In Edinburgh ist Mord verboten
Isabel Dalhousie ist Anfang vierzig und wohnt allein in einer Viktorianischen Villa nahe des Castle of Edinburgh. Ihre Tätigkeit als Redakteurin beim »Journal für angewandte Ethik« lässt...
Isabel Dalhousie ist Anfang vierzig und wohnt allein in einer Viktorianischen Villa nahe des Castle of Edinburgh. Ihre Tätigkeit als Redakteurin beim »Journal für angewandte Ethik« lässt der Philosophin viel Zeit für die angenehmen Seiten des Lebens in der aufblühenden Kulturstadt. Die Sonntage hat Isabel reserviert für eine Diskussionsrunde mit Freunden, doch das erste Treffen des Clubs der Sonntagsphilosophen steht noch immer aus, da die Menschen an diesem Tag erstaunlich viele Dinge erledigen müssen, die so gar nichts mit Philosophie zu tun haben.
Nach einem Konzert im Opernhaus muss Isabel etwas Furchtbares mit ansehen: Ein junger Mann stürzt von einem Balkon in die Tiefe und ist sofort tot. Isabel ist die einzige Zeugin und fühlt sich deshalb verpflichtet, die Umstände dieses Unglücks aufzuklären. Je mehr sie in Erfahrung bringt, desto stärker wird ihr Verdacht, dass Mord nicht die unwahrscheinlichste aller Erklärungen für den Tod des erfolgreichen Anlageberaters ist. Ihre Nachforschungen führen Isabel in die so genannten feinen Kreise der Stadt, die ihr ebenso fremd wie unsympathisch sind. Gerade wähnt sie sich auf der Spur eines komplizierten und nicht minder bedrohlichen Komplotts, als sich ihr die verblüffende Lösung des Falles offenbart. Denn was die Welt im Innersten zusammenhält, lässt sie auch oft genug zusammenstürzen: die Liebe.
Alexander McCall Smith hat seinen Kant gelesen - und dennoch seinen britischen Humor nicht verloren, wie dieser geistreiche und höchst amüsante Roman beweist.
Isabel Dalhousie ist Anfang vierzig und wohnt allein in einer Viktorianischen Villa nahe des Castle of Edinburgh. Ihre Tätigkeit als Redakteurin beim »Journal für angewandte Ethik« lässt der Philosophin viel Zeit für die angenehmen Seiten des Lebens in der aufblühenden Kulturstadt. Die Sonntage hat Isabel reserviert für eine Diskussionsrunde mit Freunden, doch das erste Treffen des Clubs der Sonntagsphilosophen steht noch immer aus, da die Menschen an diesem Tag erstaunlich viele Dinge erledigen müssen, die so gar nichts mit Philosophie zu tun haben.
Nach einem Konzert im Opernhaus muss Isabel etwas Furchtbares mit ansehen: Ein junger Mann stürzt von einem Balkon in die Tiefe und ist sofort tot. Isabel ist die einzige Zeugin und fühlt sich deshalb verpflichtet, die Umstände dieses Unglücks aufzuklären. Je mehr sie in Erfahrung bringt, desto stärker wird ihr Verdacht, dass Mord nicht die unwahrscheinlichste aller Erklärungen für den Tod des erfolgreichen Anlageberaters ist. Ihre Nachforschungen führen Isabel in die so genannten feinen Kreise der Stadt, die ihr ebenso fremd wie unsympathisch sind. Gerade wähnt sie sich auf der Spur eines komplizierten und nicht minder bedrohlichen Komplotts, als sich ihr die verblüffende Lösung des Falles offenbart. Denn was die Welt im Innersten zusammenhält, lässt sie auch oft genug zusammenstürzen: die Liebe.
Alexander McCall Smith hat seinen Kant gelesen - und dennoch seinen britischen Humor nicht verloren, wie dieser geistreiche und höchst amüsante Roman beweist.
Isabel Dalhousie ist Anfang vierzig und wohnt allein in einer Viktorianischen Villa nahe des Castle of Edinburgh. Ihre Tätigkeit als Redakteurin beim "Journal für angewandte Ethik" lässt der Philosophin viel Zeit für die angenehmen Seiten des Lebens in der aufblühenden Kulturstadt. Die Sonntage hat Isabel reserviert für eine Diskussionsrunde mit Freunden, doch das erste Treffen des Clubs der Sonntagsphilosophen steht noch immer aus, da die Menschen an diesem Tag erstaunlich viele Dinge erledigen müssen, die so gar nichts mit Philosophie zu tun haben.
