im Lagerhaus verdienst. Ich weiß, es ist nicht viel,
aber bisher haben wir es ja auch geschafft und ...«
»Ich arbeite nicht mehr im Lagerhaus«, unterbrach er sie.
»Und warum nicht?«
»John Duvoisin ist ein elender Trunkenbold, und ich arbeite
nicht für Trunkenbolde. Lieber schicken wir Haley
zu den Harringtons und leben von dem Lohn, den sie nach
Hause bringt. Wenn du dann auch noch Arbeit findest,
sind wir fein raus.«
»Aber, John! Charmaine ist noch viel zu jung«, wiederholte
Marie leise und hoffte inständig, dass er sich beruhigte.
»Außerdem bekommt sie nicht genug Geld. Nein,
nein, da gibt es noch andere Möglichkeiten. Und wenn es
gar nicht anders geht, greifen wir auf das Geld zurück, das
ich ...« Zu spät!
»Und welches Geld soll das sein?« John bedachte Marie
mit einem vorwurfsvollen Blick, als ob sie ihn hintergangen hätte.
»Ich rede von dem Geld, dass ich mir mit Wäsche-
waschen verdient habe.«
»Das Geld, das du mit Wäschewaschen verdient hast?«,
äffte er sie nach. »Und wie ist es dir gelungen, das vor mir zu verstecken?«
»Das war nie ein Geheimnis, John. Es war mein Geld,
und ich habe es zurückgelegt, falls ...«
»Dein Geld? Dein Geld?«, schrie er mit zornrotem Kopf.
»Dieses Geld gehört mir, und zwar alles! Ich bin dein
Mann! Ich kleide dich und deine Tochter, und ich gebe
euch zu essen und biete euch ein Dach über dem Kopf.
Oder stimmt das etwa nicht?«
»Doch, John, genauso ist es. Aber ...«
»Halt endlich dein Maul! Und spar dir gefälligst diesen
frommen Blick!«
»Hört endlich auf!« Charmaine explodierte. Im nächsten
Augenblick mäßigte sie sich jedoch, aus Angst, dass
der Streit böse enden könnte. »Bitte, hört auf!«
Doch ihr Protest vergrößerte die Wut ihres Vaters nur.
»Eines lass dir gesagt sein, junge Lady: Ich habe deine Blicke
satt - ein für allemal. Du glaubst, dass ich sie nicht
sehe, was? Du hältst dich wohl für etwas Besseres? Es wird
langsam Zeit, dass du mir mit Respekt begegnest, statt
mir mit deiner spitzen Zunge zuzusetzen! Solange du unter
meinem Dach lebst, wirst du ohne Widerworte tun, was ich sage. Hörst du?«
Charmaines Pulsschlag beschleunigte sich. »Ich habe es
gehört, Vater, und ich werde tun, was du sagst.«
Vor Überraschung ebbte sogar sein Zorn ab.
Charmaine hob das Kinn. »Ich würde sehr gern für die
Harringtons arbeiten, falls sie mich haben wollen.«
»Aber natürlich wollen die dich haben«, sagte John
Ryan. »Es sei denn, deine Mutter hat uns nicht die Wahrheit gesagt.«
Marie überhörte die Bemerkung. »Das kannst du doch nicht machen, Charmaine.«
»Und warum nicht?«
»Tja, warum denn nicht, Mutter?«, echote John.
»Wegen deines Lebens und der Ausbildung in St. Jude ...«
»Welches Leben denn?«, entgegnete Charmaine. »In
St. Jude lebe ich nicht, und dies hier kann man wohl kaum
als Leben bezeichnen.« Ihr Augen funkelten vor unterdrücktem
Schmerz und Zorn, und die hasserfüllten Blicke
trafen ihren Vater wie Dolche. »Ich will von hier weg. Und
wenn ich bei anständigen Leuten arbeite, muss ich wenigstens
nicht länger unter deinem Dach leben!«
Dieser Ausbruch verpuffte wirkungslos, weil John Ryan
längst erreicht hatte, was er wollte.
