In den Händen des Feindes
Schottland, 1375: Eine Ehe soll die Fehde der Kirallens und der Danleys beenden. Doch Lord Danley spielt ein falsches Spiel und zwingt seine uneheliche Tochter Alyson, Jemmy Kirallens Frau zu werden und die Feinde auszuspionieren. Aber er hat die Macht...
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Schottland, 1375: Eine Ehe soll die Fehde der Kirallens und der Danleys beenden. Doch Lord Danley spielt ein falsches Spiel und zwingt seine uneheliche Tochter Alyson, Jemmy Kirallens Frau zu werden und die Feinde auszuspionieren. Aber er hat die Macht der Liebe unterschätzt, denn zwischen den Eheleuten wider Willen entflammen schon bald leidenschaftliche Gefühle.
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In den Händen des Feindes von Elizabeth EnglishProlog
Im Grenzgebiet zwischen England und Schottland, 1375
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Schafestehlen war eine ehrbare Tradition im Grenzgebiet. Die Armen ernährten damit ihre Familien, die Reichen stahlen Schafe, um ihre Macht zu demonstrieren. Die Söhne der Reichen wiederum betrachteten den Schafdiebstahl als Spiel, als eine Art Mutprobe, mit der sie ihre Männlichkeit unter Beweis stellten - sie mussten es tun, ob sie wollten oder nicht. Die Darnleys zogen über die Grenze nach Schottland und bestahlen die Kirallens, die ihrerseits die Darnleys beraubten, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Man musste nur aufpassen, dass man es vor den Verfolgern nach England zurück schaffte.
Was Haddon Darnley nicht gelungen war.
Deshalb stand er nun gefesselt und hilflos auf dem erhöhten Podium in der Kirallen-Festung und hatte die Klinge eines Dolchs am Hals. Er schloss die Augen und versuchte zu beten, doch die vertrauten lateinischen Wörter wollten ihm partout nicht einfallen. Also sprach er den Herrn direkt an, und was seinem Gebet an Eleganz fehlte, machte die Inbrunst seines Flehens allemal wett.
»Bitte, lieber Gott, mach, dass Kirallen mich nicht umbringt«, betete er stumm. »Auch wenn er allen Grund hat, mich zu töten, nachdem mein Vater seinen Sohn umgebracht hat, bitte, lass es nicht geschehen. Mach, dass mein Vater ihm gibt, was er verlangt. Alles, nur lass mich heute nicht sterben. Amen.«
In der Mitte der Halle stand der Burgherr Kirallen höchstpersönlich, umringt von einem Dutzend bewaffneter Beschützer. Er sah nicht seinen Gefangenen an, sondern Haddons Vater, Lord Darnley, der unter der Waffenstillstandsflagge hergekommen war, um über die Freilassung seines Sohnes zu verhandeln.
»Wir bekommen das Tal«, forderte Kirallen. »Und einhundert Schafe.«
»Einverstanden«, sagte Darnley nach kurzem Zögern.
Haddon war so erleichtert, dass seine Knie nachgaben. Doch er hatte kaum sein Dankgebet beendet, da stutzte er schon ein wenig beleidigt. Hundert Schafe und ein sumpfiges Landstück! Mehr war er nicht wert? Als man ihn losließ, stolperte er ein Stück nach vorn, fand aber sogleich das Gleichgewicht wieder und reckte das Kinn in die Höhe. Er würde diesen Kirallens zeigen, dass ein Darnley Stolz besaß - wenn auch sonst nichts.
»Und«, fügte Kirallen gelassen hinzu, »Eure Tochter.«
Haddon blickte sich in der Halle um. Kirallens Männer schienen nicht minder schockiert. Dann hörte er einen Fluch hinter sich, wurde erneut gepackt und spürte wieder den Dolch an seinem Hals. Diesmal brachte ihm die Klinge einen kleinen Schnitt bei. Er stieß einen leisen Schmerzensschrei aus und fühlte, wie ihm Blut über den Hals rann.
Darnley ließ sich nicht anmerken, ob er seinen Sohn gehört hatte oder nicht. Er warf den Kopf in den Nacken und tat etwas, womit Haddon niemals gerechnet hätte. Er lachte. Dieses Lachen gefiel Haddon nicht, nein, ganz und gar nicht. Und Kirallens Männern schien es noch weniger zu gefallen.
»Ihr seid verrückt«, erwiderte Darnley verächtlich.
Kirallen erstarrte. Der Schotte war genauso groß wie Darnley, allerdings deutlich älter. Sein Haar war weiß, und seine tief liegenden Augen funkelten den Erzfeind an.
Voller Entsetzen fragte Haddon sich, was um alles in der Welt sein Vater da machte. War nicht vielmehr er wahnsinnig, den Gutsherrn in dessen eigenem Haus zu beleidigen? Sah er denn nicht, dass sie praktisch umzingelt waren von Kirallens Männern? Die rührten sich zwar nicht, sahen den Engländer jedoch an, als warteten sie bloß darauf, dass er eine falsche Bewegung machte. Dann würden sie ihn auf der Stelle töten.
Kirallen unterbrach die gespannte Stille.
»Unsere Leute bekriegen sich, solange ich denken kann. Jetzt musste ich Ian begraben, und ich sage, es reicht«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf den großen Tisch, vor dem er stand. »Ich will Frieden, ehe ich sterbe. Wenn nicht, schwöre ich bei den Wunden Christi, dass ich mich rächen werde. Eure Tochter heiratet meinen Jemmy - oder dieser Junge da stirbt noch heute.«
Darnley starrte auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand und verbarg seine Gedanken hinter weg. Während sich die Hufschläge entfernten, sah Haddon zu seinem Vater, der ihn jedoch keines Blickes würdigte.
»Geh rein, Bursche«, befahl Darnley. »Wir reden morgen.«
Haddon schlich niedergeschlagen davon, eine kleine, hilflose Gestalt, und für einen Moment empfand Robert Mitleid mit dem Jungen. Er wusste, dass sein Neffe im Grunde ein sanftes Herz hatte. Schon immer hatte er sich mehr für Bücher als für Schlachten interessiert. Auf dieses Abenteuer hatte er sich doch nur eingelassen, um seinen Vater zu beeindrucken. Aber ganz gleich, welche Motive er gehabt hatte, jetzt war der Schaden angerichtet und ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
»Bei Christi Wunden, John, das ist eine unselige Geschichte«, sagte er kopfschüttelnd und stolperte beinahe vornüber einer Maske eiserner Entschlossenheit. Haddon beobachtete ihn ängstlich, wohl wissend, dass es keine Hoffnung für ihn gab. Wenn sein Vater vor der Wahl stand, sich zwischen seiner Tochter und seinem Sohn zu entscheiden, kam Maude zweifellos an erster Stelle. Er hatte die Tochter stets vorgezogen.
Langsam drehte Darnley sich zu seinem Sohn um und warf ihm einen eisigen Blick zu. Ein Mann konnte jederzeit einen neuen Erben zeugen, wurde Haddon erschreckend klar, wobei ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Und er hatte noch nie etwas getan, womit er sich das Wohlgefallen seines Vaters verdient hätte. Todesangst ließ den schmächtigen Jungen erzittern, und in dem verzweifelten Bemühen, nicht vor all diesen Männern in Tränen auszubrechen, biss er sich auf die Lippe.
»So sei es«, sagte Darnley schließlich. »Sie sollen heiraten.« »Ich verlange einen Eid von Euch.«
Haddon wollte seinen Augen kaum trauen, als er sah, wie sein Vater mitten in der Halle auf die Knie ging. In der beklemmenden Stille schien das Rascheln des Strohs auf dem Steinboden nachgerade ohrenbetäubend. Darnley nahm seinen Schwertgriff als Kreuzersatz und schwor, sein Land, seine Schafe und die Hand seiner Tochter herzugeben. Seine Stimme klang beherrscht und klar, die maßlose Wut darin war dennoch unüberhörbar.
»Die Hochzeit wird innerhalb eines Monats stattfinden«, ordnete Kirallen an und blickte sich in der Halle um. Er sah jedem Einzelnen seiner Männer in die Augen, als wollte er jeden Widerspruch im Keim ersticken. Schließlich nickte er kurz und verließ mit großen Schritten den Saal.
Vor Haddons Augen blitzte der Dolch auf, doch noch während der Junge vor Schreck zurückzuckte, fuhr die Klinge blitzschnell hinab und durchtrennte die Fesseln an seinen Handgelenken.
»Vater«, begann Haddon, kletterte von dem Podium und streckte die Arme aus.
»Jetzt nicht«, fuhr ihn Darnley schroff an und schritt eilig aus der Halle.
Haddon folgte ihm mit hängenden Schultern. An all dem war sein Pferd schuld. Hätte die verdammte Mähre sich nicht von einem Kaninchen erschrecken lassen, wäre er jetzt sicher daheim und sein Vater stolz auf ihn. Aber so ... Er schaute furchtsam zu seinem Vater, der beängstigend finster dreinblickte - und wenn er daran dachte, was Maude erst mit ihm machen würde, wurde ihm erst recht mulmig.
Eine wütende Maude war etwa so schrecklich wie alles andere, was Haddon heute widerfahren war. Wenn sie erfuhr, was Kirallen und ihr Vater soeben vereinbart hatten, würde sie allen das Leben zur Hölle machen. Lord Darnley dürfte das ebenfalls klar sein, weshalb seine Wut umso verständlicher war. Haddon folgte ihm so dicht auf den Fersen, dass er ihm beinahe in die Hacken trat. Sogar Onkel Robert, der im Schatten des Torweges auf sie wartete, sah ungewöhnlich ernst aus, als er mit ihnen an den Wachen vorbeischritt.
Haddons Pferd war durchgegangen, nachdem es ihn abgeworfen hatte. Daher musste er hinter seinem Vater auf dessen Pferd steigen. Er war froh, sich an den breiten, starken Rücken lehnen zu können, schwindlig vor Erleichterung darüber, was ihm erspart geblieben war, und vor Furcht vor dem, was auf ihn zukam. Dennoch brachte er den Mut auf zu fragen: »Welchen von denen soll Maude heiraten? Ist es der, der mich festhielt?«
Er hielt den Atem an und wartete auf eine Antwort. Nicht einmal seiner Schwester wünschte er ein solches Schicksal. Der Kerl war ein Unmensch, eine Ausgeburt der Hölle. Allein der Gedanke daran, was für schreckliche Dinge er Haddon angedroht hatte, ließ ihn unter seinem Umhang frösteln.
