Je oller, je doller
So vergreisen Sie richtig
Der beliebte Theater-, Comedy- und Fernsehstar Bill Mockridge weiß, wovon er redet. Schließlich wird er selber ständig älter und beschäftigt sich seit Jahren in seinen Bühnenprogrammen damit. In "Je oller, je doller" beantwortet er nun die elementarsten...
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Produktinformationen zu „Je oller, je doller “
Klappentext zu „Je oller, je doller “
Der beliebte Theater-, Comedy- und Fernsehstar Bill Mockridge weiß, wovon er redet. Schließlich wird er selber ständig älter und beschäftigt sich seit Jahren in seinen Bühnenprogrammen damit. In "Je oller, je doller" beantwortet er nun die elementarsten Fragen, die ihn und seine Altersgenossen der Generation 50+ beschäftigen. Bill Mockridge zeigt, wie ein "Altern in Würde" gelingt nicht mit einem mickrigen Seniorenteller, sondern mit einer extra großen Portion Humor (den Rest kann man sich schließlich einpacken lassen).
"Wir machen beide geniales Kabarett, nur er ist eine Pflegestufe weiter."
Harald Schmidt über Bill Mockridge
Lese-Probe zu „Je oller, je doller “
Je oller, je doller von Bill MockridgeVorwort
Oder: Wie ist das passiert?
... mehr
Er lauert in dir seit deiner Geburt. Doch er ist ein Meister im Warten. Heimlich und still begleitet er deine ersten Schritte, hält sich versteckt während deiner Schulzeit. Mit Mitte zwanzig, auf deinem geistigen und körperlichen Höhepunkt, hat er es geschafft, dass du ihn für ein erfundenes Fabelwesen wie Bigfoot oder Nessie hältst. Doch du irrst. Tief in dir drinnen wartet er darauf zuzuschlagen - Tag für Tag, Jahr für Jahr, geduldig wie ein Zen-Meister. Er weiß: Seine Stunde wird kommen. Mit ungefähr vierzig beginnt er, seinen zukünftigen Herrschaftssitz in dir einzurichten. Viel kriegst du davon zunächst nicht mit: ein seltsames Knacken beim Aufstehen, ein kurzer, stechender Schmerz im Rücken, ein ab und zu verschwommener Blick. Du wunderst dich, hakst es aber schnell wieder ab, und es geht weiter wie bisher. Die bereits begonnene Verwandlung lässt sich davon jedoch nicht aufhalten. Ich rede selbstverständlich von der einschneidendsten Veränderung im Leben eines jeden Menschen seit der Pubertät, dem Moment, in dem du eines Morgens vor dem Badezimmerspiegel erschrocken feststellst: »Hilfe, ich werde ein alter Greis!«*
Erschreckend, aber wahr: Während Sie den vorangegangenen Absatz gelesen haben, sind Sie erneut um etwa dreißig Sekunden gealtert. Falls Sie vorher wieder einmal Ihre verlegte Lesebrille suchen mussten, sogar deutlich mehr. Sie sehen: Es gibt kein Entrinnen vor der unweigerlichen Kontrollübernahme des in uns allen schlummernden alten Greises. Oder natürlich - zu früh gefreut, liebe Damen! - der alten Greisin. Darum dieses Buch. »Je oller, je doller!« ist eine geriatrische, tiefenpsychologische, soziologische, philosophische und medizinische Untersuchung über die geistigen und körperlichen Verfallprozesse des Menschen in Mitteleuropa unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen und ökologischen Einflüsse des beginnenden Jahrhunderts. Einfacher ausgedrückt: Dieses Buch beschäftigt sich mit der Beantwortung der zwei elementaren Fragen. Erstens: Werde ich ein alter Greis? Beziehungsweise eine alte Greisin? Und zweitens, wenn ja: Kann ich was dagegen tun?
Um es gleich vorwegzunehmen, erstens: ja. Und zweitens: nein.
Aber halt! Das ist nur der Anfang. Denn jetzt drängt sich die Frage auf: »Kann man richtig oder falsch vergreisen?« Meine Antwort lautet: Ja, selbstverständlich. Das ist die höchste Kunst im Leben, gut zu altern! Dieses Buch wird Ihnen, wie ein guter Freund, auf der langen Reise ins Seniorenland zur Seite stehen. Als junger Mensch lebt man nach dem Motto: höher - schneller - weiter! »Je oller, je doller« verrät Ihnen, wie man auch mit alten Knochen und quietschenden Gelenken ans Ziel kommt: tiefer - langsamer - und trotzdem weiter. Der alte Greis hat nämlich einen großen Vorteil gegenüber dem ungestümen Jungspund: Er kennt die Schleichwege des Lebens.
Eine schlanke Flasche mit prickelndem Sekt sollte man frisch und jung genießen. Entweder eisgekühlt aus einem Sektkelch oder leicht gewärmt aus einem Bauchnabel. Ein schwerer Rotwein, gereift in einem dicken, runden Fass, entfaltet seine wahren Qualitäten erst nach vielen, vielen Jahren. Dieses Buch wird Ihnen helfen, diese Qualitäten in sich zu entdecken. Mit Erfahrung und etwas Glück wird man oller und oller, mit Gelassenheit und Humor aber auch jeden Tag doller und doller. Lachen Sie über sich selbst - die anderen tun es doch auch schon lange.
