In 180 Tagen um die Welt
Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl. Roman
Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl. Ein kleiner Finanzbeamter aus dem Bayerischen Wald tritt das Abenteuer seines Lebens an: eine Weltreise auf dem besten aller Kreuzfahrtschiffe. Da bekommt er es nicht nur mit bezaubernden Hochstaplern und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „In 180 Tagen um die Welt “
Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl. Ein kleiner Finanzbeamter aus dem Bayerischen Wald tritt das Abenteuer seines Lebens an: eine Weltreise auf dem besten aller Kreuzfahrtschiffe. Da bekommt er es nicht nur mit bezaubernden Hochstaplern und verzauberten Damen zu tun, sondern auch mit lebenden Frühlingsrollen und einer ganzen Herde Kielschweine... Ein moderner Schelmenroman, auf der Politycki die Idiosynkrasien unserer Gesellschaft mit satirischer Brillanz in ihre Bestandteile zerlegt und zu einer ganz und gar fantastischen Reise neu zusammensetzt.
Klappentext zu „In 180 Tagen um die Welt “
"Fonsä, Veit, Wolfi, Zenz! Wenn ich's nicht mit eignen Augen gesehen hätte, ich würde's schier selber nicht glauben."Wer eine Reise auf dem besten aller Kreuzfahrtschiffe macht, der hat etwas zu erzählen; wer sie als einfacher Finanzbeamter aus dem bayerischen Oberviechtach antritt, den ein Lottogewinn an Bord geführt hat, der kommt aus dem Staunen so schnell nicht mehr heraus: Johann Gottlieb Fichtl, von seiner Tippgemeinschaft mit Motivkrawatten und einem "Aldi-Smoking" aus dem Fundus des Bürgermeisteramtes für seine Reise ausgestattet, macht sich auf, die Welt im Allgemeinen und - vom Penthouse-Deck bis hinunter in die Pumpensümpfe - die von MS Europa im Besonderen zu erkunden. In 184 Shortcuts berichtet er vom aberwitzigen Fünfsterneplus-Alltag an Bord und seinen nicht minder (aber-)witzigen Erlebnissen an Land: Die Reisegesellschaft entpuppt sich dabei mehr und mehr als Kuriositätenkabinett, das auf einem schwimmenden Zauberberg unserer Zeit dem Rausch der Intrigen und Gerüchte frönt - und dabei grandios an Leben und Tod und all dem existenziellen Ernst vorbeifeiert, dem auch die Europa auf ihrer Fahrt durch die sieben Weltmeere nicht entkommt. Dieser Fichtl aus Oberviechtach aber, der an Bord bald zu "einem Großen, einem ganz Großen" hochgetuschelt wird, findet am Ende der Reise den Ort seiner Bestimmung: Für ihn hat das Abenteuer gerade erst begonnen.Mit In 180 Tagen um die Welt hat Matthias Politycki den Schelmenroman des beginnenden 21. Jahrhunderts geschrieben: Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl ist eine kühne Tour de farce, auf der Politycki die Idiosynkrasien unserer Gesellschaft mit satirischer Brillanz in ihre Bestandteile zerlegt. Und für den Leser zu einer ganz und gar phantastischen Reise neu zusammensetzt."Politycki erzählt schwungvoll und witzig - deutsche Literatur muss kein bisschen langweilig sein."taz
Lese-Probe zu „In 180 Tagen um die Welt “
In 180 Tagen um die Welt von Matthias Politycki LESEPROBE VorbemerkungJohann Gottlieb Fichtl - «der Fichtl Hannes», wie er sich selber vorstellte -, zufällig bin ich ihm gleich am ersten Abend unsrer Reise begegnet: in der Sansibar, 9er-Deck achtern. Er hing am Tresen, mit dem Rücken zur Heckverglasung, des nächtlich glimmernden Istanbul mit seinen phantastisch wechselnden Kulissen nicht achtend - ein drahtiges Kerlchen, Busfahrerbrille, beginnende Halbglatze, Anfang Vierzig vielleicht und in einem Anzug, der ihm ganz gewiß zu groß geschnitten war. Vor allem mit einer Motivkrawatte geschmückt, die in lätzchenhafter Breite eine Art Cheshire-Katze präsentierte: Sie zwinkerte dem Betrachter je nachdem, von welcher Seite man sie beschielte - und das taten wir laufend -, mit dem linken oder rechten Auge zu. So fett die Katze, so sehnig ihr Besitzer, und wäre er nicht schon betrunken gewesen, er hätte sich mit seinen knochig langen Fingern gewiß nicht länger an allem festgehalten, das Tresenkante, Männerschulter, Bierglas, Handtasche hieß, sondern sich rechtschaffen fehl am Platz gefühlt und: aufs Pazifik-Deck verzogen, Kabine 556, wo er sich vor wenigen Stunden einquartiert hatte.
