Jessica - Was bleibt, ist die Hoffnung
Band 4
"Als Leser wird man in eine andere Welt versetzt und kann nicht abwaten, was als nächstes auf Jessica zukommt."
WELTBILD.DE
1808 in der Sträflingskolonie Australien: Jessica wurde unschuldig hierher verbannt. Doch sie hat...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
3.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Jessica - Was bleibt, ist die Hoffnung “
"Als Leser wird man in eine andere Welt versetzt und kann nicht abwaten, was als nächstes auf Jessica zukommt."
WELTBILD.DE
1808 in der Sträflingskolonie Australien: Jessica wurde unschuldig hierher verbannt. Doch sie hat sich mit der Farm Seven Hills etwas Eigenes erkämpft und hofft, mit ihrer großen Liebe, dem Farmer Mitchell Hamilton, glücklich zu werden. Doch dann taucht der geldgierige und skrupellose Kenneth Forbes in der Kolonie auf, der für Geld und Ruhm auch vor dunklen Machenschaften nicht zurückschreckt. Er bedroht Mitchell - und damit auch Jessicas Glück. Wird Jessica ihre Liebe zu Mitchell ausleben können?
Lese-Probe zu „Jessica - Was bleibt, ist die Hoffnung “
Jessica - was bleibt ist die Hoffnung von Ashley Carrington1
... mehr
Wer das bessere Auge besaß und den Gegner in diesem Nebelmeer zuerst ausmachte, würde gewinnen - und am Leben bleiben. Jeder hatte nur eine Kugel. Aber mehr war in diesem Wald gigantischer Eukalyptusbäume auch nicht nötig, denn die Sicht betrug kaum mehr als ein halbes Dutzend Yards. Sie waren beide gute Schützen, und auf diese geringe Entfernung würde keiner von ihnen sein Ziel verfehlen. Es kam nur darauf an, wer schneller war und zuerst den Finger um den Abzug krümmte.
Mitchell Hamilton leckte sich die Lippen und schmeckte das Salz seines eigenen Schweißes. Er hatte Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben. Mehr Angst als damals, als die TRADEWIND im Sturm vor der Küste Australiens an einem Riff zerschellt war und Hunderte von verbannten Sträflingen, Passagieren und Seeleuten in den aufgepeitschten Fluten den Tod gefunden hatten.
Doch was ihm die Kehle zuschnürte, war nicht Angst um sein eigenes Leben, sondern um das von Jessica. Wenn Kenneth Forbes ihn in diesem nebeldurchtränktenWald tötete, würde er bekommen, was er wollte: Jessica.
Mitchell umklammerte die Duellpistole mit solcher Kraft, als wollte er im blank polierten Holz des Griffs Druckspuren hinterlassen. Sein Herz raste, als würde es ihm gleich die Brust sprengen, und sein Gesicht glänzte von Schweiß und der Feuchtigkeit des Nebels.
Wo war Ken bloß?
Der Waldboden unter seinen Füßen war wie aus Daunen. Er verschluckte jedes Geräusch. Nirgends schien es noch Leben in diesem Wald zu geben. Nicht der entfernteste Laut eines Tiers war zu vernehmen. Als hätte der Atem des Hasses und des drohenden Todes jedes Geschöpf vertrieben.
»Jessica gehört mir, Mitchell Hamilton!«, rief eine Stimme plötzlich, und sie schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. »Jessica hat von Anfang an mir gehört ... und jeder, der sich mir in den Weg stellt, wird sterben. So wie du jetzt, Mitchell Hamilton!«
Mitchell fuhr gehetzt herum, versuchte das wabernde Meer des Nebels mit seinen Augen zu durchdringen und den verhassten Gegner zu entdecken.
»Elender Feigling!«, brüllte er in den Wald. »Komm heraus und stell dich!«
Ein knarrendes, ächzendes Geräusch drang an Mitchells Ohr. Und fast im selben Moment sagte eine Stimme hinter ihm: »Ich bin schon da, mein Freund!«
Zu Tode erschrocken wirbelte Mitchell herum - und blickte direkt in die schwarze Mündung einer Pistole. Jenseits des Laufes sah er das höhnisch verzerrte Gesicht von Kenneth Forbes. Triumph lag in seinen Zügen, und Mordlust loderte in seinen Augen.
»Es ist soweit, mein Freund!«
»Nein!«, schrie Mitchell in panischem Entsetzen auf und riss abwehrend die Hände hoch. Das durfte nicht das Ende sein. Wenn er starb, war Jessica ihrem Peiniger schutzlos ausgeliefert. Es musste einen Ausweg geben, um der tödlichen Kugel zu entkommen. Es musste!
Der Schuss krachte, und vor seinen Augen explodierte eine blendende Helligkeit. Er schrie. Dann war es vorbei.
2
Keuchend richtete sich Mitchell Hamilton auf, die Augen mit einer Hand beschattend. Der grässliche Albtraum hielt ihn noch immer gefangen, wenn auch die einzelnen Traumbilder schnell an Lebendigkeit, an Kontur und Tiefe verloren und fast augenblicklich zu einer vagen Erinnerung verblassten. Was sich jedoch nicht verflüchtigte, war sein Gefühl der Angst und das Wissen um seine eigene Ohnmacht.
»Tut mir leid, wenn ich Sie mit der Laterne geblendet habe, Mister Hamilton«, sagte eine kräftige, sonore Stimme jenseits der blendenden Helligkeit. »Ich dreh' die Flamme etwas runter. Ist es so besser?«
Mitchell brauchte einen Moment, ehe er sich wieder erinnerte, wo er sich befand und wer dieser große, breitschultrige Mann mit dem wildgelockten Haar und dem rotbraunen Bart war. Dann vernahm er das inzwischen vertraute Knarren von Masten, Spanten und Tauwerk, und die Benommenheit wich von ihm. Er wusste wieder, wo er war und was es mit diesem engen, dunklen Raum auf sich hatte, der nach Teer und leicht fauligem Wasser roch.
