Jener Tag im Winter
Das einfühlsame Psychogramm eines Menschen in der Krise
Keith Gordons Leben ist eigentlich schon unerquicklich genug: Drei Jahre ist es her, dass der Mittvierziger von seiner Frau wegen eines unbedeutenden Seitensprungs nach zwei Jahrzehnten Ehe vor die...
Keith Gordons Leben ist eigentlich schon unerquicklich genug: Drei Jahre ist es her, dass der Mittvierziger von seiner Frau wegen eines unbedeutenden Seitensprungs nach zwei Jahrzehnten Ehe vor die...
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Produktinformationen zu „Jener Tag im Winter “
Das einfühlsame Psychogramm eines Menschen in der Krise
Keith Gordons Leben ist eigentlich schon unerquicklich genug: Drei Jahre ist es her, dass der Mittvierziger von seiner Frau wegen eines unbedeutenden Seitensprungs nach zwei Jahrzehnten Ehe vor die Tür gesetzt wurde, und obwohl von vielen Frauen angezogen, konnte ihn bisher keine andere wirklich fesseln. Auch Yvette nicht, seine rund zwanzig Jahre jüngere Mitarbeiterin, mit der er seit einiger Zeit eine heimliche Affäre hat. Nonchalant macht er eines Abends mit ihr Schluss. Doch als er am nächsten Morgen ins Büro kommt, trifft ihn ihre Rache ..."Jener Tag im Winter" ist das mitreißende Psychogramm eines Mannes in der Krise, die nur oberflächlich eine Midlife-Crisis mit all ihren tragikomischen Auswüchsen ist. Caryl Phillips hat einen bezwingenden, weil psychologisch überaus glaubwürdigen Roman vorgelegt, verfasst in einer präzisen Sprache, die in ihrer Konsequenz staunen macht.
Keith Gordons Leben ist eigentlich schon unerquicklich genug: Drei Jahre ist es her, dass der Mittvierziger von seiner Frau wegen eines unbedeutenden Seitensprungs nach zwei Jahrzehnten Ehe vor die Tür gesetzt wurde, und obwohl von vielen Frauen angezogen, konnte ihn bisher keine andere wirklich fesseln. Auch Yvette nicht, seine rund zwanzig Jahre jüngere Mitarbeiterin, mit der er seit einiger Zeit eine heimliche Affäre hat. Nonchalant macht er eines Abends mit ihr Schluss. Doch als er am nächsten Morgen ins Büro kommt, trifft ihn ihre Rache ..."Jener Tag im Winter" ist das mitreißende Psychogramm eines Mannes in der Krise, die nur oberflächlich eine Midlife-Crisis mit all ihren tragikomischen Auswüchsen ist. Caryl Phillips hat einen bezwingenden, weil psychologisch überaus glaubwürdigen Roman vorgelegt, verfasst in einer präzisen Sprache, die in ihrer Konsequenz staunen macht.
Lese-Probe zu „Jener Tag im Winter “
Jener Tag im Winter von Caryl PhillipsAus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Erstes Kapitel
... mehr
Er geht durch einen dieser grünen Vororte Londons, in denen ein Mann wie er noch immer verstohlene Blicke anzieht. Sein Jackett und sein Schlips beruhigen zwar einige Passanten, sodass sie sich ein wenig entspannen, aber den übrigen kann er ansehen, dass sie aktiv den Drang unterdrücken, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Es ist nur zu deutlich, dass er, was manche Leute betriff t, in diesem Teil der Stadt einfach nichts zu suchen hat.
Als er in die Sutherland Road einbiegt, hebt er die Hand und streift die dunkle Brille ab. Sonne ist praktisch keine da, und der Herbst hat den lauwarmen Sommer schon längst für ein weiteres Jahr verjagt. Plötzlich kommt Wind auf und löst von den Bäumen über ihm ein Laubgestöber, und seinen Körper durchrieselt ein Frösteln. Trotz der Kälte fühlt er sich mit der dunklen Brille auf diesen Straßen sicherer, denn so kann er die Leute anschauen, ohne dass sie seine Augen sehen. Er fischt das schlanke Kunststofffutteral aus der Innentasche seines Jacketts, faltet die Brille hinein und steckt es dann in dieselbe Tasche zurück. Vor dem kleinen Tor bleibt er stehen und atmet einmal tief durch, dann hebt er den Riegel. Er tritt ein und schaut zu, wie die Holzkonstruktion, durch eine straff e Stahlfeder unterstützt, wieder zurückschwingt. Das halbe Dutzend Schritte über den bunt gepflasterten Weg wird freudlos zurückgelegt, und dann drückt er auf die Türglocke, die mit einem melodischen zweitonigen Geläut erklingt, dessen langer Nachhall vermuten lässt, dass niemand zu Hause ist. Schritte tappen die Treppe herunter, und er hört, wie sie mit Riegel und Kette herumfummelt, ehe sie schließlich die Tür aufreißt.
»Keith?«
Er weiß nie so recht, wie er auf diese Begrüßung reagieren soll. Es ist keine richtige Frage, denn sie wissen beide, wer er ist.
»Alles klar, Keith?«
Er gibt keine Antwort. Sie schüttelt ihr wirres schwarzes Haar zurück und hebt das Kinn, dann neigt sie schnell den Kopf und hält ihm die Wange hin. Er beugt sich vor, gibt ihr einen trockenen Kuss und zieht, während er sich wieder aufrichtet, mit der Zungenspitze eine feuchte Linie über die Seite ihres Gesichts.
»Schwein.«
»Wieso das?«
Sie lacht laut auf.
»Ich mach nur Spaß. Gut siehst du aus, Baby.«
Er tritt durch die Tür und bemerkt, wie sie einen besorgten Blick über seine Schulter wirft, um sich zu vergewissern, dass es keine neugierigen Blicke gibt, und zugleich hört er Gestöckel, vermutlich von einer Geschäftsfrau, die eiligen Schritts den Bürgersteig entlangklappert. Sie knallt die Tür zu, und er findet sich mit der Tatsache ab, dass er wieder einmal in ihrem trostlosen Flur eingesperrt ist, am Fuß ihrer Treppe, in ihrem kleinen Reihenhaus in Nordwestlondon. Hinter den himmelblauen Vorhängen verblasst das spätnachmittägliche
Licht. Sie sollte im Schlafzimmer dickeren Stoff nehmen. In der ersten Zeit ist er über Nacht geblieben, und am Morgen, wenn die Vögel anfingen zu singen, hat er still neben ihr
gelegen und sich gefragt, ob seine Frau ebenfalls neben jemand anderem aufwachte. Und falls ja, wo dann ihr gemeinsamer Sohn war. Wer passte auf Laurie auf? Morgens versuchte er sich möglichst nicht zu rühren, denn das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass Yvette anfing zu reden, aber da die Vorhänge das Licht nicht aussperrten, konnte er nie länger als bis zum Morgengrauen schlafen. Vielleicht, dachte er, gefiel es ihr, so von der Natur geweckt zu werden, aber er wollte keine Fragen stellen, denn das hätte eine Intimität suggeriert, die er unter allen Umständen vermeiden wollte. Ein siebenundvierzig jähriger Mann und eine sechsundzwanzigjährige Frau. Er spielte ganz bewusst auf Distanz, und er war fest entschlossen, nicht aus der Rolle zu fallen.
Diese erträglicheren nachmittäglichen Besuche laufen neuerdings nach einem vorhersagbaren Muster ab. Yvette übernimmt gern die Regie. Sie schaltet gewissenhaft das Flurlicht aus und führt ihn dann nach oben. Auf dem oberen Treppenabsatz lässt sie den seidenen Morgenrock zu Boden gleiten. Anfangs fand er das Schauspiel erregend, außerordentlich erregend, aber nach seinem dritten oder vierten Nachmittagsbesuch (oder »Servicetermin «, wie sie gern dazu sagt) ersetzte sie das schwarze Spitzenkorsett, das ihm so sehr gefallen hatte, durch einen roten Push-up-BH und einen passenden Stringtanga. Sie hielt das offensichtlich für eine Verbesserung - für »anmachender« -, aber seine Verachtung für die krasse Vulgarität dieses albernen Stücks Schnur war so stark, dass er sie nicht mit Worten fassen konnte.
Yvette trägt nach wie vor diese Nuttenuniform, und als ihr Morgenmantel zu Boden fließt, gehen seine Augen nach unten und heften sich erst an ihre Beine und dann an ihre Knöchel (die, wie er weiß, kakaobutterglatt sind), aber sosehr er sich auch bemüht, er bringt es nicht über sich, ihre Dessous anzusehen. Sobald sie im Schlafzimmer sind, schließt Yvette die Tür und schiebt einen kleinen Messingriegel vor, dann lässt sie die Hände in sein Jackett und zu seinen Schulterpolstern gleiten und streift ihm das Kleidungsstück ab, als schäle sie eine Frucht. Er hat es zwar nicht fertiggebracht, die Unterwäsche anzusprechen, aber dass sich ihm von Duftkerzen der Magen umdreht, musste er ihr schließlich sagen. Nach dem zweiten Würganfall fragte Yvette ihn, was mit ihm los sei, und ließ nicht locker, bis er es schließlich gestand, und da lachte sie und versicherte ihm, sie könne problemlos auch ohne einen Hauch Jasmin oder Honigpfirsich in der Luft leben. Nachdem sie ihm das Jackett abgestreift hat, überlässt sie es ihm, sich weiter auszuziehen, während sie sich auf das gemachte Bett legt und ihren BH auf hakt, sodass ihre Brüste, ohne die stützende Struktur der Bügelkörbchen zu verlassen, schelmisch ihrer Befreiung entgegenlugen.
Yvettes Enthusiasmus ist fast theatralisch zu nennen, aber ihre Erregung ist echt, und sie gelangt schnell und unter großer Geräuschentfaltung zum Höhepunkt. Früher hat er sich wegen der Nachbarn Sorgen gemacht, aber sie hat ihm versichert, sie würden selten vor neun von der Arbeit kommen. Außerdem hätten sie und Colin nie irgendwelche Klagen von ihnen gehört, und da sie ihrerseits von deren Aktivitäten nie etwas mitbekomme, nehme sie an, dass die Wände zwischen ihren Häusern ziemlich dick sein müssten. Sie schließt die Augen, noch immer außer Atem, während er sich auf einem Ellbogen aufstützt und die freie Hand behutsam in das dichte Nest ihres Haars gräbt. Er weiß, dass sie es entkraust, denn er hat im Badezimmer das ganze Arsenal von Cremes und Lotionen gesehen, aber am deutlichsten zeigt sich der Widerstreit zwischen dem europäischen und afrikanischen Erbe in ihrem Gesicht, wo volle Lippen und smaragdgrüne Augen um Aufmerksamkeit konkurrieren. Selbst bei aufmerksamster Betrachtung könnte sie leicht als sonnengebräunte Weiße durchgehen, aber ihre Vorliebe für Kente-Schultertücher und Holzperlenketten zeigt eindeutig, dass sie nie versucht hat, ihre gemischte Herkunft zu verleugnen.