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So aber tönte er, als sei er hier längst wohlbekannt und -gelitten, im dunkelkehligen Idiom des Bayerischen Waldes, dessen Einzelbrocken sich meist nur aus dem Gesamtgefüge seiner Ausführungen erschlossen, befragte seine Tresennachbarn und bald jeden im Raum, ob wer eine Ahnung habe, wie er wohl hierhergekommen sei, «n-n-nach EUROPA», er brachte die Worte kaum mehr zusammen, wollte jedoch «jede W-WWette halten», daß es keiner errate. Der Vollmundigkeit seiner Beteuerungen zum Trotz stammelte er sich mit Müh und Not vor an, brach mitten im Satz ab, schwieg inbrünstig, der prächtig beleuchtete Bosporus hinter ihm zusehends ins Tinten- schwarze entfunkelnd, um dann mit plötzlicher Verve und annähernd flüssig zu verkünden: Auch seine Katze habe nach dieser langen Anreise Durst. Nämlich aufs Operator, das ihm sein «Freund» - er meinte den Barkeeper, der dezent dazu schwieg - gezapft habe. Operawiebitte? Hier in der Sansibar? Zweifelsohne der Rest eines Sonderpostens für irgendeinen Stammgast; und Fichtl hatte ihn aufgespürt, so gründlich aufgespürt, daß ihm die Zunge bereits bockbiermäßig angeschwollen war, die Worte in jedem Moment davon abzurutschen drohten, im-mmer m-mußte er mit M-M-Macht nachf-f-fassen. Doch so hilflos er seinen Silben hinterher war, so zielsicher schritt er zur Tat, gab seiner Katze tatsächlich zu trinken, indem er, wiederum wortlos konzentriert, das Ende der Krawatte tief in sein Glas hineintauchte. Und dort eine ganze Weile, schweigend, beließ. Als er es schließlich wieder herauszog und abrupt zügig «n-nach Hause» aufbrach, der Biertropfenspur am Boden nicht weiter achtend, blickte man sich mehr oder weniger pikiert an; nur eine Dame im grauschwarz karierten Religionslehrerinnenkostüm spekulierte, wer's mit einer solch feisten Katze hierher geschafft habe, der halte auch noch ganz anderes Getier in petto, der müsse «ein Großer sein, ein ganz Großer». So betrunken habe ich Fichtl nie wieder gesehen. Wenige Tage später, bei unsrer zweiten Begegnung, trug er einen Schlips mit der Ansicht bunt zusammengewürfelter bayerischer Devotionalien, unglücklicherweise hatte er die steil daraus hervorzwiebelnde Kirchturmspitze im Krawattenknoten abgeklemmt. Er selbst erschien mir diesmal fast zierlich, ja zerbrechlich; und was ich ursprünglich für die Wirkung des Operators gehalten, entpuppte sich jetzt als sein Hauptcharakteristikum: «S-S-Sie sind also d-dieser Sch-Sch-Schriftschreiber?» Er stotterte. Stark. Müßig zu sagen, daß er sich nicht nur meiner, sondern der besonderen Aufmerksamkeit aller Mitreisen den sicher sein konnte, daß er unsere Neugier nur umso mehr befeuerte, als er Fragen über die näheren Umstände seiner Reise wie zu seiner Person stets ausweichend beantwortete. Beziehungsweise von vornherein aus dem Weg ging; dieser Fichtl vertraute, wie wir mittlerweile wissen, allein seinem Logbuch, und so stockend er im mündlichen Ausdruck vorankam, so überraschend flüssig gingen ihm dort allem Anschein nach die Sätze von der Hand, als ob er im schriftlich Fixierten noch zu überbieten suchte, was er sich durch Schweigen tagtäglich verkniff. Erstaunlich, daß ein Mensch mit solch schlechtem Geschmack überhaupt zu solch gewählten Formulierungen fand - von einer buntbedruckten Motivkrawatte läßt sich anscheinend doch nicht auf deren Träger und seinen Intellekt schließen. Daß in Fichtls Aufzeichnungen freilich kein einziges Wort über all die Nachfragen und mitunter peinlichen Situationen fällt, in die ihn sein Stottern während der Reise immer wieder brachte, halte ich für bezeichnend, ja augenöffnend, was sein Logbuch als Ganzes betrifft - schade.