»Nein«, antwortete Darnley. »Er war nicht da.«
»Jemmy Kirallen«, erklärte Onkel Robert nachdenklich, »ist der zweitälteste Sohn, der zur See fuhr. Es gab mal Gerüchte, nach denen er Pirat geworden ist, aber das ist Jahre her. Ich dachte, er wäre schon längst tot.«
»Dachte ich auch«, grummelte Darnley. »Doch kaum habe ich den Ältesten aus dem Weg geräumt, da zitiert Kirallen den anderen zurück nach Hause. Ich habe zwei Männer in Berwick postiert, die mir Bescheid geben sollen, wenn sein Schiff einläuft. Aber jetzt - mein Gott, hätte ich geahnt, was der Alte vorhat, hätte ich ein Dutzend Leute hingeschickt. Möge Gott seine Seele für immer in der Hölle schmoren lassen. Ich werde ihn eigenhändig töten, ehe ich zulasse, dass er Maude anfasst. Und jetzt haltet beide den Mund und lasst mich nachdenken.«
Bis sie Aylsford Manor erreichten, setzte bereits die Morgendämmerung ein. Als sie von den Pferden stiegen, kamen zwei Stallknechte, die auf die Rückkehr ihres Herrn gewartet hatten, und führten die erschöpften Pferde, als sein Bruder ihm kräftig auf die Schulter schlug.
»Es wird alles gut«, erwiderte Darnley überraschend munter. Ja, er grinste sogar, was Robert unheimlich war. »Komm mit. Ich bin am Verhungern.«
Die Halle war noch dunkel. Ein paar Knechte fegten gähnend das Stroh auf dem Boden zusammen und stellten frische Kerzen auf. Bis Robert bei der engen Wendeltreppe angekommen war, verschwand Darnley schon um die erste Biegung.
»Alles wird gut?«, rief er seinem Bruder hinterher, und seine Stimme hallte von den kalten Steinmauern wider. »Was meinst du damit? Maude zu diesen Leuten zu schicken, das ist einfach widerwärtig!«
Darnley blickte sich über die Schulter zu ihm um. Immer noch umspielte ein triumphierendes Lächeln seine Lippen. »Ich habe ihnen meine Tochter versprochen, aber ich habe ihnen nicht gesagt, welche.«
»Ruh dich erst mal aus«, sagte Robert besänftigend und legte seinem Bruder eine Hand auf den Arm.
Darnley schlug sie ungeduldig weg und stieg weiter die Treppe hinauf. »Ich bin nicht umnachtet, Robert. Denk doch mal nach! Meine Lady hat mir nur eine Tochter geschenkt, doch ich habe im Laufe meines Lebens mehrere gezeugt.«
Sie kamen zu Darnleys Schlafgemach, wo sein Kammerdiener neben dem Feuer saß und sie schlaftrunken anblinzelte. Darnley befahl ihm, Brot, Fleisch und Käse zu holen. Sobald der Junge fort war, ging Darnley an den Tisch und schenkte sich Wasser aus dem Krug in einen Becher.
»Verstehe«, sagte Robert und setzte sich vors Feuer. »Tja, ich denke nicht, dass einer der Kirallens Maude schon mal gesehen hat ...«
Darnley schüttelte den Kopf, worauf Tropfen aus seinem dunklen, lockigen Haar stoben. »Natürlich haben sie ihre Spione hier, so wie ich meine Spione bei ihnen habe, aber Maude war in den letzten drei Jahren kaum im Haus. Ich verwette mein Leben darauf, dass die Kirallens höchstens wissen, wie alt sie ist und welche Haarfarbe sie hat.«
»Kirallen ist kein Idiot«, wandte Robert ein. »Von den Mädchen aus dem Dorf könnte ihm keine etwas vormachen. Und selbst wenn, wie lange soll das gut gehen? Früher oder später kommt er dahinter.«
»Ich brauche nicht viel Zeit, nur lange genug, um Männer für eine Schlacht zusammenzustellen. Gütiger Gott, Robert, glaubst du etwa, ich nehme diese Beleidigung stillschweigend hin? Wir haben einen Monat Zeit, aber das wird nicht reichen. Ich gehe zu Percy und bitte ihn um ein paar Männer - du musst mir helfen, eine glaubwürdige Geschichte zu erfinden, denn er will nichts mehr mit der Kirallen-Geschichte zu schaff en haben.«
»Selbstverständlich nicht. Northumberland kann es sich nicht leisten, in den Zwist verwickelt zu werden«, sagte Robert, der für einen Moment in die königliche Politik abschweifte. »Jetzt, wo wir in Frieden mit Schottland leben - und unser Lord sich so gut mit Lancaster versteht -, würde er es nicht wagen, Grenzärger wegen einer Familienfehde anzuzetteln. Aber ich könnte mir etwas ausdenken ...«
»Sagen wir, ein weiterer Monat - im Höchstfall sechs Wochen -, und ich habe, was ich brauche. Nixon wird mir helfen, schätze ich. Er und Kirallen liegen sich schon lange in den Haaren. Ich werde meine Männer bei ihm unterbringen, bis ich so weit bin. Und dann ...« Darnley grinste und bleckte dabei die Zähne. »Ich werde wie der Zorn Gottes über die Kirallens kommen, wenn sie am wenigsten damit rechnen.«
»Sechs Wochen?«, wiederholte Robert unsicher. »Kein gewöhnliches Mädchen lässt sich in so kurzer Zeit auf einen Betrug vorbereiten.«
»Ein gewöhnliches vielleicht nicht. Aber erinnerst du dich an das McLaran-Mädchen?«, fragte Darnley. »Ach nein, bestimmt nicht, oder? Du warst ja noch zu klein damals.«
»Ich erinnere mich daran, dass sie eine Menge Ärger machte.«
»Auf jeden Fall war sie keine Bauerntochter«, sagte Darnley. »Und sie hat ein sehr hübsches Mädchen zur Welt gebracht.«
»Du meinst, sie ist noch hier?«
»Nein, ich habe sie mit Jacob Bowden verheiratet, sobald feststand, dass sie guter Hoff nung war. Ich konnte sie schließlich nicht hier behalten. Aber Bowden und sie sind inzwischen beide tot, und ich sehe die Tochter manchmal unten in der Küche. Ein kleines rothaariges Ding, genau wie Maude, und fast im selben Alter. Du kannst ihr alles beibringen, was sie wissen muss.«
»Mag sein«, sagte Robert, dessen zweifelnder Ton vom interessierten Funkeln in seinen Augen Lügen gestraft wurde. Wer hätte gedacht, dass John zu einem solchen Plan fähig war? Zugegeben, die Sache war zum Scheitern verurteilt, und dennoch entbehrte sie nicht eines gewissen Reizes. Und Raffinesse war etwas, bei dem Roberts Instinkt für Intrigen auflebte. Könnte er sich tatsächlich ein einfaches Mädchen nehmen und sie innerhalb eines Monats in eine Lady verwandeln? Nun, das kam ganz auf die betreffende junge Dame an. Sie müsste Verstand haben ... und Mut. Beides waren Eigenschaften, die unter den Bauern eher selten vorkamen.
»Natürlich müssen wir nicht unbedingt das Bowden-Mädchen nehmen«, sagte Robert schließlich. »Wir brauchen überhaupt nicht zwingend eines deiner Kegel zu wählen. Jedes rothaarige Mädchen mit ein bisschen Grips tut es.«
»Gott behüte«, widersprach Darnley und bekreuzigte sich hastig. »Ich habe geschworen, meine Tochter zu geben, und ich werde zu meinem Wort stehen.«
Der Kammerdiener kam mit dem Essen, das er auf den Tisch stellte, bevor er auf Befehl seines Herrn eiligst wieder verschwand. Die beiden Brüder setzten sich an den Tisch unterm Fenster. Robert betrachtete Darnley amüsiert. Wie widersprüchlich die Menschen doch oft waren! In diesem Punkt musste er seinem Freund Chaucer Recht geben. John zögerte nicht, ein armes Mädchen an Maudes Stelle zu den Kirallens zu schicken, plante eiskalt einen Betrug, und zugleich empörte ihn die Vorstellung, er könnte des Wortbruchs beschuldigt werden.
Robert hatte eigentlich vorgehabt, noch in dieser Woche nach London zurückzukehren, doch er änderte prompt seine Meinung. Sollten sie mit diesem dreisten Betrug durchkommen, könnte er ein Lied darüber schreiben. Dieses Lied würde eine Geschichte erzählen, die ihn auf eine Stufe mit Chaucer stellte. Und mit ein bisschen Glück durfte er sie am Yule-Hof vortragen - vielleicht sogar vor dem Herzog von Lancaster höchstpersönlich!
Und falls es schief ging - nun, dann wäre er auf dem Weg nach London, bevor die Schlacht begann. John Darnley war immerhin nur sein Halbbruder und stand ihm nicht nahe genug, als dass Robert für ihn sein Leben riskierte.
»Unter Umständen brauchen wir sie gar nicht«, fuhr Darnley fort und brach sich ein Stück Brot ab, das er mit Honig bestrich. »Wenn meine Männer in Berwick ihre Arbeit machen, umso besser. Für einen Bräutigam, der mit einem Dolch zwischen den Rippen auf dem Meeresgrund liegt, richtet man keine Hochzeit aus.« Er grinste selbstzufrieden.
»Stimmt«, pflichtete Robert ihm bei, auch wenn er im Stillen hoff te, dass Kirallen seinen Attentätern entkam. Sollte er jetzt sterben, wäre der ganze Spaß verdorben.