Als sie so weit ist, öffnet Yvette die Augen und lächelt sanft. Dann zieht sie ihr Bein an und streicht mit dem Spann seinen Oberschenkel entlang, das Stichwort für ihn, erneut in sie einzudringen und sie diesmal langsam aufzustacheln, ihr mit so unmerklichen Bewegungen Lust zu verschaffen, dass nur die in dieser atembenehmendsten Umarmung Verschlungenen selbst überhaupt eine Regung wahrnehmen können. Anstatt sich schnell, mit einem einzigen wilden Aufschrei der Dankbarkeit zu ergeben, begleitet Yvette die »zweite Runde« mit einem kontinuierlichen Gemurmel halb geflüsterter Verwünschungen und kehligem Keuchen, das immer leiser wird, je mehr sie sich dem Höhepunkt nähert - bis sie vollends verstummt, um gleich darauf einen gepeinigten Schrei auszustoßen und sich erschaudernd an seinen Körper zu schmiegen. Einen Augenblick klammert sie sich fest an ihn, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen, und dann schiebt sie ihn langsam von sich und rollt zur anderen Seite des Bettes, wo sie sich embryonal zusammenkugelt. Er sieht zu, wie sie in dem vermutlich üblichen Gewirr weiblicher Empfindungen von Schuld und Verletzlichkeit versinkt, aber bleibt von ihrem momentanen Zustand unberührt. Annabelle hat ihm schon wieder eine dringende Nachricht hinterlassen, wegen Laurie und der Probleme, die er in der Schule hat, seit er sich, wie sie es ausdrückt, mit den »falschen Leuten« abgibt. Er weiß, dass er sie hätte zurückrufen sollen, denn sie hat mehr als deutlich gemacht, dass ihr siebzehnjähriger Sohn ihr gegenüber »zunehmend renitenter« werde, auch wenn nicht ganz klar ist, was Annabelle von ihm erwartet. Schließlich ist ihnen beiden vollauf bewusst, dass Laurie kaum Wert darauf legen dürfte, Zeit mit seinem Vater zu verbringen.
Bei der zweiten Nachricht hat ihn die Besorgnis in Annabelles Stimme beunruhigt. Seit ihrer Trennung vor ungefähr drei Jahren arbeitet sie gewissenhaft daran, eine stählerne Fassade um ihr Seelenleben zu errichten, um sich dadurch von ihm zu distanzieren. Mittlerweile gelingt es ihr gewöhnlich, ihn nichts mehr von ihrem Witz und ihrem ungezwungenen Humor merken zu lassen. Ihm ist vollkommen bewusst, dass es einzig und allein seine Schuld ist, wenn er jetzt allein in einem kleinen Apartment wohnt, und dass seine Frau und sein Sohn jeden Grund haben, auf ihn wütend zu sein, und jedes Recht der Welt, sich emotional gegen ihn zu schützen. Nach wie vor unklar ist ihm allerdings, warum er Annabelle seinerzeit unbedingt erzählen musste, dass er auf der Klausurtagung im New Forest mit seiner nervigen Kollegin geschlafen hatte, denn es war eine völlig bedeutungslose Angelegenheit gewesen, halb alkoholisiert und nicht im Mindesten vergnüglich. Es war das erste Mal, dass er auch nur daran gedacht hatte, seine Frau zu betrügen, und er hatte hinterher sofort gewusst, dass es keine weiteren Seitensprünge mehr geben würde, aber trotzdem hatte er zwei Wochen später, sobald er den Eindruck hatte, die peinliche Atmosphäre am Arbeitsplatz erfolgreich überwunden zu haben, das törichte Bedürfnis verspürt, Annabelle, während sie Geschirrtücher bügelte und sich dabei Newsnight anschaute, alles zu beichten. Ihm ist selbst nicht klar, welche Reaktion er eigentlich erwartet hatte, aber nachdem sie ihn hatte ausreden lassen, stellte sie das Bügeleisen aufrecht auf das Bügelbrett und forderte ihn auf, am nächsten Morgen auszuziehen, damit sie und ihr vierzehnjähriger Sohn in Ruhe ihr Leben weiterleben könnten. »Verschwinde und mach das mit dir selbst ab«, sagte sie verächtlich, »denn nach allem, was du und ich durchgemacht haben, verdiene ich es wirklich nicht, mich auch noch mit deiner jämmerlichen Midlife-Crisis abgeben zu müssen. Also hau einfach ab, okay?« Sie zog den Stecker des Bügeleisens mit einem Ruck heraus und verließ das Zimmer, und er wusste, dass er die Nacht allein auf dem Sofa verbringen würde. Am nächsten Morgen folgte er ihrer Aufforderung und ging, aber nach drei Jahren fragt er sich noch immer, woher dieser Drang gekommen war, alles aufs Spiel zu setzen, was sie sich so mühsam aufgebaut hatten. Die Tiefe des Grolls allerdings, aus der Laurie jedes Mal schöpft, wenn seine Mutter vorschlägt, dass er sich mit seinem Vater treffen könnte, versteht er vollkommen. Er dreht sich auf die Seite und schaut zum spätnachmittäglichen Licht hinter den dünnen Vorhängen von Yvettes Schlafzimmer und dann auf sein Jackett, das, achtlos hingeworfen, auf dem Fußboden liegt. Er hört das Donnern eines vorüberziehenden Flugzeugs und stellt sich die dünnen, zarten Kondensstreifen vor, die es hinter sich herzieht. Es führt kein Weg darum herum: Er wird heute mit Yvette reden und ihr Verhältnis beenden müssen.
Während sie duscht, lässt er den Blick durch das kleine, vollgestopfte Schlafzimmer schweifen und denkt über die junge Frau nach, in deren Bett er liegt. Er weiß, dass ihr Exehemann Colin ihr Dozent am College war und dass er zwölf Jahre älter ist als sie. Diese Information hat sie ihm gleich geliefert, als sie zum ersten Mal zusammen im Pub waren. »Er hat mich wegen einer älteren Frau verlassen«, sagte sie, »einer, die altersmäßig eher zu ihm passt. Aber wenigstens habe ich das Haus bekommen.« Sie verstummte, schob den Plastik-Stirrer auf eine Seite und nahm einen geräuschvollen Schluck von ihrem Wodka Tonic. »Also, gestritten haben wir uns eigentlich nie. Es wurde nur mit der Zeit klar, dass wir herzlich wenig gemeinsam hatten, und wir hatten nicht einmal mehr ... Sie wissen schon. Na, manchmal schon, aber ich musste immer erst betteln.« Sie errötete leicht und versuchte, ihr nervöses Lachen mit der Hand zu ersticken, musste dann aber husten, als wäre ihr etwas im Hals stecken geblieben. Er stand galant auf und holte ihr vom Tresen ein Glas Wasser, das sie mit großen Schlucken austrank. Sie hielt kurz inne, als müsste sie rülpsen, schluckte aber schließlich nur kräftig und begann, sich mit der flachen Hand das Haar glatt zu streichen.
»So genau wollten Sie's nicht wissen, oder?« Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»Nicht sehr gesprächig, was?«
Er lachte und ließ dabei die sanften Kurven ihres jungen Körpers auf sich wirken. Seit Annabelle ihn vor die Tür gesetzt hatte, hatte es keine anderen Frauen gegeben. Aber es war nicht so, dass er das Interesse verloren hätte. Im Bus sah er sich nach wie vor verstohlen um, und häufi g folgte er jungen Frauen auf der Rolltreppe zur U-Bahn-Station hinunter und achtete dann darauf, in dasselbe Abteil einzusteigen und sich, wie zufällig, ihnen gegenüberzusetzen. Aber er war zu alt für die Art Lokale, in die Männer, wie er sich vorstellte, gingen, um Frauen kennenzulernen.
In Klubs oder auf Partys zu gehen fand er etwas würdelos, und bei der Vorstellung von Internet-Chatrooms oder, noch schlimmer, Single-Abenden mit den dazugehörigen Ruckzuck- Verabredungen graute ihm. Computerpornografie war so weit ganz in Ordnung, und er hatte sich halbwegs mit der Tatsache abgefunden, dass ein gelegentliches schuldbewusstes Einloggen vorerst würde genügen müssen. In seinem Alter war das immer noch besser, als sich dadurch lächerlich zu machen, dass man sich auf die Pirsch begab oder Freunde diskret um Verkuppelung bat. Als er allerdings im Pub Yvette gegenübersaß, erkannte er, dass sie eine Lösung des Problems darstellen könnte, denn sie hatte eine starke Ausstrahlung und einen gut gebauten Körper, und sie schien Interesse zu haben. Ihm gefielen ihre Energie und die Tatsache, dass sie keine Angst zu haben schien, alles auszusprechen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Aber Yvette arbeitete für ihn. Während die Frau im New Forest seine Kollegin und ihm gleichgestellt gewesen war, war er tatsächlich Yvettes Vorgesetzter, und auch wenn die jüngsten Entwicklungen zwischen ihnen sie nicht weiter zu verunsichern schienen, rief er sich immer wieder ins Gedächtnis, dass er derjenige war, der Verantwortungsgefühl zeigen sollte. Dass sowohl das Tempo als auch der Charakter ihrer Annäherung durch Yvette bestimmt wurde, machte die Sache natürlich noch komplizierter.
Wenn sie aus der Dusche kommt und, das Badetuch straff um den Leib gewickelt, wieder ins Schlafzimmer tritt, erwartet sie von ihm, dass er angezogen auf der Bettkante sitzt, bereit, ihr beim Ankleiden zuzuschauen. Sie geht von einer Seite des Zimmers zur anderen und schaltet umständlich sämtliche Lichter ein, einschließlich der Nachttischlampen. Er weiß, dass dieser Teil ihres Beisammenseins ausschließlich ihrer Eitelkeit gewidmet ist, denn sie will schlicht, dass er sich auf sie konzentriert. Er schaut zu, wie sie ihren Körper sanft pudert, dann in ihre jämmerliche Reizwäsche schlüpft, dann in ihre Jeans, und schließlich streift sie sich einen Pullover über die Brust, macht ein Hohlkreuz und streckt die Arme zur Decke. Seine Aufgabe ist es, das vermeintliche Objekt seiner Begierde zu betrachten, während es sich als nicht mehr verfügbar darstellt, wobei angenommen wird, dass er sein Verlangen zügeln und sich in Geduld fassen müsse, bis sie bereit ist, ihn in die Küche hinunterzuführen. Heute zieht sie ihre Darbietung besonders in die Länge und tut so, als sei sie sich unschlüssig, ob sie den weißen Rollkragenpullover anbehalten soll, der, wie er von einem früheren Anlass her weiß, aus einem teuren Kaschmir-Seide-Mischgarn gestrickt ist, oder einfach eine blaue Baumwollbluse überstreifen soll, die verwirrende Ähnlichkeit mit einem Arbeiterhemd aufweist. Sie zieht den Pullover wieder aus und hält sich die Bluse vor, während sie sich vor dem mannshohen Spiegel, der neben dem Kleiderschrank steht, dreht und wendet. Schließlich trifft sie eine Entscheidung und wirft die Bluse auf die Armlehne des hölzernen Schaukelstuhls.