1
Freitag, 9. September 1836
Richmond, Virginia
John Duvoisin sah zu, wie sich die Raven langsam vom
Anleger entfernte. Als die Schlepper die Leinen lösten,
verlor das Schiff plötzlich an Geschwindigkeit und schien
einen Moment lang unentschlossen innezuhalten. Im
nächsten Augenblick bauschten sich die Segel im Wind,
und ein Stöhnen ging durch den Rumpf, als der Bug in die
Strömung des James River eintauchte und auf sein Ziel zusteuerte
- auf drei kleine Inseln namens Les Charmantes,
die in den Gewässern der nordöstlichen Westindischen Inseln
lagen. Die Inseln galten gemeinhin als Grundstock
des Reichtums der Duvoisins. Für John bedeuteten sie jedoch
weit mehr als nur das. Er behielt den Segler fest im
Blick, während sein Herz dem gewundenen Lauf des Flusses
folgte. Inzwischen war die Raven nur noch so groß wie
ein Spielzeug, doch John starrte ihr unverwandt nach, als
ob er sich durch bloßes Hinsehen auf ihr Deck versetzen
könnte. Eine bittere Enttäuschung hatte ihn am heutigen
Morgen daran gehindert, das Schiff zu besteigen - und nun
machte er sich Vorwürfe, weil er nichts unternommen
hatte. Der Kampf in seinem Inneren erreichte seinen Höhepunkt,
als die Raven nach der Flussbiegung außer Sicht
geriet. Mit steifen Fingern fuhr er durch sein zerzaustes
Haar, als ob die Geste seine Gedanken ordnen könnte,
dann drehte er sich um, ohne das geschäftige Leben am
Kai überhaupt wahrzunehmen. Er bestieg sein Pferd, trieb
es zwischen den Menschen hindurch und ließ die Gedanken
an die Raven und die Inseln im Hafen zurück.
»Wir bewegen uns! Endlich!«, rief Charmaine, während
sie durch das Bullauge der kleinen Kabine nach draußen
starrte. Mit triumphierendem Lachen drehte sie sich zu
Loretta um, die zufrieden auf einem am Boden festgeschraubten
Sessel thronte. »Wollen Sie sich das nicht ansehen?«
»Nein, danke, Liebes.« Loretta lächelte. »Ich verlasse
mich darauf, dass das Schiff seinen Weg allein findet, und
hoffe, dass mein Magen sich anständig benimmt.« Die
Seekrankheit war der einzige Einwand, den sie gegen diese
Reise vorzubringen hatte. Aber Charmaine nahm alle
Unannehmlichkeiten in Kauf, die während der nächsten
vier oder fünf Tage vielleicht auf sie zukamen. Tatkräftig,
wie sie war, wandte sich Loretta dem Nächstliegenden
zu. »Was hältst du davon, wenn wir dein Vorstellungsgespräch
ein wenig üben, Charmaine? Es würde mich außerdem
von der Schaukelei ablenken.«
»Aber ich fühle mich bestens vorbereitet«, antwortete
Charmaine. Trotzdem nahm sie den Vorschlag an und
setzte sich zu der Frau, die ihr in den letzten Jahren zur
zweiten Mutter geworden war ...
Es war fast drei Jahre her, seit die Harringtons sie bei
sich aufgenommen hatten. Als Marie Ryan einsehen
musste, dass sie ihre Tochter nicht davon abhalten konnte,
ihr Elternhaus zu verlassen, redete sie mit den Harringtons.
Joshua Harrington mochte das lebhafte Mädchen sofort.
In den großen braunen Augen erkannte er eine Willenskraft,
wie sie bei Fünfzehnjährigen selten war, und aus
ihren Worten schloss er, dass sie sehr genau zwischen Gut
und Böse unterscheiden konnte. Bereits nach dem ersten
Treffen war er sicher, dass er die richtige Gesellschaft für
seine Frau gefunden hatte. Vielleicht konnte ihr das Mädchen
sogar die Tochter sein, die sie nie gehabt hatte.
Es dauerte keine zwei Wochen, bis alles abgemacht war
und Charmaine Ryan ihr altes Leben zurückließ und ein
neues begann. Mit all ihren Habseligkeiten zog sie in das
hübsche, weiß verputzte Haus der Harringtons, das im Villenviertel
von Richmond lag, wo sie die Woche über lebte.
Ihre Eltern besuchte sie nur noch an den Wochenenden.
Dass ihre Mutter von nun an ganz allein für sich sorgen
musste, war das Einzige, was Charmaine auch weiterhin
bedrückte. Aber Marie verbrachte mehr und mehr Zeit in
St. Jude, fand Trost in ihrer Arbeit und war froh und glücklich,
wenn sie sich die Sorgen fremder Menschen anhören
konnte. Als ihre Mutter an einem Wochenende ungewöhnlich
schweigsam war, vermutete Charmaine, dass
etwas Marie bedrückte, doch die gab keine Einzelheiten
preis. »Ich habe immer gedacht, dass nur die Armen leiden.
