Jeder Mann ein Treffer
Mara will einen radikalen Neuanfang:
Als ihr Mann sie wegen einer anderen Frau verlässt, zieht sie nach Hamburg. Sie strandet in einer WG, wo sie eine Biologielehrerin, ein eitler Gockel und ein verhinderter Schriftsteller mit zweifelhafter...
Als ihr Mann sie wegen einer anderen Frau verlässt, zieht sie nach Hamburg. Sie strandet in einer WG, wo sie eine Biologielehrerin, ein eitler Gockel und ein verhinderter Schriftsteller mit zweifelhafter...
Leider schon ausverkauft
Buch
3.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Jeder Mann ein Treffer “
Mara will einen radikalen Neuanfang:
Als ihr Mann sie wegen einer anderen Frau verlässt, zieht sie nach Hamburg. Sie strandet in einer WG, wo sie eine Biologielehrerin, ein eitler Gockel und ein verhinderter Schriftsteller mit zweifelhafter Filmkarriere erwarten. Kann die 44-Jährige mit Hilfe dieses Trio Infernale ihre große Liebe finden?
Als ihr Mann sie wegen einer anderen Frau verlässt, zieht sie nach Hamburg. Sie strandet in einer WG, wo sie eine Biologielehrerin, ein eitler Gockel und ein verhinderter Schriftsteller mit zweifelhafter Filmkarriere erwarten. Kann die 44-Jährige mit Hilfe dieses Trio Infernale ihre große Liebe finden?
Lese-Probe zu „Jeder Mann ein Treffer “
Jeder Mann ein Treffer von TATJANA KRUSE Ich widme dieses Buch
DER STADT HAMBURG
- sie muss sich eine Menge darin gefallen lassen.
Was würde Uma Thurman tun?
... mehr
Männer sind wie phantastische Stöckelschuhe in der falschen Größe: Egal, wie sehr man sie liebt, was nicht geht, geht eben nicht und verursacht nur Hühneraugen, Blutblasen und Haltungsschäden. Aber natürlich ist man selbst immer die Letzte, die es merkt, lange nachdem die Fußpflegerin Alarm geschlagen hat. Was man stets für übertriebene Hysterie hielt. Bis es zu spät ist. Und man für den Rest seines irdischen Lebens mit einem Senk-spreiz-Klumpfuß geschlagen ist. Will heißen, mit einem vernarbten Herzen.
Kurzum, ich war frisch von meinem langjährigen Partner getrennt.
Genauer gesagt, er hat sich von mir getrennt, und ich hab's nicht kommen sehen. Das Übliche, wegen einer anderen. Einer halb so alten. Dass ich voll zum Klischee wurde, ärgerte mich fast noch mehr als das Verlassenwerden an sich. Ich hatte es einfach nicht kommen sehen. Doch am meisten machte mir zu schaffen, dass dieser Mann nicht den Anstand hatte, mich wegen einer doppelt so alten Frau zu verlassen. Das hätte meiner Geschichte wenigstens ein wenig modernes Flair verliehen.
Ich gönnte mir Selbstmitleidsanfälle und Depri-Schübe im Überfluss. Dazu die drei Ks: Kinderlosigkeitspanik, Klimakteriumsblues und Kleinstadtennui. Sogar Kehrwochenverweigerung! Ein gefährlicher Cocktail. Dazu kam noch, dass ich über vierzig war und - Tusch! - auch so aussah. Trotz Anti-Aging-Creme mit Hyper-ultra-super- Faltenglättung aus dem Drogeriemarkt.
Wenn man als Kind Trübsal bläst, sagen die Eltern gern: »Denk an die armen kleinen, hungernden Kinder in Afrika und sei dankbar.« In der Midlife-Crisis konnte man natürlich ebenfalls an die Afrikaner denken, die immer noch schlimm hungerten und dazu auch noch Aids hatten. Aber der Gedanke war nicht mehr tröstlich und führte auch nicht zu Dankbarkeit, sondern ließ einen noch viel mehr an der Welt verzweifeln. Weil die Menschheit offenbar nichts dazulernte.
Göttin sei Dank verfügte ich jedoch über starke Überlebensgene: Bevor ich mir den Suizid gab oder, schlimmer noch, mich mit dem Status quo abfand und den Rest meines Lebens in Lethargie und allenfalls im gelegentlichen Engagement für die Blumengruppe des örtlichen Trachtenvereins verbrachte, hatte ich - beim nächtlichen Zappen und Hängenbleiben in der Arm-ab-Blut-spritz- Sequenz von Kill Bill, Volume 2 - eine Epiphanie. So wurde ich gewissermaßen auf einen Schlag von der Saula zur Paula. Und das durch eine simple Frage: Was würde Uma Thurman an meiner Stelle tun?
Sie würde nicht Rotz und Wasser heulen, oh nein, sie würde sich einen Krummsäbel, ein Samuraischwert oder wenigstens einen Gemüseschäler schnappen und tatkräftig Gerechtigkeit einfordern. Jawohl! In mir erwachte die Vision zum Leben, Kill Bill nachzustellen. In der schwäbischen Provinzvariante.
Ich sprang zwar nicht gerade von der Couch und reckte die Hände in die Höhe, aber es war schon so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Ich würde es Uma gleichtun!
Nein, nicht bei der Umsetzung wilder Gewaltphantasien. Ich würde Rüdiger und seine Neue nicht mittig halbieren und auch nicht auf dem Wochenmarkt unserer Kleinstadt Amok laufen. Ich wollte vielmehr das Nächstbeste tun: mein altes Leben töten. Jawohl! Es massakrieren! Gesagt, getan. Am nächsten Morgen ließ ich mir beim Friseur meines Vertrauens die Haare schneiden (von der Azubine, dann kostet es nur zwölf Euro), gab einen erklecklichen Teil meiner geringen Ersparnisse für zwei (für mich gewagte) neue Kleider und ein paar hochhackige Schuhe aus, kündigte meinen ohnehin öden Job als stellvertretende Leiterin der »Frauenakademie« in der örtlichen Volkshochschule, packte meinen nigelnagelneuen knallroten Trolley und kaufte mir eine Bahnfahrkarte nach Hamburg. Im Gepäck das Buch Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist.
Ich wollte noch mal völlig neu anfangen. Wozu hatte ich all die öden Kleinstadtjahre lang ein - Achtung: Neudeutsch - Scrapbook geführt, mit Bildern, die ich aus Hochglanzzeitschriften ausgeschnitten hatte. Fotos von eleganten Lofts, schicken Menschen, die Champagner tranken, Reisen an exotische Orte. Mein Traum von einem soliden Mann, einem Reihenhaus und einem Boot auf dem Bodensee war zwar noch nicht ausgeträumt. Aber er wurde upgedatet. Von nun an wollte ich von einem eleganten Mann, einer Villa und der ultimativen Atlantiküberquerung im Luxusdampfer nach New York träumen. Gewissermaßen die Version 2.0 für Fortgeschrittene. Neuer Anlauf, neues Glück!
* * *
Röchelatmung. Im Wechsel mit Keuchen und Schnaufen. Gepaart mit ziemlich undamenhaftem Schweinsgalopp. So fing mein neues Leben an. Im Idealfall hat man am Bahnhof Stuttgart bequeme fünf Minuten zum Umsteigen, auch wenn man von Gleis 16 zu Gleis 9 muss, so zumindest die Aussage des Schalterbeamten beim Kauf der Fahrkarte. Aber wann tritt schon einmal der Idealfall ein?
Bei der Deutschen Bahn an diesem Morgen jedenfalls nicht.
Ich hatte mir in den Wochen zwischen Entschluss und Durchführung meines Plans alle Uma-Thurman-Kassenschlager, die unsere Videothek vorrätig hatte, ausgeliehen. Zur inneren Einstimmung. In einem der Batman-Filme hatte Uma Poison Ivy verkörpert, eine Öko-Terroristin, die unglaublich sexy war. Was mir ein Widerspruch in sich zu sein schien. Sexy Ökotante. So wie schwarzer Schimmel. Also, das Pferd, nicht das, was in Badezimmerfugen zu wachsen pflegt. Einen schwarzen Schimmel oder eine sexy Ökotante fand ich physikalisch nicht möglich. Nicht in diesem Universum. Umas Darstellung hatte mich dennoch tief beeindruckt, und natürlich kam für mich daraufhin nur die Bahn in Frage und nicht etwa die Mitfahrzentrale. Der Umwelt zuliebe. Wegen der Nachhaltigkeit.
Der Sprint beim Umsteigen forderte jedoch die ganze Frau.