Aber Vorsicht, eines kann dieses Buch nämlich mit Sicherheit nicht: Es macht Sie nicht jünger. Die Seiten, wenn auch von vorzüglicher Papierqualität, sind nicht etwa beschichtet mit einer revolutionären Anti-Aging-Creme, so dass Sie sich mit dem vorliegenden Werk einfach die Falten aus dem Gesicht wischen können. Auch den Bastelbogen für eine Zeitmaschine suchen Sie in »Je oller, je doller!« vergebens. Was Sie stattdessen finden? Antworten! Antworten auf all die Fragen, die jeden von uns beim verunsicherten, leicht zittrigen Schlurfen über die Schwelle zum Altwerden quälen:
Früher mochte ich Metallica - muss ich jetzt Silbereisen hören?
Wieso begehren mich auf der Straße immer seltener Frauen - dafür immer öfter Bestatter?
Was ist »senile Bettflucht« - und wo stelle ich dafür den Asylantrag?
Wie gefährlich ist eine Überdosis Granufink?
Bedeutet »Darmspiegelung«, dass ich danach den Hintern vorne trage? Warum habe ich nicht mehr ein Gedächtnis wie ein Elefant - fange aber langsam an, so viel zu wiegen?
Wie bekomme ich die Rotweinflecken aus meinem Bauchnabel?
Dieses Buch soll Mut machen - allen sogenannten »Best-Agern« (ab fünfzig), den »Rest-Agern« (ab achtzig) oder gar »Rest-in-Peace-Agern« (der Ü-110). Nicht zu vergessen natürlich all den noch jugendlich frischen Zwanzig-, Dreißig- und Vierzigjährigen: Je früher aufgeklärt, wohin der Weg geht, desto weniger Angst vor dem späteren Coming-out als alter Greis.
So groß die Erinnerungslücken in meinem kahlen Kopf auch werden mögen: Immer werde ich mich an den Tag erinnern, als ich endlich allen Mut zusammengenommen hatte, um meine Freunde und Verwandten zu Hause im Wohnzimmer zu versammeln und ihnen zu gestehen: »Leute, ich muss euch was sagen ... Ich bin alt!« Vertrauen Sie mir: Wenn sie dich danach anschauen, dir beistehend ihre Hand auf die Schulter legen und verständnisvoll lächeln: »Ach, Bill, das wissen wir doch schon seit zehn Jahren ... « Dieses Gefühl der Befreiung ist unbeschreiblich!
Wie gesagt: Dieses Buch macht Sie nicht jünger. Aber hoffentlich ein wenig entspannter älter. Lernen Sie den Greis in sich - wann auch immer er zuschlägt - etwas besser kennen. Lernen Sie, über ihn zu lachen. Und vielleicht werden Sie dabei sogar feststellen: So übel ist der Kerl, beziehungsweise das Mädel, gar nicht.
Viel Spaß und immer eine Handbreit Kalk unterm Schädel wünscht Ihnen
Ihr Bill Mockridge
- nach Diktat vergreist -
1.
Willkommen in der Senioren-Zielgruppe!
Oder: Mein 60. Geburtstag
Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Wir Alten werden nicht sonderlich gemocht - und zwar von keiner Geringeren als der Natur höchstpersönlich. Die möchte nämlich gar nicht, dass wir alt werden. Von der Natur aus erreicht der Mensch mit achtzehn fast schon seinen körperlichen und geistigen Höhepunkt. Dann wird man volljährig, und wie der Begriff schon andeutet: Man hat sein volles Leben ausgeschöpft. Danach geht's nur noch bergab. Das kann ich auch beweisen: In der Steinzeit, vor vielen, vielen Jahren, ganz kurz vor der Geburt von Jopi Heesters, war der Mensch mit fünfundzwanzig schon tot. Wirklich! Heutzutage sind viele mit fünfundzwanzig immer noch dabei, sich irgendwie erst mal zu »finden«. Nicht so damals: Da wurde man mit fünfundzwanzig von anderen gefunden. Nämlich, ich sagte es bereits: tot in der Landschaft liegend. Vergiftet durch irgendwelche Beeren, von einem Nebenbuhler erschlagen, von einem wild gewordenen Mammut zerstampft, einem tollwütigen Säbelzahntiger zerfleischt, was weiß ich. Der Steinzeitmensch hat auf jeden Fall sehr früh die Keule für immer und ewig beiseitegelegt, nach dem Motto: Du sollst einziehen in die ewigen Jagdgründe jung, stark und sexy - und nicht alt, schlapp und faltig. Damit hat es die Natur nicht so, und dass wir sie inzwischen mit der modernen Medizin ziemlich hinterfotzig überlistet haben, nimmt sie uns krumm. Sie sträubt sich dagegen mit allen Mitteln. Das beste Beispiel: die Gesichter der Rolling Stones - das ist Rache pur. Das Gesicht von Mick Jagger ist inzwischen identisch mit dem Stadtplan von Timbuktu in Blindenschrift. Ja, die Natur ist eine Meisterin des Gegenschlages!