»Die erste Wahl war die richtige, stimmt's?«
Es hat keinen Sinn zu antworten, denn der Pullover ist schon wieder halb über ihrem Kopf, und sie beginnt sich zu winden und zu verdrehen wie eine Varietékünstlerin, die sich aus einem Sack befreit. Als ihr Kopf durch den Rollkragen platzt und ihr verblüfftes Gesicht sich wieder auf die grelle Schlafzimmerbeleuchtung einstellt, besteht für ihn keine Notwendigkeit mehr zu antworten. Sie geht rasch zur Tür.
»Und, kommst du jetzt, oder was?«
Er mag keine Reality-Spielshows, da er die Demütigungen, denen die Teilnehmer ausgesetzt werden, peinlich findet. Ob sie nun in einem Haus eingesperrt oder auf einer Insel ausgesetzt sind, oder ob sie singen, modeln, abnehmen, kochen oder tanzen sollen, letztlich scheint es dabei immer auf das Gleiche hinauszulaufen: dass man über andere Menschen lacht und sich dann auf deren Kosten wie was Besseres vorkommt. Yvette hingegen liebt solche Sendungen, aber sie hat es mittlerweile aufgegeben, ihn überreden zu wollen, es sich zusammen mit ihr auf dem Sofa gemütlich zu machen und vor der Glotze zu relaxen.
Das einzige Mal, als er sich dazu bereit erklärt hat, schaltete sie den Fernseher an, bestellte ein indisches Essen und fi ng dann an, per SMS ihren Tipp darüber abzugeben, ob die nacheinander vorgestellten Spielteilnehmer jeweils schwul, hetero oder schon vergeben waren. Er wusste, dass sie, sollte er etwas Kritisches äußern, ihm einfach vorwerfen würde, er sei ein Langweiler, deswegen hielt er den Mund, aber als das Essen kam, war er schon so weit, dass er am liebsten gegangen wäre. Sie trug das Essen in die Küche und löffelte es rasch aus den Behältern auf zwei Pappteller, um dann ins Wohnzimmer zurückzuflitzen, die zwei Teller praktisch auf den Couchtisch fallen zu lassen und dann wieder nach ihrem Handy zu greifen und weiterzusimsen. Die mitgelieferten Plastikgabeln und Papierservietten zog sie aus ihrer Gesäßtasche und warf sie gleichgültig neben die beiden Teller auf den Tisch. Er sah sie an, aber sie erwiderte seinen Blick nicht.
»Ist schon okay, Keith. Du kannst was von meinem Hähnchen-Vindaloo und dem gebratenen Reis abhaben. Ich bin nicht sehr hungrig.«
Inzwischen lassen sie es mit dem Fernsehen. Sie setzen sich in ihre umgestylte Küche auf die zwei Designer-Barhocker, und er öffnet eine Flasche Sancerre aus der Kiste Wein, die er an ihre Adresse hat liefern lassen. Er hat versucht, ihr zu erklären, dass sie immer ein paar Flaschen im Kühlschrank haben sollte, aber anscheinend hört sie nicht zu. Er reicht ihr ein langstieliges Glas warmen Wein und begreift, dass Yvette sich auf ihre Weise bemüht. Auch ist ihm klar, dass ihre Beziehung für sie mitunter schwierig sein muss, denn er kann geradezu hermetisch verschlossen sein, und in den letzten paar Monaten hat Yvette von ihm nicht viel mehr geboten bekommen als ein gelegentliches enigmatisches Lächeln und halb erzieherische Gesten wie etwa die versuchte Einführung in die Welt des Weins. Als Paar haben sie nie etwas geteilt außer der zeitweiligen Zweckmäßigkeit ihres einstigen Ehebettes, und wie attraktiv er sie auch fi nden mag, weiß er doch sehr wohl, dass ihre Beziehung keinerlei Substanz hat. Er befürchtet, der Wein könnte ihr zu trocken sein, aber sie nimmt einen weiteren Schluck und scheint darauf zu warten, dass er etwas sagt. Sie können nicht einmal gemeinsam Musik hören, denn sie kann seine Leidenschaft für Stevie Wonder und die amerikanische Soulmusik der Siebziger im Allgemeinen ebenso wenig nachvollziehen wie er ihre Begeisterung für nordenglische Independent-Bands, insbesondere die Arctic Monkeys. Sobald klar war, dass Fernsehen nicht ging, hat sie es tatsächlich mit Musik probiert, aber warum sich jemand freiwillig den hirnlosen Text eines Songs namens »Balaclava« oder eine disharmonische Kakofonie mit dem hanebüchenen Titel »Fluorescent Adolescent« antun sollte, war ihm schleierhaft. Als er endlich sein Missfallen äußerte, zuckte sie lediglich die Achseln und schaltete den CD-Player aus. Seitdem hat sie nie wieder vorgeschlagen, sie könnten sich Musik anhören - was er mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schuldgefühlen quittiert. Er hat versucht, ihr die gesellschaftliche Relevanz von Soulmusik auseinanderzusetzen, und ihr seinen Wunsch gestanden, eines Tages ein Buch über Musik zu schreiben, aber er hat schnell erkannt, dass ihr Gespräch durch die unbestreitbare Tatsache, dass die Musik, von der er Yvette vorschwärmte, noch vor ihrer Geburt aufgenommen worden war, entschieden einseitig und irgendwie unangemessen war. Indie-Bands oder Hip-Hopper mit akronymischen Namen stellen für ihn keine neue Generation von Musik dar, sondern sind Ausdruck eines allgemeinen kulturellen Unbehagens. Und da dem so ist, haben sie sich angewöhnt, schweigend auf den Barhockern aus verchromtem Stahl zu hocken und ihren warmen Weißwein zu trinken, bis er wieder von ihr hinauskomplimentiert wird.
»Also«, setzt er an, »ich bin mir nicht sicher, ob wir uns weiterhin treffen sollten.«
Yvette stellt ihr Weinglas hin, wobei sie darauf achtet, dass es genau in der Mitte des kreisförmigen Holzuntersetzers steht, von dem sie annimmt, dass er die Arbeitsfläche ihrer Küche schont. Er wartet nicht ab, dass sie etwas sagt, sondern fährt mit seiner unvorbereiteten Rede fort.
»Ich möchte nicht, dass es für dich oder für mich kompliziert wird, und um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass wir entweder den nächsten Schritt machen oder aber die Tatsache akzeptieren sollten, dass wir miteinander nicht weiterkommen. Verstehst du, was ich meine?«
»Was meinst du mit ›dem nächsten Schritt‹?«
Yvette streicht mit der Zunge über die ganze Länge ihrer Unterlippe und starrt ihn an. »Nein, es ist bloß, dass, na ja, zunächst einmal arbeitest du für mich. Oder mit mir in einem Büro. Wie auch immer, du weißt, was ich meine. Und dann haben wir so viel wirklich nicht gemeinsam, oder? Verglichen mit dir bin ich ein ziemlicher Langweiler. Ich kann doch nicht mit dir nach Spanien in irgendeinen Club 18-30 fahren oder zu einer Saufparty auf den Kanaren.«
»Du machst dir Gedanken wegen des Altersunterschieds? Ist es das?«
»Yvette, das ist ein Aspekt davon. Ich versuche einfach, das Ganze vernünftig zu betrachten. Ich mag keine Unklarheiten, und deswegen glaube ich, dass es am besten ist, ehrlich zu sein.«
»Und was ist mit meinen Gefühlen? Wenn du das Gefühl hast, es ist nicht okay, ist das eine Sache, aber wie wär's, wenn man gemeinsam versuchen würde, es wieder hinzukriegen? Wir könnten doch sagen, ›Okay, es ist nicht vollkommen‹, und dann einfach versuchen, es auf die Reihe zu bringen - oder willst du einfach aussteigen?«
Er macht Anstalten, ihr Wein nachzuschenken, aber ohne die Augen von seinem Gesicht abzuwenden, legt Yvette die Hand auf ihr Glas. Er hält inne, unsicher, ob er dieses Beisammensein dadurch verlängern soll, dass er noch etwas trinkt. Mit gesenktem Blick betrachtet er das kanariengelbe und weiße Flaschenetikett, und dann gießt er sich ein bisschen nach.
Zwei Stunden später ist er in einem Hammersmith-&-City-Zug unterwegs nach Shepherd's Bush. Er späht durch das Fenster zum niedrigen Horizont, in den rostige Feuerleitern und verlassene Gebäude Zacken zeichnen, während der Zug durch die verwahrlosten Teile der Stadt saust. Er ist in King's Cross umgestiegen, aber zum Glück brauchte er nicht lange auf dem Bahnsteig zu warten. Heutzutage empfiehlt es sich nirgendwo in der Stadt, unnötig lange herumzustehen, und so wie er angezogen ist, fordert er einen Überfall geradezu heraus. Am oberen Ende der zweiten Rolltreppe hat er Annabelle angerufen, war aber fast sofort auf die Mailbox umgeleitet worden. Er hat mit dem Gedanken gespielt, eine Nachricht zu hinterlassen, aber weil ihn die Vorstellung störte, sie könnte mit ihrem Freund Bruce zusammen sein, hat er das Handy zugeklappt. Dann ist ihm bewusst geworden, wie kleinlich das war und dass es ja schließlich um seinen Sohn ging, und so hat er sein Handy wieder aufgeklappt und ist einen Augenblick lang vor Unentschlossenheit wie gelähmt gewesen. Doch da hat er das dumpfe Donnern eines heranfahrenden Zuges gehört, das Telefon wieder zugeklappt, ist eine andere Rolltreppe hinunter gehastet und hat sich in einen Waggon gequetscht, während die Türen sich schon schlossen. Drei Teenager sitzen ihm gegenüber, und als der Zug in einen Tunnel eintaucht, kann er sein Spiegelbild im Fenster hinter ihren Köpfen sehen. Er kann sehen, dass alle drei Kids, wie sein Sohn Laurie, zu einem Teil weiß sind, aber an ihren schlabberigen Sachen und ihrer lümmelnden Haltung und ihrer Sprechweise erkennt er, dass sie sich als Schwarze verstehen. Vorbei sind die Zeiten, als er sich nachts in der U-Bahn vollkommen sicher fühlte, wenn ein Trupp von schwarzen Jugendlichen in seinen Wagen einstieg. Damals hat es ihn insgeheim befriedigt, dass ihre überschäumende Lebenslust ältere Weiße leicht nervös machte, aber die Teenager von heute respektieren keine Grenzen mehr. Schwarze Jugendliche, weiße Jugendliche, gemischtrassige Jugendliche, für sie alle ist er lediglich ein Mann mittleren Alters in Schlips und Anzug, der keinen beschissenen Schimmer von nix hat. Er senkt die Augen und versucht, das jeweilige Geschlecht der drei Jung-Gangstas zu ermitteln, deren Gesichter unter überformatigen Kapuzen verborgen bleiben. Ein paar Plätze weiter sitzt eine ältere weiße Dame, allein, mit einem blauen, bedruckten Seidenhalstuch und teuren Designerflats an den Füßen, zwischen die sie elegant zwei Einkaufstaschen mit Lebensmitteln geklemmt hat. Verdammter Mist, kann sie sich keine bessere Zeit zum Einkaufen aussuchen? Kaum schwankt und rumpelt der Zug aus dem Bahnhof Paddington hinaus ins abendliche Zwielicht, stehen die drei Jugendlichen auf. Dem kleinsten von ihnen - ein Mädchen, wie er jetzt erkennt - hat der ältere der beiden Jungen den iPod abgenommen. Sie rennt hinter ihm her, aber die Jungen werfen sich den iPod zu, immer hin und her, und das Mädchen wird immer wütender.