Vielleicht hätte ich nicht all die Jahre dem Motto Sport ist Mord frönen sollen. Vielleicht wäre ich dann mit nur leicht geröteten Wangen und normaler Atmung in Wagen 5 des ICE nach Hamburg angekommen. So aber war ich binnen Sekunden, also auf Höhe von Gleis 15, nass geschwitzt, bekam keine Luft mehr und wurde nur von dem einen Gedanken getrieben: So wollte ich mein neues Leben nicht beginnen, dass ich den Anschluss verpasste. Eine Frau, ein Ziel!
Dank des Mannes, der den zweirädrigen Rollkoffer mit Teleskopgriff erfunden hat, schafften es mein Trolley und ich gerade noch rechtzeitig. War ja klar, dass so ein ICE die Länge eines Halbmarathons umfasst und dass der erste Wagen der zweiten Klasse mitnichten am Kopfende stand. Stattdessen gehörte am Vorerst-noch-Kopfbahnhof in Stuttgart der erste Wagen zur ersten Klasse, und man musste an drei Wagen plus Bordbistro vorbeitraben. Und dann hatte auch noch halb Süddeutschland beschlossen, an diesem völlig unscheinbaren Mittwoch von Stuttgart nach Hamburg fahren zu wollen. Der Zug war knallevoll. Und natürlich hatte ich keine Platzreservierung. Schwer atmend stieg ich ein, wollte angesichts der Überfüllung schon die Hoffnung auf einen Sitzplatz fahrenlassen und visualisierte, wie ich fünf Stunden lang auf meinem Trolley im Gang kampierte. Gleich im zweiten Abteil nach der Zugtoilette jedoch saß nur eine alte Dame mit Strickzeug. Ganz allein. Wieso ganz allein? Das hätte mir zu denken geben sollen ... Ich öffnete die Tür und röchelatmete hinein. »Ist ... hier ... noch ... frei?« Die Frau sah kurz von ihrem Strickzeug zu mir auf. Ende sechzig, würde ich schätzen. Hamsterbacken, die längst der Schwerkraft folgend nach unten gerutscht waren. Der spärliche Haarbewuchs dauergewellt und in einem künstlichen Sandbraun gefärbt. Ein knallbunter, mehrfarbig gestreifter Blazer zu einem graumelierten Tweedrock und hässlichen braunen Gesundheitsschuhen mit Velcro-Verschluss.
»Nur immer frisch herein, Kindchen.« Ein Lächeln begleitete diese Aufforderung nicht.
Ich schob meinen Koffer ins Abteil, während hinter mir ein hochgewachsener Geschäftsreisender im Maßanzug und mit Handy am Ohr ebenfalls eintreten wollte, kurz stockte und rasch weiterging.
»Um den ist es nicht schade«, erklärte die Endsechzigerin, ohne sich im Strickfluss unterbrechen zu lassen, während ich dem schmalen Rücken des Mannes nachschaute, der mich null wahrgenommen hatte. Also, der Mann, nicht der Rücken.
»Der hätte die ganze Zeit nur telefoniert. Aber nichts, was man gerne hört. Streit mit seiner Frau, Terminabsprachen mit seiner Geliebten oder, noch schlimmer, irgendwelche öden Bürogespräche.« Ich, die ich mir - wie so oft in letzter Zeit - unsichtbar vorkam, nickte nur. Meine Atmung normalisierte sich langsam, und mein Geruchssinn kehrte zurück.
Meine Großmutter hatte immer nach Tosca gerochen. Die Großmutter meiner Freundin nach Lavendelseife. Diese Großmutter hier - aus den winzigen Ringelsöckchen, die sie strickte, schloss ich, dass sie Großmutter war - roch nach ... Mein Gott, was war das nur? Jedenfalls stank es infernalisch. Ich überlegte mir, mit welcher Ausrede ich mich aus diesem Abteil verabschieden konnte, als eine junge Mutter mit umgeschnalltem Baby vor dem Bauch und einem süßen Kleinkind an der Linken die Tür öffnete, kurz Luft holte, gekünstelt lächelte und wortlos die Tür wieder schloss.
»Gut so«, befand die Strick-Oma. »Ich hasse es, mit Kindern zu reisen. Die sind laut und quengelig und nerven. « Das war jetzt wiederum nicht so typisch großmütterlich. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass mit dem Abschluss des Klimakteriums ein »Ei, dei, dei«-Gen aktiviert wurde, das alte Frauen dazu brachte, sich gurrend über grundsätzlich jeden Kinderwagen zu beugen, ausnahmslos alle Kleinkindfrisuren zu zerzausen und allein bei der Erwähnung des Wortes »Kind« dahinzuschmelzen. Ausnahme von dieser Regel bildeten allenfalls workaholische Karrierefrauen. Ganz sicher aber nicht strickende Greisinnen mit Dauerwelle. Ich spürte erste Risse in meinem festgefügten Weltbild.
Meine Abteilnachbarin nölte aber nicht nur über Mütter und Manager. Als ein Jungmann im selbstgestrickten Norweger die Abteiltür öffnete, rief sie: »Alles besetzt!« Kaum hatte er die Tür wieder geschlossen, erklärte sie: »Den können wir hier nicht gebrauchen. Der sah missionarisch aus. Hätte uns bestimmt Werbe-Flyer für ein veganes Leben in die Hand gedrückt.« Also, diese Strickerin war alles, nur keine liebenswürdige, altersmilde Großmutter.
In diesem Moment überkam mich ein Gedanke: Ende sechzig. Die Frau vor mir war Ende sechzig. Ja, Großmutteralter. Aber nicht meine Großmutter. Rein rechnerisch unmöglich. Allenfalls, wenn sie - wie früher in unseren Breitengraden und noch heute in abgelegenen Urwalddörfern üblich - mit zwölf zwangsverheiratet worden und gleich schwanger geworden wäre und auch ihre Erstgeborene dieses Schicksal geteilt hätte. Nein, diese Frau könnte höchstens meine Mutter sein. Was im Umkehrschluss bedeutete: Für mich lautete der nächste Halt nicht Mannheim, sondern Altersheim. Mir wurde klar, ich hatte die Hälfte meines Lebens hinter mir. Immer vorausgesetzt, dass ich das deutsche Durchschnittsalter überhaupt erreichte. Das deprimierte mich so schlagartig so sehr, dass ich mich, immer noch im Trench, einfach fallen ließ und mit leerem Blick auf den Abteilboden schaute.
Die folgenden fünf Stunden und acht Minuten Fahrt gedachte ich mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ach was, versinken wollte ich darin, wie in Treibsand. Doch weit gefehlt.
»Mein Gott, Kindchen, was ist denn mit Ihnen los? Müssen Sie so eine Schnute ziehen? Da wird ja die Kaffeemilch sauer. Das kann ich nicht gebrauchen. Der Zugkaffee ist teuer genug.«
Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Ich hörte nur das Klappern der Stricknadeln. Allerdings stand tatsächlich ein Kaffeebecher aus dem Bordbistro vor ihr. Flockte die Milch wirklich aus? Ich räusperte mich.
»Mein Lebensgefährte hat mich verlassen. Ich bin alt, und der Lack ist ab. Mein Leben ist vorbei.« Ich hielt es für einen großen Triumph in der Geschichte der selbstbestimmten Frauen, dass ich das sagen konnte, ohne zu heulen, zu schniefen oder auch nur zu stocken. Mein Kinn hob sich um mindestens einen Zentimeter. Das Schicksal hatte mich arg gebeutelt, hatte mich in die Hoffnungslosigkeit katapultiert, aber ich ging hocherhobenen Kopfes unter. Eine tragische Heldin der Neuzeit. Im Film würde jetzt weinerliche Geigenmusik erklingen.
»Ach du großer Gott, wenn sonst nichts ist ...« Die Alte tat mein Leid mit einem Lächeln ab. Ich wollte protestieren, wollte ihr klarmachen, wie schrecklich es mich getroffen hatte, wie unfair das Leben mit mir umgesprungen war und dass sie das nicht schulterzuckend abtun dürfe. Nur weil sie im Ersten Weltkrieg Gräueltaten im Schützengraben miterlebt hatte oder womit alte Menschen sonst ihre Mein-Leben-ist-aber-noch-viel-tragischer- Vergleiche gewannen. Doch da ging die Abteiltür erneut auf. »Zugestiegene, die Fahrkarten, bitte.« Die junge Schaffnerin sprach's, hustete und trat einen Schritt zurück in den Gang. Die alte Frau kicherte.