Nach einem Konzert im Opernhaus muss Isabel etwas Furchtbares mit ansehen: Ein junger Mann stürzt von einem Balkon in die Tiefe und ist sofort tot. Isabel ist die einzige Zeugin und fühlt sich deshalb verpflichtet, die Umstände dieses Unglücks aufzuklären. Je mehr sie in Erfahrung bringt, desto stärker wird ihr Verdacht, dass Mord nicht die unwahrscheinlichste aller Erklärungen für den Tod des erfolgreichen Anlageberaters ist. Ihre Nachforschungen führen Isabel in die so genannten feinen Kreise der Stadt - die ihr ebenso fremd wie unsympathisch sind. Gerade wähnt sie sich auf der Spur eines komplizierten und nicht minder bedrohlichen Komplotts, als sich ihr die verblüffende Lösung des Falles offenbart. Denn was die Welt im Innersten zusammenhält, lässt sie auch oft genug zusammenstürzen: die Liebe.Alexander McCall Smith hat seinen Kant gelesen - und dennoch seinen britischen Humor nicht verloren, wie dieser geistreiche und höchst amüsante Roman beweist.
In Edinburgh ist Mord verboten von AlexanderMcCall Smith
LESEPROBE
Isabel Dalhousie sah den jungen Mann vom zweiten Rangherabfallen, vom Olymp. Es kam so plötzlich, es ging so schnell, keine Sekundedauerte sein Flug, kopfüber, das Haar zerzaust, Hemd und Jacke bis zur Brusthochgerutscht, sodass die Taille entblößt war. Dann, das Geländer des erstenRangs streifend, verschwand er im Parkett darunter.
Seltsam, aber im ersten Moment kam ihr Audens Gedicht über den Sturz des Ikarusin den Sinn. Solche Ereignisse, sagt Auden, geschehen immer vor Publikum, vorMenschen, die gerade ganz alltägliche Dinge tun. Sie gucken nicht nach oben undsehen den Jungen vom Himmel fallen. Ich unterhielt mich gerade mit einerFreundin, dachte sie. Ich unterhielt mich gerade mit einer Freundin, und dafiel der Junge vom Himmel.
Auch wenn es nicht passiert wäre, hätte sie sich an den Abend erinnert. Sie warunschlüssig gewesen, was das Konzert betraf - eine Darbietung der ReykjavikerSymphoniker, von denen sie noch nie gehört hatte -, und wäre nicht hingegangen,wenn nicht eine Nachbarin ihr eine Eintrittskarte aufgedrängt hätte. VerfügtReykjavik wirklich über ein professionelles Symphonieorchester, hatte sie sichgefragt, oder waren die Musiker Laien? Ganz gleich - da sie es nun mal bis nachEdinburgh geschafft hatten, um ein Frühjahrskonzert zu geben, hatten sienatürlich auch ein Publikum verdient; den weiten Weg von Island bis hierherkommen und dann vor leerem Haus auftreten, das durfte man nicht zulassen.Deswegen war sie zu dem Konzert gegangen und hatte sich durch die erste Hälftegequält, eine romantische, deutsch-schottische Mischung: Mahler, Schubert undHamish McCunn.
Es war ein warmer Abend - zu warm für die Jahreszeit, Ende März -, und in derUsher Hall herrschte eine stickige Atmosphäre. Isabel hatte sich dünnangezogen, vorsorglich, und sie war nur froh darum, denn die Temperatur imersten Rang stieg unweigerlich an. Während der Pause war sie nach untengegangen und hatte die kühlere Luft draußen genossen, die Bar im Foyer mitihrer Kakophonie aus Gesprächen hatte sie gemieden. Bestimmt hätte sie dortLeute getroffen, die sie kannte; es war unmöglich, in Edinburgh auszugehen,ohne einen Bekannten zu treffen, aber an diesem Abend war sie nicht in derStimmung für Geplauder. Als es Zeit wurde, wieder hineinzugehen, hatte sieeinen Augenblick lang mit dem Gedanken gespielt, die zweite Hälfte ausfallen zulassen, doch vor jeder Handlung, die den Eindruck mangelnder Konzentrationoder, schlimmer noch, mangelnder Ernsthaftigkeit vermittelt hätte, war sieimmer zurückgeschreckt. Sie war an ihren Platz zurückgekehrt, hatte dasProgramm in die Hand genommen, das sie auf der Armlehne abgelegt hatte, undlas, was sie jetzt erwartete. Sie seufzte: Stockhausen!