»Oh, Captain Rourke«, murmelte er und rieb sich über die Augen. Dann zog er seine Taschenuhr hervor und ließ den Deckel aufspringen. Die Zeiger wiesen auf zwanzig vor vier. Er hatte also über sechs Stunden geschlafen. Und doch fühlte er sich so ausgelaugt und zerschunden, als hätte er zwei Nächte lang kein Auge zubekommen. Aber das lag vermutlich daran, dass er die Schussverletzung, die Lieutenant Forbes ihm bei ihrem wirklichen Duell vor drei Wochen zugefügt hatte, immer noch nicht völlig auskuriert hatte. »Ja, danke ... « Seine eigene Stimme klang ihm fremd. Sie krächzte, und er räusperte sich. Patrick Rourke hängte die abgeblendete Laterne an einen Deckenhaken, setzte sich auf einen dreibeinigen Schemel und schob sich die Mütze aus Kängurufell in den Nacken, während er beobachtete, wie sein Passagier die Beine über den Rand der Koje schwang. Das dünne Baumwollhemd klebte Mitchell wie ein nasser Lappen am Leib.
»Müssen einen verdammt wüsten Albtraum gehabt haben«, sagte Rourke mitfühlend, »so wie Sie geschrien haben. Fast wären Sie mir an die Kehle gesprungen.«
Mitchell nickte. »Hab' schon mal besser geschlafen. Muss an der drückenden Hitze liegen«, sagte er ausweichend und wusste, dass der Captain der COMET ihm das nicht abnahm. Dafür war er zu gut über alles informiert. Schließlich unternahm er einzig und allein wegen ihm diese gefährliche Reise nach Van Diemen's Land. Wegen ihm und wegen Jessica, die an Patrick Rourkes Schoner zur Hälfte beteiligt war und seine tiefe Freundschaft errungen hatte.
Doch Patrick Rourke beließ es dabei. »Ich hätte Sie schlafen lassen sollen, doch Sie baten mich, Sie zu wecken, wenn es soweit ist.«
Mitchell hob die Augenbrauen. »Haben wir die Mündung des Hawkesbury River erreicht?«
»Schon vor ein paar Stunden«, sagte der bärtige Captain, der eine ärmellose Schaffelljacke über der schweißglänzenden muskulösen Brust trug. »Wir sind in einer kleinen Bucht vor Anker gegangen.«
»Aber weshalb? Könnten wir nicht jetzt schon sicher auf hoher See sein? Warum die Verzögerung?«, fragte Mitchell.
Patrick Rourke fuhr sich durch sein zerzaustes Haar, das die Farbe dunklen Brandys hatte und nie mit einem Kamm in Berührung kam. »Weil ich die frühen Morgenstunden nutzen möchte, um mich mit dem Schoner aus den Fluss zu schleichen. Erfahrungsgemäß lässt die Konzentrationsfähigkeit eines Wachpostens zwischen drei und fünf Uhr, also kurz vor Sonnenaufgang, am meisten zu wünschen übrig. Und warum soll das bei den Soldaten vom New South Wales Corps anders sein?«
Mitchell lächelte anerkennend. »Entschuldigen Sie meine dumme Frage. Sie haben sich wirklich Gedanken gemacht, Captain.«
»Wenn ich das nicht täte, wäre ich vermutlich schon als Sträfling auf der Überfahrt nach Australien vor die Hunde gegangen«, brummte der Ire, der in die britische Strafkolonie, offiziell New South Wales genannt, verbannt worden war, weil er seinem Bruder bei einem Aufstand gegen die britische Besatzungsmacht in Irland Unterschlupf gewährt hatte. Das lag nun schon viele Jahre zurück.
»Habe ich noch Zeit, mich etwas frisch zu machen?«, wollte Mitchell wissen und wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Die Kabine mit der niedrigen Decke war ihm noch nie so erdrückend vorgekommen wie in dieser Stunde. Die Luft war verbraucht, und jede Bewegung verursachte bei ihm einen Schweißausbruch.
»Sicher.« Patrick Rourke erhob sich. »Ich sehe Sie dann gleich an Deck, Mister Hamilton.« Er nickte ihm freundschaftlich zu und verließ die schmale Kabine, deren winziges Bullauge aus Sicherheitsgründen geschlossen und mit dunklem, dickem Sackleinen verhängt war.
Mitchell stemmte sich hoch und trat an die kleine Kommode, auf der eine Waschschüssel mit einer schon reichlich zerbeulten Wasserkanne stand. Er trank drei Hände voll, wusch sich schnell und stöhnte leise auf, als ihm das einigermaßen kühle Wasser über Gesicht und Brust rann. Einen Augenblick starrte er in das Wasser, was sein Abbild im Licht der Laterne verzerrt zurückwarf.
»Ich hätte ihn töten sollen, als ich die Chance und das Recht dazu hatte«, murmelte er vor sich hin. »Gleich dort auf der Lichtung vor den Augen der Sekundanten. Er hatte es verdient ... und ich Narr habe mir in der Rolle des Gentleman gefallen und ihm Pardon gewährt!«
Es kam ihm wie ein schlechter Traum vor, dass er nun schon mehrere Tage an Bord dieses Schiffes, ja, dass er auf der Flucht war. Er, der als stolzer und freier Siedler nach New South Wales gekommen war und ein großes Landgut bei Parramatta, sechzehn Meilen nordwestlich von Sydney, sein eigen nannte. Es war geradezu absurd: Er lief vor einer Verbrecherbande davon, die den Rock des Königs entehrte.
Doch noch mehr quälte ihn der Gedanke, dass er sieben schrecklich lange Jahre auf die Erfüllung seiner Liebe zu Jessica hatte warten müssen.
Sieben endlos lange Jahre, in denen die Frau, die er liebte, die Frau eines anderen Mannes gewesen war. Eines Mannes, der Jessica vor dem Galgen bewahrt und sie zur Herrin von SEVEN HILLS gemacht hatte, der größten und ertragreichsten Farm am Hawkesbury.
Wie hatte er diesen Mann beneidet, dem Jessica zwei prachtvolle Kinder geschenkt hatte. Und wie sehr hatte er sein Verlangen bekämpft, sie wenigstens einmal zu sprechen und in ihren Augen zu forschen, ob sie vielleicht nicht doch noch tief in ihrem Innersten etwas von der Liebe und Leidenschaft für ihn bewahrt hatte, die sie nach dem Schiffbruch vor sieben Jahren an der unwirtlichen Küste gemeinsam entdeckt hatten. Doch er hatte es sich versagt, um Jessicas willen. Bis dann ihr Mann, Steve Brading, von der Kugel eines skrupellosen Sträflings hinterhältig niedergestreckt worden war.