Der falsche Mann auf dem falschen Schiff? Mit einem Mal war er dort jedenfalls «ein Großer, ein ganz Großer», mythenumrankt. Was wir tatsächlich von ihm wissen, ist wenig, er stammt aus Oberviechtach, einem Örtchen im Oberpfälzer Wald, wenige Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, und obwohl er seit annähernd zwanzig Jahren beim Münchner Ausweichfinanzamt in Passau beschäftigt war, mittlerer Dienst, fuhr er am Wochenende regelmäßig heim zu seiner Mutter bzw. seinen Oberviechtacher Freunden, zum Stammtisch im Adabei, sogar sommers, wenn sich der Rest der Welt im Kramerlgarten traf.
Wie kommt ausgerechnet so einer auf die EUROPA? Mithilfe von Losglück, das wissen wir inzwischen, seine Oberviechtacher Stammtischrunde verstand sich nämlich von Anfang an auch als Lotto- und Toto-Tipgemeinschaft, immer unter dem Vorsatz, sollte man irgendwann sechs Richtige haben, gemeinsam eine Weltreise zu machen. Und zwar, wennschon-dennschon, an Bord des feinsten Kreuzfahrtschiffes der Welt. Als man im Sommer 2006 tatsächlich einen Kardinaltreffer landete, wird die Freude nichtsdestoweniger kurz gewesen sein, es stellte sich heraus, daß der Gewinn nur für einen einzigen der Ihren reichen würde, um den Plan in die Tat umzusetzen. Gewiß, man hätte ein günstigeres Schiff wählen können, eine kürzere Route; allein man entschied sich, vom ehrgeizigen Ziel nicht zu lassen und einen der Runde stellvertretend loszu schicken. Buchte gleich eine der letzten freien Kabinen, brauchte dann umso länger, sich für ein Losverfahren zu entscheiden, aus dem - erst wenige Tage vor Reisebeginn - ausgerechnet Fichtl (der dann ja auch noch im Eilverfahren von seinem Passauer Dienstherrn freigestellt werden mußte) als Gewinner hervorging. Mit einer einzigen Verpflichtung den Zurückbleibenden gegenüber: seine Fahrt tagtäglich in Wort und Bild zu dokumentieren, auf daß man wenigstens im nachhinein daran würde teilnehmen können. Im Gegenzug half man ihm beim mehr oder weniger hektischen Zusammenstellen der Reisegarderobe - der eine lieh ihm seinen kompletten Satz an Motivkrawatten, ein andrer brachte aus dem Fundus des Bürgermeisteramts einen Smoking bei, der für einen gewichtigen Bürgermeister bemessen war, nicht für einen kleinen Finanzbeamten: Fichtl wirkte darin so verloren, daß man ihm auf dem Schiff sogleich ein tragisches Vorleben andichtete, auch übergroße Kleider machen Leute.