Sie hatte sich ein Opernglas mitgebracht - überaus hilfreich, selbst bei dernur geringen Höhe des ersten Rangs. Mit dem Glas musterte sie die Musiker aufder Bühne unter ihr, eine Beschäftigung, der sie in Konzerten nie widerstehenkonnte. Fremde Menschen mit dem Fernglas zu beobachten, das tat mannormalerweise nicht, aber hier in der Konzerthalle war es erlaubt, und wenn dasFernglas gelegentlich ins Publikum abschweifte, wer würde das schon merken? DieStreicher waren wenig auffällig, doch einer der Klarinettisten hatte einmarkantes Gesicht: hohe Backenknochen, tief liegende Augen und ein Kinn, daseindeutig von einer Axt gespalten worden war. Ihr Blick heftete sich an ihn,und sie dachte an die Generationen abgehärteter Isländer und Dänen vor ihm, diesich abgerackert und diesen Typus hervorgebracht hatten: Männer und Frauen, diedem kargen Boden der Hochlandfarmen Erträge abrangen; Fischer, die in eisgrauerSee Jagd auf Kabeljau machten; Frauen, die ihre Kinder mit Dörrfisch undHafermehl durchbrachten; und jetzt, nach all diesen Mühen, ein Klarinettist.
Sie legte das Opernglas beiseite und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. DasOrchester war absolut kompetent, den McCunn hatte es mit Schmiss hingelegt,aber warum spielte man immer noch Stockhausen? Vielleicht galt es als Ausdruckvon Kultiviertheit. Wir kommen zwar aus Reykjavik, und das mag eine Kleinstadtam Rande der Welt sein, aber Stockhausen können wir mindestens so gut spielenwie alle anderen auch. Sie schloss die Augen. Wirklich, die Musik war einfachunmöglich, und eigentlich dürfte ein gastierendes Orchester seinem Gastland soetwas nicht zumuten. Spontan kam ihr der Gedanke, dass es so etwas wieOrchesteranstand geben sollte. Auf jeden Fall sollte man vermeiden, politischAnstoß zu erregen: Deutsche Orchester waren früher zum Beispiel zurückhaltendermit der Aufführung von Wagners Musik im Ausland, jedenfalls in einigen Ländern,wählten stattdessen deutsche Komponisten, die irgendwie reumütiger waren.Isabel, die Wagner nicht ausstehen konnte, kam das durchaus entgegen.
Der Stockhausen war das letzte Stück auf dem Programm. Als sich der Dirigentendlich zurückgezogen hatte und der Applaus abgeklungen war - nicht ganz soherzlich, dachte sie, wie man hätte erwarten können, was sicher mit demStockhausen zu tun hatte -, erhob sie sich von ihrem Sitzplatz und machte sichauf den Weg zur Damentoilette. Dort drehte sie den Wasserhahn auf, schöpfteWasser zum Mund - über so etwas Modernes wie einen Wasserspender verfügte dieUsher Hall nicht - und spritzte sich etwas ins Gesicht. Es kühlte sie ab, undsie ging wieder nach draußen auf den Wandelgang. In diesem Moment jedocherblickte Isabel ihre Freundin Jennifer, die am Fuß der Treppe zum ersten Rangstand.
Sie zögerte. Noch immer war es drinnen ungemütlich warm, andererseits hatte sieJennifer über ein Jahr nicht mehr gesehen, und sie konnte nicht einfach an ihrvorbeigehen, ohne sie zu begrüßen.
Isabel bahnte sich einen Weg durch die Menge.
»Ich warte auf David«, sagte Jennifer und wies zum ersten Rang. »Stell dir vor,er hat eine Kontaktlinse verloren. Eine der Platzanweiserinnen hat ihm eineTaschenlampe geliehen, damit er unter seinen Sitz gucken kann. Im Zug nachGlasgow hat er bereits eine verloren, und jetzt ist es ihm schon wiederpassiert.«
Sie unterhielten sich, bis auch der Letzte aus der Menge die Treppe hinterihnen heruntergekommen war. Jennifer, eine hübsche Frau, Anfang vierzig - wieIsabel -, trug ein rotes Kostüm, an das sie eine große Goldbrosche in der Formeines Fuchskopfes gesteckt hatte. Unwillkürlich musste sie auf diesen Fuchsgucken, der weinrote Augen hatte und der sie anscheinend musterte. BruderFuchs, dachte sie. Genau wie Bruder Fuchs.