Und auch dann hatte er noch Monate verstreichen lassen, weil er wusste, wie stark Schmerz und Trauer bei ihr sein mussten. Viele Monate hatte er gewartet, bis er wieder in ihr Leben getreten war, und fast noch einmal so lange hatte es gedauert, bis er sie wieder für sich gewonnen und ihre Liebe zu ihm wieder entfacht hatte.
Einige wenige Wochen leidenschaftlicher Hingabe waren ihnen danach vergönnt gewesen - bis dann Lieutenant Kenneth Forbes ihn als Widersacher hatte ausschalten wollen und ihn zu einem Duell herausgefordert hatte. Er hätte ihn töten können, hatte sich jedoch damit begnügt, ihn zu blamieren. Eine noble Geste, die den Lieutenant in England ein für allemal deklassiert und unschädlich gemacht hätte. Doch nicht hier in Australien, wo die wahre Macht nicht vom Gouverneur der Kolonie ausging, sondern von den korrupten Offizieren der New South Wales Corps.
Ja, er hätte Kenneth Forbes wirklich besser getötet. Das hätte ihm weniger Schwierigkeiten gebracht - und Jessica für immer von seinen Nachstellungen befreit. Doch er hatte noch nie einen Menschen kaltblütig getötet und spürte einfach zu viel Skrupel. Vielleicht hätte er es in diesem Fall aber dennoch getan, wenn es da nicht die Tatsache gäbe, dass Kenneth, mochte er so rücksichtslos sein, wie er wollte, Jessicas Halbbruder war.
Wie auch immer. Es war zu spät.
Mitchell schob die Schüssel mit einem Ruck zurück, dass Wasser über den Rand schwappte, und wandte sich von der Kommode ab. Es brachte nichts, Dingen nachzuhängen, die seiner Einflussnahme längst entzogen waren. Entscheidungen, die einmal getroffen waren, ließen sich nicht rückwirkend wieder aufheben. Nur noch Gegenwart und Zukunft ließen sich beeinflussen.
Er entnahm seiner Seekiste ein frisches Hemd und stieg den Niedergang hoch. An Deck war es um einige Grad kühler als unten in der stickigen Kabine, doch warm war es immer noch in dieser Januarnacht des Jahres 1808.
Mitchell Hamilton, ein stattlicher Mann von siebenunddreißig Jahren, streckte seine große, schlanke Gestalt und atmete die Luft, die schon vom salzigen Geruch des nahen Meeres erfüllt war, tief ein. Sein Blick glitt über den breiten Hawkesbury River, an dessen Ufer mehrere Tagesreisen flussaufwärts Jessicas Farm SEVEN HILLS lag. Eine Ewigkeit von ihm entfernt, wie ihm jetzt schien.
Nebelschwaden trieben über den Fluss und ließen die Ufer nur erahnen. Leise klatschten die Wellen gegen den Rumpf der COMET. Die Seeleute huschten mit nackten Fußsohlen fast lautlos über das Deck. Alle Segel waren eingeholt. Kahl und starr wie Lanzen ragten die Masten in den dunklen Himmel. Der Mond war ebenso wenig zu sehen wie das Kreuz des Südens, das sich hinter Wolken verbarg.
Patrick Rourke trat auf ihn zu, ein Fernrohr unter dem Arm und zwei Blechbecher in der Hand. »Besser?«. fragte er knapp. Mitchell nickte nur.
»Hier, trinken Sie das. Das bringt Sie wieder auf die Beine«, sagte Patrick Rourke und hielt ihm einen Becher hin. »Gegen Hitze und Katzenjammer jeder Art gibt's nichts Besseres als heißen Tee mit einem kräftigen Schuss Rum. Es hilft, Sie werden's sehen!«
»Danke«, murmelte Mitchell, und umfasste den Becher mit beiden Händen und nahm vorsichtig einen Schluck. Der stark mit Rum versetzte Tee, dem ein wenig Eukalyptusblätter beigemischt waren, rann ihm heiß durch die Kehle und belebte ihn tatsächlich. »Danke«, sagte er noch einmal. »Diesen Muntermacher habe ich wirklich nötig gehabt.«
Der Captain deutete mit dem Fernrohr über den Bug des Seglers hinweg. »Da vorn, etwa zwei Meilen voraus, verengt sich der Hawkesbury noch einmal, bevor er in die Broken Bay und dann in den Pazifischen Ozean mündet. Haben wir diesen Engpass hinter uns, kann uns niemand mehr aufhalten. Dann haben wir den gefährlichsten Teil der Reise geschafft.«
»Untertreiben Sie nicht ganz gewaltig?«, meinte Mitchell skeptisch. »Bis nach Van Diemen's Land sind es dann noch gut und gern fünfhundert Meilen. Und diesen Ozean pazifisch zu nennen, dürfte ja zu den herausragenden Fehlleistungen der Entdeckungsgeschichte zählen.«
Ein wissendes Lächeln huschte über Patrick Rourkes Gesicht. »Machen Sie sich keine Sorgen über die Fahrt nach Hobart.« Das war die Hauptsiedlung dieser Insel, die der Südostspitze Australiens vorgelagert war. »Die COMET kommt auch in rauen Gewässern klar, wenn das auch so mancher bezweifelt. Sie ist zwar nicht der schnellste unter den Seglern, dafür aber zäh und ausdauernd. Drücken Sie uns lieber die Daumen, dass die verfluchten Rotröcke da vorn am Flaschenhals ihren Dienst so nachlässig verrichten, wie sie das sonst auch tun.«
»Sind Sie sich sicher, dass das Corps dort überhaupt Soldaten stationiert hat?«, fragte Mitchell und versuchte vergeblich, an Steuerbord irgendwelche Konturen von Land auszumachen.