»Wie dem auch sei, diesmal werde ich sie vernichten«, sagte Darnley und ballte die Faust um seinen Messergriff . »Der alte Mann ist ein Idiot. Er muss verrückt sein zu glauben, dass ich ihnen Maude überlasse. Und selbst wenn dieser andere, dieser Jemmy, heil nach Hause kommt, habe ich von ihm nichts zu befürchten. Ich bin auch mit dem älteren Bruder fertig geworden, und der war, bei Gott, ein Mann! Er ritt, wohin es ihm gefiel, nahm sich, was immer er wollte - Jesus, was für ein arroganter Bastard. Aber gegen mich hatte er keine Chance. Und nun, da er fort ist, hält mich nichts und niemand mehr auf. Sie sind so gut wie tot, alle von ihnen, das schwöre ich bei Gott - hast du mich verstanden? Hast du mich verstanden?«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Robert beäugte ihn unsicher. Darnley bleckte schon wieder die Zähne und hatte ein unheimliches Funkeln in den Augen. Er wirkte beinahe wie ein Wahnsinniger. Überhaupt hatte Robert in letzter Zeit häufiger den Eindruck, dass sein Halbbruder verrückt war. Vor drei Monaten hatte er den älteren Kirallen-Sohn in einer Schlacht besiegt, und Robert hatte sich die Geschichte in den vierzehn Tagen seit seiner Ankunft mindestens hundert Mal anhören müssen. Der Sieg schien Darnleys Wut auf den Clan jedoch kein bisschen gemindert zu haben. Vielmehr schien sie sich zu einer regelrechten Besessenheit auszuwachsen.
»Ja doch«, beschwichtigte Robert ihn. »Ich habe dich verstanden. Gott stehe Jemmy Kirallen und seiner Familie bei.«
Er hob seinen Becher, stellte ihn aber gleich wieder ab, ohne daran genippt zu haben, und blickte hinaus auf das endlose, öde Moor. Bei Gott, dieses Grenzgebiet war ein trister Ort, selbst im Frühling. Hatte er wirklich gerade versprochen, seinen Besuch um weitere zwei Monate zu verlängern?
Kurz darauf aber schlug seine Stimmung wieder um und erneut blitzten fröhliche Funken in den haselnussbraunen Augen des Ritters auf. Lächelnd trommelte er mit den Fingern auf den Tisch und dachte sich dabei die erste Strophe seiner Ballade aus.
I. Kapitel
Jemmy Kirallen stand am Bug des Schiff es und starrte blind in den Regen. Natürlich regnete es. In Schottland regnete es immer. Ehe er von hier fortging, hatte er gar nicht geglaubt, dass es Orte gab, an denen Nebel und Regen nicht zum Alltag gehörten. Und dann hatte er wunderbare Inseln gesehen mit weißen Sandstränden, wo das Sonnenlicht auf den Wellen tanzte und ein stetig sich veränderndes Farbenspiel aus verschiedensten Grün- und Blautönen veranstaltete.
Seufzend blickte er in den trüben Himmel. Ein ganzes Stück weiter vorn konnte er bereits den Hafen von Berwick ausmachen, eine düstere Ansammlung von viereckigen Bauten und dunklen Pfählen, die aus dem bleigrauen Meer ragten. Wabernde Nebelschwaden versperrten immer wieder die Sicht, bis das Schiff nahe genug war, dass man die Fackeln erkannte, die am Kai brannten. Jemmy kam alles wie ein fast vergessener Traum vor. Ein Albtraum wohl eher, dachte er verbittert.
Vor sechs Wochen hatte ihn in Cadiz die Nachricht erreicht, dass sein älterer Bruder von Lord John Darnley umgebracht worden war. Jemmy hatte die notwendigsten Geschäfte geregelt und war schnellstmöglich aufgebrochen, da er wusste, dass sein Vater seine sofortige Rückkehr erwartete. Ian war tot, sein Sohn noch ein Kind und mit dem alten Herrn ging es gesundheitlich rapide bergab. Jemmy blieb gar nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren.
Doch so vernünftig sein Handeln auch scheinen mochte, war es andererseits vollkommen unverständlich. Schottland war seit Jahren nicht mehr seine Heimat. Er gehörte heute noch weniger hierher als vor zwölf Jahren.
Schon als Kind war ihm die Fehde zwischen seiner Familie und den Darnleys irrwitzig und sinnlos erschienen. Die beiden Clans fochten einen Krieg aus, der keinen Anfang und kein Ende hatte. Der Zwist diente einzig dem Zweck, die Kampftruppen auf beiden Seiten zu vernichten und Leben, Träume und Hoffnungen zu zerstören. Und jetzt wurde von ihm erwartet, dass er nicht nur kämpfte, sondern seinen Clan auch noch in eine Schlacht führte, um den Tod seines Bruders zu rächen.
Genau das aber würde er nicht tun, dachte er niedergeschlagen. Und sobald die anderen erkannten, dass sie in ihm nicht den Anführer fanden, den sie sich erhoff ten, würde ihr herzliches Willkommen rasch in bittere Vorwürfe umschlagen. Sie würden ihn einen Verräter und einen Feigling schimpfen, der nicht wert war, Ians Platz einzunehmen. Als hätte er das jemals gewollt! Die Sache wurde gewiss unangenehm, aber sie wäre auch schnell vorbei. Noch vor dem Herbst konnte er wieder in Spanien sein. Er hatte also keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Warum hatte er trotzdem das ungute Gefühl, gerade in eine Falle zu tappen? Sein Besuch sollte ein kurzer werden, so viel stand fest, denn er würde von vornherein erklären, dass er sich weigerte, die Darnleys zu bekriegen. Und was die anderen von ihm dachten, scherte ihn so oder so kein bisschen.
Mit Ausnahme von seinem Vater.
Der alte Mann musste am Boden zerstört sein. Ian war das Licht seines Lebens gewesen - und der Liebling des Clans. Zweifellos waren viele von ihnen verrückt vor Trauer und schrien nach Rache. Glaubten sie denn ernsthaft, dass die Ermordung noch so vieler Darnleys ihren Schmerz lindern könnte? Was immer sie taten, würde nichts daran ändern, dass Ian nicht mehr lebte.
Das Schiff legte an, und Jemmy stieg langsam von Bord. Er fühlte sich, als stiege er in seine Vergangenheit zurück. Exakt an dieser Stelle war er erstmals an Bord eines Schiff es gegangen. Und nun war er wieder hier, von wo aus er aufgebrochen war, als hätte es die letzten zwölf Jahre nicht gegeben.
Eine Gruppe von Spaniern stand verwundert im Regen. Die geschäftigen Seeleute im Hafen ignorierten ihre zaghaften Fragen und schoben sie wortlos aus dem Weg. Als Jemmy an ihnen vorbeikam, fasste ihn einer der Männer am Arm.
»Con permiso, señor«, sagte er höflich. Dem Akzent nach musste er aus Kastilien sein. »Bitte, könnt Ihr mir sagen, wo das nächste Gasthaus ist?«
Jemmy antwortete dem Mann auf Spanisch und begleitete ihn ein Stück. Dabei wanderte sein Blick wie beiläufig zu zwei Männern, die an der Anlegestelle standen. Sowie er an ihnen vorüberging, merkte er auf, denn sie stießen sich von dem Poller ab und folgten ihm betont unauffällig.
»Hier entlang«, sagte Jemmy zu dem Spanier und schob ihn ein Stück von sich. »Vaya con Dios.«
Noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, drehte er sich ruckartig um und packte den Mann hinter sich beim Handgelenk. Dann entwand er ihm seinen Dolch und schoss ihn mit dem Fuß über die regennassen Planken. Der Spanier eilte davon. Jemmy bückte sich. Sein eigener Dolch schimmerte im Laternenlicht, als er den beiden Angreifern gegenüberstand.
Eigentlich hatte er erwartet, dass sie weglaufen würden, aber sie rührten sich nicht.
»Worauf wartet ihr?«, fragte er freundlich, wobei er unbewusst in den Tonfall zurückfiel, den er in seiner Jugend gepflegt hatte. »Ihr wisst, dass das hier nicht so einfach wird, wie ihr dachtet. Und jetzt fragt ihr euch wahrscheinlich, was ihr machen sollt. Also, mein Rat ist, denkt lieber gründlich nach, ehe ihr etwas tut, das ihr später bereuen könntet. Ein Fehler zieht den nächsten nach sich, und dafür bin ich heute Abend nicht in der Stimmung. Noch können wir alle drei unversehrt unserer Wege gehen.«
Der Mann, den Jemmy entwaffnet hatte, zog einen zweiten Dolch und trat einen Schritt nach links. Der andere Mann spuckte ins Wasser und ging nach rechts. Die beiden waren keine kleinen Hafenstrolche, stellte Jemmy fest, sonst wären sie längst weg.
»Lasst uns nichts überstürzen, Männer«, fuhr er fort, wobei er beide Kerle im Auge behielt. »Ich bin sicher, dass ihr nicht vorhabt, heute zu sterben, und ich möchte euch nicht umbringen. Dennoch werde ich es notfalls tun. Nur frage ich euch, welchen Sinn hätte das? Wäre es nicht besser, wenn ihr mir sagt, worum es hier geht, und ich vergesse, dass ich euch je gesehen habe?«
Für einen Moment zögerten die beiden, und Jemmy hoffte schon, sie würden seinen Vorschlag annehmen. Er hatte es durchaus ernst gemeint, als er sagte, er wollte sie nicht umbringen. Doch was immer solche Männer antrieb - Jemmy hatte es nie verstanden und wollte es auch nicht verstehen - erwies sich einmal mehr als stärker denn jede Vernunft. Bis der Spanier mit den Wachen zurückkam, war alles vorbei und Jemmy steckte seinen Dolch wieder in die Scheide.
Ein Dutzend Zeugen eilten herbei, die nun, da die Gefahr gebannt war, unbedingt ihre Version des Ereignisses erzählen wollten. Es wären zwei Männer gegen einen gewesen, berichteten sie einhellig, und der Einzelne hätte alles in seiner Macht Stehende getan, um den Kampf zu vermeiden. Äußerst verärgert über den Vorfall, hob Jemmy den Umhang des einen Toten hoch und war wenig überrascht, als ihm das Darnley-Wappen von der blutgetränkten Tunika entgegen-leuchtete.
Was für Narren, dachte er angewidert und bedeckte das starre Gesicht des Mannes mit dessen Umhang. Sie könnten noch am Leben sein, doch jetzt waren sie tot - und das nur wegen eines uralten Zwistes, dessen Ursache sie nicht einmal kannten.