Nach einigen Minuten schaute Jennifer besorgt die Treppe hinauf.
»Wir sehen mal lieber nach, ob er Hilfe braucht«, sagte sie gereizt. »Es wäreschrecklich lästig, wenn er schon wieder eine Linse verloren hätte.«
Sie stiegen einige Stufen der kurzen Treppe hoch und sahen hinab auf dieStelle, wo Davids Rücken zu erkennen war, gekrümmt, hinter einem Sitz. Zwischenden Sitzreihen leuchtete der Strahl der Taschenlampe auf. In diesem Moment, alssie dort stand, fiel der junge Mann vom oberen Balkon herab, still, wortlos,mit wedelnden Armen, als versuchte er zu fliegen oder den Boden abzuwehren, undverschwand dann aus ihrem Blickfeld. Ein paar Sekunden lang starrten sieeinander ungläubig an. Dann ertönte von unten ein Schrei, die Stimme einerFrau, schrill, dann rief ein Mann etwas, und irgendwo schlug laut eine Tür zu.
Isabel streckte eine Hand nach Jennifer aus und packte sie am Arm. »Mein Gott!«sagte sie. »Mein Gott!«
Jennifers Mann richtete sich zwischen den Sitzreihen aus der Hocke auf. »Waswar das?« rief er den beiden zu. »Was ist passiert?«
»Jemand ist gefallen«, sagte Jennifer. Sie zeigte auf den zweiten Rang, dieStelle, wo der oberste Balkon auf die Außenwand stieß. »Von da oben. Er istgefallen.«
Wieder sahen sich die beiden Frauen an. Isabel ging vor bis zum Rand des erstenRangs. Auf der Brüstung verlief ein Handlauf aus Messing, an dem sie sichfesthielt, als sie jetzt über den Rand spähte.
Unter ihr, zusammengesackt über eine Sitzkante, die Beine verdreht auf denArmlehnen der Nachbarsitze, ein Fuß ohne Schuh, aber bestrumpft, wie ihrauffiel, lag der junge Mann. Seinen Kopf, unterhalb des Sitzpolsters, konntesie nicht sehen, aber sie sah einen Arm aufragen, wie nach etwas ausgestreckt,doch regungslos. Neben ihm standen zwei Herren in Abendgarderobe, einer derbeiden hatte die Hand ausgestreckt und berührte den jungen Mann, während derandere hinter sich zur Tür blickte.
»Schnell«, schrie einer der beiden Männer. »Beeilen Sie sich.«
Eine Frau rief etwas, und ein dritter Mann lief den Mittelgang hoch, bis zu derStelle, an der der junge Mann lag. Er bückte sich zu dem jungen Mann hinunterund fing an, ihn aus dem Sitz zu heben. Jetzt kam auch der Kopf zum Vorschein,der schlaff herunterbaumelte, als wäre er vom Körper getrennt. Isabel riss sichlos und sah Jennifer an.
»Wir müssen runtergehen«, sagte sie. »Wir haben gesehen, was passiert ist.Besser, wir gehen und sagen jemandem, was wir gesehen haben.«
Jennifer nickte. »Viel haben wir nicht gesehen«, sagte sie. »Es war alles soschnell vorbei. Oh je.«
Ihre Freundin zitterte, und Jennifer legte einen Arm um ihre Schultern. »Daswar grässlich!« sagte sie. »Was für ein Schock.«
Jennifer schloss die Augen. »Er ist so schnell gefallen. Glaubst du, dass ernoch am Leben ist? Hast du was erkennen können?«
»Er sah ziemlich schwer verletzt aus«, sagte Isabel, und dachte, dass es wohlnoch schlimmer war.
Sie gingen die Treppe hinunter. An der Tür zum Parkett hatte sich eine kleineMenschenmenge versammelt, und Gesprächsfetzen schwirrten durch den Raum. AlsIsabel und Jennifer näher kamen, drehte sich eine Frau zu ihnen um und sagte:»Jemand ist vom Olymp gestürzt. Er ist da drin.«
Isabel nickte. »Wir haben gesehen, wie es passiert ist«, sagte sie. »Wir warenoben.«
»Sie haben es mit eigenen Augen gesehen?« sagte die Frau. »Sie haben eswirklich gesehen?«
»Wir haben ihn durch die Luft fliegen sehen«, sagte Jennifer. »Wir waren imersten Rang. Er ist an uns vorbeigeflogen.«
»Wir furchtbar«, sagte die Frau. »So etwas mit ansehen zu müssen.«
»Ja.«
Die Frau blickte Isabel mit jener plötzlichen menschlichen Anteilnahme an, diedas gemeinsame Erleben eines Unglücks gestattet.