Aber das war ein Irrtum. Vielleicht gilt ja sogar der
Satz: Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz.«
Es dauerte keinen Monat, bis John Ryan der »Wohltätigkeitsarbeit
« von Charmaine einen Riegel vorschieben
wollte. Doch Charmaine war entschlossen, seine Pläne
zu durchkreuzen. Sie dankte dem Himmel, dass ihr Lohn
höher war, als ihr Vater erwartet hatte, und dass sie so
schlau gewesen war, heimlich die Hälfte davon zu sparen.
In dieser bedrohlichen Lage bestand sie darauf, dass
ihre Mutter das Geld annahm. »Mach ihm weis, dass die
Kirche deine Arbeit bezahlt«, riet sie ihr in verschwörerischem
Ton. »Dann wird er einverstanden sein, dass du
auch weiterhin dort arbeitest.« Und so war es. Kaum dass
die Münzen in seiner Hand klimperten, verstummten die Beschwerden.
Unter dem Dach der Harringtons fühlte Charmaine sich
geborgen und konnte aufatmen. Mr. Harrington behan
1. Auflage
Taschenbuchausgabe September 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © by DeVa Gantt 2008
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
Umschlagmotiv: © HildenDesign, München, unter Verwendung
von Motiven von VisionsofAmerica / Joe Sohm / Photodisc /
Getty Images; wiw / Shutterstock
Redaktion: Ilse Wagner
ED • Hertellung: sam
Satz: Uhl+Massopust, Aalen
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-37399-4
www.blanvalet.de
Marie Ryan hastete über die Steinfliesen des schwach erleuchteten
Innenhofs. Das Klappern ihrer Absätze hallte
von den Mauern wider. Trotz der vielen Jahre, die sie
im Waisenhaus von St. Jude im Herzen von Richmond,
Virginia, gelebt hatte, hatte sie sich nicht den leichtfüßigen
Gang der Schwestern angeeignet, mit dem diese Tag
für Tag auf leisen Sohlen über das Pflaster zur Andacht eilten.
Marie kam zu spät, und das, obwohl die Unterredung
nur für sie anberaumt worden war. Doch mit dem heutigen
Abend waren alle Pläne ohnehin hinfällig. Sie würde
das Waisenhaus nie mehr verlassen. Dieses Heim war ihr
Zuhause und ihre Zuflucht. Der Ort, wo sie hingehörte.
Weder die Drohungen ihres Mannes noch ihre eigene,
von einem schweren Schicksal geprägte Vergangenheit
würden sie je wieder aus der Geborgenheit dieser Mauern
vertreiben. An diesem Abend hatte sie ein Zeichen
empfangen.
Seit man sie vor dreißig Jahren als kleines Kind auf den
Stufen von St. Jude ausgesetzt hatte, hatte Gott keine
Mühe gescheut, um sie als seine Dienerin zu gewinnen.
Aber während der letzten sechzehn Jahre hatte sie sich
nicht mehr um ihn geschert. Doch von nun an würde sich
das ändern. Von heute Abend an wollte sie ihm folgen.
Das Leben außerhalb der Kirchenmauern konnte sie nicht
länger mit leeren Versprechungen locken. Die wahre Welt
umfasste zwei völlig unterschiedliche Arten von Menschen,
die jedoch voneinander abhängig waren: und zwar
diejenigen, die unter dem Leben und seinen Zerrbildern
litten, und diejenigen, die dem Leben zu Diensten waren.
Heute Abend wollte sie Ersteren aus dem Weg gehen und
die Letzteren umarmen. Ihre Buße war abgeleistet.
Marie betrat das Pfarrhaus und grüßte die wartenden
Personen mit zögerlichem Nicken: Sister Elizabeth,
Father Michael Andrews und Joshua Harrington. Letzterer
war ein älterer Gentleman und wohlhabender Geschäftsmann,
der nach einer passenden Gesellschafterin für seine
Ehefrau suchte. Nachdem die fünf Söhne geheiratet hatten
und fortgezogen waren, litt Loretta Harrington unter der
Leere zu Hause.