Ich reichte meine Fahrkarte hinaus. »In Wagen drei sind noch Plätze frei, wenn Sie das Abteil wechseln möchten«, bot die Schaffnerin an. »Nein danke«, sagte die alte Frau. »Ich überlege es mir noch«, erwiderte ich. Die Schaffnerin schloss die Tür. Ich sah, wie sie sich draußen im Gang an einer Scheibe abstützte und mehrmals tief Luft holte.
»Eine geniale Mischung aus Zigarettenrauch und Mottenkugeln. « Die Alte klopfte grinsend auf ihre Gobelin- Handtasche im Retro-Stil und lächelte mich an. »In Verbindung mit einem Stück Münsterkäse.« Sie hob die BILD-Zeitung, die auf dem Platz neben ihr lag und unter der in der Tat ein halbausgepackter Käse zum Vorschein kam. »Diese Methode garantiert mir seit Jahren ein Abteil für mich. Das hält keiner aus.«
»Mit Ausnahme von mir.« Langsam zu Tode gestunken zu werden passte in die Mythisierung meiner Person als tragische Heldin.
»Sie gehen bestimmt auch bald. Man sagt ja immer, irgendwann gewöhne sich die Nase an schlechte Gerüche und nehme sie gar nicht mehr wahr. Aber das dauert weitaus länger, als es die meisten Menschen ertragen können.« Die Alte strickte weiter. Mein Ehrgeiz war geweckt.
Schon als Kind wuchs ich genau dann über mich hinaus, wenn irgendjemand behauptete, ich könne dieses oder jenes nicht. Meistens sollte dieser Jemand mit seiner Einschätzung zwar recht behalten, aber ich gab niemals kampflos auf und ging immerhin wild strampelnd unter. Und obwohl ich gedacht hatte, dass mir dieser Kampfgeist in den letzten Jahren abhandengekommen sei, war er offenbar noch da.
Demonstrativ zog ich meinen Trench aus und legte meinen Rucksack auf die Gepäckablage, setzte mich und verschränkte die Arme.
»Schon besser«, kommentierte die Alte. »Jetzt machen Sie auf Trotzkopf und ziehen keine Ich-will-sterben- Schnute mehr. Das gefällt mir. Frauen müssen stark sein! Knesebeck«, stellte sie sich vor. »Nennen Sie mich Doris.«
»Mara.« Ich entfaltete meine Arme.
»Mara, was soll denn das für ein Name sein?«, fragte die Knesebeck. Sie fragte es streng. Vermutlich würde ich beim nächsten Halt doch so tun, als müsste ich aussteigen. Nur zum Teil wegen des Gestanks, hauptsächlich wegen ihrer einmischenden, neugierigen, übergriffigen Art. Und natürlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war auf den Namen Maria getauft, hatte Maria aber immer für altbacken und bieder gehalten und darum das »i« unter den Tisch fallen lassen. Meine Mutter hatte das albern gefunden, wohl auch als Angriff auf ihre Namenswahl, und bis zu ihrem Tod hatte sie das »i« nun gerade besonders betont. MarIa.
»Bis wohin fahren Sie denn?«, fragte ich statt einer Antwort. Ich fand mich keck. Uma Thurman hätte es genauso gehalten.
»Bis Lübeck. Also, bis Hamburg, wo ich umsteigen muss.«
Na bravo, bis zum Endbahnhof. So schnell würde ich sie also nicht los. Die alte Dame legte ihr Strickzeug zur Seite. »Ich liebe Lübecker Marzipan. Ich habe auch Verwandte dort, denen ich immer erzähle, wie gern ich sie besuche. Aber im Grunde fahre ich nur wegen des Marzipans nach Lübeck. Direkt vor Ort gekauft schmeckt es einfach besser, als wenn man es hier im Süden beim Feinkosthändler ersteht. Hier, probieren Sie.« Sie schob mir etwas Herzförmiges in rotem Glanzpapier über die Ablage zu und nahm ihr Ringelsockengestricke wieder zur Hand.
»Danke nein.«
»Wieso nicht? Achten Sie etwa auf Ihre Figur?« Sie schaute über ihre Strickarbeit auf mein dezent hellblaues, bügelfreies, unkaputtbares Reisekleid aus Polyester. Gab es seit Twiggy eine im Westen sozialisierte Frau, die nicht auf ihre Figur achtete? Ich fand mich fett. Jede Frau findet sich fett, selbst eine Größe 36, ich aber hatte mir in meiner Beziehungsendetrauerphase eine satte Kleidergröße mehr angefuttert, trug jetzt Größe 42, und das war definitiv am Anschlag. Vielleicht lag es daran, dass man im Alter einen langsameren Stoffwechsel hatte, aber wenn ich das Marzipan nur ansah, spürte ich schon, wie meine Hüfte wieder einen halben Millimeter in die Breite poppte. »Natürlich achte ich auf meine Figur, man sollte sich nicht gehenlassen.«
Ich schaute auf Knesebecks Blazer, aber unter dieser bunten, geruchsintensiven Monstrosität war nicht genau auszumachen, wie viel sie wog. Jedenfalls war sie keine Größe 36, und somit war meine Bemerkung tendenziell eine Frechheit. Zumal ich sie mit einem anzüglichen Augenbrauenwackeln krönte.
Frau Knesebeck lächelte nur. »Kindchen, machen Sie sich nicht verrückt. Werfen Sie die Regeln über Bord. Was Sie brauchen, ist Lebenslust. Lust an gutem Essen, Lust auf Männer, einfach mal wieder laut singen und tanzen und lachen.« In diesem Satz hätte so mancher jetzt sicher profunde Altersweisheit gesehen. Ich nicht. Eine billige Plattitüde erkenne ich auch in finsterster Nacht und bei Gegenwind.
»Als Fettleibige tanzt man nicht, und Männer übersehen einen. Weshalb man auch nichts zu singen und zu lachen hat.« Ich musste an den Geschäftsreisenden denken. Wann hatten Männer aufgehört, mich wahrzunehmen? Mir nachzuschauen? Gar nachzupfeifen? War das irgendwann während meiner Beziehung passiert? Oder war das der zusätzliche Bonus des Verlassenwordenseins?
Frau Knesebeck kicherte. »Bis Sie fettleibig sind, Kindchen, gehen noch ein paar Tonnen Marzipan ins Land.« Ihre Nadeln klapperten. »Marilyn Monroe war übrigens eine Kleidergröße 42, und die konnte sich über mangelndes männliches Interesse nicht beschweren.« Stummer Zwischengedanke: Woher wusste diese Frau, welche Größe ich trug?
Lauter Einwurf: »Nun ja, Marilyn Monroe, das war im vorigen Jahrhundert. Heutzutage gelten andere Schönheitsmaßstäbe. «
Strenger Blick über den Brillenrand. »Sie sind wirklich fest entschlossen, sich in Selbstmitleid zu suhlen, oder? Glauben Sie mir, das macht Sie unattraktiv, nicht die Hängebrüste und die Cellulite.« Cellulite? HÄNGEBRÜSTE?
»Kindchen«, sagte die Knesebeck, und ihre Nadeln klapperten geräuschvoll dazu, »Kindchen, Sie kennen doch den Satz: Die beste Art, über einen Mann hinwegzukommen, ist, unter einen anderen Mann zu kommen. Ich kann Ihnen nur raten, sich wieder in den Sattel zu schwingen. Und glauben Sie mir: Männer nehmen, was sie kriegen können. Hauptsache, willig.« Darauf fiel mir so schnell keine passende Erwiderung ein. Ich war gleichzeitig empört, erbost und peinlich berührt. »Der nächste Halt in wenigen Minuten ist Mannheim Hauptbahnhof«, knackte es durch die Lautsprecheranlage. »Sie erreichen dort alle vorgesehenen Anschlüsse. Vielen Dank für Ihre Fahrt mit der Deutschen Bahn.«
»Ah, wir sind immer noch pünktlich«, freute sich Frau Knesebeck, »dann erreiche ich meinen Anschlusszug.«
Es lagen noch fünf Stunden Fahrt vor uns, in denen weiß Gott was passieren konnte - Personen auf den Gleisen, Schafe auf den Gleisen, Laub auf den Gleisen, vorausfahrender Zug auf den Gleisen -, womöglich wurden aus den fünf Stunden sechs oder sieben oder die Unendlichkeit, aber die Knesebeck freute sich schon mal prophylaktisch. Diese Art von penetrantem Optimismus konnte einem gehörig auf den Keks gehen.