»Scheiße, gebt mir meinen iPod wieder, ihr Arschficker!«
Die Jungen lachen und werfen sich das Ding, dem Ohrhörer
und Kabel wie ein Comic-Kondensstreifen hinterherflattern, wie einen Kricketball hin und her zu, und dann greift einer der Jungs daneben, und der iPod landet auf dem Sitz neben der alten Dame. Er spürt, wie sich sein Körper verkrampft, als werde ihm plötzlich bewusst, dass er jetzt möglicherweise in diesen Konflikt hineingezogen werden könnte, aber die alte Dame schaut lediglich auf den iPod, dann auf die Teenager und dann wieder auf den iPod. Sie hebt ihn auf, wickelt das Kabel drum herum, als knäuelte sie Wolle auf, und hält ihn dann dem Mädchen hin.
»Es wäre vielleicht nicht verkehrt, wenn Sie besser auf Ihre Habseligkeiten aufpassen.«
Einen Moment lang starrt das Mädchen sie so an, als sei es aufrichtig erstaunt, dass diese Erscheinung der Sprache mächtig ist. Als der Zug das Tempo verlangsamt und in den Bahnhof Westbourne Park einfährt, fangen die zwei Jungen an, gegen die Türen zu treten, aber das Mädchen wendet kein Auge von der alten Dame. Schließlich öff nen sich die Türen mit einem wohlgeübten Gerassel, und die zwei Jungen springen auf den Bahnsteig.
»Kommst du jetzt, oder was?«
Das Mädchen will sich abwenden, aber es ist mit der alten Dame noch nicht fertig.
»Lassen Sie nächstens die Wichsgriffel von andrer Leute Sachen, ja?«
Jetzt dreht sich das Mädchen um, und während die Türen sich schon zu schließen beginnen, springt sie rasch auf den Bahnsteig zu ihren Freunden. Durch das Fenster zeigt sie der Lady noch den Stinkefinger und formt mit den Lippen »Fick dich«. Der Zug braust wieder los, aber dieser Teil der Hammersmith-&-City-Line verläuft oberirdisch, also gibt es keine weiteren Tunnel, in die er sich stürzen könnte. Er schaut hinüber zu der alten Dame, der die Begegnung nicht das Geringste angehabt zu haben scheint, und fragt sich, wie diese Frau es fertigbringt, angesichts dieser Rowdys, die wahrscheinlich nicht älter - oder vielleicht sogar noch jünger - als ihre Enkel sind, eine solche Haltung zu bewahren.
Hat sie Verständnis und bringt sie ihnen vielleicht sogar Mitgefühl entgegen, oder empfindet sie lediglich Verachtung? Obwohl er nur eine Generation von den Rüpeln entfernt ist, sind ihm ihre schlechten Manieren unbegreiflich. Ihm als Kind hätte Brenda ein solches Benehmen niemals durchgehen lassen. Nachdem sein Vater wieder ins Krankenhaus eingewiesen worden war und sie beide allein waren, hämmerte sie ihm ein, wie wichtig es sei, immer »bitte« und »danke« zu sagen, und wenn sein Schlips nicht gerade war und seine Strümpfe nicht richtig hochgezogen und seine Schuhe nicht ordentlich geputzt waren, durfte er nicht aus dem Haus. »Es gibt da draußen Leute, Keith, die sich einbilden, sie wären was Besseres als du, aber ganz egal, was sie sagen, sie sind es nicht. Trotzdem werde ich nicht zulassen, dass du ihnen auch nur den geringsten Grund dafür gibst, das zu glauben. Sieh zu, dass du immer den Kopf hochhältst, Schätzchen, dass deine Sachen sauber und ordentlich sind und dass du keine unanständigen Wörter benutzt, dann wirst du dir und deinen Eltern Ehre machen. Jetzt ab in die Schule, und sieh zu, dass du ein paar Einser im Zeugnis hast, sonst brauchst du dich gar nicht erst wieder blicken zu lassen.« Brenda wusste, dass gute Manieren wichtig waren, und er hat versucht, dieselben Werte an Laurie weiterzugeben, der als kleiner Junge so schüchtern war, dass er sich als Vater manchmal fragte, ob er es mit den guten Manieren bei ihm nicht übertrieben hatte. Und als andere Jungs anfingen, seinen Sohn zu schikanieren, meinte er sogar, ihn dazu ermutigen zu müssen, aggressiver aufzutreten, aber Annabelle war anderer Meinung und beharrte darauf, dass Laurie es ganz richtig mache, wegzugehen oder sogar wegzulaufen, wenn Jungen ihn mit Steinen bewarfen und ihn einen »Halfie« nannten, Mischling. Er und Annabelle hatten deswegen eine Auseinandersetzung, und er versuchte, seiner Frau zu erklären, er habe selbst eine Kindheit in England überlebt, und nach seiner Erfahrung komme irgendwann der Zeitpunkt, an dem es nicht mehr vertretbar sei wegzulaufen, und man manchmal eben stehen bleiben und kämpfen müsse. Während er es nicht schaffte, seine Frau davon zu überzeugen, dass Laurie dazu ermutigt werden sollte, sich gelegentlich auch mal auf eine Prügelei einzulassen, hat ihm, ironischerweise, ausgerechnet sein Schwiegervater recht gegeben, da er als ehemaliger Soldat die Vorstellung, dass sein Enkel vor einer Rauferei kniff , geradezu beschämend fand.
Das Thema Laurie und Schikane kam bei der einzigen Gelegenheit zur Sprache, bei der Annabelles Vater seinen Enkel überhaupt zu Gesicht bekam. Es war eine unerfreuliche Begegnung, aber Annabelle hat Mut bewiesen und keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, wem ihre Loyalität galt. Wenn ihre Eltern mit ihrer Partnerwahl nicht einverstanden waren, würde sich ihre Beziehung zu ihnen eben radikal ändern müssen. Sie war noch auf dem College, als sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, zwischen ihrem Freund und ihren Eltern wie zwischen zwei Stühlen zu sitzen, und obwohl sie nicht wünschte, ihnen gegenüber respektlos zu sein, zwang die Unnachgiebigkeit ihrer Eltern sie schließlich zu einer Entscheidung. Ein paar Jahre später, aber noch vor der unerfreulichen Begegnung zwischen ihrer neuen Familie und ihrem Vater, beging Annabelle den Fehler, etwas über ihre Beziehung zu ihren Eltern vor Keith geheim halten zu wollen. Annabelle war im mittleren Trimester ihrer Schwangerschaft, und ihre Mutter hat sich mit ihr zu ihrem gewohnten Mittagessen im Harvey Nichols mit anschließendem Spaziergang im Hyde Park getroff en. Nach sechsjähriger Funkstille im Anschluss an ihr Studium, während das junge Paar zunächst in Bristol und dann in Birmingham gewohnt hatte, hatte Annabelle, sobald sie nach London gezogen waren und sie ihre Stelle bei der Theateragentur angetreten hatte, wieder persönlichen Kontakt zu ihrer Mutter aufgenommen. Nachdem sie sich drei Jahre lang all monatlich zum Lunch getroffen hatten - wobei Annabelles Mutter immer gewissenhaft darauf geachtet hatte, sich nach ihrem Schwiegersohn zu erkundigen, ohne allerdings je das geringste Interesse daran zu bekunden, ihn zu sehen -, wartete Annabelle, bis sie an einer Gruppe von Buchen in der Nähe der Serpentine vorbeischlenderten, ehe sie mitteilte, dass sie schwanger war. Das bemühte Lächeln ihrer Mutter erlosch, und um ihre Augen breiteten sich mit einem Mal die kunstvoll verborgenen Runzeln wie Spinnweben aus. Annabelle half ihrer Mutter, sich auf eine Parkbank zu setzen, und sah zu, wie die Ältere zu weinen anfing. Dann setzte sie sich neben ihre Mutter und starrte eine Zeit lang hilflos auf den Boden zwischen ihren Füßen, bis sie ihr schließlich einen Arm um die wogenden Schultern legte. Gelegentlich zogen einzelne Spaziergänger vorüber, und ein paar Kinder spielten auf dem Rasen mit ihren Drachen, aber Mutter und Tochter bekamen von alldem kaum etwas mit.
Sie saßen fast eine Stunde lang nebeneinander, bis die ältere Frau schließlich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche holte, sich sorgfältig die Nase putzte und dann ihre Augen betupfte. Annabelle spannte ihren Arm an und zog ihre Mutter ein paar Zentimeter zu sich heran.
Den folgenden Monat trafen sie sich wie gewohnt im Harvey Nichols, und während des Essens erzählte ihre Mutter ihr den neuesten Dorfklatsch, wobei sie jedem noch so trivialen Geschichtchen die Dramatik und die Faszination eines internationalen Zwischenfalls verlieh. Annabelle lächelte wissend und nickte an allen richtigen Stellen, obwohl es fast zehn Jahre her war, dass sie ihr Elternhaus in Wiltshire oder ihren Vater gesehen hatte, und ihr Leben vor dem College und vor Keith schon längst begonnen hatte, in der allgemeinen Melange verschwommener Kindheitserinnerungen zu zerfließen, zu denen auch ihre missglückten Versuche, Rad fahren zu lernen, und das eine Mal gehörten, wo sie in den Bach am Ende des Gartens gefallen war.
