In Europa
Geert Mak, der große Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, legt mit diesem Buch sein bisheriges Hauptwerk vor. Seine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist als ein Reisebericht angelegt...
Geert Mak, der große Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, legt mit diesem Buch sein bisheriges Hauptwerk vor. Seine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist als ein Reisebericht angelegt und versteht sich als eine Bestandsaufnahme Europas am Ende eines katastrophenreichen Jahrhunderts. Mak sucht die Orte auf, an denen die Geschichte in besonderer Weise Spuren hinterlassen hat. Ein kluges und bewegendes Buch, das uns zu Augenzeugen des letzten Jahrhunderts macht.
Für dieses Buch ist Geert Mak ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa gereist. In jedem Monat seiner Reise nimmt sich Mak einen weiteren Abschnitt des 20. Jahrhunderts vor. Im Januar besucht er Paris, wo das 20. Jahrhundert mit der großen Weltausstellung seinen optimistischen Anfang nahm. Im Dezember befinden wir uns in den Ruinen Sarajewos, die das Ende des blutigen Jahrhunderts markieren.
Mak liest die Spuren, die das 20. Jahrhundert auf unserem Kontinent hinterlassen hat, er begibt sich auf die Suche nach der Befindlichkeit Europas, wie sie an historischen Erinnerungsorten und in den Geschichten von Menschen zum Vorschein kommt. Dabei wird erkennbar, in welcher Weise die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, wie sie uns Europäer verbindet, vielfach aber auch trennt.
Mak versteht es wie kein anderer, der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ein Gesicht zu geben, sie in zahllosen Details sichtbar, fühlbar, sinnlich wahrnehmbar zu machen. Auf seiner Reise sprach Mak mit Schriftstellern und Politikern, mit Dissidenten und hochrangigen Offizieren, mit einem Bauern aus den Pyrenäen und mit dem Enkel des letzten deutschen Kaisers sowie mit zahlreichen anderen Europäern, die ihm ihre Erfahrungen und Erinnerungen anvertraut haben.
Geert Mak, der große Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, legt mit diesem Buch sein bisheriges Hauptwerk vor. Seine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist als ein Reisebericht angelegt und versteht sich als eine Bestandsaufnahme Europas am Ende eines katastrophenreichen Jahrhunderts. Mak sucht die Orte auf, an denen die Geschichte in besonderer Weise Spuren hinterlassen hat. Ein kluges und bewegendes Buch, das uns zu Augenzeugen des letzten Jahrhunderts macht.
Für dieses Buch ist Geert Mak ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa gereist. In jedem Monat seiner Reise nimmt sich Mak einen weiteren Abschnitt des 20. Jahrhunderts vor. Im Januar besucht er Paris, wo das 20. Jahrhundert mit der großen Weltausstellung seinen optimistischen Anfang nahm. Im Dezember befinden wir uns in den Ruinen Sarajewos, die das Ende des blutigen Jahrhunderts markieren.
Mak liest die Spuren, die das 20. Jahrhundert auf unserem Kontinent hinterlassen hat, er begibt sich auf die Suche nach der Befindlichkeit Europas, wie sie an historischen Erinnerungsorten und in den Geschichten von Menschen zum Vorschein kommt. Dabei wird erkennbar, in welcher Weise die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, wie sie uns Europäer verbindet, vielfach aber auch trennt.
Mak versteht es wie kein anderer, der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ein Gesicht zu geben, sie in zahllosen Details sichtbar, fühlbar, sinnlich wahrnehmbar zu machen. Auf seiner Reise sprach Mak mit Schriftstellern und Politikern, mit Dissidenten und hochrangigen Offizieren, mit einem Bauern aus den Pyrenäen und mit dem Enkel des letzten deutschen Kaisers sowie mit zahlreichen anderen Europäern, die ihm ihre Erfahrungen und Erinnerungen anvertraut haben.
Geert Mak, der große Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, legt mit diesem Buch sein bisheriges Hauptwerk vor. Seine Geschichte des 20. Jahrhunderts ist als ein Reisebericht angelegt und versteht sich als eine Bestandsaufnahme Europas am Ende eines katastrophenreichen Jahrhunderts. Mak sucht die Orte auf, an denen die Geschichte in besonderer Weise Spuren hinterlassen hat. Ein kluges und bewegendes Buch, das uns zu Augenzeugen des letzten Jahrhunderts macht.