Er war also wieder mittendrin. Machte ihn das nicht zu einem noch viel größeren Narren als die beiden?
»Jemmy!«, rief eine Stimme. Er blickte auf und griff instinktiv nach seinem Dolch. Sobald er erkannte, in welchen Farben die sechs Männer gekleidet waren, die auf ihn zukamen, nahm er die Hand wieder herunter.
Ihre Namen konnte er nicht mehr zuordnen, aber in dem einen oder anderen Gesicht erinnerten noch Züge an die Jungen, die sie vor zwölf Jahren gewesen waren. Einen von ihnen erkannte er allerdings in dem Moment wieder, als dieser vor ihn trat und die durchnässte Kapuze abnahm.
Jemmys Pflegebruder Alistair war erst siebzehn gewesen, als Jemmy ging, hatte sich aber damals schon im Clan den Ruf eines viel versprechenden Kriegers erworben. Alistair war an Kühnheit und Begeisterung gleich nach Ian gekommen. Außerdem war er bereits damals ein berüchtigter Weiberheld - auch in diesem Punkt war Ian sein einziger Konkurrent gewesen. Vor zwölf Jahren hatte er mit seinen silbrig-blonden Locken und den grauen Augen etwas trügerisch Engelsgleiches gehabt - das perfekte Gegenbild zu dem dunklen, gut aussehenden Ian. Inzwischen war er vom hübschen Jugendlichen zu einem umwerfenden Mann herangewachsen.
Jetzt aber lag ein dunkler Schatten auf seinen Zügen, als er Jemmy prüfend ansah.
»Alistair«, begann Jemmy und hielt sogleich inne. Irgendwie hatte er erwartet, Ian an Alistairs Seite zu sehen, doch Ian war nicht da. Erstmals traf ihn der Tod seines Bruders wie ein Hieb. Ian, der nie auch nur eine Sekunde geschwiegen hatte, sollte nun für immer schweigen. Nie wieder würde Jemmy das verschmitzte Grinsen seines Bruders sehen oder von ihm in irgendein verrücktes Abenteuer verstrickt werden. In diesem Moment wurde ihm sein Verlust so schmerzlich bewusst, dass es Jemmy die Sprache verschlug.
Alistair schien Jemmy angesehen zu haben, was in ihm vorging. Er blickte Jemmy mitfühlend an, dabei musste der Schmerz für ihn doch um ein Vielfaches größer sein als für Jemmy. Solange Jemmy sich erinnerte, waren Ian und Alistair unzertrennlich gewesen. Sie hatte weit mehr verbunden als nur Verwandtschaft. Sie waren seelen- und geistesverwandt gewesen. Bereits im Kindesalter hatte jeder von ihnen genau gewusst, was der andere dachte. Sie hatten sich wortlos verstanden. Deshalb hatte es natürlich auch einige Eifersüchteleien gegeben, sowohl von Jemmys als auch von Alistairs Seite. Ian war das Verbindungsglied zwischen ihnen gewesen und zugleich der Keil, der sie auseinander trieb.
»Alistair, es tut mir entsetzlich Leid«, brachte Jemmy schließlich heraus.
»Ja, uns allen«, sagte Alistair mit einem schroff en Unterton, der Jemmy deutlich zu verstehen gab, dass er nicht über Ians Tod sprechen wollte. »Aber jetzt bist du wieder da.
Du hast dir wahrlich Zeit gelassen mit deiner Rückkehr, muss ich sagen. War dir denn nicht klar, dass wir dich hier brauchen?«
»Ich kam gleich nachdem ich es erfahren hatte«, erwiderte Jemmy, der das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen, obwohl er nicht wusste, warum.
»Na ja, jetzt bist du hier, und keine Minute zu früh. Du bist der Einzige, der deinen armen Vater aufhalten kann. Er ist vollkommen verrückt vor Trauer. Du musst ihm erklären, dass du bei dieser Geschichte nicht mitmachst, und zwar gleich, ehe es zu Missverständnissen kommt.«
»Welche Geschichte?«, fragte Jemmy gereizt. Alistair hatte sich kein bisschen verändert. Er war nach wie vor der Überhebliche, der nach links und rechts Befehle erteilte, ohne etwas zu erklären. Es hatte ihn nie interessiert, wen er mit seinem Verhalten vor den Kopf stieß.
»Er hat dich versprochen - wir schaff en es vielleicht gerade noch vor der Hochzeit nach Hause.«
»Hochzeit?«, wiederholte Jemmy entrüstet. »Meine Hochzeit? Aber - das kann er nicht tun!«
»Ja, das haben wir auch alle gesagt, oder?« Die anderen Männer bestätigten seine Worte durch ein einstimmiges Raunen. »Er hört nicht auf uns. Seit Ian«, fuhr er fort, unterbrach jedoch kurz und schluckte. »Seit Januar scheint der Verstand deines Vaters gefährlich nachzugeben.«
Jemmy sah in die Gesichter der anderen, in denen er teils Verlegenheit, teils zögernde Zustimmung las. Offensichtlich hätte keiner von ihnen den Mut aufgebracht, es so direkt zu sagen, doch dass sie Alistair Recht gaben, stand außer Frage.
»Was hat das alles mit irgendeiner Hochzeit zu tun?« »Er hat versprochen, dass du Maude Darnley heiratest.«
»Maude?« Jemmy stieß hörbar den Atem aus. »Mein Gott, Alistair, das ist ein schlechter Scherz.«
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte Alistair. Er signalisierte den anderen mit einer Handbewegung, sie sollten auf Abstand gehen, nahm Jemmy beim Arm und führte ihn zum Eingang einer kleinen Hütte. »Es stimmt, Jemmy, und du bist der Einzige, der diesen Spuk beenden kann. Der Burgherr kann nicht mehr klar denken.«
Regen trommelte auf das dünne Holzdach über ihnen und übertönte das Murmeln der anderen Männer. Jemmy hatte auf einmal das Gefühl, Alistair und er wären die einzigen Menschen weit und breit, zusammengepfercht in diesem Hütteneingang wie in einer Falle.
»Erzähl mir alles«, forderte Jemmy ihn auf. »Ich will genau wissen, was vorgefallen ist.«
Jemmy stand in der schmutzigen Schenke des Gasthauses und trank sein säuerliches Bier, ohne etwas zu schmecken, während er sich die letzten Neuigkeiten von daheim berichten ließ. Als er einige Zeit später ins Bett fiel, konnte er vor lauter Nachdenken keinen Schlaf finden.
Er hatte gewusst, dass Ians Tod ein schwerer Schlag für seinen Vater sein musste. Alistairs Erzählungen nach hatte er jedoch weit schlimmere Folgen, als er ahnte. Seit Ians Tod war die Gesundheit seines Vaters stark angegriffen. Er litt des Öfteren an Anfällen, die ihn zusehends häufiger und schwerer heimsuchten. Die Ärzte konnten sagen, was sie wollten, sowohl Alistair als auch Jemmy wussten, welches der wahre Grund für die Krankheit war. Dem alten Mann war das Herz gebrochen worden. Allerdings war das auch schon der einzige Punkt, in dem sich die beiden einig waren.
Alistair glaubte, dass der Gutsherr außerdem dem Wahnsinn verfiel, wohingegen Jemmy genau das Gegenteil vermutete. Ians Tod hatte seinen Vater endlich zur Vernunft gebracht. Nachdem er ein Leben lang gegen den Kriegerehrenkodex seines Vaters angekämpft hatte, war es ein ziemlicher Schock für Jemmy festzustellen, dass sie nun beide auf derselben Seite gelandet waren. Ja, durch diese Entwicklung wurden seine eigenen Vorstellungen auf den Kopf gestellt, ihm wurde der Wind aus den Segeln genommen. Besonders schlimm aber war, dass Alistair glauben musste, allein der Traum vom Frieden erhielte den Burgherrn noch am Leben.
Jemmy konnte diesen Traum Wirklichkeit werden lassen. Das wünschte er sich, solange er denken konnte, schon als Kind. Dafür hatte er endlose Nächte gebetet, nachdem er mit ansehen musste, wie die Clanmitglieder in die Schlachten zogen und abends als Leichen zurückgebracht wurden. In seinen Augen waren ihre Leben verschwendet gewesen.
Und nun gab es Hoff nung auf ein Ende des dauernden, sinnlosen Schlachtens. Sei vorsichtig mit dem, wofür du betest, hatte seine Mutter oft gesagt. Sei vorsichtig, denn eines Tages könnten sich deine Gebete erfüllen. Und nun trat ein, wofür er gebetet hatte. Auf einmal lag es bei ihm, seine Wünsche wahr zu machen. Er brauchte bloß heimzureiten und seine Pflicht gegenüber seinem Clan zu erfüllen.
Allein bei der Vorstellung brach ihm kalter Schweiß aus. Vor Jahren hatte Jemmy sich dem Meer verschrieben, wie sich andere Männer einer Frau oder der Kirche verschrieben. Er gehörte den Ozeanen ebenso wie die tollenden Delphine oder die Seeadler, die über die Wellen glitten. Wie sie konnte er außerhalb seines Elements nicht überleben. Selbst kurze Ausflüge ins Inland verursachten ihm neuerdings Beklemmungen. Er fühlte sich dann jedes Mal, als säße er in einer Falle gefangen. Deshalb war er froh, über hinreichend Mittel zu verfügen, solche Reisen anderen aufzutragen. Gewöhnlich rechnete er nicht einmal seinen Gewinn nach, ehe er wieder in See stach.
Ein Leben auf Ravenspur konnte kein Leben für ihn sein. Vielmehr käme es einem langsamen, schmerzvollen Sterben gleich. Wahrscheinlich würde er noch vor Ablauf eines Jahres dem Wahnsinn verfallen. Und der Gedanke an Heirat reizte ihn nicht im Mindesten. Er hatte es einmal versucht und es war ein Desaster gewesen, ein Fehler, den er auf keinen Fall wiederholen wollte.