Auch mit der Selbstwahrnehmung im Alter ist das so eine Sache. Alle wollen sich mit achtzig noch wie sechzig fühlen. Umgekehrt ist das weit seltener der Fall. Umso härter treffen dich deshalb natürlich auch die Schlüsselerlebnisse, wenn das Leben dir den Wink nicht mehr nur mit dem Zaunpfahl, sondern schon mit dem ganzen Lattenzaun gibt: »Hey Alter, aufwachen - auch du bist jetzt ein Greis!«
Ein Beispiel: Es begab sich letzten Sommer - ich sitze in Toronto, wo ich geboren und aufgewachsen bin, in der U-Bahn. Mir gegenüber ein älterer Herr. Ich beobachte ihn eine ganze Weile und denke: »Verdammt, den Kerl kenn ich von der Schule ... Aber das kann nicht sein - der ist doch viel zu alt.«
Nach langem Grübeln spreche ich ihn dennoch an. »Entschuldigung ... Sie waren nicht zufällig auf dem Up-per Canada College?«
Der Mann hebt seinen Blick. »War ich«, nickt er überrascht.
»Das gibt's ja nicht! Waren Sie Captain der Football-Mannschaft 1959?«
Seine Augen fangen an zu leuchten. Jetzt nickt er noch heftiger. »War ich, war ich!«
»Doug!«, breite ich zum Wiedersehen weit die Arme aus. »Doug Graham! Mensch, Douggie, altes Leder - wir kennen uns von der Schule!«
»Ja ... «, entgegnet er zögerlich. Ich sehe in Dougs Augen, wie es in seinem Kopf rattert. »Jaaaaaa, das kann gut sein ... Sorry, helfen Sie mir: Welches Fach haben Sie damals unterrichtet?«
Das Bremsen der U-Bahn an der nächsten Station übertönte mein schmerzvolles Seufzen nach diesem Stich ins Herz.
Es ist also umso wichtiger, gut darauf vorbereitet zu sein. Sich selbst rechtzeitig zu hinterfragen: Bin ich wirklich schon alt - oder laufe ich mit zugedrücktem, stargetrübtem Auge noch unter »semijung«? Fragen, die uns ab einer gewissen Lebenserfahrung auf dem schon leicht schrumpeligen Buckel automatisch beschäftigen. Gut, natürlich gibt es eindeutige Symptome. Zum Beispiel, wenn sie di esennä chsten schwac hsinnigens a tz nicht lesen können - dann sollten Sie schleunigst zum Augenarzt! Oder wenn die eigene Akustikkompetenz langsam nachlässt. Wie bitte? WENN SIE SCHLECHTER H-Ö-R-E-N! Oder wenn man plötzlich nachts häufiger raus muss als alle Schichtarbeiter zusammen. Wollen Sie jedoch frühzeitig merken, dass bei Ihnen was im Altersbusch ist, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung nur einen wichtigen Tipp geben: Achten Sie auf Ihre Briefpost.
Es begab sich ausgerechnet an meinem sechzigsten Geburtstag - ein schon per se äußerst sensibles Datum in meinem Leben. Bitte nicht falsch verstehen: Ich habe grundsätzlich nichts gegen die Zahl »60«. In irgendeinem Paralleluniversum, wo mein dortiger Bankberater mir strahlend Blumen überreicht mit dem Satz »Herzlichen Glückwunsch, Herr Mockridge - zu Ihrer sechzigsten Million!«, sind die »60« und ich wahrscheinlich sogar beste Freunde. Im weit weniger attraktiven Universum, in dem dieses Buch erschienen ist, wurden mir aber leider nur strahlend Blumen überreicht mit dem Satz: »Herzlichen Glückwunsch, Herr Mockridge - zu Ihrem 60. Geburtstag!« Und genau da liegt der Hund begraben: Es ist und bleibt ein schwieriges symbolisches Alter. Die »6« stellte optisch recht akkurat meinen in den Jahren zuvor deutlich gewachsenen Bauchumfang dar. Die »0« dahinter stand mengenmäßig für all die Dinge, die ich mir noch mühelos merken konnte. Kurz: Das Alter hatte sich körperlich wie geistig bereits mehr oder weniger höflich bei mir vorgestellt, doch ich war noch längst nicht bereit, gastfreundlich seine Hand zu schütteln. Stattdessen griff ich mir meine Geburtstagspost, suchte gezielt nach den Werbeglückwünschen. Ich hoffte, dass da was dabei wäre, was mich in meiner jugendlichen, kraftvollen Männlichkeit bestätigen würde: Post von 200-PS-Quad-Herstellern, Veranstaltern von Wildwasser-Kanufahrten, Mount-Everest-Besteigungen (natürlich ohne Sauerstoffmaske!) und Weltraumflügen, Anbietern von Büffelhodenfleisch - bei wem auch immer meine Daten als wirklich noch sehr, sehr rüstiger Sechzigjähriger zielgruppengenau im Computer gelandet waren.