Von der naheliegenden Idee, seine Stammtischbrüder im Adabei aufzusuchen und womöglich über ihn auszufragen, habe ich Abstand genommen; da sie in Fichtls Logbuch mehrfach direkt angesprochen werden wie die Adressaten eines Briefs - Fichtl hat sie auch im Gespräch mit Vertretern der Mannschaft gern erwähnt -, seien ihre Namen hier wenigstens angeführt: «der Fendler Fonsä», «der Rottensteiner Veit», «der Dinhobel Zenz» - ein Fuhrparkunternehmer, ein Glasbläser, ein Biobauer - und «der Wolfi», nachnamenloser Wirt des Lokals. Diese vier Oberviechtacher Bürger, und nicht etwa eine allgemeine Öffentlichkeit, sind Adressaten seines Logbuchs, was mancherlei Eigenheit erklärt, nicht zuletzt die hemmungslose Subjektivität, aus der heraus es geschrieben ist: im Grunde ein Anti-Logbuch, so willkürlich wertet es gewisse Ereignisse auf und verschweigt andre ganz. Der Versuchung, zumindest die gelegentlichen Auslassungen über den «Schiffsschreiber» zu streichen oder kommentierend geradezurücken (z. B. dessen angebliche Aussetzung in iranischem Hoheitsgewässer, eine hanebüchene Erfindung Fichtls, wie man ja bereits an der Tatsache ersehen kann, daß ich sein komplettes Logbuch in Händen halte), habe ich widerstehen müssen; beruhigt hat mich der Gedanke, daß auch all seine anderen Beobachtungen nur unter permanenter Wirklichkeitsverzerrung zustande gekommen sind.
Ob sein auf Tagesrationen portionierter Rechenschaftsbericht de facto eine Abrechnung im Halbjahresformat ist oder, im Gegenteil, eine äußerst verkappte Liebeserklärung, mag der Leser selbst entscheiden, eine akribische Kompensationsleistung ist er in jedem Fall: Fichtl hat sich seiner Pflicht in penibler Weise entledigt, pro Eintrag auf exakt einer Doppelseite, niemals auch nur mit einer Zeile mehr. Die Photos, die ihm täglich, gleich nach dem Aufstehen, zu machen auferlegt waren - daher bei jeder Bildunterschrift der Zusatz «Ein erster Blick» -, hat er sich beim Bordphotographen im Sonderbriefmarkenformat ausdrucken lassen, hat sie stets in der rechten oberen Ecke eingeklebt. Und die technischen Eintragungen, mit denen jede seiner Aufzeichnungen beginnt? Was die Wetterwerte betrifft, so wurden sie jeden Morgen um sechs auf der Brücke gemessen und, für jeden Passagier abrufbar, ins Cruise- Net gestellt; anfangs will sich Fichtl noch nicht entscheiden, welche der Werte er dokumentiert, ab dem 6. Tag protokolliert er konstant Lufttemperatur, -feuchtigkeit, Windrichtung und -stärke, einzig die allgemeine Wettercharakteristik ist mitunter von ihm selber. Nachträglich hat er das sogenannte Etmal dazugesetzt, wie er es den Auszügen des offiziellen Schiffstagebuchs entnehmen konnte, also die Anzahl der zurückgelegten Seemeilen, gemessen von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr mittags des Folgetages.