»Todsicher! Es gab dort schon immer einen Beobachtungsposten«, informierte der Captain ihn. »Aber seit dieses Rebellenpack in Sydney die Macht an sich gerissen hat, ist das Camp verstärkt worden. Sie haben sogar einen kleinen Kutter mit einem Drehgeschütz am Bug. Das Rum-Corps hat verständlicherweise ein starkes Interesse daran, zu kontrollieren, was aus dieser Kolonie hinausgelangt - an Menschen und an Nachrichten. Wir müssen also höllisch auf der Hut sein, denn ich bin nicht scharf darauf, von diesen Mistkerlen unter Beschuss genommen zu werden.«
»Und wie bringen Sie die COMET durch den Engpass? Unter Segeln?«
»Nein. Rudernd und im Schutz von Morgennebel und Dunkelheit. Das muss reichen.«
Lew Kinley, Patricks Steuermann, trat zu ihnen, wie immer auf einem Holzspan kauend. »Die Leute sind im Boot, Captain. Es kann losgehen, wenn Sie wollen.«
»Sind die Riemen auch umwickelt?«, fragte Patrick und leerte seinen Becher mit einem Schluck.
Der Steuermann sah ihn regelrecht empört an. »Captain! ... Noch hab' ich mein Gehirn nicht in Rum ersäuft! Als ob ich die Jungs mit nackten Riemen losschicken würde!«
Patrick grinste, wusste er doch, dass auf seinen Steuermann Verlass war. »Schon gut, Lew. Dann sollen sie sich also ins Zeug legen, dabei aber absolut das Maul halten. Wir haben zwar Glück mit dem Nebel, aber laute Flüche schluckt er nicht, wenn wir durch den Flaschenhals müssen. Und nach Fluchen wird ihnen zumute sein, wenn sie die COMET erst mal zwei Meilen gerudert haben.«
»Aye, aye, Captain. Werd' ihnen sagen, dass ihnen die Rotröcke gehörig Feuer unterm Arsch machen und sie mit Blei spicken werden, wenn sie nicht so leise sind wie ein Mönch im Nonnenkloster auf Brautschau«, nuschelte der Steuermann und huschte zum Bug zurück.
»Lew Kinley fehlt es manchmal an Schliff und Umgangsformen«, sagte Patrick entschuldigend zu seinem Passagier, während ein verstecktes Lächeln seine Mundwinkel umspielte. »Aber sonst ist er ein wahres Juwel ... nur eben ein ungeschliffenes.«
»Keine Angst, Captain. Ich erwarte an Bord Ihres Schiffes keine Umgangsformen, wie sie bei Hofe üblich sind«, erwiderte Mitchell spöttisch. »Das müssten Sie doch schon längst gemerkt haben. Und die Männer auf meiner Farm bedienen sich auch nicht gerade der gepflegtesten Sprache.«
Patrick lachte gedämpft. »Ich bin sicher, Sie wissen sich bei ihnen Gehör zu verschaffen und sich durchzusetzen.« Er wurde augenblicklich ernst, als ihm bewusst war, welch ungewisses Schicksal vor Mitchell Hamilton lag - und was er in New South Wales zurückließ, von Jessica einmal ganz abgesehen. »Es muss Ihnen schwergefallen sein, Ihrer Farm nicht noch einmal einen Besuch abgestattet zu haben. Sicherlich hätten Sie für die doch ... unbestimmte Dauer Ihrer Abwesenheit so einige Regelungen und Vorkehrungen treffen wollen, nicht wahr?«
Der Gedanke an MIRRA BOOKA schmerzte Mitchell. Sieben entbehrungsreiche, knochenbrechende Jahre hatte er in dieses herrliche Land, in die Aufzucht der Schafe und in die Kultivierung des Bodens investiert. Sein Herzblut steckte in dieser Farm, die »Kreuz des Südens« hieß - in der Sprache der Aborigines, der wilden Eingeborenen des sonnenglühenden Landes. »Leider haben Sie nur zu recht, Captain«, räumte Mitchell düster ein, während ein kaum merklicher Ruck durch den Schoner ging und das Schiff sich zu bewegen begann. »Ich kann nur hoffen, dass mein Partner, John Hawkley, Ersatz für mich findet. Er ist nämlich an den Rollstuhl gefesselt.«
»Das zu hören tut mir leid.«
Mitchell zuckte die Achseln. »Es ist die Gicht. Aber so sehr mich die Frage, was aus der Farm wird, beschäftigt, so zählen diese Sorgen doch nichts im Vergleich zu denen, die ich mir um Jessica mache.«
»Quälen Sie sich nicht damit, Mister Hamilton. Jessica Brading ist alles andere als eine gewöhnliche Frau ... und ich muss es wissen, hat sie mich doch dazu gebracht, sie als gleichberechtigte Geschäftspartnerin und Miteignerin der COMET zu akzeptieren«, meinte Patrick Rourke mit einer Mischung aus gespieltem Groll und echter Bewunderung. »Dabei hatte ich mir geschworen, mich niemals geschäftlich mit einem Weiber-rock einzulassen und lieber bankrott zu gehen als das Angebot einer Frau anzunehmen.«
Mitchell lächelte unwillkürlich. »Und wie ist ihr das gelungen?«
»Ich wollte sie zuerst nicht mal ausreden lassen und sie von Bord schmeißen lassen. Doch da hat sie mir die Muskete auf die Brust gesetzt und mich gezwungen, sie anzuhören. Dann haben wir uns unten in meiner Kabine an den Tisch gesetzt und um ihr Geld und mein halbes Schiff gespielt. Ich habe versucht, sie mit gezinkten Würfeln zu betrügen. Doch das ist mir nicht gelungen, der Teufel weiß warum.« Er kratzte sich unter seiner Fellmütze den Kopf. »Ich glaube, sie hat irgendwie davon gewusst und mich mit meinen eigenen faulen Tricks geschlagen. Na, ich will's heute gar nicht mehr wissen. Auf jeden Fall: Jessica ist keine Frau, die sich so leicht in die Defensive drängen lässt. Sie weiß schon auf sich aufzupassen. Und sie hat ja auch noch einige gute Freunde.«
»Lieutenant Forbes ist nicht irgendjemand«, wandte Mitchell ein. »Ein Offizier vom New South Wales Corps war schon immer ein gefährlicher Gegner in dieser Sträflingskolonie. Doch seit der Rebellion ist er zugleich auch ein erschreckend machtvoller Gegner, vergessen Sie das nicht, Captain!«