Ich öffnete den ersten Brief und fing an zu lesen:
Sehr geehrter Herr Mockridge,
herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 60. Geburtstag! Lassen Sie sich heute richtig groß feiern - wer weiß, ob Gott Ihnen dazu noch einmal die Gelegenheit gibt. Wollen Sie die zukünftige unvermeidliche Bürde Ihrer Beerdigung tatsächlich Ihren
trauernden Hinterbliebenen überlassen? Schon ein kleiner monatlicher Beitrag von 24,60 Euro schenkt Ihnen das gute Gefühl, Ihren Nachkommen einen finanziell sorglosen Neustart ermöglicht zu haben! Herr Mockridge, entscheiden Sie heute - morgen kann es schon zu spät sein! Eine Unverschämtheit! Da fehlte nur noch ein Päckchen »Friedhofserde!« Etwas erblasst im Gesicht schaute ich auf den Brief - dachte mir aber: Gut, das ist Zufall. Da musste es noch irgendeinen anderen Bill Mockridge hier in der Nachbarschaft geben, der heute sechzig wurde und deutlich klapperiger war als ich. Einfach falsch zugestellt, der Brief. Ich entsorgte ihn sofort zum Altpapier und widmete mich lieber dem kleinen Geburtstagspäckchen mit der liebevollen roten Schleife, das mich schon die ganze Zeit anlächelte. Ich ahnte es schon. Wahrscheinlich hat mir meine Fernsehehefrau Marie-Luise wieder einen Eierwärmer gestrickt. Ich schaute auf den Absender: nicht Mutter Beimer, sondern eine gewisse Frau Hartmann. »Hartmann, Hartmann, Hartmann ...«, überlegte ich - ist das vielleicht Sabine aus der Schulzeit, die neu geheiratet hat? Gespannt schüttelte ich den Karton, doch es war nicht viel zu hören. Was da wohl drin war? Ein Überlebensmesser? Ein schönes Fläschchen zum Sammeln meines überschüssigen Testosterons? Ich riss den Päckchendeckel auf und zog zwischen kleinen Styropor-Teilchen einen Zettel heraus:
Lieber Herr Mockridge,
die allerbesten Glückwünsche senden wir Ihnen heute zu Ihrem 60. Geburtstag! Wir erlauben uns heute, Ihnen unser Inko-Management vorzustellen ...
Inko-Management? Ah, eine Investmentfirma hatte an mich gedacht! Richtig so! Schließlich sollte ich mir auch mit meinen erst sechzig Jahren, wo das Alter noch so unendlich fern scheint, schon mal über meine Zukunft Gedanken machen. ... Wir übersenden Ihnen anbei ein Probeexemplar unseres neuen, jetzt noch saugstärkeren Inko-Systems zur Ansicht...
Hä? Ich wühlte mit der Hand durch das Styropor und zog ein längliches, weiches Etwas heraus - wie ein Wesen von einem anderen Planeten starrte ich das Ding mit den Flügeln ungläubig an.
Es war eine Herrenbinde. Die meinten wohl, ich wäre nicht ganz dicht!
Und falls Sie glauben, dass ich damit in Sachen Geburtstagspost schon die größte Schmach überstanden hatte - nein, es ging scheinbar endlos weiter: Ein Optiker bot mir plötzlich sechzig Prozent auf alle Brillen an. Ganz schön viel, Mann. Irgendjemand wollte mir, für sage und schreibe 99 Euro, »blütenweiße Zähne aus Rumänien« andrehen. »Nur leicht gebraucht.« Ich erhielt einen Gutschein für eine kostenlose Prostatauntersuchung. Außerdem ein Angebot für eine schnelle Probefahrt mit einem Treppenlift. War von einer großen medizinischen Praxis in Bonn auserwählt worden für das »Goldene Senioren-Kombi-Ticket« - Magen- und Darmspiegelung am selben Tag.
Während ich meine Geburtstagspost tapfer abarbeitete, wurde selbst mir klar: Es hatte sich etwas verändert. Seit heute war ich nicht mehr der, der ich früher einmal war. Ich gehörte jetzt zu einer neuen Zielgruppe - ich war nun offiziell »Senior«. Und zwar nicht wie in der Wirtschaft ein cooler »Senior Executive Consulting Manager«, der anderen knallhart ans Bein pisst - nein, nur ein einfacher »Senior«, dem man ganz offensichtlich unterstellte, dass er sich ohne das neue saugstarke Inko-Management selbst ans Bein pisst.
War man früher mit Vollendung des neunundvierzigsten Lebensjahres zumindest endlich wieder frei aus den Fängen der Werbewirtschaft, lassen die einen heute nie mehr los. Man wird einfach nur weitergereicht zu den Kollegen für die neue Zielgruppe. Aber gut, wahrscheinlich will man uns Älteren einfach nicht den Schock zumuten, sich plötzlich wieder - Gott bewahre! - einen eigenen Geschmack bilden zu müssen. Den haben wir dank jahrzehntelangem Werbedauerfeuer schließlich komplett verlernt. Im Grunde stecken also ganz ehrenwerte Motive dahinter, das Konsumverhalten in unseren Kalkhirnen auch weiterhin professionell fremdzusteuern, damit wir selbst damit keine Arbeit haben. Danke, liebe Werbewirtschaft!
»Na, Schatz, wer schreibt denn alles zu deinem großen Ehrentag?«, kommt meine Frau ins Wohnzimmer. Sie sieht die Herrenbinde auf dem Tisch. »Was ist das denn?«
»Das?«, druckste ich herum. »Ach das ... das ist ... 'ne Schlafbrille! Von meiner alten Freundin Sabine.« Ich drückte mir die Binde gegen die Augen. »Guck mal, mit extra Flügeln, damit wirklich kein Licht durchkommt. Nur das Gummiband muss man noch selbst dranmachen.«
Bis heute trage ich die Inko-Herrenbinde jede Nacht im Bett neben meiner Frau über den Augen.