In Mannheim öffnete ein frisch Zugestiegener ahnungslos unsere Abteiltür. Gletscherblaue Augen, rote Locken. Mein Alter, wie ich aus den grauen Schläfen schloss, dunkelbraune Lederjacke im genau richtigen Maß an Abgewetztheit, Jeans, unaufdringliches, aber betörendes Aftershave. Das ich rasch inhalierte, bevor der Mottenkugelkäsegestank sein Territorium zurückeroberte. Der Mann, der mir gerade ein unwiderstehliches Lächeln schenken und fragen wollte, ob hier noch frei sei, zuckte entsetzt zurück, holte probeweise noch mal flach Luft, schloss rasch die Abteiltür und ging zügig weiter. Schade. Wirklich schade. Ich mochte rote Haare ...
»Der hätte Ihnen gefallen, was?«, gluckste die Knesebeck, die offenbar Gedanken lesen konnte. Und die mir zunehmend unsympathisch wurde. Ich ignorierte ihre Frage und beschloss, mich die nächsten fünfhundert Kilometer nicht mit ihr herumzustreiten, stand auf, zog mein Buch aus dem Rucksack und setzte mich wieder. Das typische Knesebeckkichern ertönte. »Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist? Köstlich! « Für ihr Alter war ihre Sehschärfe erstaunlich gut. »Was wird Ihnen denn geraten? Eine Weltreise? Schoßhundhaltung? Eine Fahrt im Heißluftballon?« Sie kicherte noch etwas mehr. Ätzend, die Alte. Vor allem deshalb, weil sie immer den Nagel auf den Kopf traf. Ich hatte nicht übel Lust, sie mit einer ihrer Stricknadeln zu piksen. Richtig fest. Da, wo es weh tat. Und so, dass Blut spritzte. Quentin Tarantino sollte stolz auf mich sein. Pulp Fiction bei Tempo 273. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr, wie es ist, wenn man Liebeskummer hat, wenn die Welt, wie man sie bisher kannte, aufhört zu existieren, wenn ... Hatte ich das jetzt laut ausgesprochen? Zum Glück nicht. Also sagte ich: »Ich möchte einen Neuanfang wagen. Da ist man für Hinweisschilder dankbar.«
»Quatsch«, erklärte sie kategorisch, ließ eine Masche fallen und nahm sie wieder auf. »Liebeskummer ist wie eine Virusinfektion. Kommt drei Wochen, bleibt drei Wochen, geht drei Wochen. Der Liebeskummer, nicht die Virusinfektion. Wenn Sie nach der neunten Woche noch laborieren, machen Sie was falsch.« Verdammt, ich hatte also doch laut gesprochen! Ostentativ hob ich mir das aufgeschlagene Buch vors Gesicht, aber für die alte Dame war das als Hinweis zu subtil. Sie redete weiter. »Ich habe früher, als ich noch berufstätig war, als Musiktherapeutin mit Wachkomapatienten gearbeitet, und ich sage Ihnen: Genießen Sie einfach das Hier und Jetzt. Sie können keine Straßenkarte für den Rest Ihres Lebens erstellen. Das funktioniert nicht. Man weiß nie, wohin einen das Leben trägt. Aber ich habe gelernt: Es trägt einen. Immer!« Möglicherweise gab ich an dieser Stelle ein äußerst skeptisches »Hmpf« von mir. Oder schnaubte verächtlich.
»Na schön, Sie sind auf die Schnauze gefallen. Oder ...«, rief die Knesebeck rasch, als ich wieder die Ungerechtigkeit des Schicksals beschwören wollte, »... oder Sie wurden vom Schicksal böse gefoult. Egal. Aufstehen, Krone richten, weitergehen. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, quasi in der Originalverpackung ins Grab zu sinken, ohne Schrammen, jungfräulich, dellenlos. Im Gegenteil, schlittern Sie durchs Leben, knallen Sie auch mal gegen eine Wand, stürzen Sie hin, schlagen Sie sich die Knie blutig, aber leben Sie so, dass Sie am Ende, in diesem letzten kostbaren Moment, bevor es mit Ihnen vorbei ist, von ganzem Herzen rufen können: ›Meine Güte, was für eine wilde Fahrt!‹ Und bereuen Sie nichts! Niemals! «
Ich sah mir Frau Knesebeck genauer an. Die Dauerwelle, die ich in dieser Art schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts für ausgestorben gehalten hatte, den Mottenkugelzigarettenrauchblazer, die Omaschuhe mit Klettverschluss, die Stützstrümpfe, das Strickzeug (Ringelsocken in Hellblau und Rosa, ausgerechnet), und dachte: Erzähl du mir doch nichts vom Prickeln des Lebens.
Natürlich fing sie meinen Blick auf. »Schätzchen, ich bin alt, aber nicht tot. Ich lebe noch in vollen Zügen.« Das mochte buchstäblich der Wahrheit entsprechen, bildlich gesehen nahm ich es ihr nicht ab. Was man mir ansah. Wieder mal. Wohin auch immer mein Weg mich künftig führen sollte, Las Vegas und ein Leben als professionelle Spielerin würden mir in Ermangelung eines Pokerface verschlossen bleiben. Die Strickoma schüttelte den Kopf. »Oh bitte, sind Sie in Ihrem Alter wirklich noch so oberflächlich und unbedarft, dass Sie sich vom äußeren Erscheinungsbild täuschen lassen?« Diese Frage war natürlich zu verneinen. »Reißen Sie sich zusammen, Kindchen. Wagen Sie etwas, was Sie noch nie gewagt haben. Gehen Sie dem Lockenkopf in der Lederjacke nach und sprechen Sie ihn an!«
Das war natürlich vollkommen idiotisch. Möglicherweise lief ich in diesem Moment rot an. »Das kann ich nicht.«
Uma könnte. Die Uma aus Pulp Fiction und Kill Bill hätte das ohne mit der Wimper zu zucken getan, aber ich war nicht Uma. Ich würde niemals Uma sein. Verdammt. Ich brauchte ein anderes Vorbild.
»Klar können Sie! Wo, wenn nicht hier? Wir sind in einem Zug. Sie sehen diesen Mann niemals wieder. Das ist die ideale Chance, neue Verhaltensweisen zu üben.« Frau Knesebeck redete sich in Fahrt. Gleich würde sie »Tschakka!« rufen und mich über glühende Kohlen gehen lassen. Sie rief dann aber doch nicht »Tschakka!«, sondern sagte nur: »Kindchen, Sie sind zu alt für dumme Hemmungen. Hier hat sich Ihnen eine Chance aufgetan. Ergreifen Sie sie - das ist das Geheimnis. Das Schicksal belohnt Sie nicht dafür, ein anständiges Mädchen zu sein. Wenn alle passiv darauf warten würden, dass Amor seinen Pfeil abschießt, wäre die Menschheit längst ausgestorben. « Das Blöde an diesen Kalendersprüchen war, dass sie so verführerisch klangen. So logisch. So machbar.
»Ich wüsste gar nicht, was ich zu ihm sagen sollte.« Die Knesebeck hatte es geschafft. Wie eine Eintagsfliege klebte ich am Leim ihres Fliegenfängers. Und erhoffte mir von ihr einen hundertprozentig erfolgreichen Aufreißerspruch.
»Sagen Sie einfach, was Ihnen durch den Kopf schießt. Machen Sie sich mal locker, Kleine. Wir sind alle viel zu angestrengt. Sie, meine Liebe«, sie schaute mich über den Rand ihrer Brille streng an, »Sie sind viel zu angestrengt. Lassen Sie sich doch zur Abwechslung im Fluss des Lebens treiben und warten Sie ab, was passiert. Nicht tun, einfach nur zulassen. Und unbekümmert jede Chance, die sich bietet, nutzen! Das Lebensglück lässt sich nicht erzwingen, aber man kann ihm die Tür öffnen, wenn es anklopft.«
Das war mir dann doch zu viel an hehrer Weisheit vom Berge Knesebeck. Und außerdem fürchtete ich, dass es mir wie Obelix gehen könnte, der in einer Episode auf einer Amphitheaterbühne stand und auch einfach sagen sollte, was ihm durch den Kopf schoss. Doch es kam eben gelegentlich vor, dass ihm nichts durch den Kopf schoss. Die Knesebeck nadelte munter weiter. »Ach Kindchen, nur kühn voran. Der Mutigen gehört die Welt.« Ich schluckte. Und stand auf. Und trat auf den Gang hinaus, wo mehrere Touristen auf ihren Rucksäcken saßen.
Festen Schrittes marschierte ich in die Richtung, die jener entgegengesetzt war, die der Lockenkopf eingeschlagen hatte. Denn ich war noch nicht so weit, Fremdmänner anzusprechen. Vierzig Jahre antrainierte Kleinstadtmädchenhaftigkeit schüttelte man nicht einfach ab, nur weil eine strickende Oma einen dazu aufforderte.