Patrick Rourke verzog das Gesicht. »Wie könnte ich das vergessen, Mister Hamilton. Die Pest über diese ehrlose Bande, die am nächsten Ast aufgeknüpft gehört.«
»Doch sie haben die Macht übernommen, sonst wäre ich nicht auf der Flucht.«
Patrick blickte finster drein. »Zur Hölle mit diesen Blutsaugern! Zur Hölle mit dem gesamten Rum-Corps! Wenn es sie nicht gäbe, ginge es uns allen, der ganzen Kolonie, zehnmal besser! Eine Schande, dass Bounty-Bligh gescheitert ist, diesen Saustall mit eisernem Besen auszukehren!«
Das Rum-Corps, so nannten die Sträflinge, die Emanzipisten und sogar diejenigen, die als Freie nach New South Wales gekommen waren, die korrupte Offiziersclique. Die Männer mit den goldbetressten Uniformen hatten sich nicht darauf beschränkt, die junge Kolonie vor Gefahren von außen zu schützen und die innere Sicherheit und Ordnung in diesem riesigen Gefängnis ohne sichtbare Mauern zu gewährleisten. Schon von Anfang an hatten sie die Macht an sich gerissen und bisher noch jedem Gouverneur ihren Willen aufgezwungen. Sie hatten Rum zur Währung der Kolonie gemacht - und sich kraft ihrer militärischen Macht das Handelsmonopol darauf gesichert. Sie bestimmten den Preis des von ihnen importierten Rums, den sie für ein paar Schilling pro Gallone einkauften und für das Zehnfache und mehr wieder verkauften. Planmäßig hatten sie die Sträflinge und Emanzipisten, wie die Freigelassenen genannt wurden, nach diesem billigen Fusel süchtig gemacht und dem gesamten Handel ihren Stempel aufgedrückt. Die Siedler, die fast ausnahmslos mit ihnen zugewiesenen Sträflingen Äcker, Felder und Weiden bestellten, waren gezwungen, den unverschämt überteuerten Rum zu kaufen, denn jedem Sträfling stand sein wöchentliches Quantum zu. Ohne Rum gingen sie nicht an die Arbeit.
Genehmigte Lizenzausgabe für
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Wer das bessere Auge besaß und den Gegner in diesem Nebelmeer zuerst ausmachte, würde gewinnen - und am Leben bleiben. Jeder hatte nur eine Kugel. Aber mehr war in diesem Wald gigantischer Eukalyptusbäume auch nicht nötig, denn die Sicht betrug kaum mehr als ein halbes Dutzend Yards. Sie waren beide gute Schützen, und auf diese geringe Entfernung würde keiner von ihnen sein Ziel verfehlen. Es kam nur darauf an, wer schneller war und zuerst den Finger um den Abzug krümmte.
Mitchell Hamilton leckte sich die Lippen und schmeckte das Salz seines eigenen Schweißes. Er hatte Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben. Mehr Angst als damals, als die TRADEWIND im Sturm vor der Küste Australiens an einem Riff zerschellt war und Hunderte von verbannten Sträflingen, Passagieren und Seeleuten in den aufgepeitschten Fluten den Tod gefunden hatten.
Doch was ihm die Kehle zuschnürte, war nicht Angst um sein eigenes Leben, sondern um das von Jessica. Wenn Kenneth Forbes ihn in diesem nebeldurchtränktenWald tötete, würde er bekommen, was er wollte: Jessica.
Mitchell umklammerte die Duellpistole mit solcher Kraft, als wollte er im blank polierten Holz des Griffs Druckspuren hinterlassen. Sein Herz raste, als würde es ihm gleich die Brust sprengen, und sein Gesicht glänzte von Schweiß und der Feuchtigkeit des Nebels.
Wo war Ken bloß?
Der Waldboden unter seinen Füßen war wie aus Daunen. Er verschluckte jedes Geräusch. Nirgends schien es noch Leben in diesem Wald zu geben. Nicht der entfernteste Laut eines Tiers war zu vernehmen. Als hätte der Atem des Hasses und des drohenden Todes jedes Geschöpf vertrieben.
»Jessica gehört mir, Mitchell Hamilton!«, rief eine Stimme plötzlich, und sie schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. »Jessica hat von Anfang an mir gehört ... und jeder, der sich mir in den Weg stellt, wird sterben. So wie du jetzt, Mitchell Hamilton!«
Mitchell fuhr gehetzt herum, versuchte das wabernde Meer des Nebels mit seinen Augen zu durchdringen und den verhassten Gegner zu entdecken.
»Elender Feigling!«, brüllte er in den Wald. »Komm heraus und stell dich!«
Ein knarrendes, ächzendes Geräusch drang an Mitchells Ohr. Und fast im selben Moment sagte eine Stimme hinter ihm: »Ich bin schon da, mein Freund!«
Zu Tode erschrocken wirbelte Mitchell herum - und blickte direkt in die schwarze Mündung einer Pistole. Jenseits des Laufes sah er das höhnisch verzerrte Gesicht von Kenneth Forbes. Triumph lag in seinen Zügen, und Mordlust loderte in seinen Augen.
»Es ist soweit, mein Freund!«
»Nein!«, schrie Mitchell in panischem Entsetzen auf und riss abwehrend die Hände hoch. Das durfte nicht das Ende sein. Wenn er starb, war Jessica ihrem Peiniger schutzlos ausgeliefert. Es musste einen Ausweg geben, um der tödlichen Kugel zu entkommen. Es musste!
Der Schuss krachte, und vor seinen Augen explodierte eine blendende Helligkeit. Er schrie. Dann war es vorbei.
2
Keuchend richtete sich Mitchell Hamilton auf, die Augen mit einer Hand beschattend. Der grässliche Albtraum hielt ihn noch immer gefangen, wenn auch die einzelnen Traumbilder schnell an Lebendigkeit, an Kontur und Tiefe verloren und fast augenblicklich zu einer vagen Erinnerung verblassten. Was sich jedoch nicht verflüchtigte, war sein Gefühl der Angst und das Wissen um seine eigene Ohnmacht.