Er lauert in dir seit deiner Geburt. Doch er ist ein Meister im Warten. Heimlich und still begleitet er deine ersten Schritte, hält sich versteckt während deiner Schulzeit. Mit Mitte zwanzig, auf deinem geistigen und körperlichen Höhepunkt, hat er es geschafft, dass du ihn für ein erfundenes Fabelwesen wie Bigfoot oder Nessie hältst. Doch du irrst. Tief in dir drinnen wartet er darauf zuzuschlagen - Tag für Tag, Jahr für Jahr, geduldig wie ein Zen-Meister. Er weiß: Seine Stunde wird kommen. Mit ungefähr vierzig beginnt er, seinen zukünftigen Herrschaftssitz in dir einzurichten. Viel kriegst du davon zunächst nicht mit: ein seltsames Knacken beim Aufstehen, ein kurzer, stechender Schmerz im Rücken, ein ab und zu verschwommener Blick. Du wunderst dich, hakst es aber schnell wieder ab, und es geht weiter wie bisher. Die bereits begonnene Verwandlung lässt sich davon jedoch nicht aufhalten. Ich rede selbstverständlich von der einschneidendsten Veränderung im Leben eines jeden Menschen seit der Pubertät, dem Moment, in dem du eines Morgens vor dem Badezimmerspiegel erschrocken feststellst: »Hilfe, ich werde ein alter Greis!«*
Erschreckend, aber wahr: Während Sie den vorangegangenen Absatz gelesen haben, sind Sie erneut um etwa dreißig Sekunden gealtert. Falls Sie vorher wieder einmal Ihre verlegte Lesebrille suchen mussten, sogar deutlich mehr. Sie sehen: Es gibt kein Entrinnen vor der unweigerlichen Kontrollübernahme des in uns allen schlummernden alten Greises. Oder natürlich - zu früh gefreut, liebe Damen! - der alten Greisin. Darum dieses Buch. »Je oller, je doller!« ist eine geriatrische, tiefenpsychologische, soziologische, philosophische und medizinische Untersuchung über die geistigen und körperlichen Verfallprozesse des Menschen in Mitteleuropa unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen und ökologischen Einflüsse des beginnenden Jahrhunderts. Einfacher ausgedrückt: Dieses Buch beschäftigt sich mit der Beantwortung der zwei elementaren Fragen. Erstens: Werde ich ein alter Greis? Beziehungsweise eine alte Greisin? Und zweitens, wenn ja: Kann ich was dagegen tun?
Um es gleich vorwegzunehmen, erstens: ja. Und zweitens: nein.
Aber halt! Das ist nur der Anfang. Denn jetzt drängt sich die Frage auf: »Kann man richtig oder falsch vergreisen?« Meine Antwort lautet: Ja, selbstverständlich. Das ist die höchste Kunst im Leben, gut zu altern! Dieses Buch wird Ihnen, wie ein guter Freund, auf der langen Reise ins Seniorenland zur Seite stehen. Als junger Mensch lebt man nach dem Motto: höher - schneller - weiter! »Je oller, je doller« verrät Ihnen, wie man auch mit alten Knochen und quietschenden Gelenken ans Ziel kommt: tiefer - langsamer - und trotzdem weiter. Der alte Greis hat nämlich einen großen Vorteil gegenüber dem ungestümen Jungspund: Er kennt die Schleichwege des Lebens.
Eine schlanke Flasche mit prickelndem Sekt sollte man frisch und jung genießen. Entweder eisgekühlt aus einem Sektkelch oder leicht gewärmt aus einem Bauchnabel. Ein schwerer Rotwein, gereift in einem dicken, runden Fass, entfaltet seine wahren Qualitäten erst nach vielen, vielen Jahren. Dieses Buch wird Ihnen helfen, diese Qualitäten in sich zu entdecken. Mit Erfahrung und etwas Glück wird man oller und oller, mit Gelassenheit und Humor aber auch jeden Tag doller und doller. Lachen Sie über sich selbst - die anderen tun es doch auch schon lange.
Aber Vorsicht, eines kann dieses Buch nämlich mit Sicherheit nicht: Es macht Sie nicht jünger. Die Seiten, wenn auch von vorzüglicher Papierqualität, sind nicht etwa beschichtet mit einer revolutionären Anti-Aging-Creme, so dass Sie sich mit dem vorliegenden Werk einfach die Falten aus dem Gesicht wischen können. Auch den Bastelbogen für eine Zeitmaschine suchen Sie in »Je oller, je doller!« vergebens. Was Sie stattdessen finden? Antworten! Antworten auf all die Fragen, die jeden von uns beim verunsicherten, leicht zittrigen Schlurfen über die Schwelle zum Altwerden quälen:
Früher mochte ich Metallica - muss ich jetzt Silbereisen hören?
Wieso begehren mich auf der Straße immer seltener Frauen - dafür immer öfter Bestatter?
Was ist »senile Bettflucht« - und wo stelle ich dafür den Asylantrag?
Wie gefährlich ist eine Überdosis Granufink?