Sobald ihre Mutter die Rechnung bezahlt und ihre Kreditkarte wieder zurückbekommen hatte, sammelte Annabelle ihre Sachen ein und machte sich bereit, das Restaurant zu verlassen, aber ihre Mutter stand nicht auf, und so setzte Annabelle sich wieder hin. Nach kurzem, befangenem Schweigen fragte ihre Mutter sie, ob sie etwas dagegen hätte, sie im Taxi zum Bahnhof zu begleiten, da ihr heute nicht nach einem Spaziergang im Park sei. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihrer Mutter nicht schwindlig war und sie auch nicht kurz vor einer Ohnmacht stand, reichte sie ihr den Arm, und dann hielten sie ein schwarzes Taxi an, dessen Fahrer sämtliche Schleichwege zu kennen schien und sie schon bald darauf in Paddington absetzte. Sobald sie die laute, dröhnende Bahnhofshalle betreten hatten, griff ihre Mutter in ihre Handtasche und zog eine Fahrkarte hervor. »Tut mir leid, Liebling«, sagte sie und hielt sich am Arm ihrer Tochter fest und fi ng an zu schluchzen. Annabelle führte ihre Mutter zu einem Café und setzte sie am einzigen freien Tisch ab, der unangenehm nah an der Tür stand, während sie am Tresen zwei Kräutertees bestellte. Als sie zu dem zugigen Tisch zurückkehrte, hatte sich ihre Mutter ein wenig beruhigt, und sie schien unbedingt reden zu wollen. »Es geht um deinen Vater«, begann sie. »Ihr müsst euch sehen und einen Weg finden, wie ihr euch beide wieder versöhnen könnt. Er gibt keinen Fingerbreit nach, aber du weißt ja, er war schon immer ein sturer Du-weißt-schon-was.«
Ihre Mutter nahm ihre Tasse und pustete hinein und stellte sie dann sofort wieder auf die Untertasse. »Liebling, ich weiß wirklich nicht, was ich sonst tun soll. Ich flehe dich an, komm mit.«
Er geht durch einen dieser grünen Vororte Londons, in denen ein Mann wie er noch immer verstohlene Blicke anzieht. Sein Jackett und sein Schlips beruhigen zwar einige Passanten, sodass sie sich ein wenig entspannen, aber den übrigen kann er ansehen, dass sie aktiv den Drang unterdrücken, auf die andere Straßenseite zu wechseln. Es ist nur zu deutlich, dass er, was manche Leute betriff t, in diesem Teil der Stadt einfach nichts zu suchen hat.
Als er in die Sutherland Road einbiegt, hebt er die Hand und streift die dunkle Brille ab. Sonne ist praktisch keine da, und der Herbst hat den lauwarmen Sommer schon längst für ein weiteres Jahr verjagt. Plötzlich kommt Wind auf und löst von den Bäumen über ihm ein Laubgestöber, und seinen Körper durchrieselt ein Frösteln. Trotz der Kälte fühlt er sich mit der dunklen Brille auf diesen Straßen sicherer, denn so kann er die Leute anschauen, ohne dass sie seine Augen sehen. Er fischt das schlanke Kunststofffutteral aus der Innentasche seines Jacketts, faltet die Brille hinein und steckt es dann in dieselbe Tasche zurück. Vor dem kleinen Tor bleibt er stehen und atmet einmal tief durch, dann hebt er den Riegel. Er tritt ein und schaut zu, wie die Holzkonstruktion, durch eine straff e Stahlfeder unterstützt, wieder zurückschwingt. Das halbe Dutzend Schritte über den bunt gepflasterten Weg wird freudlos zurückgelegt, und dann drückt er auf die Türglocke, die mit einem melodischen zweitonigen Geläut erklingt, dessen langer Nachhall vermuten lässt, dass niemand zu Hause ist. Schritte tappen die Treppe herunter, und er hört, wie sie mit Riegel und Kette herumfummelt, ehe sie schließlich die Tür aufreißt.
»Keith?«
Er weiß nie so recht, wie er auf diese Begrüßung reagieren soll. Es ist keine richtige Frage, denn sie wissen beide, wer er ist.
»Alles klar, Keith?«
Er gibt keine Antwort. Sie schüttelt ihr wirres schwarzes Haar zurück und hebt das Kinn, dann neigt sie schnell den Kopf und hält ihm die Wange hin. Er beugt sich vor, gibt ihr einen trockenen Kuss und zieht, während er sich wieder aufrichtet, mit der Zungenspitze eine feuchte Linie über die Seite ihres Gesichts.
»Schwein.«
»Wieso das?«
Sie lacht laut auf.
»Ich mach nur Spaß. Gut siehst du aus, Baby.«
Er tritt durch die Tür und bemerkt, wie sie einen besorgten Blick über seine Schulter wirft, um sich zu vergewissern, dass es keine neugierigen Blicke gibt, und zugleich hört er Gestöckel, vermutlich von einer Geschäftsfrau, die eiligen Schritts den Bürgersteig entlangklappert. Sie knallt die Tür zu, und er findet sich mit der Tatsache ab, dass er wieder einmal in ihrem trostlosen Flur eingesperrt ist, am Fuß ihrer Treppe, in ihrem kleinen Reihenhaus in Nordwestlondon. Hinter den himmelblauen Vorhängen verblasst das spätnachmittägliche
Licht. Sie sollte im Schlafzimmer dickeren Stoff nehmen. In der ersten Zeit ist er über Nacht geblieben, und am Morgen, wenn die Vögel anfingen zu singen, hat er still neben ihr
gelegen und sich gefragt, ob seine Frau ebenfalls neben jemand anderem aufwachte. Und falls ja, wo dann ihr gemeinsamer Sohn war. Wer passte auf Laurie auf? Morgens versuchte er sich möglichst nicht zu rühren, denn das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass Yvette anfing zu reden, aber da die Vorhänge das Licht nicht aussperrten, konnte er nie länger als bis zum Morgengrauen schlafen. Vielleicht, dachte er, gefiel es ihr, so von der Natur geweckt zu werden, aber er wollte keine Fragen stellen, denn das hätte eine Intimität suggeriert, die er unter allen Umständen vermeiden wollte. Ein siebenundvierzig jähriger Mann und eine sechsundzwanzigjährige Frau. Er spielte ganz bewusst auf Distanz, und er war fest entschlossen, nicht aus der Rolle zu fallen.
Diese erträglicheren nachmittäglichen Besuche laufen neuerdings nach einem vorhersagbaren Muster ab. Yvette übernimmt gern die Regie. Sie schaltet gewissenhaft das Flurlicht aus und führt ihn dann nach oben. Auf dem oberen Treppenabsatz lässt sie den seidenen Morgenrock zu Boden gleiten. Anfangs fand er das Schauspiel erregend, außerordentlich erregend, aber nach seinem dritten oder vierten Nachmittagsbesuch (oder »Servicetermin «, wie sie gern dazu sagt) ersetzte sie das schwarze Spitzenkorsett, das ihm so sehr gefallen hatte, durch einen roten Push-up-BH und einen passenden Stringtanga. Sie hielt das offensichtlich für eine Verbesserung - für »anmachender« -, aber seine Verachtung für die krasse Vulgarität dieses albernen Stücks Schnur war so stark, dass er sie nicht mit Worten fassen konnte.
Yvette trägt nach wie vor diese Nuttenuniform, und als ihr Morgenmantel zu Boden fließt, gehen seine Augen nach unten und heften sich erst an ihre Beine und dann an ihre Knöchel (die, wie er weiß, kakaobutterglatt sind), aber sosehr er sich auch bemüht, er bringt es nicht über sich, ihre Dessous anzusehen. Sobald sie im Schlafzimmer sind, schließt Yvette die Tür und schiebt einen kleinen Messingriegel vor, dann lässt sie die Hände in sein Jackett und zu seinen Schulterpolstern gleiten und streift ihm das Kleidungsstück ab, als schäle sie eine Frucht. Er hat es zwar nicht fertiggebracht, die Unterwäsche anzusprechen, aber dass sich ihm von Duftkerzen der Magen umdreht, musste er ihr schließlich sagen. Nach dem zweiten Würganfall fragte Yvette ihn, was mit ihm los sei, und ließ nicht locker, bis er es schließlich gestand, und da lachte sie und versicherte ihm, sie könne problemlos auch ohne einen Hauch Jasmin oder Honigpfirsich in der Luft leben. Nachdem sie ihm das Jackett abgestreift hat, überlässt sie es ihm, sich weiter auszuziehen, während sie sich auf das gemachte Bett legt und ihren BH auf hakt, sodass ihre Brüste, ohne die stützende Struktur der Bügelkörbchen zu verlassen, schelmisch ihrer Befreiung entgegenlugen.
Yvettes Enthusiasmus ist fast theatralisch zu nennen, aber ihre Erregung ist echt, und sie gelangt schnell und unter großer Geräuschentfaltung zum Höhepunkt. Früher hat er sich wegen der Nachbarn Sorgen gemacht, aber sie hat ihm versichert, sie würden selten vor neun von der Arbeit kommen. Außerdem hätten sie und Colin nie irgendwelche Klagen von ihnen gehört, und da sie ihrerseits von deren Aktivitäten nie etwas mitbekomme, nehme sie an, dass die Wände zwischen ihren Häusern ziemlich dick sein müssten. Sie schließt die Augen, noch immer außer Atem, während er sich auf einem Ellbogen aufstützt und die freie Hand behutsam in das dichte Nest ihres Haars gräbt. Er weiß, dass sie es entkraust, denn er hat im Badezimmer das ganze Arsenal von Cremes und Lotionen gesehen, aber am deutlichsten zeigt sich der Widerstreit zwischen dem europäischen und afrikanischen Erbe in ihrem Gesicht, wo volle Lippen und smaragdgrüne Augen um Aufmerksamkeit konkurrieren. Selbst bei aufmerksamster Betrachtung könnte sie leicht als sonnengebräunte Weiße durchgehen, aber ihre Vorliebe für Kente-Schultertücher und Holzperlenketten zeigt eindeutig, dass sie nie versucht hat, ihre gemischte Herkunft zu verleugnen.
Als sie so weit ist, öffnet Yvette die Augen und lächelt sanft. Dann zieht sie ihr Bein an und streicht mit dem Spann seinen Oberschenkel entlang, das Stichwort für ihn, erneut in sie einzudringen und sie diesmal langsam aufzustacheln, ihr mit so unmerklichen Bewegungen Lust zu verschaffen, dass nur die in dieser atembenehmendsten Umarmung Verschlungenen selbst überhaupt eine Regung wahrnehmen können. Anstatt sich schnell, mit einem einzigen wilden Aufschrei der Dankbarkeit zu ergeben, begleitet Yvette die »zweite Runde« mit einem kontinuierlichen Gemurmel halb geflüsterter Verwünschungen und kehligem Keuchen, das immer leiser wird, je mehr sie sich dem Höhepunkt nähert - bis sie vollends verstummt, um gleich darauf einen gepeinigten Schrei auszustoßen und sich erschaudernd an seinen Körper zu schmiegen. Einen Augenblick klammert sie sich fest an ihn, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen, und dann schiebt sie ihn langsam von sich und rollt zur anderen Seite des Bettes, wo sie sich embryonal zusammenkugelt. Er sieht zu, wie sie in dem vermutlich üblichen Gewirr weiblicher Empfindungen von Schuld und Verletzlichkeit versinkt, aber bleibt von ihrem momentanen Zustand unberührt. Annabelle hat ihm schon wieder eine dringende Nachricht hinterlassen, wegen Laurie und der Probleme, die er in der Schule hat, seit er sich, wie sie es ausdrückt, mit den »falschen Leuten« abgibt. Er weiß, dass er sie hätte zurückrufen sollen, denn sie hat mehr als deutlich gemacht, dass ihr siebzehnjähriger Sohn ihr gegenüber »zunehmend renitenter« werde, auch wenn nicht ganz klar ist, was Annabelle von ihm erwartet. Schließlich ist ihnen beiden vollauf bewusst, dass Laurie kaum Wert darauf legen dürfte, Zeit mit seinem Vater zu verbringen.