»Tut mir leid, wenn ich Sie mit der Laterne geblendet habe, Mister Hamilton«, sagte eine kräftige, sonore Stimme jenseits der blendenden Helligkeit. »Ich dreh' die Flamme etwas runter. Ist es so besser?«
Mitchell brauchte einen Moment, ehe er sich wieder erinnerte, wo er sich befand und wer dieser große, breitschultrige Mann mit dem wildgelockten Haar und dem rotbraunen Bart war. Dann vernahm er das inzwischen vertraute Knarren von Masten, Spanten und Tauwerk, und die Benommenheit wich von ihm. Er wusste wieder, wo er war und was es mit diesem engen, dunklen Raum auf sich hatte, der nach Teer und leicht fauligem Wasser roch.
»Oh, Captain Rourke«, murmelte er und rieb sich über die Augen. Dann zog er seine Taschenuhr hervor und ließ den Deckel aufspringen. Die Zeiger wiesen auf zwanzig vor vier. Er hatte also über sechs Stunden geschlafen. Und doch fühlte er sich so ausgelaugt und zerschunden, als hätte er zwei Nächte lang kein Auge zubekommen. Aber das lag vermutlich daran, dass er die Schussverletzung, die Lieutenant Forbes ihm bei ihrem wirklichen Duell vor drei Wochen zugefügt hatte, immer noch nicht völlig auskuriert hatte. »Ja, danke ... « Seine eigene Stimme klang ihm fremd. Sie krächzte, und er räusperte sich. Patrick Rourke hängte die abgeblendete Laterne an einen Deckenhaken, setzte sich auf einen dreibeinigen Schemel und schob sich die Mütze aus Kängurufell in den Nacken, während er beobachtete, wie sein Passagier die Beine über den Rand der Koje schwang. Das dünne Baumwollhemd klebte Mitchell wie ein nasser Lappen am Leib.
»Müssen einen verdammt wüsten Albtraum gehabt haben«, sagte Rourke mitfühlend, »so wie Sie geschrien haben. Fast wären Sie mir an die Kehle gesprungen.«
Mitchell nickte. »Hab' schon mal besser geschlafen. Muss an der drückenden Hitze liegen«, sagte er ausweichend und wusste, dass der Captain der COMET ihm das nicht abnahm. Dafür war er zu gut über alles informiert. Schließlich unternahm er einzig und allein wegen ihm diese gefährliche Reise nach Van Diemen's Land. Wegen ihm und wegen Jessica, die an Patrick Rourkes Schoner zur Hälfte beteiligt war und seine tiefe Freundschaft errungen hatte.
Doch Patrick Rourke beließ es dabei. »Ich hätte Sie schlafen lassen sollen, doch Sie baten mich, Sie zu wecken, wenn es soweit ist.«
Mitchell hob die Augenbrauen. »Haben wir die Mündung des Hawkesbury River erreicht?«
»Schon vor ein paar Stunden«, sagte der bärtige Captain, der eine ärmellose Schaffelljacke über der schweißglänzenden muskulösen Brust trug. »Wir sind in einer kleinen Bucht vor Anker gegangen.«
»Aber weshalb? Könnten wir nicht jetzt schon sicher auf hoher See sein? Warum die Verzögerung?«, fragte Mitchell.
Patrick Rourke fuhr sich durch sein zerzaustes Haar, das die Farbe dunklen Brandys hatte und nie mit einem Kamm in Berührung kam. »Weil ich die frühen Morgenstunden nutzen möchte, um mich mit dem Schoner aus den Fluss zu schleichen. Erfahrungsgemäß lässt die Konzentrationsfähigkeit eines Wachpostens zwischen drei und fünf Uhr, also kurz vor Sonnenaufgang, am meisten zu wünschen übrig. Und warum soll das bei den Soldaten vom New South Wales Corps anders sein?«
Mitchell lächelte anerkennend. »Entschuldigen Sie meine dumme Frage. Sie haben sich wirklich Gedanken gemacht, Captain.«
»Wenn ich das nicht täte, wäre ich vermutlich schon als Sträfling auf der Überfahrt nach Australien vor die Hunde gegangen«, brummte der Ire, der in die britische Strafkolonie, offiziell New South Wales genannt, verbannt worden war, weil er seinem Bruder bei einem Aufstand gegen die britische Besatzungsmacht in Irland Unterschlupf gewährt hatte. Das lag nun schon viele Jahre zurück.
»Habe ich noch Zeit, mich etwas frisch zu machen?«, wollte Mitchell wissen und wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Die Kabine mit der niedrigen Decke war ihm noch nie so erdrückend vorgekommen wie in dieser Stunde. Die Luft war verbraucht, und jede Bewegung verursachte bei ihm einen Schweißausbruch.
»Sicher.« Patrick Rourke erhob sich. »Ich sehe Sie dann gleich an Deck, Mister Hamilton.« Er nickte ihm freundschaftlich zu und verließ die schmale Kabine, deren winziges Bullauge aus Sicherheitsgründen geschlossen und mit dunklem, dickem Sackleinen verhängt war.
Mitchell stemmte sich hoch und trat an die kleine Kommode, auf der eine Waschschüssel mit einer schon reichlich zerbeulten Wasserkanne stand. Er trank drei Hände voll, wusch sich schnell und stöhnte leise auf, als ihm das einigermaßen kühle Wasser über Gesicht und Brust rann. Einen Augenblick starrte er in das Wasser, was sein Abbild im Licht der Laterne verzerrt zurückwarf.
»Ich hätte ihn töten sollen, als ich die Chance und das Recht dazu hatte«, murmelte er vor sich hin. »Gleich dort auf der Lichtung vor den Augen der Sekundanten. Er hatte es verdient ... und ich Narr habe mir in der Rolle des Gentleman gefallen und ihm Pardon gewährt!«
Es kam ihm wie ein schlechter Traum vor, dass er nun schon mehrere Tage an Bord dieses Schiffes, ja, dass er auf der Flucht war. Er, der als stolzer und freier Siedler nach New South Wales gekommen war und ein großes Landgut bei Parramatta, sechzehn Meilen nordwestlich von Sydney, sein eigen nannte. Es war geradezu absurd: Er lief vor einer Verbrecherbande davon, die den Rock des Königs entehrte.