»Ich glaube, wir stehen hier nicht gerade günstig«, murmelte Isabel teilsJennifer, teils der anderen Frau zu. »Wir sind im Weg.«
Die andere Frau wich zurück. »Man möchte irgendwie helfen«, sagte sie matt.
»Ich hoffe, dass ihm nichts passiert ist«, sagte Jennifer. »Bei dem tiefenSturz. Er ist gegen die Brüstung des Rangs gestoßen. Das kann den Sturz etwasgemildert haben.«
Nein, dachte Isabel, im Gegenteil, das hat es vielleicht nur noch schlimmergemacht. Es würde zwei Arten von Verletzungen geben, die einen, die von demSchlag gegen die Brüstung herrührten, die anderen, die er sich am Bodenzugezogen hatte. Sie sah, wie am Haupteingang plötzlich Hektik ausbrach, unddann, an der Wand, den Widerschein des rotierenden Blaulichts von einemKrankenwagen.
»Wir müssen sie durchlassen«, sagte Jennifer und entfernte sich von derMenschentraube an der Tür zum Parkett. »Die Sanitäter müssen reinkönnen.«
Sie traten zur Seite, und zwei Männer in weiter grüner Arbeitskleidung ranntenmit einer zusammengeklappten Krankentrage herein. Es dauerte nicht lange, bissie wiederkamen - kaum eine Minute, wie es schien -, und dann gingen sievorbei, auf der Trage der junge Mann mit über der Brust gekreuzten Armen.Isabel drehte sich zur Seite, bemüht, sich nicht einzumischen, doch bevor sieihren Blick abkehrte, sah sie sein Gesicht. Sie sah die Mähne aus zerzaustemdunklem Haar, und sie sah die feinen unbeschädigten Gesichtszüge. So eineSchönheit, dachte sie, und dann so ein Ende. Sie machte die Augen zu. Siefühlte sich wund innen, ganz leer. Dieser arme junge Mann, dachte sie, geliebtirgendwo von irgendwem, dessen Welt heute Abend zusammenbrechen würde, wenn manihm die grausame Nachricht überbrachte. All diese Liebe, die in eine Zukunftinvestiert worden war, die es jetzt nicht mehr gab; alles mit einem Schlagbeendet, mit einem Sturz aus dem Olymp.
Sie wandte sich Jennifer zu. »Ich gehe nur mal rasch nach oben«, sagte sie,senkte dabei die Stimme. »Sag ihnen, dass wir es gesehen haben. Sag ihnen, dassich gleich wieder da bin.«
Jennifer nickte, schaute sich um, wer hier zuständig war. Es herrschteVerwirrung. Eine Frau schluchzte, wahrscheinlich eine von den Frauen, die imParkett gestanden hatten, als er herabstürzte. Sie wurde von einem großen Mannin einer Smokingjacke getröstet.
Isabel löste sich aus der Gruppe und ging auf eine der Treppen zu, die hinaufzum Olymp führten. Sie hatte ein ungutes Gefühl, sah hinter sich, aber da warniemand. Sie erklomm die letzten Stufen, schlüpfte durch einen der Torbögen,dahinter lagen die steil angeordneten Sitzreihen. Es war still, und das Lichtin den verzierten Kugellampen, die von der Decke hingen, war gedämpft. Sie sahhinab, über die Kante hinweg, über die der junge Mann gestürzt war. Sie undJennifer hatten sich fast genau unterhalb der Stelle befunden, von der ergefallen war, woraus sie abschätzen konnte, wo er gestanden haben musste, bevorer den Halt verlor.
Sie ging vor bis zur Brüstung und zwängte sich durch die erste Sitzreihe. Hierwar der Handlauf aus Messing, über den er sich gebeugt haben musste, und da,auf dem Boden, lag ein Programmheft. Sie bückte sich und hob es auf. DerUmschlag hatte einen kleinen Riss, aber das war auch alles. Sie legte es wiederzurück. Dann beugte sie sich vor und sah über die Kante. Hier musste ergesessen haben, am Ende der Sitzreihe, da, wo der oberste Rang auf dieAußenwand traf. Hätte er weiter zur Reihenmitte hin gesessen, wäre er im erstenRang aufgeschlagen; ein senkrechter Sturz ins Parkett war nur vom Ende derSitzreihe möglich.