»Halten Sie mich bitte nicht für undankbar, Mr. Harrington«,
entschuldigte sich Marie, nachdem sie einander
vorgestellt worden waren, »doch ich fürchte, ich habe
meine Meinung inzwischen geändert.«
Father Andrews stand wie vom Donner gerührt da. Die
junge Frau hatte größtes Interesse an dieser Stellung im
Haus der Harringtons bekundet und ihn gebeten, die Unterredung
für sie zu organisieren. Außerdem wäre der ansehnliche
Lohn ein wahrer Segen für sie. »Ist etwas geschehen, Marie?«
Sie zögerte. »Ich habe endlich begriffen, dass ich hierher
gehöre. Hierher in dieses Haus. Ja, ich weiß, ich habe
ein eigenes Zuhause, aber ich will mich in Zukunft hier
in St. Jude um alle kümmern, die mich wirklich brauchen.«
Der Pastor staunte immer mehr. Obgleich Maries Tochter
Charmaine die Elementarschule von Sister Elizabeth
in St. Jude besuchte, überschritt Marie die Schwelle der
Kirche so gut wie nie. »Aber dein Mann ...«, begann er.
»... wird es verstehen müssen«, antwortete Marie.
»Ich bin ja nicht einmal sicher, ob ich es verstehe. Ich
dachte, du bräuchtest diese Stellung.«
Marie seufzte. »Heute Abend war ein Mann in der Kirche.
Er war krank.«
»Wieder so ein Bettler«, spottete Father Michael in ungewöhnlich
hartem Ton.
»Nein, kein Bettler«, widersprach Marie und wunderte
sich über seine barsche Reaktion. »Der Mann war vornehm
gekleidet, und doch befand er sich in einem bedauernswerten
Zustand: Er war ohnmächtig. Ich glaube, er hat
sich den Kopf an einer der Bänke angeschlagen. Ich ließ
ihn von Matthew in den Aufenthaltsraum bringen und
blieb bei ihm, bis er aufwachte. Ich fürchte, er hat viel
durchgemacht. Und das nicht nur äußerlich. Ich möchte,
dass Sie sich um ihn kümmern, Father.«
»Ich begreife trotzdem nicht, wie dich dieser Fremde zu
einem solchen Sinneswandel bewegen konnte.«
»Es war etwas, das er gesagt hat«, erwiderte Marie mit
einer gewissen Zurückhaltung. »Ich glaube, dass Gott ihn
nicht nur nach St. Jude, sondern direkt zu mir geschickt
hat, um mir zu zeigen, wo ich wirklich gebraucht werde.
Wohin ich gehöre. Ich entschuldige mich noch einmal
ganz ausdrücklich, Mr. Harrington. Ich hätte Sie nicht so
lange von Ihrer Frau fernhalten dürfen. Doch ich hoffe, Sie
verstehen, dass ich hier in St. Jude bleiben muss.«
Father Michael Andrews lächelte Marie an. Sechzehn
lange Jahre hatte er ihre Gegenwart vermissen müssen.
Doch heute Abend war sie zurückgekehrt.
John Ryan erhob sich von dem wackeligen Stuhl, auf dem
er am Fenster gesessen hatte, und stolzierte wie ein Pfau
durch die kleine Küche. Er massierte seinen aufgeblähten
Bauch und fuhr dann mit vergilbten Nägeln durch sein
angegrautes Haar, das gleich darauf wieder seine finstere
Miene verhüllte.
Voll Abscheu wandte Charmaine sich ab und machte
sich an die Zubereitung des Abendessens. Das angeberische
Gehabe ihres Vaters widerstrebte ihr zutiefst. In Au-
genblicken wie diesen dankte sie Gott, dass er sie als Frau
erschaffen hatte.
Sie seufzte. Offenbar verspätete sich ihre Mutter. Das
Gespräch mit Joshua Harrington hatte schon vor mehr als
zwei Stunden begonnen. Ihr Vater hielt das zwar für ein
gutes Zeichen, doch sie war anderer Meinung.
»Wann genau war deine Mutter denn verabredet?«
Charmaine schrak zusammen. »Ich glaube, sie hat fünf Uhr gesagt.«
»Du glaubst? Guter Gott, Mädchen, weißt du das denn nicht?«
»Nein, nicht mit Sicherheit«, erwiderte sie gereizt. Mit
stumpfem Blick sah sie ihrem Vater nach, als er ins Schlafzimmer ging.
Sie musste an sich halten. Im Augenblick brachte sie alles
in Wut, was ihr Vater tat. Wenn sich ihre Mutter unter
seinen Schimpftiraden duckte, wurde Charmaines Wut
nur umso größer. Vermutlich wagte sie diese Art von Widerspruch
nur deshalb, weil ihr Vater nie die Hand gegen
sie erhob. Was das anging, so war Marie weniger glücklich.
Niemand hatte sie gelehrt, die Überlegenheit ihres Mannes
anzuzweifeln, und so schwieg sie, um den empfindlichen
Frieden nicht zu gefährden.