Doch noch mehr quälte ihn der Gedanke, dass er sieben schrecklich lange Jahre auf die Erfüllung seiner Liebe zu Jessica hatte warten müssen.
Sieben endlos lange Jahre, in denen die Frau, die er liebte, die Frau eines anderen Mannes gewesen war. Eines Mannes, der Jessica vor dem Galgen bewahrt und sie zur Herrin von SEVEN HILLS gemacht hatte, der größten und ertragreichsten Farm am Hawkesbury.
Wie hatte er diesen Mann beneidet, dem Jessica zwei prachtvolle Kinder geschenkt hatte. Und wie sehr hatte er sein Verlangen bekämpft, sie wenigstens einmal zu sprechen und in ihren Augen zu forschen, ob sie vielleicht nicht doch noch tief in ihrem Innersten etwas von der Liebe und Leidenschaft für ihn bewahrt hatte, die sie nach dem Schiffbruch vor sieben Jahren an der unwirtlichen Küste gemeinsam entdeckt hatten. Doch er hatte es sich versagt, um Jessicas willen. Bis dann ihr Mann, Steve Brading, von der Kugel eines skrupellosen Sträflings hinterhältig niedergestreckt worden war.
Und auch dann hatte er noch Monate verstreichen lassen, weil er wusste, wie stark Schmerz und Trauer bei ihr sein mussten. Viele Monate hatte er gewartet, bis er wieder in ihr Leben getreten war, und fast noch einmal so lange hatte es gedauert, bis er sie wieder für sich gewonnen und ihre Liebe zu ihm wieder entfacht hatte.
Einige wenige Wochen leidenschaftlicher Hingabe waren ihnen danach vergönnt gewesen - bis dann Lieutenant Kenneth Forbes ihn als Widersacher hatte ausschalten wollen und ihn zu einem Duell herausgefordert hatte. Er hätte ihn töten können, hatte sich jedoch damit begnügt, ihn zu blamieren. Eine noble Geste, die den Lieutenant in England ein für allemal deklassiert und unschädlich gemacht hätte. Doch nicht hier in Australien, wo die wahre Macht nicht vom Gouverneur der Kolonie ausging, sondern von den korrupten Offizieren der New South Wales Corps.
Ja, er hätte Kenneth Forbes wirklich besser getötet. Das hätte ihm weniger Schwierigkeiten gebracht - und Jessica für immer von seinen Nachstellungen befreit. Doch er hatte noch nie einen Menschen kaltblütig getötet und spürte einfach zu viel Skrupel. Vielleicht hätte er es in diesem Fall aber dennoch getan, wenn es da nicht die Tatsache gäbe, dass Kenneth, mochte er so rücksichtslos sein, wie er wollte, Jessicas Halbbruder war.
Wie auch immer. Es war zu spät.
Mitchell schob die Schüssel mit einem Ruck zurück, dass Wasser über den Rand schwappte, und wandte sich von der Kommode ab. Es brachte nichts, Dingen nachzuhängen, die seiner Einflussnahme längst entzogen waren. Entscheidungen, die einmal getroffen waren, ließen sich nicht rückwirkend wieder aufheben. Nur noch Gegenwart und Zukunft ließen sich beeinflussen.
Er entnahm seiner Seekiste ein frisches Hemd und stieg den Niedergang hoch. An Deck war es um einige Grad kühler als unten in der stickigen Kabine, doch warm war es immer noch in dieser Januarnacht des Jahres 1808.
Mitchell Hamilton, ein stattlicher Mann von siebenunddreißig Jahren, streckte seine große, schlanke Gestalt und atmete die Luft, die schon vom salzigen Geruch des nahen Meeres erfüllt war, tief ein. Sein Blick glitt über den breiten Hawkesbury River, an dessen Ufer mehrere Tagesreisen flussaufwärts Jessicas Farm SEVEN HILLS lag. Eine Ewigkeit von ihm entfernt, wie ihm jetzt schien.
Nebelschwaden trieben über den Fluss und ließen die Ufer nur erahnen. Leise klatschten die Wellen gegen den Rumpf der COMET. Die Seeleute huschten mit nackten Fußsohlen fast lautlos über das Deck. Alle Segel waren eingeholt. Kahl und starr wie Lanzen ragten die Masten in den dunklen Himmel. Der Mond war ebenso wenig zu sehen wie das Kreuz des Südens, das sich hinter Wolken verbarg.
Patrick Rourke trat auf ihn zu, ein Fernrohr unter dem Arm und zwei Blechbecher in der Hand. »Besser?«. fragte er knapp. Mitchell nickte nur.
»Hier, trinken Sie das. Das bringt Sie wieder auf die Beine«, sagte Patrick Rourke und hielt ihm einen Becher hin. »Gegen Hitze und Katzenjammer jeder Art gibt's nichts Besseres als heißen Tee mit einem kräftigen Schuss Rum. Es hilft, Sie werden's sehen!«
»Danke«, murmelte Mitchell, und umfasste den Becher mit beiden Händen und nahm vorsichtig einen Schluck. Der stark mit Rum versetzte Tee, dem ein wenig Eukalyptusblätter beigemischt waren, rann ihm heiß durch die Kehle und belebte ihn tatsächlich. »Danke«, sagte er noch einmal. »Diesen Muntermacher habe ich wirklich nötig gehabt.«
Der Captain deutete mit dem Fernrohr über den Bug des Seglers hinweg. »Da vorn, etwa zwei Meilen voraus, verengt sich der Hawkesbury noch einmal, bevor er in die Broken Bay und dann in den Pazifischen Ozean mündet. Haben wir diesen Engpass hinter uns, kann uns niemand mehr aufhalten. Dann haben wir den gefährlichsten Teil der Reise geschafft.«
»Untertreiben Sie nicht ganz gewaltig?«, meinte Mitchell skeptisch. »Bis nach Van Diemen's Land sind es dann noch gut und gern fünfhundert Meilen. Und diesen Ozean pazifisch zu nennen, dürfte ja zu den herausragenden Fehlleistungen der Entdeckungsgeschichte zählen.«
Ein wissendes Lächeln huschte über Patrick Rourkes Gesicht. »Machen Sie sich keine Sorgen über die Fahrt nach Hobart.« Das war die Hauptsiedlung dieser Insel, die der Südostspitze Australiens vorgelagert war. »Die COMET kommt auch in rauen Gewässern klar, wenn das auch so mancher bezweifelt. Sie ist zwar nicht der schnellste unter den Seglern, dafür aber zäh und ausdauernd. Drücken Sie uns lieber die Daumen, dass die verfluchten Rotröcke da vorn am Flaschenhals ihren Dienst so nachlässig verrichten, wie sie das sonst auch tun.«
»Sind Sie sich sicher, dass das Corps dort überhaupt Soldaten stationiert hat?«, fragte Mitchell und versuchte vergeblich, an Steuerbord irgendwelche Konturen von Land auszumachen.