Bedeutet »Darmspiegelung«, dass ich danach den Hintern vorne trage? Warum habe ich nicht mehr ein Gedächtnis wie ein Elefant - fange aber langsam an, so viel zu wiegen?
Wie bekomme ich die Rotweinflecken aus meinem Bauchnabel?
Dieses Buch soll Mut machen - allen sogenannten »Best-Agern« (ab fünfzig), den »Rest-Agern« (ab achtzig) oder gar »Rest-in-Peace-Agern« (der Ü-110). Nicht zu vergessen natürlich all den noch jugendlich frischen Zwanzig-, Dreißig- und Vierzigjährigen: Je früher aufgeklärt, wohin der Weg geht, desto weniger Angst vor dem späteren Coming-out als alter Greis.
So groß die Erinnerungslücken in meinem kahlen Kopf auch werden mögen: Immer werde ich mich an den Tag erinnern, als ich endlich allen Mut zusammengenommen hatte, um meine Freunde und Verwandten zu Hause im Wohnzimmer zu versammeln und ihnen zu gestehen: »Leute, ich muss euch was sagen ... Ich bin alt!« Vertrauen Sie mir: Wenn sie dich danach anschauen, dir beistehend ihre Hand auf die Schulter legen und verständnisvoll lächeln: »Ach, Bill, das wissen wir doch schon seit zehn Jahren ... « Dieses Gefühl der Befreiung ist unbeschreiblich!
Wie gesagt: Dieses Buch macht Sie nicht jünger. Aber hoffentlich ein wenig entspannter älter. Lernen Sie den Greis in sich - wann auch immer er zuschlägt - etwas besser kennen. Lernen Sie, über ihn zu lachen. Und vielleicht werden Sie dabei sogar feststellen: So übel ist der Kerl, beziehungsweise das Mädel, gar nicht.
Viel Spaß und immer eine Handbreit Kalk unterm Schädel wünscht Ihnen
Ihr Bill Mockridge
- nach Diktat vergreist -
1.
Willkommen in der Senioren-Zielgruppe!
Oder: Mein 60. Geburtstag
Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Wir Alten werden nicht sonderlich gemocht - und zwar von keiner Geringeren als der Natur höchstpersönlich. Die möchte nämlich gar nicht, dass wir alt werden. Von der Natur aus erreicht der Mensch mit achtzehn fast schon seinen körperlichen und geistigen Höhepunkt. Dann wird man volljährig, und wie der Begriff schon andeutet: Man hat sein volles Leben ausgeschöpft. Danach geht's nur noch bergab. Das kann ich auch beweisen: In der Steinzeit, vor vielen, vielen Jahren, ganz kurz vor der Geburt von Jopi Heesters, war der Mensch mit fünfundzwanzig schon tot. Wirklich! Heutzutage sind viele mit fünfundzwanzig immer noch dabei, sich irgendwie erst mal zu »finden«. Nicht so damals: Da wurde man mit fünfundzwanzig von anderen gefunden. Nämlich, ich sagte es bereits: tot in der Landschaft liegend. Vergiftet durch irgendwelche Beeren, von einem Nebenbuhler erschlagen, von einem wild gewordenen Mammut zerstampft, einem tollwütigen Säbelzahntiger zerfleischt, was weiß ich. Der Steinzeitmensch hat auf jeden Fall sehr früh die Keule für immer und ewig beiseitegelegt, nach dem Motto: Du sollst einziehen in die ewigen Jagdgründe jung, stark und sexy - und nicht alt, schlapp und faltig. Damit hat es die Natur nicht so, und dass wir sie inzwischen mit der modernen Medizin ziemlich hinterfotzig überlistet haben, nimmt sie uns krumm. Sie sträubt sich dagegen mit allen Mitteln. Das beste Beispiel: die Gesichter der Rolling Stones - das ist Rache pur. Das Gesicht von Mick Jagger ist inzwischen identisch mit dem Stadtplan von Timbuktu in Blindenschrift. Ja, die Natur ist eine Meisterin des Gegenschlages!
Auch mit der Selbstwahrnehmung im Alter ist das so eine Sache. Alle wollen sich mit achtzig noch wie sechzig fühlen. Umgekehrt ist das weit seltener der Fall. Umso härter treffen dich deshalb natürlich auch die Schlüsselerlebnisse, wenn das Leben dir den Wink nicht mehr nur mit dem Zaunpfahl, sondern schon mit dem ganzen Lattenzaun gibt: »Hey Alter, aufwachen - auch du bist jetzt ein Greis!«
Ein Beispiel: Es begab sich letzten Sommer - ich sitze in Toronto, wo ich geboren und aufgewachsen bin, in der U-Bahn. Mir gegenüber ein älterer Herr. Ich beobachte ihn eine ganze Weile und denke: »Verdammt, den Kerl kenn ich von der Schule ... Aber das kann nicht sein - der ist doch viel zu alt.«
Nach langem Grübeln spreche ich ihn dennoch an. »Entschuldigung ... Sie waren nicht zufällig auf dem Up-per Canada College?«
Der Mann hebt seinen Blick. »War ich«, nickt er überrascht.