Charmaine saß oft in der ärmlichen Küche des schäbigen
Häuschens mit nur drei Zimmern, starrte vor sich
hin, dachte über die Beziehung zwischen John Ryan und
Marie St. Jude nach, und versuchte, die Umstände zu begreifen,
die einst zur Ehe ihrer Eltern geführt hatten. Aus
dem Vorleben ihrer Mutter wusste sie nur, dass sie einst
auf den Stufen der St. Jude Thaddeus Church ausgesetzt
worden war, und von ihrem Vater wusste sie noch sehr
viel weniger. Er kam oder ging, ganz wie es ihm gefiel,
und ließ seine Frau und seine Tochter oft mehrere Tage
lang allein. Was Charmaine jedoch gefiel, denn je weniger
sie von dem Mann sah, desto besser. Hatte er außer seiner
Frau und seiner Tochter womöglich noch eine zweite
Familie? Dies war nur eine von vielen unbeantworteten
Fragen. Mit Sicherheit wusste Charmaine nur, dass John
Ryan ein schlecht erzogener, ungebildeter Trunkenbold
war. Er arbeitete nur selten, und wenn er Geld für Alkohol
benötigte, trieb er sich im Hafen und in den Docks von
Richmond herum und nahm irgendwelche Gelegenheitsarbeiten an.
Wie hatte ein solcher Taugenichts das Herz ihrer Mutter
gewinnen können? Eine weitere unergründete Frage. Eigentlich
hatte Marie als Novizin ins Kloster eintreten und
das Gelübde ablegen wollen, sich mit Gott und der Heiligen
Kirche zu verheiraten. Stattdessen hatte sie mit achtzehn
Jahren das Waisenhaus von St. Jude Thaddeus verlassen
und einen Mann geheiratet, der angeblich nett zu
ihr gewesen war, wie sie behauptete. Aus der Ehe war ein
einziges Kind hervorgegangen - eine Tochter, die nach der
Großmutter väterlicherseits auf den Namen Haley Charmaine
getauft worden war. Die Großmutter hatte Charmaine
nie zu Gesicht bekommen, und ihr Vater war weit
und breit der Einzige, der sie Haley nannte. Ihre Mutter
bevorzugte den Namen Charmaine, weil der Klang dieses
Namens sie an eine Zeit und einen Ort gemahnte, ohne
dass sie sich genauer daran erinnern konnte.
»Wir fangen schon einmal ohne sie an.«
Charmaine zuckte zusammen. Dieser Mann beherrschte
das heimliche Anschleichen vollendet. »In Ordnung«, sagte
sie und stellte das Essen auf den Tisch. Von dem wenigen
Geld, das ihr die alte Jungfer von nebenan zugesteckt hatte,
hatte sie ein kleines Stück Schweinefleisch besorgt, um
heute Abend den Erfolg ihrer Mutter zu feiern.
»Ich hoffe nur, dass dieser Harrington auch ein Auge für
eine tüchtige Arbeitskraft hat«, bemerkte John Ryan und
setzte sich auf den Stuhl am Kopf der Tafel. Charmaine
schwieg, während ihr Vater das Holzbrett zu sich heranzog
und die Fettkruste von dem dampfenden Braten abschnitt.
Anschließend suchte er sich seine Scheiben aus und legte
die restlichen Stücke auf Charmaines Teller. »Deine Mutter
kann hart arbeiten«, fuhr er fort. »Wenn sie sich richtig
Mühe gibt, kann keiner mit ihr mithalten. Ich möchte
dem Kerl raten, das genauso zu sehen.«
»Ja, Sir«, entgegnete Charmaine widerwillig. Es war abstoßend,
wie unverfroren ihr Vater von Fremden Respekt
für die Tüchtigkeit seiner Frau einforderte. Diese Gedanken
verblüfften Charmaine immer wieder, und wenn die
Situation nicht so trostlos gewesen wäre, hätte sie am
liebsten über seine großspurige Redeweise gelacht.
»Ich hoffe, dass er sie wenigstens anständig bezahlt.«
Die Worte wurden von dem Stück Fleisch erstickt, das er
sich in den Mund stopfte. »Kein Mitglied meiner Familie
darf für einen Hungerlohn arbeiten. Nein, Sir. Ich hoffe,
er gehört nicht zu diesen verdammten, geizigen Aris-to-
kraten, die immer nur einen Hungerlohn zahlen wollen.