Für dieses Buch ist Geert Mak ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa gereist. In jedem Monat seiner Reise nimmt sich Mak einen weiteren Abschnitt des 20. Jahrhunderts vor. Im Januar besucht er Paris, wo das 20. Jahrhundert mit der großen Weltausstellung seinen optimistischen Anfang nahm. Im Dezember befinden wir uns in den Ruinen Sarajewos, die das Ende des blutigen Jahrhunderts markieren.
Mak liest die Spuren, die das 20. Jahrhundert auf unserem Kontinent hinterlassen hat, er begibt sich auf die Suche nach der Befindlichkeit Europas, wie sie an historischen Erinnerungsorten und in den Geschichten von Menschen zum Vorschein kommt. Dabei wird erkennbar, in welcher Weise die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt, wie sie uns Europäer verbindet, vielfach aber auch trennt.
Mak versteht es wie kein anderer, der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert ein Gesicht zu geben, sie in zahllosen Details sichtbar, fühlbar, sinnlich wahrnehmbar zu machen. Auf seiner Reise sprach Mak mit Schriftstellern und Politikern, mit Dissidenten und hochrangigen Offizieren, mit einem Bauern aus den Pyrenäen und mit dem Enkel des letzten deutschen Kaisers sowie mit zahlreichen anderen Europäern, die ihm ihre Erfahrungen und Erinnerungen anvertraut haben.
"Mak macht Europa begreifbar. Und wie immer bei Mak: ein Lesevergnügen."
Elsevier
"Lesenswert vom Vorwort bis zur letzten Fußnote"
Trouw
"Ein beeindruckendes Werk, hervorragend erzählt, voller persönlicher Geschichten."
Vrij Nederland
In Europa von Geert Mak
LESEPROBE
Prolog
Niemand imDorf hatte jemals das Meer gesehen - außer dem Bürgermeister und
JószefPuszka, der im Krieg gewesen war. Die Häuser lagen um einen schmalen
Bachherum, eine Hand voll weiße Bauernhöfe, grüne Gärten, bunte Apfelbäume,
zweikleine Kirchen, alte Weiden und Eichen, Holzzäune, Hühner, Hunde, Kinder,
Ungarn,Schwaben, Zigeuner.
DieStörche waren bereits fortgezogen. Ihre Nester ruhten still und verlassen
auf denSchornsteinen. Der Sommer glühte langsam aus, der Bürgermeister
mähteschwitzend die Gemeindewiese. Kein Maschinengeräusch war zu hören,
nurStimmen, ein Hund, ein Hahn, Gänse, die die Straße überquerten, ein hölzerner
Pferdewagen,der knarrend vorüberfuhr, die Sense des Bürgermeisters. Am
spätenNachmittag wurden die Öfen angezündet; ein dünner blauer Rauchschleier
zog überdie Dächer. Hin und wieder quiekte ein Schwein.
Es warendie letzten Monate des Jahrtausends, und ich reiste im Auftrag meiner
Zeitung,des NRC/Handelsblad, ein Jahr lang kreuz und quer durch Europa und
schriebTag für Tag einen kurzen Artikel, der unten rechts auf der Titelseiteveröffentlicht
wurde. Eswar eine Art abschließende Inspektion: Wie sieht der Kontinent
am Endedes 20. Jahrhunderts aus? Zugleich war es auch eine Reise durch die
Zeit: Ichfolgte, soweit das möglich war, dem Lauf der Geschichte, auf der Suche
nach denSpuren, die sie hinterlassen hatte. Und tatsächlich fand ich ihre stummen
Zeugen, zuDutzenden: eine zugewachsene Mulde an der Somme, einen von
Maschinenpistolenkugelnzerfetzten Türpfosten in der Oranienburger Straße in
Berlin,einen schneebedeckten Wald bei Vilnius, ein Zeitungsarchiv in München,
einenHügel hinter Barcelona, eine kleine, weiß-rote Sandale in Auschwitz. Doch
dieseReise hatte auch etwas mit mir zu tun. Ich wollte raus, Grenzen überschreiten,
erfahren,was dieser nebulöse Begriff »Europa« bedeutet. Europa, das wurde
mir imLaufe dieses Jahres klar, ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der
Zeit hinund her reisen kann. Die verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts sind
alle nochirgendwo existent. Auf den Fähren in Istanbul herrscht das Jahr 1948, in
Lissabon1956. Am Gare de Lyon in Paris fühlt man sich wie im Jahr 2020; in Budapest
habenjunge Männer die Gesichter unserer Väter.
In demsüdungarischen Dorf Vásárosbéc ist die Zeit bei 1925 stehengeblieben.