»Das gibt's ja nicht! Waren Sie Captain der Football-Mannschaft 1959?«
Seine Augen fangen an zu leuchten. Jetzt nickt er noch heftiger. »War ich, war ich!«
»Doug!«, breite ich zum Wiedersehen weit die Arme aus. »Doug Graham! Mensch, Douggie, altes Leder - wir kennen uns von der Schule!«
»Ja ... «, entgegnet er zögerlich. Ich sehe in Dougs Augen, wie es in seinem Kopf rattert. »Jaaaaaa, das kann gut sein ... Sorry, helfen Sie mir: Welches Fach haben Sie damals unterrichtet?«
Das Bremsen der U-Bahn an der nächsten Station übertönte mein schmerzvolles Seufzen nach diesem Stich ins Herz.
Es ist also umso wichtiger, gut darauf vorbereitet zu sein. Sich selbst rechtzeitig zu hinterfragen: Bin ich wirklich schon alt - oder laufe ich mit zugedrücktem, stargetrübtem Auge noch unter »semijung«? Fragen, die uns ab einer gewissen Lebenserfahrung auf dem schon leicht schrumpeligen Buckel automatisch beschäftigen. Gut, natürlich gibt es eindeutige Symptome. Zum Beispiel, wenn sie di esennä chsten schwac hsinnigens a tz nicht lesen können - dann sollten Sie schleunigst zum Augenarzt! Oder wenn die eigene Akustikkompetenz langsam nachlässt. Wie bitte? WENN SIE SCHLECHTER H-Ö-R-E-N! Oder wenn man plötzlich nachts häufiger raus muss als alle Schichtarbeiter zusammen. Wollen Sie jedoch frühzeitig merken, dass bei Ihnen was im Altersbusch ist, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung nur einen wichtigen Tipp geben: Achten Sie auf Ihre Briefpost.
Es begab sich ausgerechnet an meinem sechzigsten Geburtstag - ein schon per se äußerst sensibles Datum in meinem Leben. Bitte nicht falsch verstehen: Ich habe grundsätzlich nichts gegen die Zahl »60«. In irgendeinem Paralleluniversum, wo mein dortiger Bankberater mir strahlend Blumen überreicht mit dem Satz »Herzlichen Glückwunsch, Herr Mockridge - zu Ihrer sechzigsten Million!«, sind die »60« und ich wahrscheinlich sogar beste Freunde. Im weit weniger attraktiven Universum, in dem dieses Buch erschienen ist, wurden mir aber leider nur strahlend Blumen überreicht mit dem Satz: »Herzlichen Glückwunsch, Herr Mockridge - zu Ihrem 60. Geburtstag!« Und genau da liegt der Hund begraben: Es ist und bleibt ein schwieriges symbolisches Alter. Die »6« stellte optisch recht akkurat meinen in den Jahren zuvor deutlich gewachsenen Bauchumfang dar. Die »0« dahinter stand mengenmäßig für all die Dinge, die ich mir noch mühelos merken konnte. Kurz: Das Alter hatte sich körperlich wie geistig bereits mehr oder weniger höflich bei mir vorgestellt, doch ich war noch längst nicht bereit, gastfreundlich seine Hand zu schütteln. Stattdessen griff ich mir meine Geburtstagspost, suchte gezielt nach den Werbeglückwünschen. Ich hoffte, dass da was dabei wäre, was mich in meiner jugendlichen, kraftvollen Männlichkeit bestätigen würde: Post von 200-PS-Quad-Herstellern, Veranstaltern von Wildwasser-Kanufahrten, Mount-Everest-Besteigungen (natürlich ohne Sauerstoffmaske!) und Weltraumflügen, Anbietern von Büffelhodenfleisch - bei wem auch immer meine Daten als wirklich noch sehr, sehr rüstiger Sechzigjähriger zielgruppengenau im Computer gelandet waren.
Ich öffnete den ersten Brief und fing an zu lesen:
Sehr geehrter Herr Mockridge,
herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 60. Geburtstag! Lassen Sie sich heute richtig groß feiern - wer weiß, ob Gott Ihnen dazu noch einmal die Gelegenheit gibt. Wollen Sie die zukünftige unvermeidliche Bürde Ihrer Beerdigung tatsächlich Ihren
trauernden Hinterbliebenen überlassen? Schon ein kleiner monatlicher Beitrag von 24,60 Euro schenkt Ihnen das gute Gefühl, Ihren Nachkommen einen finanziell sorglosen Neustart ermöglicht zu haben! Herr Mockridge, entscheiden Sie heute - morgen kann es schon zu spät sein! Eine Unverschämtheit! Da fehlte nur noch ein Päckchen »Friedhofserde!« Etwas erblasst im Gesicht schaute ich auf den Brief - dachte mir aber: Gut, das ist Zufall. Da musste es noch irgendeinen anderen Bill Mockridge hier in der Nachbarschaft geben, der heute sechzig wurde und deutlich klapperiger war als ich. Einfach falsch zugestellt, der Brief. Ich entsorgte ihn sofort zum Altpapier und widmete mich lieber dem kleinen Geburtstagspäckchen mit der liebevollen roten Schleife, das mich schon die ganze Zeit anlächelte. Ich ahnte es schon. Wahrscheinlich hat mir meine Fernsehehefrau Marie-Luise wieder einen Eierwärmer gestrickt. Ich schaute auf den Absender: nicht Mutter Beimer, sondern eine gewisse Frau Hartmann. »Hartmann, Hartmann, Hartmann ...«, überlegte ich - ist das vielleicht Sabine aus der Schulzeit, die neu geheiratet hat? Gespannt schüttelte ich den Karton, doch es war nicht viel zu hören. Was da wohl drin war? Ein Überlebensmesser? Ein schönes Fläschchen zum Sammeln meines überschüssigen Testosterons? Ich riss den Päckchendeckel auf und zog zwischen kleinen Styropor-Teilchen einen Zettel heraus:
Lieber Herr Mockridge,
die allerbesten Glückwünsche senden wir Ihnen heute zu Ihrem 60. Geburtstag! Wir erlauben uns heute, Ihnen unser Inko-Management vorzustellen ...