Nicht mit mir! Das erlaube ich nicht.«
Wieder biss sich Charmaine auf die Zunge. Sollte sie
ihm vielleicht vorhalten, dass er seine Frau zur Arbeit
schickte und anschließend ihren Lohn für sich beanspruchte?
Das war sinnlos. Abgesehen davon tat es Marie
gut, wenn sie eine Stellung bekam, die sie unabhängig
machte. Sie selbst ging zusammen mit den Waisenkindern
in St. Jude Thaddeus zur Schule, wo sie vor den Brutalitäten
ihres Vater geschützt war. Doch was besaß Marie?
Sie hatte nur das schäbige Haus, in dem sie wohnten, und
nicht die geringste Hoffnung, dass sich das in nächster
Zeit ändern würde. Doch nun hatte sich etwas geändert.
Vom heutigen Tag an würde das Haus der Harringtons ihrer
Mutter eine Zufluchtsstätte bieten.
»Guter Gott, Frau, wie konntest du nur so dumm sein?«
»Es tut mir leid, John« - Marie versuchte ihren Mann
zu beschwichtigen -, »aber ich konnte einfach nichts dagegen tun.«
»Nichts dagegen tun?« Er schnaubte. »Und das soll ich
dir glauben? Ich weiß genau, wie es war. Du wolltest die
Stelle gar nicht! Du warst dir für die Arbeit zu schade.«
»Nein, das stimmt nicht, John. Ich habe dir gesagt, dass
Mr. Harrington lieber eine jüngere Frau möchte. Eher eine
Tochter, die seine Frau unter ihre Fittiche nehmen kann.«
Dieser Satz zog einen neuen Fluch nach sich. »Dann
schick ihnen doch Haley«, meinte John Ryan.
»Wie bitte?«
»Du hast mich genau verstanden.« Je länger er darüber
nachdachte, desto breiter wurde sein Grinsen. »Sie
ist noch jung und genau das, was die Harringtons wollen.
Sie wird der feinen Lady bestimmt gefallen.«
»Nicht doch, John. Charmaine ist viel zu jung und muss
erst die Schule beenden.«
»Die Schule«, giftete er. »Wenn du mich fragst, war sie
lange genug in dem verdammten St. Jude. Was hat sie dort
schon gelernt, außer mir zu widersprechen? Es wird Zeit,
dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient!«
»Das ist nicht nötig«, widersprach Marie unvorsichtig.
»Ich werde mich weiter nach Arbeit umsehen, und bis ich
etwas Passendes finde, werden wir mit dem auskommen,
was du im Lagerhaus verdienst. Ich weiß, es ist nicht viel,
aber bisher haben wir es ja auch geschafft und ...«
»Ich arbeite nicht mehr im Lagerhaus«, unterbrach er sie.
»Und warum nicht?«
»John Duvoisin ist ein elender Trunkenbold, und ich arbeite
nicht für Trunkenbolde. Lieber schicken wir Haley
zu den Harringtons und leben von dem Lohn, den sie nach
Hause bringt. Wenn du dann auch noch Arbeit findest,
sind wir fein raus.«
»Aber, John! Charmaine ist noch viel zu jung«, wiederholte
Marie leise und hoffte inständig, dass er sich beruhigte.
»Außerdem bekommt sie nicht genug Geld. Nein,
nein, da gibt es noch andere Möglichkeiten. Und wenn es
gar nicht anders geht, greifen wir auf das Geld zurück, das
ich ...« Zu spät!
»Und welches Geld soll das sein?« John bedachte Marie
mit einem vorwurfsvollen Blick, als ob sie ihn hintergangen hätte.
»Ich rede von dem Geld, dass ich mir mit Wäsche-
waschen verdient habe.«
»Das Geld, das du mit Wäschewaschen verdient hast?«,
äffte er sie nach. »Und wie ist es dir gelungen, das vor mir zu verstecken?«
»Das war nie ein Geheimnis, John. Es war mein Geld,
und ich habe es zurückgelegt, falls ...«
»Dein Geld? Dein Geld?«, schrie er mit zornrotem Kopf.
»Dieses Geld gehört mir, und zwar alles! Ich bin dein
Mann! Ich kleide dich und deine Tochter, und ich gebe
euch zu essen und biete euch ein Dach über dem Kopf.
Oder stimmt das etwa nicht?«
»Doch, John, genauso ist es. Aber ...«
»Halt endlich dein Maul! Und spar dir gefälligst diesen
frommen Blick!«
»Hört endlich auf!« Charmaine explodierte. Im nächsten
Augenblick mäßigte sie sich jedoch, aus Angst, dass
der Streit böse enden könnte. »Bitte, hört auf!«
Doch ihr Protest vergrößerte die Wut ihres Vaters nur.