Er musste einen anderen Weg finden, den uralten Zwist zwischen den Clans beizulegen und für dauerhaften Frieden zu sorgen. Die ganze Nacht wälzte er sich schlaflos auf der dünnen Strohmatte, während seine Gedanken auf- und abtanzten wie ein Schiff im Sturm.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die brüchigen Läden drangen, hatte er das Gefühl, die Falle, in der er saß, wäre endgültig zugeschnappt.
Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky
Copyright der Originalausgabe © 2001 by Elizabeth Minogue
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2006 by Knaur Taschenbuch
Schafestehlen war eine ehrbare Tradition im Grenzgebiet. Die Armen ernährten damit ihre Familien, die Reichen stahlen Schafe, um ihre Macht zu demonstrieren. Die Söhne der Reichen wiederum betrachteten den Schafdiebstahl als Spiel, als eine Art Mutprobe, mit der sie ihre Männlichkeit unter Beweis stellten - sie mussten es tun, ob sie wollten oder nicht. Die Darnleys zogen über die Grenze nach Schottland und bestahlen die Kirallens, die ihrerseits die Darnleys beraubten, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Man musste nur aufpassen, dass man es vor den Verfolgern nach England zurück schaffte.
Was Haddon Darnley nicht gelungen war.
Deshalb stand er nun gefesselt und hilflos auf dem erhöhten Podium in der Kirallen-Festung und hatte die Klinge eines Dolchs am Hals. Er schloss die Augen und versuchte zu beten, doch die vertrauten lateinischen Wörter wollten ihm partout nicht einfallen. Also sprach er den Herrn direkt an, und was seinem Gebet an Eleganz fehlte, machte die Inbrunst seines Flehens allemal wett.
»Bitte, lieber Gott, mach, dass Kirallen mich nicht umbringt«, betete er stumm. »Auch wenn er allen Grund hat, mich zu töten, nachdem mein Vater seinen Sohn umgebracht hat, bitte, lass es nicht geschehen. Mach, dass mein Vater ihm gibt, was er verlangt. Alles, nur lass mich heute nicht sterben. Amen.«
In der Mitte der Halle stand der Burgherr Kirallen höchstpersönlich, umringt von einem Dutzend bewaffneter Beschützer. Er sah nicht seinen Gefangenen an, sondern Haddons Vater, Lord Darnley, der unter der Waffenstillstandsflagge hergekommen war, um über die Freilassung seines Sohnes zu verhandeln.
»Wir bekommen das Tal«, forderte Kirallen. »Und einhundert Schafe.«
»Einverstanden«, sagte Darnley nach kurzem Zögern.
Haddon war so erleichtert, dass seine Knie nachgaben. Doch er hatte kaum sein Dankgebet beendet, da stutzte er schon ein wenig beleidigt. Hundert Schafe und ein sumpfiges Landstück! Mehr war er nicht wert? Als man ihn losließ, stolperte er ein Stück nach vorn, fand aber sogleich das Gleichgewicht wieder und reckte das Kinn in die Höhe. Er würde diesen Kirallens zeigen, dass ein Darnley Stolz besaß - wenn auch sonst nichts.
»Und«, fügte Kirallen gelassen hinzu, »Eure Tochter.«
Haddon blickte sich in der Halle um. Kirallens Männer schienen nicht minder schockiert. Dann hörte er einen Fluch hinter sich, wurde erneut gepackt und spürte wieder den Dolch an seinem Hals. Diesmal brachte ihm die Klinge einen kleinen Schnitt bei. Er stieß einen leisen Schmerzensschrei aus und fühlte, wie ihm Blut über den Hals rann.
Darnley ließ sich nicht anmerken, ob er seinen Sohn gehört hatte oder nicht. Er warf den Kopf in den Nacken und tat etwas, womit Haddon niemals gerechnet hätte. Er lachte. Dieses Lachen gefiel Haddon nicht, nein, ganz und gar nicht. Und Kirallens Männern schien es noch weniger zu gefallen.
»Ihr seid verrückt«, erwiderte Darnley verächtlich.
Kirallen erstarrte. Der Schotte war genauso groß wie Darnley, allerdings deutlich älter. Sein Haar war weiß, und seine tief liegenden Augen funkelten den Erzfeind an.
Voller Entsetzen fragte Haddon sich, was um alles in der Welt sein Vater da machte. War nicht vielmehr er wahnsinnig, den Gutsherrn in dessen eigenem Haus zu beleidigen? Sah er denn nicht, dass sie praktisch umzingelt waren von Kirallens Männern? Die rührten sich zwar nicht, sahen den Engländer jedoch an, als warteten sie bloß darauf, dass er eine falsche Bewegung machte. Dann würden sie ihn auf der Stelle töten.
Kirallen unterbrach die gespannte Stille.
»Unsere Leute bekriegen sich, solange ich denken kann. Jetzt musste ich Ian begraben, und ich sage, es reicht«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf den großen Tisch, vor dem er stand. »Ich will Frieden, ehe ich sterbe. Wenn nicht, schwöre ich bei den Wunden Christi, dass ich mich rächen werde. Eure Tochter heiratet meinen Jemmy - oder dieser Junge da stirbt noch heute.«
Darnley starrte auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand und verbarg seine Gedanken hinter weg. Während sich die Hufschläge entfernten, sah Haddon zu seinem Vater, der ihn jedoch keines Blickes würdigte.
»Geh rein, Bursche«, befahl Darnley. »Wir reden morgen.«
Haddon schlich niedergeschlagen davon, eine kleine, hilflose Gestalt, und für einen Moment empfand Robert Mitleid mit dem Jungen. Er wusste, dass sein Neffe im Grunde ein sanftes Herz hatte. Schon immer hatte er sich mehr für Bücher als für Schlachten interessiert. Auf dieses Abenteuer hatte er sich doch nur eingelassen, um seinen Vater zu beeindrucken. Aber ganz gleich, welche Motive er gehabt hatte, jetzt war der Schaden angerichtet und ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
»Bei Christi Wunden, John, das ist eine unselige Geschichte«, sagte er kopfschüttelnd und stolperte beinahe vornüber einer Maske eiserner Entschlossenheit. Haddon beobachtete ihn ängstlich, wohl wissend, dass es keine Hoffnung für ihn gab. Wenn sein Vater vor der Wahl stand, sich zwischen seiner Tochter und seinem Sohn zu entscheiden, kam Maude zweifellos an erster Stelle. Er hatte die Tochter stets vorgezogen.
Langsam drehte Darnley sich zu seinem Sohn um und warf ihm einen eisigen Blick zu. Ein Mann konnte jederzeit einen neuen Erben zeugen, wurde Haddon erschreckend klar, wobei ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Und er hatte noch nie etwas getan, womit er sich das Wohlgefallen seines Vaters verdient hätte. Todesangst ließ den schmächtigen Jungen erzittern, und in dem verzweifelten Bemühen, nicht vor all diesen Männern in Tränen auszubrechen, biss er sich auf die Lippe.
»So sei es«, sagte Darnley schließlich. »Sie sollen heiraten.« »Ich verlange einen Eid von Euch.«
Haddon wollte seinen Augen kaum trauen, als er sah, wie sein Vater mitten in der Halle auf die Knie ging. In der beklemmenden Stille schien das Rascheln des Strohs auf dem Steinboden nachgerade ohrenbetäubend. Darnley nahm seinen Schwertgriff als Kreuzersatz und schwor, sein Land, seine Schafe und die Hand seiner Tochter herzugeben. Seine Stimme klang beherrscht und klar, die maßlose Wut darin war dennoch unüberhörbar.
»Die Hochzeit wird innerhalb eines Monats stattfinden«, ordnete Kirallen an und blickte sich in der Halle um. Er sah jedem Einzelnen seiner Männer in die Augen, als wollte er jeden Widerspruch im Keim ersticken. Schließlich nickte er kurz und verließ mit großen Schritten den Saal.
Vor Haddons Augen blitzte der Dolch auf, doch noch während der Junge vor Schreck zurückzuckte, fuhr die Klinge blitzschnell hinab und durchtrennte die Fesseln an seinen Handgelenken.
»Vater«, begann Haddon, kletterte von dem Podium und streckte die Arme aus.
»Jetzt nicht«, fuhr ihn Darnley schroff an und schritt eilig aus der Halle.
Haddon folgte ihm mit hängenden Schultern. An all dem war sein Pferd schuld. Hätte die verdammte Mähre sich nicht von einem Kaninchen erschrecken lassen, wäre er jetzt sicher daheim und sein Vater stolz auf ihn. Aber so ... Er schaute furchtsam zu seinem Vater, der beängstigend finster dreinblickte - und wenn er daran dachte, was Maude erst mit ihm machen würde, wurde ihm erst recht mulmig.
Eine wütende Maude war etwa so schrecklich wie alles andere, was Haddon heute widerfahren war. Wenn sie erfuhr, was Kirallen und ihr Vater soeben vereinbart hatten, würde sie allen das Leben zur Hölle machen. Lord Darnley dürfte das ebenfalls klar sein, weshalb seine Wut umso verständlicher war. Haddon folgte ihm so dicht auf den Fersen, dass er ihm beinahe in die Hacken trat. Sogar Onkel Robert, der im Schatten des Torweges auf sie wartete, sah ungewöhnlich ernst aus, als er mit ihnen an den Wachen vorbeischritt.
Haddons Pferd war durchgegangen, nachdem es ihn abgeworfen hatte. Daher musste er hinter seinem Vater auf dessen Pferd steigen. Er war froh, sich an den breiten, starken Rücken lehnen zu können, schwindlig vor Erleichterung darüber, was ihm erspart geblieben war, und vor Furcht vor dem, was auf ihn zukam. Dennoch brachte er den Mut auf zu fragen: »Welchen von denen soll Maude heiraten? Ist es der, der mich festhielt?«
Er hielt den Atem an und wartete auf eine Antwort. Nicht einmal seiner Schwester wünschte er ein solches Schicksal. Der Kerl war ein Unmensch, eine Ausgeburt der Hölle. Allein der Gedanke daran, was für schreckliche Dinge er Haddon angedroht hatte, ließ ihn unter seinem Umhang frösteln.