Dort lebenungefähr zweihundert Menschen, und mindestens ein Viertel
von ihnensind Zigeuner. Die Familien bekommen Sozialhilfe - etwa sechzig Euro
pro Monat-, und die Frauen gehen mit Körben und irgendwelchen Waren von
Tür zuTür. Ihre Häuser zerfallen nach und nach, die Türen sind nurmehr
Tücher,manchmal fehlt gar der Türrahmen, weil er wohl in einem kalten Winter
verheiztworden ist. Noch ärmer sind die rumänischen Zigeuner, die manchmal
mithölzernen Wohnwagen ins Dorf kommen. Und ärmer als arm sind die umherziehenden
albanischenZigeuner. Sie sind außerdem die Parias aller anderen
Armen, diegrößten Schlemihle Europas.
Ich wohntebei Freunden. Sie hatten nach dem Tod des alten József Puszka, der
früher derDorffrisör gewesen war, dessen Haus bezogen. Auf dem Dachboden
fanden sieein winziges Notizbuch, das mit Bleistiftgekritzel aus dem Frühjahr
1945gefüllt war, in dem Ortsnamen wie Aalborg, Lübeck, Stuttgart und Berlin
vorkamen.Jemand entzifferte ein paar Zeilen:
ImGefangenenlager Hagenau. O mein Gott, ich habe niemanden auf dieser Welt.Vielleicht
gibt es,wenn ich wiederkomme, nicht einmal mehr ein Mädchen für mich im Dorf.
Ich binwie ein kleiner Vogel, der in der Ferne ruft. Niemand schaut nach der liebenMutter
und demkleinen Vögelein. O mein Gott, hilf mir bitte, nach Hause zu kommen, zu
Vater undMutter. So weit entfernt von meinem Land, so weit entfernt von jedem Weg.
Mitten imDorf, neben einem schlammigen Weg, stieß ich auf einen verwitterten Betonklotz,
der miteiner Art Ritterfigur und zwei Jahreszahlen versehen war: 1914 und
1918.Darunter sechsunddreißig Namen, sechsunddreißig junge Männer, so viele wie in
dieDorfkneipe passen.
1999 wardas Jahr des Euro gewesen, Mobiltelefone hatten allgemeine Verbreitunggefunden,
dasInternet war zum Allgemeingut geworden, in Novi Sad hatten die Alliierten
Brückenbombardiert, die Effektenbörsen in Amsterdam und London feierten; der September
war derwärmste seit Menschengedenken gewesen, und man fürchtete sich vor dem
Millennium-Bug,der am 31. Dezember alle Computer ins Chaos stürzen würde.
InVásárosbéc war 1999 das Jahr, in dem der Müllmann seine Runde zum letzten
Mal mitPferd und Wagen machte. Zufällig war ich Zeuge dieses historischen
Augenblicks.Er hatte sich einen Lastwagen gekauft. Im selben Jahr hatten vier
arbeitsloseZigeuner damit begonnen, ein weiteres Stück Sandweg zu planieren;
vielleichtwürde es ja asphaltiert werden. Und der Glöckner wurde entlassen: Er
hatte diePension der Mutter des Bürgermeisters unterschlagen. Auch das geschah
1999.
In derDorfkneipe traf ich sie alle: den Bürgermeister, die wilde Maria, den Zahnlosen
(den manauch »den Spion« nannte), den betrunkenen Nichtsnutz, die Zigeuner,
die Fraudes Postboten, die bei ihrer Kuh wohnte. Ich machte Bekanntschaft
mit demVeteranen, einem großen, freundlichen Mann im Tarnanzug, der
seineAlpträume mit Alkohol und berauschenden Pilzen vertrieb. Er spreche
Französisch,behaupteten alle, doch das einzige Wort, das ich ihn sagen hörte, war
»Marseille«.
Später amAbend sangen der neue Glöckner und der Müllmann alte Lieder,
und dieanderen schlugen dazu auf den Tischen den Takt:
Wirarbeiteten im Wald, früh
im erstenMorgenlicht,
als derTag noch voller Nebel und Tau war,
arbeitetenwir bereits zwischen den Stämmen,
hoch obenam Hang, mühsam mit Pferden den Hang hinauf . . .
und:
Wirarbeiteten an der Strecke von Budapest nach Pécs,
an dergroßen, neuen Eisenbahnstrecke,
am großenTunnel bei Pécs . . .