Bei der zweiten Nachricht hat ihn die Besorgnis in Annabelles Stimme beunruhigt. Seit ihrer Trennung vor ungefähr drei Jahren arbeitet sie gewissenhaft daran, eine stählerne Fassade um ihr Seelenleben zu errichten, um sich dadurch von ihm zu distanzieren. Mittlerweile gelingt es ihr gewöhnlich, ihn nichts mehr von ihrem Witz und ihrem ungezwungenen Humor merken zu lassen. Ihm ist vollkommen bewusst, dass es einzig und allein seine Schuld ist, wenn er jetzt allein in einem kleinen Apartment wohnt, und dass seine Frau und sein Sohn jeden Grund haben, auf ihn wütend zu sein, und jedes Recht der Welt, sich emotional gegen ihn zu schützen. Nach wie vor unklar ist ihm allerdings, warum er Annabelle seinerzeit unbedingt erzählen musste, dass er auf der Klausurtagung im New Forest mit seiner nervigen Kollegin geschlafen hatte, denn es war eine völlig bedeutungslose Angelegenheit gewesen, halb alkoholisiert und nicht im Mindesten vergnüglich. Es war das erste Mal, dass er auch nur daran gedacht hatte, seine Frau zu betrügen, und er hatte hinterher sofort gewusst, dass es keine weiteren Seitensprünge mehr geben würde, aber trotzdem hatte er zwei Wochen später, sobald er den Eindruck hatte, die peinliche Atmosphäre am Arbeitsplatz erfolgreich überwunden zu haben, das törichte Bedürfnis verspürt, Annabelle, während sie Geschirrtücher bügelte und sich dabei Newsnight anschaute, alles zu beichten. Ihm ist selbst nicht klar, welche Reaktion er eigentlich erwartet hatte, aber nachdem sie ihn hatte ausreden lassen, stellte sie das Bügeleisen aufrecht auf das Bügelbrett und forderte ihn auf, am nächsten Morgen auszuziehen, damit sie und ihr vierzehnjähriger Sohn in Ruhe ihr Leben weiterleben könnten. »Verschwinde und mach das mit dir selbst ab«, sagte sie verächtlich, »denn nach allem, was du und ich durchgemacht haben, verdiene ich es wirklich nicht, mich auch noch mit deiner jämmerlichen Midlife-Crisis abgeben zu müssen. Also hau einfach ab, okay?« Sie zog den Stecker des Bügeleisens mit einem Ruck heraus und verließ das Zimmer, und er wusste, dass er die Nacht allein auf dem Sofa verbringen würde. Am nächsten Morgen folgte er ihrer Aufforderung und ging, aber nach drei Jahren fragt er sich noch immer, woher dieser Drang gekommen war, alles aufs Spiel zu setzen, was sie sich so mühsam aufgebaut hatten. Die Tiefe des Grolls allerdings, aus der Laurie jedes Mal schöpft, wenn seine Mutter vorschlägt, dass er sich mit seinem Vater treffen könnte, versteht er vollkommen. Er dreht sich auf die Seite und schaut zum spätnachmittäglichen Licht hinter den dünnen Vorhängen von Yvettes Schlafzimmer und dann auf sein Jackett, das, achtlos hingeworfen, auf dem Fußboden liegt. Er hört das Donnern eines vorüberziehenden Flugzeugs und stellt sich die dünnen, zarten Kondensstreifen vor, die es hinter sich herzieht. Es führt kein Weg darum herum: Er wird heute mit Yvette reden und ihr Verhältnis beenden müssen.
Während sie duscht, lässt er den Blick durch das kleine, vollgestopfte Schlafzimmer schweifen und denkt über die junge Frau nach, in deren Bett er liegt. Er weiß, dass ihr Exehemann Colin ihr Dozent am College war und dass er zwölf Jahre älter ist als sie. Diese Information hat sie ihm gleich geliefert, als sie zum ersten Mal zusammen im Pub waren. »Er hat mich wegen einer älteren Frau verlassen«, sagte sie, »einer, die altersmäßig eher zu ihm passt. Aber wenigstens habe ich das Haus bekommen.« Sie verstummte, schob den Plastik-Stirrer auf eine Seite und nahm einen geräuschvollen Schluck von ihrem Wodka Tonic. »Also, gestritten haben wir uns eigentlich nie. Es wurde nur mit der Zeit klar, dass wir herzlich wenig gemeinsam hatten, und wir hatten nicht einmal mehr ... Sie wissen schon. Na, manchmal schon, aber ich musste immer erst betteln.« Sie errötete leicht und versuchte, ihr nervöses Lachen mit der Hand zu ersticken, musste dann aber husten, als wäre ihr etwas im Hals stecken geblieben. Er stand galant auf und holte ihr vom Tresen ein Glas Wasser, das sie mit großen Schlucken austrank. Sie hielt kurz inne, als müsste sie rülpsen, schluckte aber schließlich nur kräftig und begann, sich mit der flachen Hand das Haar glatt zu streichen.
»So genau wollten Sie's nicht wissen, oder?« Er lächelte und schüttelte den Kopf.
»Nicht sehr gesprächig, was?«
Er lachte und ließ dabei die sanften Kurven ihres jungen Körpers auf sich wirken. Seit Annabelle ihn vor die Tür gesetzt hatte, hatte es keine anderen Frauen gegeben. Aber es war nicht so, dass er das Interesse verloren hätte. Im Bus sah er sich nach wie vor verstohlen um, und häufi g folgte er jungen Frauen auf der Rolltreppe zur U-Bahn-Station hinunter und achtete dann darauf, in dasselbe Abteil einzusteigen und sich, wie zufällig, ihnen gegenüberzusetzen. Aber er war zu alt für die Art Lokale, in die Männer, wie er sich vorstellte, gingen, um Frauen kennenzulernen.
In Klubs oder auf Partys zu gehen fand er etwas würdelos, und bei der Vorstellung von Internet-Chatrooms oder, noch schlimmer, Single-Abenden mit den dazugehörigen Ruckzuck- Verabredungen graute ihm. Computerpornografie war so weit ganz in Ordnung, und er hatte sich halbwegs mit der Tatsache abgefunden, dass ein gelegentliches schuldbewusstes Einloggen vorerst würde genügen müssen. In seinem Alter war das immer noch besser, als sich dadurch lächerlich zu machen, dass man sich auf die Pirsch begab oder Freunde diskret um Verkuppelung bat. Als er allerdings im Pub Yvette gegenübersaß, erkannte er, dass sie eine Lösung des Problems darstellen könnte, denn sie hatte eine starke Ausstrahlung und einen gut gebauten Körper, und sie schien Interesse zu haben. Ihm gefielen ihre Energie und die Tatsache, dass sie keine Angst zu haben schien, alles auszusprechen, was ihr gerade durch den Kopf ging. Aber Yvette arbeitete für ihn. Während die Frau im New Forest seine Kollegin und ihm gleichgestellt gewesen war, war er tatsächlich Yvettes Vorgesetzter, und auch wenn die jüngsten Entwicklungen zwischen ihnen sie nicht weiter zu verunsichern schienen, rief er sich immer wieder ins Gedächtnis, dass er derjenige war, der Verantwortungsgefühl zeigen sollte. Dass sowohl das Tempo als auch der Charakter ihrer Annäherung durch Yvette bestimmt wurde, machte die Sache natürlich noch komplizierter.
Wenn sie aus der Dusche kommt und, das Badetuch straff um den Leib gewickelt, wieder ins Schlafzimmer tritt, erwartet sie von ihm, dass er angezogen auf der Bettkante sitzt, bereit, ihr beim Ankleiden zuzuschauen. Sie geht von einer Seite des Zimmers zur anderen und schaltet umständlich sämtliche Lichter ein, einschließlich der Nachttischlampen. Er weiß, dass dieser Teil ihres Beisammenseins ausschließlich ihrer Eitelkeit gewidmet ist, denn sie will schlicht, dass er sich auf sie konzentriert. Er schaut zu, wie sie ihren Körper sanft pudert, dann in ihre jämmerliche Reizwäsche schlüpft, dann in ihre Jeans, und schließlich streift sie sich einen Pullover über die Brust, macht ein Hohlkreuz und streckt die Arme zur Decke. Seine Aufgabe ist es, das vermeintliche Objekt seiner Begierde zu betrachten, während es sich als nicht mehr verfügbar darstellt, wobei angenommen wird, dass er sein Verlangen zügeln und sich in Geduld fassen müsse, bis sie bereit ist, ihn in die Küche hinunterzuführen. Heute zieht sie ihre Darbietung besonders in die Länge und tut so, als sei sie sich unschlüssig, ob sie den weißen Rollkragenpullover anbehalten soll, der, wie er von einem früheren Anlass her weiß, aus einem teuren Kaschmir-Seide-Mischgarn gestrickt ist, oder einfach eine blaue Baumwollbluse überstreifen soll, die verwirrende Ähnlichkeit mit einem Arbeiterhemd aufweist. Sie zieht den Pullover wieder aus und hält sich die Bluse vor, während sie sich vor dem mannshohen Spiegel, der neben dem Kleiderschrank steht, dreht und wendet. Schließlich trifft sie eine Entscheidung und wirft die Bluse auf die Armlehne des hölzernen Schaukelstuhls.
»Die erste Wahl war die richtige, stimmt's?«
Es hat keinen Sinn zu antworten, denn der Pullover ist schon wieder halb über ihrem Kopf, und sie beginnt sich zu winden und zu verdrehen wie eine Varietékünstlerin, die sich aus einem Sack befreit. Als ihr Kopf durch den Rollkragen platzt und ihr verblüfftes Gesicht sich wieder auf die grelle Schlafzimmerbeleuchtung einstellt, besteht für ihn keine Notwendigkeit mehr zu antworten. Sie geht rasch zur Tür.
»Und, kommst du jetzt, oder was?«
Er mag keine Reality-Spielshows, da er die Demütigungen, denen die Teilnehmer ausgesetzt werden, peinlich findet. Ob sie nun in einem Haus eingesperrt oder auf einer Insel ausgesetzt sind, oder ob sie singen, modeln, abnehmen, kochen oder tanzen sollen, letztlich scheint es dabei immer auf das Gleiche hinauszulaufen: dass man über andere Menschen lacht und sich dann auf deren Kosten wie was Besseres vorkommt. Yvette hingegen liebt solche Sendungen, aber sie hat es mittlerweile aufgegeben, ihn überreden zu wollen, es sich zusammen mit ihr auf dem Sofa gemütlich zu machen und vor der Glotze zu relaxen.
Das einzige Mal, als er sich dazu bereit erklärt hat, schaltete sie den Fernseher an, bestellte ein indisches Essen und fi ng dann an, per SMS ihren Tipp darüber abzugeben, ob die nacheinander vorgestellten Spielteilnehmer jeweils schwul, hetero oder schon vergeben waren. Er wusste, dass sie, sollte er etwas Kritisches äußern, ihm einfach vorwerfen würde, er sei ein Langweiler, deswegen hielt er den Mund, aber als das Essen kam, war er schon so weit, dass er am liebsten gegangen wäre. Sie trug das Essen in die Küche und löffelte es rasch aus den Behältern auf zwei Pappteller, um dann ins Wohnzimmer zurückzuflitzen, die zwei Teller praktisch auf den Couchtisch fallen zu lassen und dann wieder nach ihrem Handy zu greifen und weiterzusimsen. Die mitgelieferten Plastikgabeln und Papierservietten zog sie aus ihrer Gesäßtasche und warf sie gleichgültig neben die beiden Teller auf den Tisch. Er sah sie an, aber sie erwiderte seinen Blick nicht.