Nein, ich würde mich eine Weile im Zugklo einschließen, und gut.
Als ich an den Rucksacktouristen vorüberging, drehten sie die Köpfe beiseite. Einer hielt sich die Nase zu. Frau Knesebecks Aroma war auf mich übergegangen. Na toll.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Männer sind wie phantastische Stöckelschuhe in der falschen Größe: Egal, wie sehr man sie liebt, was nicht geht, geht eben nicht und verursacht nur Hühneraugen, Blutblasen und Haltungsschäden. Aber natürlich ist man selbst immer die Letzte, die es merkt, lange nachdem die Fußpflegerin Alarm geschlagen hat. Was man stets für übertriebene Hysterie hielt. Bis es zu spät ist. Und man für den Rest seines irdischen Lebens mit einem Senk-spreiz-Klumpfuß geschlagen ist. Will heißen, mit einem vernarbten Herzen.
Kurzum, ich war frisch von meinem langjährigen Partner getrennt.
Genauer gesagt, er hat sich von mir getrennt, und ich hab's nicht kommen sehen. Das Übliche, wegen einer anderen. Einer halb so alten. Dass ich voll zum Klischee wurde, ärgerte mich fast noch mehr als das Verlassenwerden an sich. Ich hatte es einfach nicht kommen sehen. Doch am meisten machte mir zu schaffen, dass dieser Mann nicht den Anstand hatte, mich wegen einer doppelt so alten Frau zu verlassen. Das hätte meiner Geschichte wenigstens ein wenig modernes Flair verliehen.
Ich gönnte mir Selbstmitleidsanfälle und Depri-Schübe im Überfluss. Dazu die drei Ks: Kinderlosigkeitspanik, Klimakteriumsblues und Kleinstadtennui. Sogar Kehrwochenverweigerung! Ein gefährlicher Cocktail. Dazu kam noch, dass ich über vierzig war und - Tusch! - auch so aussah. Trotz Anti-Aging-Creme mit Hyper-ultra-super- Faltenglättung aus dem Drogeriemarkt.
Wenn man als Kind Trübsal bläst, sagen die Eltern gern: »Denk an die armen kleinen, hungernden Kinder in Afrika und sei dankbar.« In der Midlife-Crisis konnte man natürlich ebenfalls an die Afrikaner denken, die immer noch schlimm hungerten und dazu auch noch Aids hatten. Aber der Gedanke war nicht mehr tröstlich und führte auch nicht zu Dankbarkeit, sondern ließ einen noch viel mehr an der Welt verzweifeln. Weil die Menschheit offenbar nichts dazulernte.
Göttin sei Dank verfügte ich jedoch über starke Überlebensgene: Bevor ich mir den Suizid gab oder, schlimmer noch, mich mit dem Status quo abfand und den Rest meines Lebens in Lethargie und allenfalls im gelegentlichen Engagement für die Blumengruppe des örtlichen Trachtenvereins verbrachte, hatte ich - beim nächtlichen Zappen und Hängenbleiben in der Arm-ab-Blut-spritz- Sequenz von Kill Bill, Volume 2 - eine Epiphanie. So wurde ich gewissermaßen auf einen Schlag von der Saula zur Paula. Und das durch eine simple Frage: Was würde Uma Thurman an meiner Stelle tun?
Sie würde nicht Rotz und Wasser heulen, oh nein, sie würde sich einen Krummsäbel, ein Samuraischwert oder wenigstens einen Gemüseschäler schnappen und tatkräftig Gerechtigkeit einfordern. Jawohl! In mir erwachte die Vision zum Leben, Kill Bill nachzustellen. In der schwäbischen Provinzvariante.
Ich sprang zwar nicht gerade von der Couch und reckte die Hände in die Höhe, aber es war schon so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Ich würde es Uma gleichtun!
Nein, nicht bei der Umsetzung wilder Gewaltphantasien. Ich würde Rüdiger und seine Neue nicht mittig halbieren und auch nicht auf dem Wochenmarkt unserer Kleinstadt Amok laufen. Ich wollte vielmehr das Nächstbeste tun: mein altes Leben töten. Jawohl! Es massakrieren! Gesagt, getan. Am nächsten Morgen ließ ich mir beim Friseur meines Vertrauens die Haare schneiden (von der Azubine, dann kostet es nur zwölf Euro), gab einen erklecklichen Teil meiner geringen Ersparnisse für zwei (für mich gewagte) neue Kleider und ein paar hochhackige Schuhe aus, kündigte meinen ohnehin öden Job als stellvertretende Leiterin der »Frauenakademie« in der örtlichen Volkshochschule, packte meinen nigelnagelneuen knallroten Trolley und kaufte mir eine Bahnfahrkarte nach Hamburg. Im Gepäck das Buch Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist.
Ich wollte noch mal völlig neu anfangen. Wozu hatte ich all die öden Kleinstadtjahre lang ein - Achtung: Neudeutsch - Scrapbook geführt, mit Bildern, die ich aus Hochglanzzeitschriften ausgeschnitten hatte. Fotos von eleganten Lofts, schicken Menschen, die Champagner tranken, Reisen an exotische Orte. Mein Traum von einem soliden Mann, einem Reihenhaus und einem Boot auf dem Bodensee war zwar noch nicht ausgeträumt. Aber er wurde upgedatet. Von nun an wollte ich von einem eleganten Mann, einer Villa und der ultimativen Atlantiküberquerung im Luxusdampfer nach New York träumen. Gewissermaßen die Version 2.0 für Fortgeschrittene. Neuer Anlauf, neues Glück!
* * *
Röchelatmung. Im Wechsel mit Keuchen und Schnaufen. Gepaart mit ziemlich undamenhaftem Schweinsgalopp. So fing mein neues Leben an. Im Idealfall hat man am Bahnhof Stuttgart bequeme fünf Minuten zum Umsteigen, auch wenn man von Gleis 16 zu Gleis 9 muss, so zumindest die Aussage des Schalterbeamten beim Kauf der Fahrkarte. Aber wann tritt schon einmal der Idealfall ein?
Bei der Deutschen Bahn an diesem Morgen jedenfalls nicht.
Ich hatte mir in den Wochen zwischen Entschluss und Durchführung meines Plans alle Uma-Thurman-Kassenschlager, die unsere Videothek vorrätig hatte, ausgeliehen. Zur inneren Einstimmung. In einem der Batman-Filme hatte Uma Poison Ivy verkörpert, eine Öko-Terroristin, die unglaublich sexy war. Was mir ein Widerspruch in sich zu sein schien. Sexy Ökotante. So wie schwarzer Schimmel. Also, das Pferd, nicht das, was in Badezimmerfugen zu wachsen pflegt. Einen schwarzen Schimmel oder eine sexy Ökotante fand ich physikalisch nicht möglich. Nicht in diesem Universum. Umas Darstellung hatte mich dennoch tief beeindruckt, und natürlich kam für mich daraufhin nur die Bahn in Frage und nicht etwa die Mitfahrzentrale. Der Umwelt zuliebe. Wegen der Nachhaltigkeit.
Der Sprint beim Umsteigen forderte jedoch die ganze Frau.
Vielleicht hätte ich nicht all die Jahre dem Motto Sport ist Mord frönen sollen. Vielleicht wäre ich dann mit nur leicht geröteten Wangen und normaler Atmung in Wagen 5 des ICE nach Hamburg angekommen. So aber war ich binnen Sekunden, also auf Höhe von Gleis 15, nass geschwitzt, bekam keine Luft mehr und wurde nur von dem einen Gedanken getrieben: So wollte ich mein neues Leben nicht beginnen, dass ich den Anschluss verpasste. Eine Frau, ein Ziel!
Dank des Mannes, der den zweirädrigen Rollkoffer mit Teleskopgriff erfunden hat, schafften es mein Trolley und ich gerade noch rechtzeitig. War ja klar, dass so ein ICE die Länge eines Halbmarathons umfasst und dass der erste Wagen der zweiten Klasse mitnichten am Kopfende stand. Stattdessen gehörte am Vorerst-noch-Kopfbahnhof in Stuttgart der erste Wagen zur ersten Klasse, und man musste an drei Wagen plus Bordbistro vorbeitraben. Und dann hatte auch noch halb Süddeutschland beschlossen, an diesem völlig unscheinbaren Mittwoch von Stuttgart nach Hamburg fahren zu wollen. Der Zug war knallevoll. Und natürlich hatte ich keine Platzreservierung. Schwer atmend stieg ich ein, wollte angesichts der Überfüllung schon die Hoffnung auf einen Sitzplatz fahrenlassen und visualisierte, wie ich fünf Stunden lang auf meinem Trolley im Gang kampierte. Gleich im zweiten Abteil nach der Zugtoilette jedoch saß nur eine alte Dame mit Strickzeug. Ganz allein. Wieso ganz allein? Das hätte mir zu denken geben sollen ... Ich öffnete die Tür und röchelatmete hinein. »Ist ... hier ... noch ... frei?« Die Frau sah kurz von ihrem Strickzeug zu mir auf. Ende sechzig, würde ich schätzen. Hamsterbacken, die längst der Schwerkraft folgend nach unten gerutscht waren. Der spärliche Haarbewuchs dauergewellt und in einem künstlichen Sandbraun gefärbt. Ein knallbunter, mehrfarbig gestreifter Blazer zu einem graumelierten Tweedrock und hässlichen braunen Gesundheitsschuhen mit Velcro-Verschluss.