In diesemJahr des Herumreisens durch Europa hatte ich den Eindruck, alte Farbschichten
abzuschaben.Stärker als je zuvor wurde mir bewusst, dass Generation
umGeneration eine Kruste der Distanz und der Entfremdung zwischen Ost- und
Westeuropäerngewachsen war.
Haben wirEuropäer eine gemeinsame Geschichte? Zweifellos, und jeder Student
kann dieStichworte und Daten aufsagen: Römisches Reich, Renaissance, Reformation,
Aufklärung,1914, 1945, 1989. Doch die individuellen historischen Erfahrungen
derEuropäer sind sehr verschieden: In Danzig traf ich einen älteren
Taxifahrer,der in seinem Leben viermal eine neue Sprache hatte lernen müssen;
ichschloss Bekanntschaft mit einem deutschen Ehepaar, das ausgebombt und
anschließendlange Zeit durch Osteuropa gehetzt war; ich besuchte eine baski-
scheFamilie, die Heiligabend in einen heftigen Streit über den SpanischenBürgerkrieg
geratenwar und danach nie wieder ein Wort darüber verlor; gleichzeitig
stieß ichbei den Niederländern, Dänen und Schweden auf eine friedliche Sattheit:
an ihnenwaren die Stürme meistens vorübergegangen. Man setze Russen,
Deutsche,Briten, Tschechen und Spanier an einen Tisch und lasse sie die Geschichte
ihrerFamilien erzählen. Lauter verschiedene Welten. Und doch sind sie
alleEuropa.
DieGeschichte des 20. Jahrhunderts war schließlich kein Theaterstück, dessen
Vorstellungsie besuchten, es war ein größerer oder kleinerer Teil ihres - und
unseres -eigenen Lebens. »Wir sind ein Teil dieses Jahrhunderts. Und dieses ist
ein Teilvon uns«, schrieb Eric Hobsbawm zu Beginn seiner großen Geschichte
des 20.Jahrhunderts. Für ihn selbst zum Beispiel war der 30. Januar 1933 nicht
nur - under betont, dass wir dies nie vergessen dürfen - der Tag, an dem Hitler
zumReichskanzler ernannt wurde, sondern auch ein Winternachmittag in Berlin,
an dem einfünfzehnjähriger Junge mit seiner Schwester von der Schule nach
Hause gingund irgendwo unterwegs die Schlagzeile einer Zeitung sah: »Ich kann
sie nochimmer, wie im Traum, vor mir sehen.«
Für meinehochbetagte Tante Maart in Schiedam, die damals sieben Jahre
zählte,war zum Beispiel der 3. August 1914, der Tag, an dem der Erste Weltkrieg
ausbrach,ein warmer Montagnachmittag, auf den sich plötzlich ein starkes Gefühl
derBeklemmung legte. Arbeiter standen in Gruppen vor den Häusern und
diskutierten,Frauen wischten sich die Augen mit einem Zipfel ihrer Schürze, ein
Mann riefeinem Freund zu: »Mensch, Krieg!«
FürWinrich Behr, der später in diesem Buch zu Wort kommen wird, war der
Fall vonStalingrad das Telegramm, das er als deutscher Verbindungsoffizier erhielt:
»31. 1.07.45 Uhr Russe vor der Tür. Wir bereiten Zerstörung vor. AOK 6, Ia.
31. 1.07.45 Uhr. Wir zerstören. AOK 6.«
Für IraKlejner aus Sankt Petersburg bedeutete der 6. März 1953, der Tag, an
demStalins Tod bekannt gegeben wurde, eine Küche in einer kommunalen Wohnung,
einzwölfjähriges Mädchen, die Angst, nicht weinen zu können, und die
Erleichterungdarüber, dass doch noch eine Träne von der Wange fiel, genau in
den Dotterdes Spiegeleis auf ihrem Teller.
Für mich,den neunjährigen Jungen, der ich damals war, roch der November
1956 nachPaprikaaufläufen, jenen merkwürdigen Gerüchen, die die ungarischen
Flüchtlingein unser gediegenes Leeuwarder Grachtenhaus mitbrachten - stille,
schüchterneMenschen, die mit Donald Duck-Heften Niederländisch lernten.
Nun istauch das 20. Jahrhundert Geschichte geworden, unsere persönliche
Geschichteund die der Filme, Bücher und Museen. Während ich dies schreibe,
werden dieKulissen des Welttheaters rasend schnell umgebaut. Machtzentren
verschiebensich, Bündnisse zerbrechen, neue Koalitionen entstehen, andere Prioritäten
rücken inden Mittelpunkt.