»Ist schon okay, Keith. Du kannst was von meinem Hähnchen-Vindaloo und dem gebratenen Reis abhaben. Ich bin nicht sehr hungrig.«
Inzwischen lassen sie es mit dem Fernsehen. Sie setzen sich in ihre umgestylte Küche auf die zwei Designer-Barhocker, und er öffnet eine Flasche Sancerre aus der Kiste Wein, die er an ihre Adresse hat liefern lassen. Er hat versucht, ihr zu erklären, dass sie immer ein paar Flaschen im Kühlschrank haben sollte, aber anscheinend hört sie nicht zu. Er reicht ihr ein langstieliges Glas warmen Wein und begreift, dass Yvette sich auf ihre Weise bemüht. Auch ist ihm klar, dass ihre Beziehung für sie mitunter schwierig sein muss, denn er kann geradezu hermetisch verschlossen sein, und in den letzten paar Monaten hat Yvette von ihm nicht viel mehr geboten bekommen als ein gelegentliches enigmatisches Lächeln und halb erzieherische Gesten wie etwa die versuchte Einführung in die Welt des Weins. Als Paar haben sie nie etwas geteilt außer der zeitweiligen Zweckmäßigkeit ihres einstigen Ehebettes, und wie attraktiv er sie auch fi nden mag, weiß er doch sehr wohl, dass ihre Beziehung keinerlei Substanz hat. Er befürchtet, der Wein könnte ihr zu trocken sein, aber sie nimmt einen weiteren Schluck und scheint darauf zu warten, dass er etwas sagt. Sie können nicht einmal gemeinsam Musik hören, denn sie kann seine Leidenschaft für Stevie Wonder und die amerikanische Soulmusik der Siebziger im Allgemeinen ebenso wenig nachvollziehen wie er ihre Begeisterung für nordenglische Independent-Bands, insbesondere die Arctic Monkeys. Sobald klar war, dass Fernsehen nicht ging, hat sie es tatsächlich mit Musik probiert, aber warum sich jemand freiwillig den hirnlosen Text eines Songs namens »Balaclava« oder eine disharmonische Kakofonie mit dem hanebüchenen Titel »Fluorescent Adolescent« antun sollte, war ihm schleierhaft. Als er endlich sein Missfallen äußerte, zuckte sie lediglich die Achseln und schaltete den CD-Player aus. Seitdem hat sie nie wieder vorgeschlagen, sie könnten sich Musik anhören - was er mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schuldgefühlen quittiert. Er hat versucht, ihr die gesellschaftliche Relevanz von Soulmusik auseinanderzusetzen, und ihr seinen Wunsch gestanden, eines Tages ein Buch über Musik zu schreiben, aber er hat schnell erkannt, dass ihr Gespräch durch die unbestreitbare Tatsache, dass die Musik, von der er Yvette vorschwärmte, noch vor ihrer Geburt aufgenommen worden war, entschieden einseitig und irgendwie unangemessen war. Indie-Bands oder Hip-Hopper mit akronymischen Namen stellen für ihn keine neue Generation von Musik dar, sondern sind Ausdruck eines allgemeinen kulturellen Unbehagens. Und da dem so ist, haben sie sich angewöhnt, schweigend auf den Barhockern aus verchromtem Stahl zu hocken und ihren warmen Weißwein zu trinken, bis er wieder von ihr hinauskomplimentiert wird.
»Also«, setzt er an, »ich bin mir nicht sicher, ob wir uns weiterhin treffen sollten.«
Yvette stellt ihr Weinglas hin, wobei sie darauf achtet, dass es genau in der Mitte des kreisförmigen Holzuntersetzers steht, von dem sie annimmt, dass er die Arbeitsfläche ihrer Küche schont. Er wartet nicht ab, dass sie etwas sagt, sondern fährt mit seiner unvorbereiteten Rede fort.
»Ich möchte nicht, dass es für dich oder für mich kompliziert wird, und um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass wir entweder den nächsten Schritt machen oder aber die Tatsache akzeptieren sollten, dass wir miteinander nicht weiterkommen. Verstehst du, was ich meine?«
»Was meinst du mit ›dem nächsten Schritt‹?«
Yvette streicht mit der Zunge über die ganze Länge ihrer Unterlippe und starrt ihn an. »Nein, es ist bloß, dass, na ja, zunächst einmal arbeitest du für mich. Oder mit mir in einem Büro. Wie auch immer, du weißt, was ich meine. Und dann haben wir so viel wirklich nicht gemeinsam, oder? Verglichen mit dir bin ich ein ziemlicher Langweiler. Ich kann doch nicht mit dir nach Spanien in irgendeinen Club 18-30 fahren oder zu einer Saufparty auf den Kanaren.«
»Du machst dir Gedanken wegen des Altersunterschieds? Ist es das?«
»Yvette, das ist ein Aspekt davon. Ich versuche einfach, das Ganze vernünftig zu betrachten. Ich mag keine Unklarheiten, und deswegen glaube ich, dass es am besten ist, ehrlich zu sein.«
»Und was ist mit meinen Gefühlen? Wenn du das Gefühl hast, es ist nicht okay, ist das eine Sache, aber wie wär's, wenn man gemeinsam versuchen würde, es wieder hinzukriegen? Wir könnten doch sagen, ›Okay, es ist nicht vollkommen‹, und dann einfach versuchen, es auf die Reihe zu bringen - oder willst du einfach aussteigen?«
Er macht Anstalten, ihr Wein nachzuschenken, aber ohne die Augen von seinem Gesicht abzuwenden, legt Yvette die Hand auf ihr Glas. Er hält inne, unsicher, ob er dieses Beisammensein dadurch verlängern soll, dass er noch etwas trinkt. Mit gesenktem Blick betrachtet er das kanariengelbe und weiße Flaschenetikett, und dann gießt er sich ein bisschen nach.
Zwei Stunden später ist er in einem Hammersmith-&-City-Zug unterwegs nach Shepherd's Bush. Er späht durch das Fenster zum niedrigen Horizont, in den rostige Feuerleitern und verlassene Gebäude Zacken zeichnen, während der Zug durch die verwahrlosten Teile der Stadt saust. Er ist in King's Cross umgestiegen, aber zum Glück brauchte er nicht lange auf dem Bahnsteig zu warten. Heutzutage empfiehlt es sich nirgendwo in der Stadt, unnötig lange herumzustehen, und so wie er angezogen ist, fordert er einen Überfall geradezu heraus. Am oberen Ende der zweiten Rolltreppe hat er Annabelle angerufen, war aber fast sofort auf die Mailbox umgeleitet worden. Er hat mit dem Gedanken gespielt, eine Nachricht zu hinterlassen, aber weil ihn die Vorstellung störte, sie könnte mit ihrem Freund Bruce zusammen sein, hat er das Handy zugeklappt. Dann ist ihm bewusst geworden, wie kleinlich das war und dass es ja schließlich um seinen Sohn ging, und so hat er sein Handy wieder aufgeklappt und ist einen Augenblick lang vor Unentschlossenheit wie gelähmt gewesen. Doch da hat er das dumpfe Donnern eines heranfahrenden Zuges gehört, das Telefon wieder zugeklappt, ist eine andere Rolltreppe hinunter gehastet und hat sich in einen Waggon gequetscht, während die Türen sich schon schlossen. Drei Teenager sitzen ihm gegenüber, und als der Zug in einen Tunnel eintaucht, kann er sein Spiegelbild im Fenster hinter ihren Köpfen sehen. Er kann sehen, dass alle drei Kids, wie sein Sohn Laurie, zu einem Teil weiß sind, aber an ihren schlabberigen Sachen und ihrer lümmelnden Haltung und ihrer Sprechweise erkennt er, dass sie sich als Schwarze verstehen. Vorbei sind die Zeiten, als er sich nachts in der U-Bahn vollkommen sicher fühlte, wenn ein Trupp von schwarzen Jugendlichen in seinen Wagen einstieg. Damals hat es ihn insgeheim befriedigt, dass ihre überschäumende Lebenslust ältere Weiße leicht nervös machte, aber die Teenager von heute respektieren keine Grenzen mehr. Schwarze Jugendliche, weiße Jugendliche, gemischtrassige Jugendliche, für sie alle ist er lediglich ein Mann mittleren Alters in Schlips und Anzug, der keinen beschissenen Schimmer von nix hat. Er senkt die Augen und versucht, das jeweilige Geschlecht der drei Jung-Gangstas zu ermitteln, deren Gesichter unter überformatigen Kapuzen verborgen bleiben. Ein paar Plätze weiter sitzt eine ältere weiße Dame, allein, mit einem blauen, bedruckten Seidenhalstuch und teuren Designerflats an den Füßen, zwischen die sie elegant zwei Einkaufstaschen mit Lebensmitteln geklemmt hat. Verdammter Mist, kann sie sich keine bessere Zeit zum Einkaufen aussuchen? Kaum schwankt und rumpelt der Zug aus dem Bahnhof Paddington hinaus ins abendliche Zwielicht, stehen die drei Jugendlichen auf. Dem kleinsten von ihnen - ein Mädchen, wie er jetzt erkennt - hat der ältere der beiden Jungen den iPod abgenommen. Sie rennt hinter ihm her, aber die Jungen werfen sich den iPod zu, immer hin und her, und das Mädchen wird immer wütender.
»Scheiße, gebt mir meinen iPod wieder, ihr Arschficker!«
Die Jungen lachen und werfen sich das Ding, dem Ohrhörer
und Kabel wie ein Comic-Kondensstreifen hinterherflattern, wie einen Kricketball hin und her zu, und dann greift einer der Jungs daneben, und der iPod landet auf dem Sitz neben der alten Dame. Er spürt, wie sich sein Körper verkrampft, als werde ihm plötzlich bewusst, dass er jetzt möglicherweise in diesen Konflikt hineingezogen werden könnte, aber die alte Dame schaut lediglich auf den iPod, dann auf die Teenager und dann wieder auf den iPod. Sie hebt ihn auf, wickelt das Kabel drum herum, als knäuelte sie Wolle auf, und hält ihn dann dem Mädchen hin.
»Es wäre vielleicht nicht verkehrt, wenn Sie besser auf Ihre Habseligkeiten aufpassen.«
Einen Moment lang starrt das Mädchen sie so an, als sei es aufrichtig erstaunt, dass diese Erscheinung der Sprache mächtig ist. Als der Zug das Tempo verlangsamt und in den Bahnhof Westbourne Park einfährt, fangen die zwei Jungen an, gegen die Türen zu treten, aber das Mädchen wendet kein Auge von der alten Dame. Schließlich öff nen sich die Türen mit einem wohlgeübten Gerassel, und die zwei Jungen springen auf den Bahnsteig.