Inko-Management? Ah, eine Investmentfirma hatte an mich gedacht! Richtig so! Schließlich sollte ich mir auch mit meinen erst sechzig Jahren, wo das Alter noch so unendlich fern scheint, schon mal über meine Zukunft Gedanken machen. ... Wir übersenden Ihnen anbei ein Probeexemplar unseres neuen, jetzt noch saugstärkeren Inko-Systems zur Ansicht...
Hä? Ich wühlte mit der Hand durch das Styropor und zog ein längliches, weiches Etwas heraus - wie ein Wesen von einem anderen Planeten starrte ich das Ding mit den Flügeln ungläubig an.
Es war eine Herrenbinde. Die meinten wohl, ich wäre nicht ganz dicht!
Und falls Sie glauben, dass ich damit in Sachen Geburtstagspost schon die größte Schmach überstanden hatte - nein, es ging scheinbar endlos weiter: Ein Optiker bot mir plötzlich sechzig Prozent auf alle Brillen an. Ganz schön viel, Mann. Irgendjemand wollte mir, für sage und schreibe 99 Euro, »blütenweiße Zähne aus Rumänien« andrehen. »Nur leicht gebraucht.« Ich erhielt einen Gutschein für eine kostenlose Prostatauntersuchung. Außerdem ein Angebot für eine schnelle Probefahrt mit einem Treppenlift. War von einer großen medizinischen Praxis in Bonn auserwählt worden für das »Goldene Senioren-Kombi-Ticket« - Magen- und Darmspiegelung am selben Tag.
Während ich meine Geburtstagspost tapfer abarbeitete, wurde selbst mir klar: Es hatte sich etwas verändert. Seit heute war ich nicht mehr der, der ich früher einmal war. Ich gehörte jetzt zu einer neuen Zielgruppe - ich war nun offiziell »Senior«. Und zwar nicht wie in der Wirtschaft ein cooler »Senior Executive Consulting Manager«, der anderen knallhart ans Bein pisst - nein, nur ein einfacher »Senior«, dem man ganz offensichtlich unterstellte, dass er sich ohne das neue saugstarke Inko-Management selbst ans Bein pisst.
War man früher mit Vollendung des neunundvierzigsten Lebensjahres zumindest endlich wieder frei aus den Fängen der Werbewirtschaft, lassen die einen heute nie mehr los. Man wird einfach nur weitergereicht zu den Kollegen für die neue Zielgruppe. Aber gut, wahrscheinlich will man uns Älteren einfach nicht den Schock zumuten, sich plötzlich wieder - Gott bewahre! - einen eigenen Geschmack bilden zu müssen. Den haben wir dank jahrzehntelangem Werbedauerfeuer schließlich komplett verlernt. Im Grunde stecken also ganz ehrenwerte Motive dahinter, das Konsumverhalten in unseren Kalkhirnen auch weiterhin professionell fremdzusteuern, damit wir selbst damit keine Arbeit haben. Danke, liebe Werbewirtschaft!
»Na, Schatz, wer schreibt denn alles zu deinem großen Ehrentag?«, kommt meine Frau ins Wohnzimmer. Sie sieht die Herrenbinde auf dem Tisch. »Was ist das denn?«
»Das?«, druckste ich herum. »Ach das ... das ist ... 'ne Schlafbrille! Von meiner alten Freundin Sabine.« Ich drückte mir die Binde gegen die Augen. »Guck mal, mit extra Flügeln, damit wirklich kein Licht durchkommt. Nur das Gummiband muss man noch selbst dranmachen.«
Bis heute trage ich die Inko-Herrenbinde jede Nacht im Bett neben meiner Frau über den Augen.
... weniger
Autoren-Porträt von Bill Mockridge
Bill Mockridge, Jahrgang 1947, ist Comedian, Kabarettist, Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Den gebürtigen Kanadier verschlug es 1968 nach Deutschland, wo er vor über vierzig Jahren das erste Mal auf deutschen Theaterbühnen stand. Der Gründer des renommierten "Springmaus Improvisationstheaters" erobert mit eigenen Soloprogrammen die deutschen Comedy- und Kabarettbühnen. Bill Mockridge u.a. bekannt als Erich Schiller aus der "Lindenstraße" lebt mit seiner Frau und ihren gemeinsamen sechs Söhnen in Bonn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bill Mockridge
- 2012, 319 Seiten, Maße: 12,6 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Scherz
- ISBN-10: 3651000206
- ISBN-13: 9783651000209
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