Vásárosbécbereitet sich auf den Beitritt zur Europäischen Union vor. Innerhalb
von dreiJahren sind weitere sechs Niederländer hierher gezogen, die zusammen
mindestensein Dutzend Häuser gekauft haben. Die meisten wurden von
denniedrigen Preisen in Osteuropa angezogen, einige hat es aufgrund von Problemen
an diesenOrt verschlagen. Menschen mit einer solchen Vergangenheit
trifft manüberall an den Rändern des Kontinents: Steuerschulden, eine katastrophale
Scheidung,ein Familienproblem, Ärger mit der Justiz.
Im Garteneines der Niederländer steht ein großer deutscher Adler aus Gips.
Auf eineder Seitenmauern hat der Besitzer ein Porträt von sich malen lassen: hoch
zu Ross,mit einem Cowboyhut winkend, bereit, den Wilden Osten zu unterwerfen.
Einanderer hat sein Haus für 200 000 Euro zu einem kleinen Landgut umbauen
lassen,auf dem er alljährlich drei oder vier Wochen Urlaub macht. In der
übrigenZeit steht das Haus leer. Doch ein kleiner Fehler ist ihm unterlaufen: Sein
direkterNachbar ist der Räuberhauptmann des Dorfes, der mit acht Kindern in
einem Hauswohnt, das eher an einen Schweinestall erinnert. Vorsichtig beginnen
dieKleinen nun, an den verschlossenen Läden dieses Eldorados zu rütteln.
»Wir habenein Schwimmbad!« verkünden sie in der Dorfkneipe.
In derKneipe hatte man meinen Freund gefragt, was das eigentlich bedeute,
diesesneue Europa. Nachdem einem kreischenden Zigeuner und seinem Akkordeon
Schweigenauferlegt worden war, hatte er ihnen erklärt, dass dieser Teil
Europasdurch den Lauf der Geschichte immer stärker verarmt sei; man schaue
zumreichen und mächtigen Westen auf und wolle nun selbstverständlich auch
dazugehören.
Dochzuerst, sagte mein weiser Freund, müsse man hier durch ein tiefes Tal
mit nochgrößerer Armut gehen, um in den zehn Jahren danach vielleicht zum
Wohlstanddes Westens aufzuschließen. »Und außerdem werdet ihr sehr wertvolle
Dingeverlieren: Freundschaft, die Fähigkeit, von wenig Geld zu leben, die
Fertigkeit,kaputte Sachen selbst zu reparieren, die Möglichkeit, Schweine zu halten
und sie zuHause zu schlachten, die Freiheit, soviel Reisig zu verbrennen, wie
ihr nurwollt, und noch einiges mehr.«
»Was?«hatten die Leute gesagt. »Nicht mehr selber schlachten? Kein Reisig
mehrverbrennen?« Sie sahen einander ungläubig an - sie wussten damals noch
nicht,dass sie bald in der Kneipe auch nicht mehr würden rauchen dürfen. »Der
Glöcknerwar inzwischen rausgegangen«, hatte mein Freund uns geschrieben,
»undläutete nun die Glocke, denn die Sonne war untergegangen. Trotz allem:
Das Lebengeht einfach weiter.«
DieWeltordnung des 20. Jahrhunderts - soweit man dabei von »Ordnung« sprechen
kann -scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören. Und doch: Berlin
kann manunmöglich verstehen, wenn man Versailles nicht kennt; London versteht
man nichtohne München, Vichy nicht ohne Verdun, Moskau nicht ohne
Stalingrad,Bonn nicht ohne Dresden, Vásárosbéc nicht ohne Jalta, Amsterdam
nicht ohneAuschwitz.
Maria, derGlöckner, Winrich Behr, Ira Klejner, der Bürgermeister, der Zahnlose,
meine alteTante Maart, mein weiser Freund - wir alle tragen, ob wir wollen
odernicht, das erschütternde 20. Jahrhundert in uns. Seine Geschichten werden
flüsterndweitergegeben, über Generationen hinweg, die zahllosen Erfahrungen
und Träumejener zeit, die Augenblicke des Mutes und des Verrats, die Erinnerungen
vollerAngst und Schmerz, die Bilder des Glücks.
© 2005 bySiedler Verlag, München
Übersetzung:Gregor Seferens und Andreas Ecke
- Autor: Geert Mak
- 2005, 943 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15,4 x 23,3 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Siedler
- ISBN-10: 3886808262
- ISBN-13: 9783886808267
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