So pedantisch er in der Angabe technischer Daten war, so freizügig schilderte er, wie erwähnt, die laufenden Ereignisse - wollte er seinen Stammtischbrüdern mit überspitzt dargestellten, ja oft völlig aus der Luft gegriffenen Reiseerlebnissen imponieren? Oder ihnen, den vom Losglück Benachteiligten, aus einem konstanten Schuldgefühl heraus ein Vergnügen bereiten, das er selber de facto gar nicht hatte? Fast bei jedem Eintrag frage ich mich, ob Fichtl überhaupt dieselbe Reise unternommen, auf demselben Schiff gewesen ist wie ich; und wenn ich diese unsere Reise anhand seiner Tagebucheinträge noch einmal nachzuvollziehen suche, so weiß ich am Ende nicht, was davon zu halten ist: Vieles darin ist schlichtweg erlogen und erstaunlicherweise gerade dadurch besonders «wahr», vieles schockierend wahrhaftig referiert und gerade dadurch extrem verfälschend. (…)
© Marebuchverlag
Der falsche Mann auf dem falschen Schiff? Mit einem Mal war er dort jedenfalls «ein Großer, ein ganz Großer», mythenumrankt. Was wir tatsächlich von ihm wissen, ist wenig, er stammt aus Oberviechtach, einem Örtchen im Oberpfälzer Wald, wenige Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, und obwohl er seit annähernd zwanzig Jahren beim Münchner Ausweichfinanzamt in Passau beschäftigt war, mittlerer Dienst, fuhr er am Wochenende regelmäßig heim zu seiner Mutter bzw. seinen Oberviechtacher Freunden, zum Stammtisch im Adabei, sogar sommers, wenn sich der Rest der Welt im Kramerlgarten traf.
Wie kommt ausgerechnet so einer auf die EUROPA? Mithilfe von Losglück, das wissen wir inzwischen, seine Oberviechtacher Stammtischrunde verstand sich nämlich von Anfang an auch als Lotto- und Toto-Tipgemeinschaft, immer unter dem Vorsatz, sollte man irgendwann sechs Richtige haben, gemeinsam eine Weltreise zu machen. Und zwar, wennschon-dennschon, an Bord des feinsten Kreuzfahrtschiffes der Welt. Als man im Sommer 2006 tatsächlich einen Kardinaltreffer landete, wird die Freude nichtsdestoweniger kurz gewesen sein, es stellte sich heraus, daß der Gewinn nur für einen einzigen der Ihren reichen würde, um den Plan in die Tat umzusetzen. Gewiß, man hätte ein günstigeres Schiff wählen können, eine kürzere Route; allein man entschied sich, vom ehrgeizigen Ziel nicht zu lassen und einen der Runde stellvertretend loszu schicken. Buchte gleich eine der letzten freien Kabinen, brauchte dann umso länger, sich für ein Losverfahren zu entscheiden, aus dem - erst wenige Tage vor Reisebeginn - ausgerechnet Fichtl (der dann ja auch noch im Eilverfahren von seinem Passauer Dienstherrn freigestellt werden mußte) als Gewinner hervorging. Mit einer einzigen Verpflichtung den Zurückbleibenden gegenüber: seine Fahrt tagtäglich in Wort und Bild zu dokumentieren, auf daß man wenigstens im nachhinein daran würde teilnehmen können. Im Gegenzug half man ihm beim mehr oder weniger hektischen Zusammenstellen der Reisegarderobe - der eine lieh ihm seinen kompletten Satz an Motivkrawatten, ein andrer brachte aus dem Fundus des Bürgermeisteramts einen Smoking bei, der für einen gewichtigen Bürgermeister bemessen war, nicht für einen kleinen Finanzbeamten: Fichtl wirkte darin so verloren, daß man ihm auf dem Schiff sogleich ein tragisches Vorleben andichtete, auch übergroße Kleider machen Leute.
Von der naheliegenden Idee, seine Stammtischbrüder im Adabei aufzusuchen und womöglich über ihn auszufragen, habe ich Abstand genommen; da sie in Fichtls Logbuch mehrfach direkt angesprochen werden wie die Adressaten eines Briefs - Fichtl hat sie auch im Gespräch mit Vertretern der Mannschaft gern erwähnt -, seien ihre Namen hier wenigstens angeführt: «der Fendler Fonsä», «der Rottensteiner Veit», «der Dinhobel Zenz» - ein Fuhrparkunternehmer, ein Glasbläser, ein Biobauer - und «der Wolfi», nachnamenloser Wirt des Lokals. Diese vier Oberviechtacher Bürger, und nicht etwa eine allgemeine Öffentlichkeit, sind Adressaten seines Logbuchs, was mancherlei Eigenheit erklärt, nicht zuletzt die hemmungslose Subjektivität, aus der heraus es geschrieben ist: im Grunde ein Anti-Logbuch, so willkürlich wertet es gewisse Ereignisse auf und verschweigt andre ganz. Der Versuchung, zumindest die gelegentlichen Auslassungen über den «Schiffsschreiber» zu streichen oder kommentierend geradezurücken (z. B. dessen angebliche Aussetzung in iranischem Hoheitsgewässer, eine hanebüchene Erfindung Fichtls, wie man ja bereits an der Tatsache ersehen kann, daß ich sein komplettes Logbuch in Händen halte), habe ich widerstehen müssen; beruhigt hat mich der Gedanke, daß auch all seine anderen Beobachtungen nur unter permanenter Wirklichkeitsverzerrung zustande gekommen sind.