»Kommst du jetzt, oder was?«
Das Mädchen will sich abwenden, aber es ist mit der alten Dame noch nicht fertig.
»Lassen Sie nächstens die Wichsgriffel von andrer Leute Sachen, ja?«
Jetzt dreht sich das Mädchen um, und während die Türen sich schon zu schließen beginnen, springt sie rasch auf den Bahnsteig zu ihren Freunden. Durch das Fenster zeigt sie der Lady noch den Stinkefinger und formt mit den Lippen »Fick dich«. Der Zug braust wieder los, aber dieser Teil der Hammersmith-&-City-Line verläuft oberirdisch, also gibt es keine weiteren Tunnel, in die er sich stürzen könnte. Er schaut hinüber zu der alten Dame, der die Begegnung nicht das Geringste angehabt zu haben scheint, und fragt sich, wie diese Frau es fertigbringt, angesichts dieser Rowdys, die wahrscheinlich nicht älter - oder vielleicht sogar noch jünger - als ihre Enkel sind, eine solche Haltung zu bewahren.
Hat sie Verständnis und bringt sie ihnen vielleicht sogar Mitgefühl entgegen, oder empfindet sie lediglich Verachtung? Obwohl er nur eine Generation von den Rüpeln entfernt ist, sind ihm ihre schlechten Manieren unbegreiflich. Ihm als Kind hätte Brenda ein solches Benehmen niemals durchgehen lassen. Nachdem sein Vater wieder ins Krankenhaus eingewiesen worden war und sie beide allein waren, hämmerte sie ihm ein, wie wichtig es sei, immer »bitte« und »danke« zu sagen, und wenn sein Schlips nicht gerade war und seine Strümpfe nicht richtig hochgezogen und seine Schuhe nicht ordentlich geputzt waren, durfte er nicht aus dem Haus. »Es gibt da draußen Leute, Keith, die sich einbilden, sie wären was Besseres als du, aber ganz egal, was sie sagen, sie sind es nicht. Trotzdem werde ich nicht zulassen, dass du ihnen auch nur den geringsten Grund dafür gibst, das zu glauben. Sieh zu, dass du immer den Kopf hochhältst, Schätzchen, dass deine Sachen sauber und ordentlich sind und dass du keine unanständigen Wörter benutzt, dann wirst du dir und deinen Eltern Ehre machen. Jetzt ab in die Schule, und sieh zu, dass du ein paar Einser im Zeugnis hast, sonst brauchst du dich gar nicht erst wieder blicken zu lassen.« Brenda wusste, dass gute Manieren wichtig waren, und er hat versucht, dieselben Werte an Laurie weiterzugeben, der als kleiner Junge so schüchtern war, dass er sich als Vater manchmal fragte, ob er es mit den guten Manieren bei ihm nicht übertrieben hatte. Und als andere Jungs anfingen, seinen Sohn zu schikanieren, meinte er sogar, ihn dazu ermutigen zu müssen, aggressiver aufzutreten, aber Annabelle war anderer Meinung und beharrte darauf, dass Laurie es ganz richtig mache, wegzugehen oder sogar wegzulaufen, wenn Jungen ihn mit Steinen bewarfen und ihn einen »Halfie« nannten, Mischling. Er und Annabelle hatten deswegen eine Auseinandersetzung, und er versuchte, seiner Frau zu erklären, er habe selbst eine Kindheit in England überlebt, und nach seiner Erfahrung komme irgendwann der Zeitpunkt, an dem es nicht mehr vertretbar sei wegzulaufen, und man manchmal eben stehen bleiben und kämpfen müsse. Während er es nicht schaffte, seine Frau davon zu überzeugen, dass Laurie dazu ermutigt werden sollte, sich gelegentlich auch mal auf eine Prügelei einzulassen, hat ihm, ironischerweise, ausgerechnet sein Schwiegervater recht gegeben, da er als ehemaliger Soldat die Vorstellung, dass sein Enkel vor einer Rauferei kniff , geradezu beschämend fand.
Das Thema Laurie und Schikane kam bei der einzigen Gelegenheit zur Sprache, bei der Annabelles Vater seinen Enkel überhaupt zu Gesicht bekam. Es war eine unerfreuliche Begegnung, aber Annabelle hat Mut bewiesen und keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, wem ihre Loyalität galt. Wenn ihre Eltern mit ihrer Partnerwahl nicht einverstanden waren, würde sich ihre Beziehung zu ihnen eben radikal ändern müssen. Sie war noch auf dem College, als sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, zwischen ihrem Freund und ihren Eltern wie zwischen zwei Stühlen zu sitzen, und obwohl sie nicht wünschte, ihnen gegenüber respektlos zu sein, zwang die Unnachgiebigkeit ihrer Eltern sie schließlich zu einer Entscheidung. Ein paar Jahre später, aber noch vor der unerfreulichen Begegnung zwischen ihrer neuen Familie und ihrem Vater, beging Annabelle den Fehler, etwas über ihre Beziehung zu ihren Eltern vor Keith geheim halten zu wollen. Annabelle war im mittleren Trimester ihrer Schwangerschaft, und ihre Mutter hat sich mit ihr zu ihrem gewohnten Mittagessen im Harvey Nichols mit anschließendem Spaziergang im Hyde Park getroff en. Nach sechsjähriger Funkstille im Anschluss an ihr Studium, während das junge Paar zunächst in Bristol und dann in Birmingham gewohnt hatte, hatte Annabelle, sobald sie nach London gezogen waren und sie ihre Stelle bei der Theateragentur angetreten hatte, wieder persönlichen Kontakt zu ihrer Mutter aufgenommen. Nachdem sie sich drei Jahre lang all monatlich zum Lunch getroffen hatten - wobei Annabelles Mutter immer gewissenhaft darauf geachtet hatte, sich nach ihrem Schwiegersohn zu erkundigen, ohne allerdings je das geringste Interesse daran zu bekunden, ihn zu sehen -, wartete Annabelle, bis sie an einer Gruppe von Buchen in der Nähe der Serpentine vorbeischlenderten, ehe sie mitteilte, dass sie schwanger war. Das bemühte Lächeln ihrer Mutter erlosch, und um ihre Augen breiteten sich mit einem Mal die kunstvoll verborgenen Runzeln wie Spinnweben aus. Annabelle half ihrer Mutter, sich auf eine Parkbank zu setzen, und sah zu, wie die Ältere zu weinen anfing. Dann setzte sie sich neben ihre Mutter und starrte eine Zeit lang hilflos auf den Boden zwischen ihren Füßen, bis sie ihr schließlich einen Arm um die wogenden Schultern legte. Gelegentlich zogen einzelne Spaziergänger vorüber, und ein paar Kinder spielten auf dem Rasen mit ihren Drachen, aber Mutter und Tochter bekamen von alldem kaum etwas mit.
Sie saßen fast eine Stunde lang nebeneinander, bis die ältere Frau schließlich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche holte, sich sorgfältig die Nase putzte und dann ihre Augen betupfte. Annabelle spannte ihren Arm an und zog ihre Mutter ein paar Zentimeter zu sich heran.
Den folgenden Monat trafen sie sich wie gewohnt im Harvey Nichols, und während des Essens erzählte ihre Mutter ihr den neuesten Dorfklatsch, wobei sie jedem noch so trivialen Geschichtchen die Dramatik und die Faszination eines internationalen Zwischenfalls verlieh. Annabelle lächelte wissend und nickte an allen richtigen Stellen, obwohl es fast zehn Jahre her war, dass sie ihr Elternhaus in Wiltshire oder ihren Vater gesehen hatte, und ihr Leben vor dem College und vor Keith schon längst begonnen hatte, in der allgemeinen Melange verschwommener Kindheitserinnerungen zu zerfließen, zu denen auch ihre missglückten Versuche, Rad fahren zu lernen, und das eine Mal gehörten, wo sie in den Bach am Ende des Gartens gefallen war.
Sobald ihre Mutter die Rechnung bezahlt und ihre Kreditkarte wieder zurückbekommen hatte, sammelte Annabelle ihre Sachen ein und machte sich bereit, das Restaurant zu verlassen, aber ihre Mutter stand nicht auf, und so setzte Annabelle sich wieder hin. Nach kurzem, befangenem Schweigen fragte ihre Mutter sie, ob sie etwas dagegen hätte, sie im Taxi zum Bahnhof zu begleiten, da ihr heute nicht nach einem Spaziergang im Park sei. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihrer Mutter nicht schwindlig war und sie auch nicht kurz vor einer Ohnmacht stand, reichte sie ihr den Arm, und dann hielten sie ein schwarzes Taxi an, dessen Fahrer sämtliche Schleichwege zu kennen schien und sie schon bald darauf in Paddington absetzte. Sobald sie die laute, dröhnende Bahnhofshalle betreten hatten, griff ihre Mutter in ihre Handtasche und zog eine Fahrkarte hervor. »Tut mir leid, Liebling«, sagte sie und hielt sich am Arm ihrer Tochter fest und fi ng an zu schluchzen. Annabelle führte ihre Mutter zu einem Café und setzte sie am einzigen freien Tisch ab, der unangenehm nah an der Tür stand, während sie am Tresen zwei Kräutertees bestellte. Als sie zu dem zugigen Tisch zurückkehrte, hatte sich ihre Mutter ein wenig beruhigt, und sie schien unbedingt reden zu wollen. »Es geht um deinen Vater«, begann sie. »Ihr müsst euch sehen und einen Weg finden, wie ihr euch beide wieder versöhnen könnt. Er gibt keinen Fingerbreit nach, aber du weißt ja, er war schon immer ein sturer Du-weißt-schon-was.«
Ihre Mutter nahm ihre Tasse und pustete hinein und stellte sie dann sofort wieder auf die Untertasse. »Liebling, ich weiß wirklich nicht, was ich sonst tun soll. Ich flehe dich an, komm mit.«
... weniger
Autoren-Porträt von Caryl Phillips
Caryl Phillips, 1958 auf der karibischen Insel Saint Kitts geboren, wuchs in England auf, studierte in Oxford englische Sprache und Literatur und lebt heute in New York City. Zurzeit hat er eine Professur an der Yale Universität inne. Phillips, der seit Anfang der 80er Jahre Belletristisches wie Sachbücher veröffentlicht, zählt zu den wichtigsten britischen Schriftstellern seiner Generation und wurde u.a. mit dem Commonwealth Writers Prize ausgezeichnet.Giovanni Bandini, geb. 1951, studierte Indologie, Vergleichende Religionswissenschaft, Romanistik und Indische Kunstgeschichte. Er unterrichtete an der Universität Heidelberg und arbeitet seit 1987 als freier Übersetzer.Ditte Bandini, geb. 1956, studierte Völkerkunde, Religionsgeschichte und Indologie. Sie arbeitet an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sowie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Caryl Phillips
- 2011, 362 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Giovanni Bandini u. Ditte Bandini
- Übersetzer: Giovanni Bandini, Ditte Bandini
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421044597
- ISBN-13: 9783421044594
Rezension zu „Jener Tag im Winter “
»Ein feines, leises Buch über einen Mann, der tragikomisch durch sein Leben krabbelt.«
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