»Nur immer frisch herein, Kindchen.« Ein Lächeln begleitete diese Aufforderung nicht.
Ich schob meinen Koffer ins Abteil, während hinter mir ein hochgewachsener Geschäftsreisender im Maßanzug und mit Handy am Ohr ebenfalls eintreten wollte, kurz stockte und rasch weiterging.
»Um den ist es nicht schade«, erklärte die Endsechzigerin, ohne sich im Strickfluss unterbrechen zu lassen, während ich dem schmalen Rücken des Mannes nachschaute, der mich null wahrgenommen hatte. Also, der Mann, nicht der Rücken.
»Der hätte die ganze Zeit nur telefoniert. Aber nichts, was man gerne hört. Streit mit seiner Frau, Terminabsprachen mit seiner Geliebten oder, noch schlimmer, irgendwelche öden Bürogespräche.« Ich, die ich mir - wie so oft in letzter Zeit - unsichtbar vorkam, nickte nur. Meine Atmung normalisierte sich langsam, und mein Geruchssinn kehrte zurück.
Meine Großmutter hatte immer nach Tosca gerochen. Die Großmutter meiner Freundin nach Lavendelseife. Diese Großmutter hier - aus den winzigen Ringelsöckchen, die sie strickte, schloss ich, dass sie Großmutter war - roch nach ... Mein Gott, was war das nur? Jedenfalls stank es infernalisch. Ich überlegte mir, mit welcher Ausrede ich mich aus diesem Abteil verabschieden konnte, als eine junge Mutter mit umgeschnalltem Baby vor dem Bauch und einem süßen Kleinkind an der Linken die Tür öffnete, kurz Luft holte, gekünstelt lächelte und wortlos die Tür wieder schloss.
»Gut so«, befand die Strick-Oma. »Ich hasse es, mit Kindern zu reisen. Die sind laut und quengelig und nerven. « Das war jetzt wiederum nicht so typisch großmütterlich. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass mit dem Abschluss des Klimakteriums ein »Ei, dei, dei«-Gen aktiviert wurde, das alte Frauen dazu brachte, sich gurrend über grundsätzlich jeden Kinderwagen zu beugen, ausnahmslos alle Kleinkindfrisuren zu zerzausen und allein bei der Erwähnung des Wortes »Kind« dahinzuschmelzen. Ausnahme von dieser Regel bildeten allenfalls workaholische Karrierefrauen. Ganz sicher aber nicht strickende Greisinnen mit Dauerwelle. Ich spürte erste Risse in meinem festgefügten Weltbild.
Meine Abteilnachbarin nölte aber nicht nur über Mütter und Manager. Als ein Jungmann im selbstgestrickten Norweger die Abteiltür öffnete, rief sie: »Alles besetzt!« Kaum hatte er die Tür wieder geschlossen, erklärte sie: »Den können wir hier nicht gebrauchen. Der sah missionarisch aus. Hätte uns bestimmt Werbe-Flyer für ein veganes Leben in die Hand gedrückt.« Also, diese Strickerin war alles, nur keine liebenswürdige, altersmilde Großmutter.
In diesem Moment überkam mich ein Gedanke: Ende sechzig. Die Frau vor mir war Ende sechzig. Ja, Großmutteralter. Aber nicht meine Großmutter. Rein rechnerisch unmöglich. Allenfalls, wenn sie - wie früher in unseren Breitengraden und noch heute in abgelegenen Urwalddörfern üblich - mit zwölf zwangsverheiratet worden und gleich schwanger geworden wäre und auch ihre Erstgeborene dieses Schicksal geteilt hätte. Nein, diese Frau könnte höchstens meine Mutter sein. Was im Umkehrschluss bedeutete: Für mich lautete der nächste Halt nicht Mannheim, sondern Altersheim. Mir wurde klar, ich hatte die Hälfte meines Lebens hinter mir. Immer vorausgesetzt, dass ich das deutsche Durchschnittsalter überhaupt erreichte. Das deprimierte mich so schlagartig so sehr, dass ich mich, immer noch im Trench, einfach fallen ließ und mit leerem Blick auf den Abteilboden schaute.
Die folgenden fünf Stunden und acht Minuten Fahrt gedachte ich mich in Selbstmitleid zu suhlen. Ach was, versinken wollte ich darin, wie in Treibsand. Doch weit gefehlt.
»Mein Gott, Kindchen, was ist denn mit Ihnen los? Müssen Sie so eine Schnute ziehen? Da wird ja die Kaffeemilch sauer. Das kann ich nicht gebrauchen. Der Zugkaffee ist teuer genug.«
Hatte sie das jetzt wirklich gesagt? Ich hörte nur das Klappern der Stricknadeln. Allerdings stand tatsächlich ein Kaffeebecher aus dem Bordbistro vor ihr. Flockte die Milch wirklich aus? Ich räusperte mich.
»Mein Lebensgefährte hat mich verlassen. Ich bin alt, und der Lack ist ab. Mein Leben ist vorbei.« Ich hielt es für einen großen Triumph in der Geschichte der selbstbestimmten Frauen, dass ich das sagen konnte, ohne zu heulen, zu schniefen oder auch nur zu stocken. Mein Kinn hob sich um mindestens einen Zentimeter. Das Schicksal hatte mich arg gebeutelt, hatte mich in die Hoffnungslosigkeit katapultiert, aber ich ging hocherhobenen Kopfes unter. Eine tragische Heldin der Neuzeit. Im Film würde jetzt weinerliche Geigenmusik erklingen.
»Ach du großer Gott, wenn sonst nichts ist ...« Die Alte tat mein Leid mit einem Lächeln ab. Ich wollte protestieren, wollte ihr klarmachen, wie schrecklich es mich getroffen hatte, wie unfair das Leben mit mir umgesprungen war und dass sie das nicht schulterzuckend abtun dürfe. Nur weil sie im Ersten Weltkrieg Gräueltaten im Schützengraben miterlebt hatte oder womit alte Menschen sonst ihre Mein-Leben-ist-aber-noch-viel-tragischer- Vergleiche gewannen. Doch da ging die Abteiltür erneut auf. »Zugestiegene, die Fahrkarten, bitte.« Die junge Schaffnerin sprach's, hustete und trat einen Schritt zurück in den Gang. Die alte Frau kicherte.
Ich reichte meine Fahrkarte hinaus. »In Wagen drei sind noch Plätze frei, wenn Sie das Abteil wechseln möchten«, bot die Schaffnerin an. »Nein danke«, sagte die alte Frau. »Ich überlege es mir noch«, erwiderte ich. Die Schaffnerin schloss die Tür. Ich sah, wie sie sich draußen im Gang an einer Scheibe abstützte und mehrmals tief Luft holte.
»Eine geniale Mischung aus Zigarettenrauch und Mottenkugeln. « Die Alte klopfte grinsend auf ihre Gobelin- Handtasche im Retro-Stil und lächelte mich an. »In Verbindung mit einem Stück Münsterkäse.« Sie hob die BILD-Zeitung, die auf dem Platz neben ihr lag und unter der in der Tat ein halbausgepackter Käse zum Vorschein kam. »Diese Methode garantiert mir seit Jahren ein Abteil für mich. Das hält keiner aus.«
»Mit Ausnahme von mir.« Langsam zu Tode gestunken zu werden passte in die Mythisierung meiner Person als tragische Heldin.
»Sie gehen bestimmt auch bald. Man sagt ja immer, irgendwann gewöhne sich die Nase an schlechte Gerüche und nehme sie gar nicht mehr wahr. Aber das dauert weitaus länger, als es die meisten Menschen ertragen können.« Die Alte strickte weiter. Mein Ehrgeiz war geweckt.