Ihr wurde schwindlig, und für einen Moment machte sie die Augen zu. Sie machtesie wieder auf und sah hinunter ins Parkett, gut fünfzehn Meter unter ihr. Vondort, unweit der Stelle, wo der junge Mann aufgetroffen war, schaute ein Mannin einer blauen Windjacke zu ihr hoch und sah ihr in die Augen. Beide warenüberrascht, und Isabel wich zurück, als würde sein Blick sie abdrängen.
Isabel wandte sich von der Brüstung ab und ging vor bis zum Mittelgang zwischenden Sitzreihen. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie eigentlich gesucht hatte,wenn überhaupt, und es war ihr peinlich, dass der Mann unten sie entdeckthatte. Was musste er bloß von ihr denken? Eine ordinäre Gafferin, die sich einBild davon machen wollte, was der arme Junge in den letzten Sekunden seinesLebens auf dieser Erde vor Augen gehabt haben musste, was sonst. Aber das hattesie gar nicht vorgehabt, ganz und gar nicht.
Sie kam an die Treppe und stieg hinab, hielt sich am Geländer fest. Die Stufender Wendeltreppe waren aus Stein, und man konnte leicht ausrutschen. Wie es ihmhöchstwahrscheinlich passiert war, dachte sie. Er muss über die Brüstunggeschaut haben, vielleicht weil er gedacht hatte, er könnte dort unten jemandenerkennen, einen Freund vielleicht, und dabei hatte er den Halt verloren und wargestürzt. Das konnte leicht passieren, denn die Brüstung war ziemlich niedrig.
Auf halbem Weg hielt sie inne. Sie war allein, aber sie hatte etwas gehört.Oder bildete sie sich das nur ein? Sie strengte ihr Gehör an, um jedes Geräuschwahrzunehmen, aber da war nichts. Sie atmete tief durch. Er musste der Letztehier oben gewesen sein, alle anderen waren bereits gegangen, und das Mädchen ander Bar im Wandelgang machte zu. Der junge Mann musste allein gewesen sein, erhatte hinuntergeschaut, dann war er gefallen, lautlos, und hatte im Fall Isabelund Jennifer gesehen, die folglich der letzte menschliche Kontakt für ihngewesen waren.
Sie gelangte an den Fuß der Treppe. Unten, nur wenige Meter vor ihr, stand derMann in der blauen Windjacke, und als sie heraustrat, sah er sie streng an.
Isabel ging auf ihn zu. »Ich habe gesehen, wie es passiert ist«, sagte sie.»Ich war im ersten Rang. Meine Freundin und ich haben ihn fallen sehen.«
»Wir werden uns an Sie wenden«, sagte der Mann. »Wir brauchen Ihre Aussage.«
Isabel nickte. »Ich habe nicht viel gesehen«, sagte sie. »Es ging alles soschnell.«
Der Mann blickte misstrauisch. »Warum sind Sie jetzt gerade hochgegangen?«wollte er wissen.
Isabel sah zu Boden. »Ich wollte herausfinden, wie es passiert ist«, sagte sie.»Und jetzt weiß ich es.«
»Ach so?«
»Er muss über den Rand geschaut haben«, sagte sie. »Dabei hat er dasGleichgewicht verloren. Das kann leicht passieren.«
Der Mann schob die Lippen vor. »Wir werden das überprüfen. Spekulationen könnenwir nicht gebrauchen.«
Es war ein Vorwurf, aber kein schlimmer, denn er sah, wie aufgewühlt sie war.Jetzt zitterte sie sogar. Mit diesem Phänomen war er vertraut. EtwasSchreckliches passiert, und die Menschen fangen an zu zittern. Es ist dieMahnung, die sie erschreckt, die Mahnung, wie nahe wir am Abgrund stehen imLeben, immerzu, jeden Augenblick.
© Blessing
Übersetzung: Thomas Stegers
- Autor: Alexander McCall Smith
- 2004, 2, 284 Seiten, Maße: 13 x 20,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Stegers, Thomas
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672630
- ISBN-13: 9783896672636
(Die Zeit)
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