»Nein«, antwortete Darnley. »Er war nicht da.«
»Jemmy Kirallen«, erklärte Onkel Robert nachdenklich, »ist der zweitälteste Sohn, der zur See fuhr. Es gab mal Gerüchte, nach denen er Pirat geworden ist, aber das ist Jahre her. Ich dachte, er wäre schon längst tot.«
»Dachte ich auch«, grummelte Darnley. »Doch kaum habe ich den Ältesten aus dem Weg geräumt, da zitiert Kirallen den anderen zurück nach Hause. Ich habe zwei Männer in Berwick postiert, die mir Bescheid geben sollen, wenn sein Schiff einläuft. Aber jetzt - mein Gott, hätte ich geahnt, was der Alte vorhat, hätte ich ein Dutzend Leute hingeschickt. Möge Gott seine Seele für immer in der Hölle schmoren lassen. Ich werde ihn eigenhändig töten, ehe ich zulasse, dass er Maude anfasst. Und jetzt haltet beide den Mund und lasst mich nachdenken.«
Bis sie Aylsford Manor erreichten, setzte bereits die Morgendämmerung ein. Als sie von den Pferden stiegen, kamen zwei Stallknechte, die auf die Rückkehr ihres Herrn gewartet hatten, und führten die erschöpften Pferde, als sein Bruder ihm kräftig auf die Schulter schlug.
»Es wird alles gut«, erwiderte Darnley überraschend munter. Ja, er grinste sogar, was Robert unheimlich war. »Komm mit. Ich bin am Verhungern.«
Die Halle war noch dunkel. Ein paar Knechte fegten gähnend das Stroh auf dem Boden zusammen und stellten frische Kerzen auf. Bis Robert bei der engen Wendeltreppe angekommen war, verschwand Darnley schon um die erste Biegung.
»Alles wird gut?«, rief er seinem Bruder hinterher, und seine Stimme hallte von den kalten Steinmauern wider. »Was meinst du damit? Maude zu diesen Leuten zu schicken, das ist einfach widerwärtig!«
Darnley blickte sich über die Schulter zu ihm um. Immer noch umspielte ein triumphierendes Lächeln seine Lippen. »Ich habe ihnen meine Tochter versprochen, aber ich habe ihnen nicht gesagt, welche.«
»Ruh dich erst mal aus«, sagte Robert besänftigend und legte seinem Bruder eine Hand auf den Arm.
Darnley schlug sie ungeduldig weg und stieg weiter die Treppe hinauf. »Ich bin nicht umnachtet, Robert. Denk doch mal nach! Meine Lady hat mir nur eine Tochter geschenkt, doch ich habe im Laufe meines Lebens mehrere gezeugt.«
Sie kamen zu Darnleys Schlafgemach, wo sein Kammerdiener neben dem Feuer saß und sie schlaftrunken anblinzelte. Darnley befahl ihm, Brot, Fleisch und Käse zu holen. Sobald der Junge fort war, ging Darnley an den Tisch und schenkte sich Wasser aus dem Krug in einen Becher.
»Verstehe«, sagte Robert und setzte sich vors Feuer. »Tja, ich denke nicht, dass einer der Kirallens Maude schon mal gesehen hat ...«
Darnley schüttelte den Kopf, worauf Tropfen aus seinem dunklen, lockigen Haar stoben. »Natürlich haben sie ihre Spione hier, so wie ich meine Spione bei ihnen habe, aber Maude war in den letzten drei Jahren kaum im Haus. Ich verwette mein Leben darauf, dass die Kirallens höchstens wissen, wie alt sie ist und welche Haarfarbe sie hat.«
»Kirallen ist kein Idiot«, wandte Robert ein. »Von den Mädchen aus dem Dorf könnte ihm keine etwas vormachen. Und selbst wenn, wie lange soll das gut gehen? Früher oder später kommt er dahinter.«
»Ich brauche nicht viel Zeit, nur lange genug, um Männer für eine Schlacht zusammenzustellen. Gütiger Gott, Robert, glaubst du etwa, ich nehme diese Beleidigung stillschweigend hin? Wir haben einen Monat Zeit, aber das wird nicht reichen. Ich gehe zu Percy und bitte ihn um ein paar Männer - du musst mir helfen, eine glaubwürdige Geschichte zu erfinden, denn er will nichts mehr mit der Kirallen-Geschichte zu schaff en haben.«
»Selbstverständlich nicht. Northumberland kann es sich nicht leisten, in den Zwist verwickelt zu werden«, sagte Robert, der für einen Moment in die königliche Politik abschweifte. »Jetzt, wo wir in Frieden mit Schottland leben - und unser Lord sich so gut mit Lancaster versteht -, würde er es nicht wagen, Grenzärger wegen einer Familienfehde anzuzetteln. Aber ich könnte mir etwas ausdenken ...«
»Sagen wir, ein weiterer Monat - im Höchstfall sechs Wochen -, und ich habe, was ich brauche. Nixon wird mir helfen, schätze ich. Er und Kirallen liegen sich schon lange in den Haaren. Ich werde meine Männer bei ihm unterbringen, bis ich so weit bin. Und dann ...« Darnley grinste und bleckte dabei die Zähne. »Ich werde wie der Zorn Gottes über die Kirallens kommen, wenn sie am wenigsten damit rechnen.«
»Sechs Wochen?«, wiederholte Robert unsicher. »Kein gewöhnliches Mädchen lässt sich in so kurzer Zeit auf einen Betrug vorbereiten.«
»Ein gewöhnliches vielleicht nicht. Aber erinnerst du dich an das McLaran-Mädchen?«, fragte Darnley. »Ach nein, bestimmt nicht, oder? Du warst ja noch zu klein damals.«
»Ich erinnere mich daran, dass sie eine Menge Ärger machte.«
»Auf jeden Fall war sie keine Bauerntochter«, sagte Darnley. »Und sie hat ein sehr hübsches Mädchen zur Welt gebracht.«
»Du meinst, sie ist noch hier?«
»Nein, ich habe sie mit Jacob Bowden verheiratet, sobald feststand, dass sie guter Hoff nung war. Ich konnte sie schließlich nicht hier behalten. Aber Bowden und sie sind inzwischen beide tot, und ich sehe die Tochter manchmal unten in der Küche. Ein kleines rothaariges Ding, genau wie Maude, und fast im selben Alter. Du kannst ihr alles beibringen, was sie wissen muss.«
»Mag sein«, sagte Robert, dessen zweifelnder Ton vom interessierten Funkeln in seinen Augen Lügen gestraft wurde. Wer hätte gedacht, dass John zu einem solchen Plan fähig war? Zugegeben, die Sache war zum Scheitern verurteilt, und dennoch entbehrte sie nicht eines gewissen Reizes. Und Raffinesse war etwas, bei dem Roberts Instinkt für Intrigen auflebte. Könnte er sich tatsächlich ein einfaches Mädchen nehmen und sie innerhalb eines Monats in eine Lady verwandeln? Nun, das kam ganz auf die betreffende junge Dame an. Sie müsste Verstand haben ... und Mut. Beides waren Eigenschaften, die unter den Bauern eher selten vorkamen.
»Natürlich müssen wir nicht unbedingt das Bowden-Mädchen nehmen«, sagte Robert schließlich. »Wir brauchen überhaupt nicht zwingend eines deiner Kegel zu wählen. Jedes rothaarige Mädchen mit ein bisschen Grips tut es.«
»Gott behüte«, widersprach Darnley und bekreuzigte sich hastig. »Ich habe geschworen, meine Tochter zu geben, und ich werde zu meinem Wort stehen.«
Der Kammerdiener kam mit dem Essen, das er auf den Tisch stellte, bevor er auf Befehl seines Herrn eiligst wieder verschwand. Die beiden Brüder setzten sich an den Tisch unterm Fenster. Robert betrachtete Darnley amüsiert. Wie widersprüchlich die Menschen doch oft waren! In diesem Punkt musste er seinem Freund Chaucer Recht geben. John zögerte nicht, ein armes Mädchen an Maudes Stelle zu den Kirallens zu schicken, plante eiskalt einen Betrug, und zugleich empörte ihn die Vorstellung, er könnte des Wortbruchs beschuldigt werden.
Robert hatte eigentlich vorgehabt, noch in dieser Woche nach London zurückzukehren, doch er änderte prompt seine Meinung. Sollten sie mit diesem dreisten Betrug durchkommen, könnte er ein Lied darüber schreiben. Dieses Lied würde eine Geschichte erzählen, die ihn auf eine Stufe mit Chaucer stellte. Und mit ein bisschen Glück durfte er sie am Yule-Hof vortragen - vielleicht sogar vor dem Herzog von Lancaster höchstpersönlich!
Und falls es schief ging - nun, dann wäre er auf dem Weg nach London, bevor die Schlacht begann. John Darnley war immerhin nur sein Halbbruder und stand ihm nicht nahe genug, als dass Robert für ihn sein Leben riskierte.
»Unter Umständen brauchen wir sie gar nicht«, fuhr Darnley fort und brach sich ein Stück Brot ab, das er mit Honig bestrich. »Wenn meine Männer in Berwick ihre Arbeit machen, umso besser. Für einen Bräutigam, der mit einem Dolch zwischen den Rippen auf dem Meeresgrund liegt, richtet man keine Hochzeit aus.« Er grinste selbstzufrieden.
»Stimmt«, pflichtete Robert ihm bei, auch wenn er im Stillen hoff te, dass Kirallen seinen Attentätern entkam. Sollte er jetzt sterben, wäre der ganze Spaß verdorben.
»Wie dem auch sei, diesmal werde ich sie vernichten«, sagte Darnley und ballte die Faust um seinen Messergriff . »Der alte Mann ist ein Idiot. Er muss verrückt sein zu glauben, dass ich ihnen Maude überlasse. Und selbst wenn dieser andere, dieser Jemmy, heil nach Hause kommt, habe ich von ihm nichts zu befürchten. Ich bin auch mit dem älteren Bruder fertig geworden, und der war, bei Gott, ein Mann! Er ritt, wohin es ihm gefiel, nahm sich, was immer er wollte - Jesus, was für ein arroganter Bastard. Aber gegen mich hatte er keine Chance. Und nun, da er fort ist, hält mich nichts und niemand mehr auf. Sie sind so gut wie tot, alle von ihnen, das schwöre ich bei Gott - hast du mich verstanden? Hast du mich verstanden?«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Robert beäugte ihn unsicher. Darnley bleckte schon wieder die Zähne und hatte ein unheimliches Funkeln in den Augen. Er wirkte beinahe wie ein Wahnsinniger. Überhaupt hatte Robert in letzter Zeit häufiger den Eindruck, dass sein Halbbruder verrückt war. Vor drei Monaten hatte er den älteren Kirallen-Sohn in einer Schlacht besiegt, und Robert hatte sich die Geschichte in den vierzehn Tagen seit seiner Ankunft mindestens hundert Mal anhören müssen. Der Sieg schien Darnleys Wut auf den Clan jedoch kein bisschen gemindert zu haben. Vielmehr schien sie sich zu einer regelrechten Besessenheit auszuwachsen.