»Eines lass dir gesagt sein, junge Lady: Ich habe deine Blicke
satt - ein für allemal. Du glaubst, dass ich sie nicht
sehe, was? Du hältst dich wohl für etwas Besseres? Es wird
langsam Zeit, dass du mir mit Respekt begegnest, statt
mir mit deiner spitzen Zunge zuzusetzen! Solange du unter
meinem Dach lebst, wirst du ohne Widerworte tun, was ich sage. Hörst du?«
Charmaines Pulsschlag beschleunigte sich. »Ich habe es
gehört, Vater, und ich werde tun, was du sagst.«
Vor Überraschung ebbte sogar sein Zorn ab.
Charmaine hob das Kinn. »Ich würde sehr gern für die
Harringtons arbeiten, falls sie mich haben wollen.«
»Aber natürlich wollen die dich haben«, sagte John
Ryan. »Es sei denn, deine Mutter hat uns nicht die Wahrheit gesagt.«
Marie überhörte die Bemerkung. »Das kannst du doch nicht machen, Charmaine.«
»Und warum nicht?«
»Tja, warum denn nicht, Mutter?«, echote John.
»Wegen deines Lebens und der Ausbildung in St. Jude ...«
»Welches Leben denn?«, entgegnete Charmaine. »In
St. Jude lebe ich nicht, und dies hier kann man wohl kaum
als Leben bezeichnen.« Ihr Augen funkelten vor unterdrücktem
Schmerz und Zorn, und die hasserfüllten Blicke
trafen ihren Vater wie Dolche. »Ich will von hier weg. Und
wenn ich bei anständigen Leuten arbeite, muss ich wenigstens
nicht länger unter deinem Dach leben!«
Dieser Ausbruch verpuffte wirkungslos, weil John Ryan
längst erreicht hatte, was er wollte.
1
Freitag, 9. September 1836
Richmond, Virginia
John Duvoisin sah zu, wie sich die Raven langsam vom
Anleger entfernte. Als die Schlepper die Leinen lösten,
verlor das Schiff plötzlich an Geschwindigkeit und schien
einen Moment lang unentschlossen innezuhalten. Im
nächsten Augenblick bauschten sich die Segel im Wind,
und ein Stöhnen ging durch den Rumpf, als der Bug in die
Strömung des James River eintauchte und auf sein Ziel zusteuerte
- auf drei kleine Inseln namens Les Charmantes,
die in den Gewässern der nordöstlichen Westindischen Inseln
lagen. Die Inseln galten gemeinhin als Grundstock
des Reichtums der Duvoisins. Für John bedeuteten sie jedoch
weit mehr als nur das. Er behielt den Segler fest im
Blick, während sein Herz dem gewundenen Lauf des Flusses
folgte. Inzwischen war die Raven nur noch so groß wie
ein Spielzeug, doch John starrte ihr unverwandt nach, als
ob er sich durch bloßes Hinsehen auf ihr Deck versetzen
könnte. Eine bittere Enttäuschung hatte ihn am heutigen
Morgen daran gehindert, das Schiff zu besteigen - und nun
machte er sich Vorwürfe, weil er nichts unternommen
hatte. Der Kampf in seinem Inneren erreichte seinen Höhepunkt,
als die Raven nach der Flussbiegung außer Sicht
geriet. Mit steifen Fingern fuhr er durch sein zerzaustes
Haar, als ob die Geste seine Gedanken ordnen könnte,
dann drehte er sich um, ohne das geschäftige Leben am
Kai überhaupt wahrzunehmen. Er bestieg sein Pferd, trieb
es zwischen den Menschen hindurch und ließ die Gedanken
an die Raven und die Inseln im Hafen zurück.
»Wir bewegen uns! Endlich!«, rief Charmaine, während
sie durch das Bullauge der kleinen Kabine nach draußen
starrte. Mit triumphierendem Lachen drehte sie sich zu
Loretta um, die zufrieden auf einem am Boden festgeschraubten
Sessel thronte. »Wollen Sie sich das nicht ansehen?«
»Nein, danke, Liebes.« Loretta lächelte. »Ich verlasse
mich darauf, dass das Schiff seinen Weg allein findet, und
hoffe, dass mein Magen sich anständig benimmt.« Die
Seekrankheit war der einzige Einwand, den sie gegen diese
Reise vorzubringen hatte. Aber Charmaine nahm alle
Unannehmlichkeiten in Kauf, die während der nächsten
vier oder fünf Tage vielleicht auf sie zukamen. Tatkräftig,
wie sie war, wandte sich Loretta dem Nächstliegenden
zu. »Was hältst du davon, wenn wir dein Vorstellungsgespräch
ein wenig üben, Charmaine? Es würde mich außerdem
von der Schaukelei ablenken.«
»Aber ich fühle mich bestens vorbereitet«, antwortete
Charmaine. Trotzdem nahm sie den Vorschlag an und
setzte sich zu der Frau, die ihr in den letzten Jahren zur
zweiten Mutter geworden war ...