Ob sein auf Tagesrationen portionierter Rechenschaftsbericht de facto eine Abrechnung im Halbjahresformat ist oder, im Gegenteil, eine äußerst verkappte Liebeserklärung, mag der Leser selbst entscheiden, eine akribische Kompensationsleistung ist er in jedem Fall: Fichtl hat sich seiner Pflicht in penibler Weise entledigt, pro Eintrag auf exakt einer Doppelseite, niemals auch nur mit einer Zeile mehr. Die Photos, die ihm täglich, gleich nach dem Aufstehen, zu machen auferlegt waren - daher bei jeder Bildunterschrift der Zusatz «Ein erster Blick» -, hat er sich beim Bordphotographen im Sonderbriefmarkenformat ausdrucken lassen, hat sie stets in der rechten oberen Ecke eingeklebt. Und die technischen Eintragungen, mit denen jede seiner Aufzeichnungen beginnt? Was die Wetterwerte betrifft, so wurden sie jeden Morgen um sechs auf der Brücke gemessen und, für jeden Passagier abrufbar, ins Cruise- Net gestellt; anfangs will sich Fichtl noch nicht entscheiden, welche der Werte er dokumentiert, ab dem 6. Tag protokolliert er konstant Lufttemperatur, -feuchtigkeit, Windrichtung und -stärke, einzig die allgemeine Wettercharakteristik ist mitunter von ihm selber. Nachträglich hat er das sogenannte Etmal dazugesetzt, wie er es den Auszügen des offiziellen Schiffstagebuchs entnehmen konnte, also die Anzahl der zurückgelegten Seemeilen, gemessen von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr mittags des Folgetages.
So pedantisch er in der Angabe technischer Daten war, so freizügig schilderte er, wie erwähnt, die laufenden Ereignisse - wollte er seinen Stammtischbrüdern mit überspitzt dargestellten, ja oft völlig aus der Luft gegriffenen Reiseerlebnissen imponieren? Oder ihnen, den vom Losglück Benachteiligten, aus einem konstanten Schuldgefühl heraus ein Vergnügen bereiten, das er selber de facto gar nicht hatte? Fast bei jedem Eintrag frage ich mich, ob Fichtl überhaupt dieselbe Reise unternommen, auf demselben Schiff gewesen ist wie ich; und wenn ich diese unsere Reise anhand seiner Tagebucheinträge noch einmal nachzuvollziehen suche, so weiß ich am Ende nicht, was davon zu halten ist: Vieles darin ist schlichtweg erlogen und erstaunlicherweise gerade dadurch besonders «wahr», vieles schockierend wahrhaftig referiert und gerade dadurch extrem verfälschend. (…)
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Autoren-Porträt von Matthias Politycki
Matthias Politycki, geboren 1955, gilt als 'eminenter Humorist' (Die Zeit) und ist einer der wichtigsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk, darunter der Weiberroman, umfasst Prosa, Essays und Lyrik. Zuletzt erschienen die erzählenden Essays Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft und sein großer Kuba-Roman Herr der Hörner. Matthias Politycki lebt in Hamburg und München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Matthias Politycki
- 2008, 1., Aufl., 392 Seiten, 184 farbige Abbildungen, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: mareverlag
- ISBN-10: 3866480806
- ISBN-13: 9783866480803
- Erscheinungsdatum: 11.03.2008
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