»Ja doch«, beschwichtigte Robert ihn. »Ich habe dich verstanden. Gott stehe Jemmy Kirallen und seiner Familie bei.«
Er hob seinen Becher, stellte ihn aber gleich wieder ab, ohne daran genippt zu haben, und blickte hinaus auf das endlose, öde Moor. Bei Gott, dieses Grenzgebiet war ein trister Ort, selbst im Frühling. Hatte er wirklich gerade versprochen, seinen Besuch um weitere zwei Monate zu verlängern?
Kurz darauf aber schlug seine Stimmung wieder um und erneut blitzten fröhliche Funken in den haselnussbraunen Augen des Ritters auf. Lächelnd trommelte er mit den Fingern auf den Tisch und dachte sich dabei die erste Strophe seiner Ballade aus.
I. Kapitel
Jemmy Kirallen stand am Bug des Schiff es und starrte blind in den Regen. Natürlich regnete es. In Schottland regnete es immer. Ehe er von hier fortging, hatte er gar nicht geglaubt, dass es Orte gab, an denen Nebel und Regen nicht zum Alltag gehörten. Und dann hatte er wunderbare Inseln gesehen mit weißen Sandstränden, wo das Sonnenlicht auf den Wellen tanzte und ein stetig sich veränderndes Farbenspiel aus verschiedensten Grün- und Blautönen veranstaltete.
Seufzend blickte er in den trüben Himmel. Ein ganzes Stück weiter vorn konnte er bereits den Hafen von Berwick ausmachen, eine düstere Ansammlung von viereckigen Bauten und dunklen Pfählen, die aus dem bleigrauen Meer ragten. Wabernde Nebelschwaden versperrten immer wieder die Sicht, bis das Schiff nahe genug war, dass man die Fackeln erkannte, die am Kai brannten. Jemmy kam alles wie ein fast vergessener Traum vor. Ein Albtraum wohl eher, dachte er verbittert.
Vor sechs Wochen hatte ihn in Cadiz die Nachricht erreicht, dass sein älterer Bruder von Lord John Darnley umgebracht worden war. Jemmy hatte die notwendigsten Geschäfte geregelt und war schnellstmöglich aufgebrochen, da er wusste, dass sein Vater seine sofortige Rückkehr erwartete. Ian war tot, sein Sohn noch ein Kind und mit dem alten Herrn ging es gesundheitlich rapide bergab. Jemmy blieb gar nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren.
Doch so vernünftig sein Handeln auch scheinen mochte, war es andererseits vollkommen unverständlich. Schottland war seit Jahren nicht mehr seine Heimat. Er gehörte heute noch weniger hierher als vor zwölf Jahren.
Schon als Kind war ihm die Fehde zwischen seiner Familie und den Darnleys irrwitzig und sinnlos erschienen. Die beiden Clans fochten einen Krieg aus, der keinen Anfang und kein Ende hatte. Der Zwist diente einzig dem Zweck, die Kampftruppen auf beiden Seiten zu vernichten und Leben, Träume und Hoffnungen zu zerstören. Und jetzt wurde von ihm erwartet, dass er nicht nur kämpfte, sondern seinen Clan auch noch in eine Schlacht führte, um den Tod seines Bruders zu rächen.
Genau das aber würde er nicht tun, dachte er niedergeschlagen. Und sobald die anderen erkannten, dass sie in ihm nicht den Anführer fanden, den sie sich erhoff ten, würde ihr herzliches Willkommen rasch in bittere Vorwürfe umschlagen. Sie würden ihn einen Verräter und einen Feigling schimpfen, der nicht wert war, Ians Platz einzunehmen. Als hätte er das jemals gewollt! Die Sache wurde gewiss unangenehm, aber sie wäre auch schnell vorbei. Noch vor dem Herbst konnte er wieder in Spanien sein. Er hatte also keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Warum hatte er trotzdem das ungute Gefühl, gerade in eine Falle zu tappen? Sein Besuch sollte ein kurzer werden, so viel stand fest, denn er würde von vornherein erklären, dass er sich weigerte, die Darnleys zu bekriegen. Und was die anderen von ihm dachten, scherte ihn so oder so kein bisschen.
Mit Ausnahme von seinem Vater.
Der alte Mann musste am Boden zerstört sein. Ian war das Licht seines Lebens gewesen - und der Liebling des Clans. Zweifellos waren viele von ihnen verrückt vor Trauer und schrien nach Rache. Glaubten sie denn ernsthaft, dass die Ermordung noch so vieler Darnleys ihren Schmerz lindern könnte? Was immer sie taten, würde nichts daran ändern, dass Ian nicht mehr lebte.
Das Schiff legte an, und Jemmy stieg langsam von Bord. Er fühlte sich, als stiege er in seine Vergangenheit zurück. Exakt an dieser Stelle war er erstmals an Bord eines Schiff es gegangen. Und nun war er wieder hier, von wo aus er aufgebrochen war, als hätte es die letzten zwölf Jahre nicht gegeben.
Eine Gruppe von Spaniern stand verwundert im Regen. Die geschäftigen Seeleute im Hafen ignorierten ihre zaghaften Fragen und schoben sie wortlos aus dem Weg. Als Jemmy an ihnen vorbeikam, fasste ihn einer der Männer am Arm.
»Con permiso, señor«, sagte er höflich. Dem Akzent nach musste er aus Kastilien sein. »Bitte, könnt Ihr mir sagen, wo das nächste Gasthaus ist?«
Jemmy antwortete dem Mann auf Spanisch und begleitete ihn ein Stück. Dabei wanderte sein Blick wie beiläufig zu zwei Männern, die an der Anlegestelle standen. Sowie er an ihnen vorüberging, merkte er auf, denn sie stießen sich von dem Poller ab und folgten ihm betont unauffällig.
»Hier entlang«, sagte Jemmy zu dem Spanier und schob ihn ein Stück von sich. »Vaya con Dios.«
Noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, drehte er sich ruckartig um und packte den Mann hinter sich beim Handgelenk. Dann entwand er ihm seinen Dolch und schoss ihn mit dem Fuß über die regennassen Planken. Der Spanier eilte davon. Jemmy bückte sich. Sein eigener Dolch schimmerte im Laternenlicht, als er den beiden Angreifern gegenüberstand.
Eigentlich hatte er erwartet, dass sie weglaufen würden, aber sie rührten sich nicht.
»Worauf wartet ihr?«, fragte er freundlich, wobei er unbewusst in den Tonfall zurückfiel, den er in seiner Jugend gepflegt hatte. »Ihr wisst, dass das hier nicht so einfach wird, wie ihr dachtet. Und jetzt fragt ihr euch wahrscheinlich, was ihr machen sollt. Also, mein Rat ist, denkt lieber gründlich nach, ehe ihr etwas tut, das ihr später bereuen könntet. Ein Fehler zieht den nächsten nach sich, und dafür bin ich heute Abend nicht in der Stimmung. Noch können wir alle drei unversehrt unserer Wege gehen.«
Der Mann, den Jemmy entwaffnet hatte, zog einen zweiten Dolch und trat einen Schritt nach links. Der andere Mann spuckte ins Wasser und ging nach rechts. Die beiden waren keine kleinen Hafenstrolche, stellte Jemmy fest, sonst wären sie längst weg.
»Lasst uns nichts überstürzen, Männer«, fuhr er fort, wobei er beide Kerle im Auge behielt. »Ich bin sicher, dass ihr nicht vorhabt, heute zu sterben, und ich möchte euch nicht umbringen. Dennoch werde ich es notfalls tun. Nur frage ich euch, welchen Sinn hätte das? Wäre es nicht besser, wenn ihr mir sagt, worum es hier geht, und ich vergesse, dass ich euch je gesehen habe?«
Für einen Moment zögerten die beiden, und Jemmy hoffte schon, sie würden seinen Vorschlag annehmen. Er hatte es durchaus ernst gemeint, als er sagte, er wollte sie nicht umbringen. Doch was immer solche Männer antrieb - Jemmy hatte es nie verstanden und wollte es auch nicht verstehen - erwies sich einmal mehr als stärker denn jede Vernunft. Bis der Spanier mit den Wachen zurückkam, war alles vorbei und Jemmy steckte seinen Dolch wieder in die Scheide.
Ein Dutzend Zeugen eilten herbei, die nun, da die Gefahr gebannt war, unbedingt ihre Version des Ereignisses erzählen wollten. Es wären zwei Männer gegen einen gewesen, berichteten sie einhellig, und der Einzelne hätte alles in seiner Macht Stehende getan, um den Kampf zu vermeiden. Äußerst verärgert über den Vorfall, hob Jemmy den Umhang des einen Toten hoch und war wenig überrascht, als ihm das Darnley-Wappen von der blutgetränkten Tunika entgegen-leuchtete.
Was für Narren, dachte er angewidert und bedeckte das starre Gesicht des Mannes mit dessen Umhang. Sie könnten noch am Leben sein, doch jetzt waren sie tot - und das nur wegen eines uralten Zwistes, dessen Ursache sie nicht einmal kannten.
Er war also wieder mittendrin. Machte ihn das nicht zu einem noch viel größeren Narren als die beiden?
»Jemmy!«, rief eine Stimme. Er blickte auf und griff instinktiv nach seinem Dolch. Sobald er erkannte, in welchen Farben die sechs Männer gekleidet waren, die auf ihn zukamen, nahm er die Hand wieder herunter.