Schon als Kind wuchs ich genau dann über mich hinaus, wenn irgendjemand behauptete, ich könne dieses oder jenes nicht. Meistens sollte dieser Jemand mit seiner Einschätzung zwar recht behalten, aber ich gab niemals kampflos auf und ging immerhin wild strampelnd unter. Und obwohl ich gedacht hatte, dass mir dieser Kampfgeist in den letzten Jahren abhandengekommen sei, war er offenbar noch da.
Demonstrativ zog ich meinen Trench aus und legte meinen Rucksack auf die Gepäckablage, setzte mich und verschränkte die Arme.
»Schon besser«, kommentierte die Alte. »Jetzt machen Sie auf Trotzkopf und ziehen keine Ich-will-sterben- Schnute mehr. Das gefällt mir. Frauen müssen stark sein! Knesebeck«, stellte sie sich vor. »Nennen Sie mich Doris.«
»Mara.« Ich entfaltete meine Arme.
»Mara, was soll denn das für ein Name sein?«, fragte die Knesebeck. Sie fragte es streng. Vermutlich würde ich beim nächsten Halt doch so tun, als müsste ich aussteigen. Nur zum Teil wegen des Gestanks, hauptsächlich wegen ihrer einmischenden, neugierigen, übergriffigen Art. Und natürlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war auf den Namen Maria getauft, hatte Maria aber immer für altbacken und bieder gehalten und darum das »i« unter den Tisch fallen lassen. Meine Mutter hatte das albern gefunden, wohl auch als Angriff auf ihre Namenswahl, und bis zu ihrem Tod hatte sie das »i« nun gerade besonders betont. MarIa.
»Bis wohin fahren Sie denn?«, fragte ich statt einer Antwort. Ich fand mich keck. Uma Thurman hätte es genauso gehalten.
»Bis Lübeck. Also, bis Hamburg, wo ich umsteigen muss.«
Na bravo, bis zum Endbahnhof. So schnell würde ich sie also nicht los. Die alte Dame legte ihr Strickzeug zur Seite. »Ich liebe Lübecker Marzipan. Ich habe auch Verwandte dort, denen ich immer erzähle, wie gern ich sie besuche. Aber im Grunde fahre ich nur wegen des Marzipans nach Lübeck. Direkt vor Ort gekauft schmeckt es einfach besser, als wenn man es hier im Süden beim Feinkosthändler ersteht. Hier, probieren Sie.« Sie schob mir etwas Herzförmiges in rotem Glanzpapier über die Ablage zu und nahm ihr Ringelsockengestricke wieder zur Hand.
»Danke nein.«
»Wieso nicht? Achten Sie etwa auf Ihre Figur?« Sie schaute über ihre Strickarbeit auf mein dezent hellblaues, bügelfreies, unkaputtbares Reisekleid aus Polyester. Gab es seit Twiggy eine im Westen sozialisierte Frau, die nicht auf ihre Figur achtete? Ich fand mich fett. Jede Frau findet sich fett, selbst eine Größe 36, ich aber hatte mir in meiner Beziehungsendetrauerphase eine satte Kleidergröße mehr angefuttert, trug jetzt Größe 42, und das war definitiv am Anschlag. Vielleicht lag es daran, dass man im Alter einen langsameren Stoffwechsel hatte, aber wenn ich das Marzipan nur ansah, spürte ich schon, wie meine Hüfte wieder einen halben Millimeter in die Breite poppte. »Natürlich achte ich auf meine Figur, man sollte sich nicht gehenlassen.«
Ich schaute auf Knesebecks Blazer, aber unter dieser bunten, geruchsintensiven Monstrosität war nicht genau auszumachen, wie viel sie wog. Jedenfalls war sie keine Größe 36, und somit war meine Bemerkung tendenziell eine Frechheit. Zumal ich sie mit einem anzüglichen Augenbrauenwackeln krönte.
Frau Knesebeck lächelte nur. »Kindchen, machen Sie sich nicht verrückt. Werfen Sie die Regeln über Bord. Was Sie brauchen, ist Lebenslust. Lust an gutem Essen, Lust auf Männer, einfach mal wieder laut singen und tanzen und lachen.« In diesem Satz hätte so mancher jetzt sicher profunde Altersweisheit gesehen. Ich nicht. Eine billige Plattitüde erkenne ich auch in finsterster Nacht und bei Gegenwind.
»Als Fettleibige tanzt man nicht, und Männer übersehen einen. Weshalb man auch nichts zu singen und zu lachen hat.« Ich musste an den Geschäftsreisenden denken. Wann hatten Männer aufgehört, mich wahrzunehmen? Mir nachzuschauen? Gar nachzupfeifen? War das irgendwann während meiner Beziehung passiert? Oder war das der zusätzliche Bonus des Verlassenwordenseins?
Frau Knesebeck kicherte. »Bis Sie fettleibig sind, Kindchen, gehen noch ein paar Tonnen Marzipan ins Land.« Ihre Nadeln klapperten. »Marilyn Monroe war übrigens eine Kleidergröße 42, und die konnte sich über mangelndes männliches Interesse nicht beschweren.« Stummer Zwischengedanke: Woher wusste diese Frau, welche Größe ich trug?
Lauter Einwurf: »Nun ja, Marilyn Monroe, das war im vorigen Jahrhundert. Heutzutage gelten andere Schönheitsmaßstäbe. «
Strenger Blick über den Brillenrand. »Sie sind wirklich fest entschlossen, sich in Selbstmitleid zu suhlen, oder? Glauben Sie mir, das macht Sie unattraktiv, nicht die Hängebrüste und die Cellulite.« Cellulite? HÄNGEBRÜSTE?
»Kindchen«, sagte die Knesebeck, und ihre Nadeln klapperten geräuschvoll dazu, »Kindchen, Sie kennen doch den Satz: Die beste Art, über einen Mann hinwegzukommen, ist, unter einen anderen Mann zu kommen. Ich kann Ihnen nur raten, sich wieder in den Sattel zu schwingen. Und glauben Sie mir: Männer nehmen, was sie kriegen können. Hauptsache, willig.« Darauf fiel mir so schnell keine passende Erwiderung ein. Ich war gleichzeitig empört, erbost und peinlich berührt. »Der nächste Halt in wenigen Minuten ist Mannheim Hauptbahnhof«, knackte es durch die Lautsprecheranlage. »Sie erreichen dort alle vorgesehenen Anschlüsse. Vielen Dank für Ihre Fahrt mit der Deutschen Bahn.«
»Ah, wir sind immer noch pünktlich«, freute sich Frau Knesebeck, »dann erreiche ich meinen Anschlusszug.«
Es lagen noch fünf Stunden Fahrt vor uns, in denen weiß Gott was passieren konnte - Personen auf den Gleisen, Schafe auf den Gleisen, Laub auf den Gleisen, vorausfahrender Zug auf den Gleisen -, womöglich wurden aus den fünf Stunden sechs oder sieben oder die Unendlichkeit, aber die Knesebeck freute sich schon mal prophylaktisch. Diese Art von penetrantem Optimismus konnte einem gehörig auf den Keks gehen.
In Mannheim öffnete ein frisch Zugestiegener ahnungslos unsere Abteiltür. Gletscherblaue Augen, rote Locken. Mein Alter, wie ich aus den grauen Schläfen schloss, dunkelbraune Lederjacke im genau richtigen Maß an Abgewetztheit, Jeans, unaufdringliches, aber betörendes Aftershave. Das ich rasch inhalierte, bevor der Mottenkugelkäsegestank sein Territorium zurückeroberte. Der Mann, der mir gerade ein unwiderstehliches Lächeln schenken und fragen wollte, ob hier noch frei sei, zuckte entsetzt zurück, holte probeweise noch mal flach Luft, schloss rasch die Abteiltür und ging zügig weiter. Schade. Wirklich schade. Ich mochte rote Haare ...