Es war fast drei Jahre her, seit die Harringtons sie bei
sich aufgenommen hatten. Als Marie Ryan einsehen
musste, dass sie ihre Tochter nicht davon abhalten konnte,
ihr Elternhaus zu verlassen, redete sie mit den Harringtons.
Joshua Harrington mochte das lebhafte Mädchen sofort.
In den großen braunen Augen erkannte er eine Willenskraft,
wie sie bei Fünfzehnjährigen selten war, und aus
ihren Worten schloss er, dass sie sehr genau zwischen Gut
und Böse unterscheiden konnte. Bereits nach dem ersten
Treffen war er sicher, dass er die richtige Gesellschaft für
seine Frau gefunden hatte. Vielleicht konnte ihr das Mädchen
sogar die Tochter sein, die sie nie gehabt hatte.
Es dauerte keine zwei Wochen, bis alles abgemacht war
und Charmaine Ryan ihr altes Leben zurückließ und ein
neues begann. Mit all ihren Habseligkeiten zog sie in das
hübsche, weiß verputzte Haus der Harringtons, das im Villenviertel
von Richmond lag, wo sie die Woche über lebte.
Ihre Eltern besuchte sie nur noch an den Wochenenden.
Dass ihre Mutter von nun an ganz allein für sich sorgen
musste, war das Einzige, was Charmaine auch weiterhin
bedrückte. Aber Marie verbrachte mehr und mehr Zeit in
St. Jude, fand Trost in ihrer Arbeit und war froh und glücklich,
wenn sie sich die Sorgen fremder Menschen anhören
konnte. Als ihre Mutter an einem Wochenende ungewöhnlich
schweigsam war, vermutete Charmaine, dass
etwas Marie bedrückte, doch die gab keine Einzelheiten
preis. »Ich habe immer gedacht, dass nur die Armen leiden.
Aber das war ein Irrtum. Vielleicht gilt ja sogar der
Satz: Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz.«
Es dauerte keinen Monat, bis John Ryan der »Wohltätigkeitsarbeit
« von Charmaine einen Riegel vorschieben
wollte. Doch Charmaine war entschlossen, seine Pläne
zu durchkreuzen. Sie dankte dem Himmel, dass ihr Lohn
höher war, als ihr Vater erwartet hatte, und dass sie so
schlau gewesen war, heimlich die Hälfte davon zu sparen.
In dieser bedrohlichen Lage bestand sie darauf, dass
ihre Mutter das Geld annahm. »Mach ihm weis, dass die
Kirche deine Arbeit bezahlt«, riet sie ihr in verschwörerischem
Ton. »Dann wird er einverstanden sein, dass du
auch weiterhin dort arbeitest.« Und so war es. Kaum dass
die Münzen in seiner Hand klimperten, verstummten die Beschwerden.
Unter dem Dach der Harringtons fühlte Charmaine sich
geborgen und konnte aufatmen. Mr. Harrington behan
1. Auflage
Taschenbuchausgabe September 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © by DeVa Gantt 2008
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH
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Redaktion: Ilse Wagner
ED • Hertellung: sam
Satz: Uhl+Massopust, Aalen
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-37399-4
www.blanvalet.de
... weniger
Autoren-Porträt von DeVa Gantt
Hinter dem Pseudonym DeVa Gantt verbergen sich die Schwestern Debra und Valerie Gantt, die aus New Jersey stammen. Nachdem sie lange Zeit vergeblich versucht haben, einen Verlag zu finden, beschlossen sie, ihre Trilogie um die Duvoisin-Familie selbst zu veröffentlichen. Wenn sie nicht gerade schreiben, arbeitet Debra als Geschäftsführerin eines Pharmazieunternehmens und Valerie als Lehrerin. Beide leben in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: DeVa Gantt
- 2010, 446 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Koch, Monika
- Übersetzer: Monika Koch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442373999
- ISBN-13: 9783442373994
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