Ihre Namen konnte er nicht mehr zuordnen, aber in dem einen oder anderen Gesicht erinnerten noch Züge an die Jungen, die sie vor zwölf Jahren gewesen waren. Einen von ihnen erkannte er allerdings in dem Moment wieder, als dieser vor ihn trat und die durchnässte Kapuze abnahm.
Jemmys Pflegebruder Alistair war erst siebzehn gewesen, als Jemmy ging, hatte sich aber damals schon im Clan den Ruf eines viel versprechenden Kriegers erworben. Alistair war an Kühnheit und Begeisterung gleich nach Ian gekommen. Außerdem war er bereits damals ein berüchtigter Weiberheld - auch in diesem Punkt war Ian sein einziger Konkurrent gewesen. Vor zwölf Jahren hatte er mit seinen silbrig-blonden Locken und den grauen Augen etwas trügerisch Engelsgleiches gehabt - das perfekte Gegenbild zu dem dunklen, gut aussehenden Ian. Inzwischen war er vom hübschen Jugendlichen zu einem umwerfenden Mann herangewachsen.
Jetzt aber lag ein dunkler Schatten auf seinen Zügen, als er Jemmy prüfend ansah.
»Alistair«, begann Jemmy und hielt sogleich inne. Irgendwie hatte er erwartet, Ian an Alistairs Seite zu sehen, doch Ian war nicht da. Erstmals traf ihn der Tod seines Bruders wie ein Hieb. Ian, der nie auch nur eine Sekunde geschwiegen hatte, sollte nun für immer schweigen. Nie wieder würde Jemmy das verschmitzte Grinsen seines Bruders sehen oder von ihm in irgendein verrücktes Abenteuer verstrickt werden. In diesem Moment wurde ihm sein Verlust so schmerzlich bewusst, dass es Jemmy die Sprache verschlug.
Alistair schien Jemmy angesehen zu haben, was in ihm vorging. Er blickte Jemmy mitfühlend an, dabei musste der Schmerz für ihn doch um ein Vielfaches größer sein als für Jemmy. Solange Jemmy sich erinnerte, waren Ian und Alistair unzertrennlich gewesen. Sie hatte weit mehr verbunden als nur Verwandtschaft. Sie waren seelen- und geistesverwandt gewesen. Bereits im Kindesalter hatte jeder von ihnen genau gewusst, was der andere dachte. Sie hatten sich wortlos verstanden. Deshalb hatte es natürlich auch einige Eifersüchteleien gegeben, sowohl von Jemmys als auch von Alistairs Seite. Ian war das Verbindungsglied zwischen ihnen gewesen und zugleich der Keil, der sie auseinander trieb.
»Alistair, es tut mir entsetzlich Leid«, brachte Jemmy schließlich heraus.
»Ja, uns allen«, sagte Alistair mit einem schroff en Unterton, der Jemmy deutlich zu verstehen gab, dass er nicht über Ians Tod sprechen wollte. »Aber jetzt bist du wieder da.
Du hast dir wahrlich Zeit gelassen mit deiner Rückkehr, muss ich sagen. War dir denn nicht klar, dass wir dich hier brauchen?«
»Ich kam gleich nachdem ich es erfahren hatte«, erwiderte Jemmy, der das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen, obwohl er nicht wusste, warum.
»Na ja, jetzt bist du hier, und keine Minute zu früh. Du bist der Einzige, der deinen armen Vater aufhalten kann. Er ist vollkommen verrückt vor Trauer. Du musst ihm erklären, dass du bei dieser Geschichte nicht mitmachst, und zwar gleich, ehe es zu Missverständnissen kommt.«
»Welche Geschichte?«, fragte Jemmy gereizt. Alistair hatte sich kein bisschen verändert. Er war nach wie vor der Überhebliche, der nach links und rechts Befehle erteilte, ohne etwas zu erklären. Es hatte ihn nie interessiert, wen er mit seinem Verhalten vor den Kopf stieß.
»Er hat dich versprochen - wir schaff en es vielleicht gerade noch vor der Hochzeit nach Hause.«
»Hochzeit?«, wiederholte Jemmy entrüstet. »Meine Hochzeit? Aber - das kann er nicht tun!«
»Ja, das haben wir auch alle gesagt, oder?« Die anderen Männer bestätigten seine Worte durch ein einstimmiges Raunen. »Er hört nicht auf uns. Seit Ian«, fuhr er fort, unterbrach jedoch kurz und schluckte. »Seit Januar scheint der Verstand deines Vaters gefährlich nachzugeben.«
Jemmy sah in die Gesichter der anderen, in denen er teils Verlegenheit, teils zögernde Zustimmung las. Offensichtlich hätte keiner von ihnen den Mut aufgebracht, es so direkt zu sagen, doch dass sie Alistair Recht gaben, stand außer Frage.
»Was hat das alles mit irgendeiner Hochzeit zu tun?« »Er hat versprochen, dass du Maude Darnley heiratest.«
»Maude?« Jemmy stieß hörbar den Atem aus. »Mein Gott, Alistair, das ist ein schlechter Scherz.«
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte Alistair. Er signalisierte den anderen mit einer Handbewegung, sie sollten auf Abstand gehen, nahm Jemmy beim Arm und führte ihn zum Eingang einer kleinen Hütte. »Es stimmt, Jemmy, und du bist der Einzige, der diesen Spuk beenden kann. Der Burgherr kann nicht mehr klar denken.«
Regen trommelte auf das dünne Holzdach über ihnen und übertönte das Murmeln der anderen Männer. Jemmy hatte auf einmal das Gefühl, Alistair und er wären die einzigen Menschen weit und breit, zusammengepfercht in diesem Hütteneingang wie in einer Falle.
»Erzähl mir alles«, forderte Jemmy ihn auf. »Ich will genau wissen, was vorgefallen ist.«
Jemmy stand in der schmutzigen Schenke des Gasthauses und trank sein säuerliches Bier, ohne etwas zu schmecken, während er sich die letzten Neuigkeiten von daheim berichten ließ. Als er einige Zeit später ins Bett fiel, konnte er vor lauter Nachdenken keinen Schlaf finden.
Er hatte gewusst, dass Ians Tod ein schwerer Schlag für seinen Vater sein musste. Alistairs Erzählungen nach hatte er jedoch weit schlimmere Folgen, als er ahnte. Seit Ians Tod war die Gesundheit seines Vaters stark angegriffen. Er litt des Öfteren an Anfällen, die ihn zusehends häufiger und schwerer heimsuchten. Die Ärzte konnten sagen, was sie wollten, sowohl Alistair als auch Jemmy wussten, welches der wahre Grund für die Krankheit war. Dem alten Mann war das Herz gebrochen worden. Allerdings war das auch schon der einzige Punkt, in dem sich die beiden einig waren.
Alistair glaubte, dass der Gutsherr außerdem dem Wahnsinn verfiel, wohingegen Jemmy genau das Gegenteil vermutete. Ians Tod hatte seinen Vater endlich zur Vernunft gebracht. Nachdem er ein Leben lang gegen den Kriegerehrenkodex seines Vaters angekämpft hatte, war es ein ziemlicher Schock für Jemmy festzustellen, dass sie nun beide auf derselben Seite gelandet waren. Ja, durch diese Entwicklung wurden seine eigenen Vorstellungen auf den Kopf gestellt, ihm wurde der Wind aus den Segeln genommen. Besonders schlimm aber war, dass Alistair glauben musste, allein der Traum vom Frieden erhielte den Burgherrn noch am Leben.
Jemmy konnte diesen Traum Wirklichkeit werden lassen. Das wünschte er sich, solange er denken konnte, schon als Kind. Dafür hatte er endlose Nächte gebetet, nachdem er mit ansehen musste, wie die Clanmitglieder in die Schlachten zogen und abends als Leichen zurückgebracht wurden. In seinen Augen waren ihre Leben verschwendet gewesen.
Und nun gab es Hoff nung auf ein Ende des dauernden, sinnlosen Schlachtens. Sei vorsichtig mit dem, wofür du betest, hatte seine Mutter oft gesagt. Sei vorsichtig, denn eines Tages könnten sich deine Gebete erfüllen. Und nun trat ein, wofür er gebetet hatte. Auf einmal lag es bei ihm, seine Wünsche wahr zu machen. Er brauchte bloß heimzureiten und seine Pflicht gegenüber seinem Clan zu erfüllen.
Allein bei der Vorstellung brach ihm kalter Schweiß aus. Vor Jahren hatte Jemmy sich dem Meer verschrieben, wie sich andere Männer einer Frau oder der Kirche verschrieben. Er gehörte den Ozeanen ebenso wie die tollenden Delphine oder die Seeadler, die über die Wellen glitten. Wie sie konnte er außerhalb seines Elements nicht überleben. Selbst kurze Ausflüge ins Inland verursachten ihm neuerdings Beklemmungen. Er fühlte sich dann jedes Mal, als säße er in einer Falle gefangen. Deshalb war er froh, über hinreichend Mittel zu verfügen, solche Reisen anderen aufzutragen. Gewöhnlich rechnete er nicht einmal seinen Gewinn nach, ehe er wieder in See stach.
Ein Leben auf Ravenspur konnte kein Leben für ihn sein. Vielmehr käme es einem langsamen, schmerzvollen Sterben gleich. Wahrscheinlich würde er noch vor Ablauf eines Jahres dem Wahnsinn verfallen. Und der Gedanke an Heirat reizte ihn nicht im Mindesten. Er hatte es einmal versucht und es war ein Desaster gewesen, ein Fehler, den er auf keinen Fall wiederholen wollte.
Er musste einen anderen Weg finden, den uralten Zwist zwischen den Clans beizulegen und für dauerhaften Frieden zu sorgen. Die ganze Nacht wälzte er sich schlaflos auf der dünnen Strohmatte, während seine Gedanken auf- und abtanzten wie ein Schiff im Sturm.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die brüchigen Läden drangen, hatte er das Gefühl, die Falle, in der er saß, wäre endgültig zugeschnappt.
Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky
Copyright der Originalausgabe © 2001 by Elizabeth Minogue
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2006 by Knaur Taschenbuch
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Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth English
- 2010, 1, 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004459
- ISBN-13: 9783868004458
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