»Der hätte Ihnen gefallen, was?«, gluckste die Knesebeck, die offenbar Gedanken lesen konnte. Und die mir zunehmend unsympathisch wurde. Ich ignorierte ihre Frage und beschloss, mich die nächsten fünfhundert Kilometer nicht mit ihr herumzustreiten, stand auf, zog mein Buch aus dem Rucksack und setzte mich wieder. Das typische Knesebeckkichern ertönte. »Die 48 ultimativen Dinge, die du getan haben solltest, bevor du 48 bist? Köstlich! « Für ihr Alter war ihre Sehschärfe erstaunlich gut. »Was wird Ihnen denn geraten? Eine Weltreise? Schoßhundhaltung? Eine Fahrt im Heißluftballon?« Sie kicherte noch etwas mehr. Ätzend, die Alte. Vor allem deshalb, weil sie immer den Nagel auf den Kopf traf. Ich hatte nicht übel Lust, sie mit einer ihrer Stricknadeln zu piksen. Richtig fest. Da, wo es weh tat. Und so, dass Blut spritzte. Quentin Tarantino sollte stolz auf mich sein. Pulp Fiction bei Tempo 273. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr, wie es ist, wenn man Liebeskummer hat, wenn die Welt, wie man sie bisher kannte, aufhört zu existieren, wenn ... Hatte ich das jetzt laut ausgesprochen? Zum Glück nicht. Also sagte ich: »Ich möchte einen Neuanfang wagen. Da ist man für Hinweisschilder dankbar.«
»Quatsch«, erklärte sie kategorisch, ließ eine Masche fallen und nahm sie wieder auf. »Liebeskummer ist wie eine Virusinfektion. Kommt drei Wochen, bleibt drei Wochen, geht drei Wochen. Der Liebeskummer, nicht die Virusinfektion. Wenn Sie nach der neunten Woche noch laborieren, machen Sie was falsch.« Verdammt, ich hatte also doch laut gesprochen! Ostentativ hob ich mir das aufgeschlagene Buch vors Gesicht, aber für die alte Dame war das als Hinweis zu subtil. Sie redete weiter. »Ich habe früher, als ich noch berufstätig war, als Musiktherapeutin mit Wachkomapatienten gearbeitet, und ich sage Ihnen: Genießen Sie einfach das Hier und Jetzt. Sie können keine Straßenkarte für den Rest Ihres Lebens erstellen. Das funktioniert nicht. Man weiß nie, wohin einen das Leben trägt. Aber ich habe gelernt: Es trägt einen. Immer!« Möglicherweise gab ich an dieser Stelle ein äußerst skeptisches »Hmpf« von mir. Oder schnaubte verächtlich.
»Na schön, Sie sind auf die Schnauze gefallen. Oder ...«, rief die Knesebeck rasch, als ich wieder die Ungerechtigkeit des Schicksals beschwören wollte, »... oder Sie wurden vom Schicksal böse gefoult. Egal. Aufstehen, Krone richten, weitergehen. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, quasi in der Originalverpackung ins Grab zu sinken, ohne Schrammen, jungfräulich, dellenlos. Im Gegenteil, schlittern Sie durchs Leben, knallen Sie auch mal gegen eine Wand, stürzen Sie hin, schlagen Sie sich die Knie blutig, aber leben Sie so, dass Sie am Ende, in diesem letzten kostbaren Moment, bevor es mit Ihnen vorbei ist, von ganzem Herzen rufen können: ›Meine Güte, was für eine wilde Fahrt!‹ Und bereuen Sie nichts! Niemals! «
Ich sah mir Frau Knesebeck genauer an. Die Dauerwelle, die ich in dieser Art schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts für ausgestorben gehalten hatte, den Mottenkugelzigarettenrauchblazer, die Omaschuhe mit Klettverschluss, die Stützstrümpfe, das Strickzeug (Ringelsocken in Hellblau und Rosa, ausgerechnet), und dachte: Erzähl du mir doch nichts vom Prickeln des Lebens.
Natürlich fing sie meinen Blick auf. »Schätzchen, ich bin alt, aber nicht tot. Ich lebe noch in vollen Zügen.« Das mochte buchstäblich der Wahrheit entsprechen, bildlich gesehen nahm ich es ihr nicht ab. Was man mir ansah. Wieder mal. Wohin auch immer mein Weg mich künftig führen sollte, Las Vegas und ein Leben als professionelle Spielerin würden mir in Ermangelung eines Pokerface verschlossen bleiben. Die Strickoma schüttelte den Kopf. »Oh bitte, sind Sie in Ihrem Alter wirklich noch so oberflächlich und unbedarft, dass Sie sich vom äußeren Erscheinungsbild täuschen lassen?« Diese Frage war natürlich zu verneinen. »Reißen Sie sich zusammen, Kindchen. Wagen Sie etwas, was Sie noch nie gewagt haben. Gehen Sie dem Lockenkopf in der Lederjacke nach und sprechen Sie ihn an!«
Das war natürlich vollkommen idiotisch. Möglicherweise lief ich in diesem Moment rot an. »Das kann ich nicht.«
Uma könnte. Die Uma aus Pulp Fiction und Kill Bill hätte das ohne mit der Wimper zu zucken getan, aber ich war nicht Uma. Ich würde niemals Uma sein. Verdammt. Ich brauchte ein anderes Vorbild.
»Klar können Sie! Wo, wenn nicht hier? Wir sind in einem Zug. Sie sehen diesen Mann niemals wieder. Das ist die ideale Chance, neue Verhaltensweisen zu üben.« Frau Knesebeck redete sich in Fahrt. Gleich würde sie »Tschakka!« rufen und mich über glühende Kohlen gehen lassen. Sie rief dann aber doch nicht »Tschakka!«, sondern sagte nur: »Kindchen, Sie sind zu alt für dumme Hemmungen. Hier hat sich Ihnen eine Chance aufgetan. Ergreifen Sie sie - das ist das Geheimnis. Das Schicksal belohnt Sie nicht dafür, ein anständiges Mädchen zu sein. Wenn alle passiv darauf warten würden, dass Amor seinen Pfeil abschießt, wäre die Menschheit längst ausgestorben. « Das Blöde an diesen Kalendersprüchen war, dass sie so verführerisch klangen. So logisch. So machbar.
»Ich wüsste gar nicht, was ich zu ihm sagen sollte.« Die Knesebeck hatte es geschafft. Wie eine Eintagsfliege klebte ich am Leim ihres Fliegenfängers. Und erhoffte mir von ihr einen hundertprozentig erfolgreichen Aufreißerspruch.
»Sagen Sie einfach, was Ihnen durch den Kopf schießt. Machen Sie sich mal locker, Kleine. Wir sind alle viel zu angestrengt. Sie, meine Liebe«, sie schaute mich über den Rand ihrer Brille streng an, »Sie sind viel zu angestrengt. Lassen Sie sich doch zur Abwechslung im Fluss des Lebens treiben und warten Sie ab, was passiert. Nicht tun, einfach nur zulassen. Und unbekümmert jede Chance, die sich bietet, nutzen! Das Lebensglück lässt sich nicht erzwingen, aber man kann ihm die Tür öffnen, wenn es anklopft.«
Das war mir dann doch zu viel an hehrer Weisheit vom Berge Knesebeck. Und außerdem fürchtete ich, dass es mir wie Obelix gehen könnte, der in einer Episode auf einer Amphitheaterbühne stand und auch einfach sagen sollte, was ihm durch den Kopf schoss. Doch es kam eben gelegentlich vor, dass ihm nichts durch den Kopf schoss. Die Knesebeck nadelte munter weiter. »Ach Kindchen, nur kühn voran. Der Mutigen gehört die Welt.« Ich schluckte. Und stand auf. Und trat auf den Gang hinaus, wo mehrere Touristen auf ihren Rucksäcken saßen.
Festen Schrittes marschierte ich in die Richtung, die jener entgegengesetzt war, die der Lockenkopf eingeschlagen hatte. Denn ich war noch nicht so weit, Fremdmänner anzusprechen. Vierzig Jahre antrainierte Kleinstadtmädchenhaftigkeit schüttelte man nicht einfach ab, nur weil eine strickende Oma einen dazu aufforderte.
Nein, ich würde mich eine Weile im Zugklo einschließen, und gut.
Als ich an den Rucksacktouristen vorüberging, drehten sie die Köpfe beiseite. Einer hielt sich die Nase zu. Frau Knesebecks Aroma war auf mich übergegangen. Na toll.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Tatjana Kruse
Tatjana Kruse, Jahrgang 1960, lebt und arbeitet in Schwäbisch Hall. Sie ist überzeugte Krimiautorin. Sie wurde bereits mit dem "Marlowe" der Raymond-Chandler-Gesellschaft ausgezeichnet und mehrmals für den Agatha-Christie-Preis nominiert. Mit Siegfried Seifferheld, ihrem eigenwilligen Kommissar im Unruhestand, ist Tatjana Kruse ein äußerst sympathischer Serienheld gelungen. Nach "Kreuzstich, Bienenstich, Herzstich" gibt es nun den zweiten Roman um den Kommissar aus Schwäbisch Hall.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tatjana Kruse
- 288 Seiten, Maße: 13,1 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655389
- ISBN-13: 9783863655389
Kommentare zu "Jeder Mann ein Treffer"
0 Gebrauchte Artikel zu „Jeder Mann ein Treffer“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 4Schreiben Sie einen Kommentar zu "Jeder Mann ein Treffer".
Kommentar verfassen