»Todsicher! Es gab dort schon immer einen Beobachtungsposten«, informierte der Captain ihn. »Aber seit dieses Rebellenpack in Sydney die Macht an sich gerissen hat, ist das Camp verstärkt worden. Sie haben sogar einen kleinen Kutter mit einem Drehgeschütz am Bug. Das Rum-Corps hat verständlicherweise ein starkes Interesse daran, zu kontrollieren, was aus dieser Kolonie hinausgelangt - an Menschen und an Nachrichten. Wir müssen also höllisch auf der Hut sein, denn ich bin nicht scharf darauf, von diesen Mistkerlen unter Beschuss genommen zu werden.«
»Und wie bringen Sie die COMET durch den Engpass? Unter Segeln?«
»Nein. Rudernd und im Schutz von Morgennebel und Dunkelheit. Das muss reichen.«
Lew Kinley, Patricks Steuermann, trat zu ihnen, wie immer auf einem Holzspan kauend. »Die Leute sind im Boot, Captain. Es kann losgehen, wenn Sie wollen.«
»Sind die Riemen auch umwickelt?«, fragte Patrick und leerte seinen Becher mit einem Schluck.
Der Steuermann sah ihn regelrecht empört an. »Captain! ... Noch hab' ich mein Gehirn nicht in Rum ersäuft! Als ob ich die Jungs mit nackten Riemen losschicken würde!«
Patrick grinste, wusste er doch, dass auf seinen Steuermann Verlass war. »Schon gut, Lew. Dann sollen sie sich also ins Zeug legen, dabei aber absolut das Maul halten. Wir haben zwar Glück mit dem Nebel, aber laute Flüche schluckt er nicht, wenn wir durch den Flaschenhals müssen. Und nach Fluchen wird ihnen zumute sein, wenn sie die COMET erst mal zwei Meilen gerudert haben.«
»Aye, aye, Captain. Werd' ihnen sagen, dass ihnen die Rotröcke gehörig Feuer unterm Arsch machen und sie mit Blei spicken werden, wenn sie nicht so leise sind wie ein Mönch im Nonnenkloster auf Brautschau«, nuschelte der Steuermann und huschte zum Bug zurück.
»Lew Kinley fehlt es manchmal an Schliff und Umgangsformen«, sagte Patrick entschuldigend zu seinem Passagier, während ein verstecktes Lächeln seine Mundwinkel umspielte. »Aber sonst ist er ein wahres Juwel ... nur eben ein ungeschliffenes.«
»Keine Angst, Captain. Ich erwarte an Bord Ihres Schiffes keine Umgangsformen, wie sie bei Hofe üblich sind«, erwiderte Mitchell spöttisch. »Das müssten Sie doch schon längst gemerkt haben. Und die Männer auf meiner Farm bedienen sich auch nicht gerade der gepflegtesten Sprache.«
Patrick lachte gedämpft. »Ich bin sicher, Sie wissen sich bei ihnen Gehör zu verschaffen und sich durchzusetzen.« Er wurde augenblicklich ernst, als ihm bewusst war, welch ungewisses Schicksal vor Mitchell Hamilton lag - und was er in New South Wales zurückließ, von Jessica einmal ganz abgesehen. »Es muss Ihnen schwergefallen sein, Ihrer Farm nicht noch einmal einen Besuch abgestattet zu haben. Sicherlich hätten Sie für die doch ... unbestimmte Dauer Ihrer Abwesenheit so einige Regelungen und Vorkehrungen treffen wollen, nicht wahr?«
Der Gedanke an MIRRA BOOKA schmerzte Mitchell. Sieben entbehrungsreiche, knochenbrechende Jahre hatte er in dieses herrliche Land, in die Aufzucht der Schafe und in die Kultivierung des Bodens investiert. Sein Herzblut steckte in dieser Farm, die »Kreuz des Südens« hieß - in der Sprache der Aborigines, der wilden Eingeborenen des sonnenglühenden Landes. »Leider haben Sie nur zu recht, Captain«, räumte Mitchell düster ein, während ein kaum merklicher Ruck durch den Schoner ging und das Schiff sich zu bewegen begann. »Ich kann nur hoffen, dass mein Partner, John Hawkley, Ersatz für mich findet. Er ist nämlich an den Rollstuhl gefesselt.«
»Das zu hören tut mir leid.«
Mitchell zuckte die Achseln. »Es ist die Gicht. Aber so sehr mich die Frage, was aus der Farm wird, beschäftigt, so zählen diese Sorgen doch nichts im Vergleich zu denen, die ich mir um Jessica mache.«
»Quälen Sie sich nicht damit, Mister Hamilton. Jessica Brading ist alles andere als eine gewöhnliche Frau ... und ich muss es wissen, hat sie mich doch dazu gebracht, sie als gleichberechtigte Geschäftspartnerin und Miteignerin der COMET zu akzeptieren«, meinte Patrick Rourke mit einer Mischung aus gespieltem Groll und echter Bewunderung. »Dabei hatte ich mir geschworen, mich niemals geschäftlich mit einem Weiber-rock einzulassen und lieber bankrott zu gehen als das Angebot einer Frau anzunehmen.«
Mitchell lächelte unwillkürlich. »Und wie ist ihr das gelungen?«
»Ich wollte sie zuerst nicht mal ausreden lassen und sie von Bord schmeißen lassen. Doch da hat sie mir die Muskete auf die Brust gesetzt und mich gezwungen, sie anzuhören. Dann haben wir uns unten in meiner Kabine an den Tisch gesetzt und um ihr Geld und mein halbes Schiff gespielt. Ich habe versucht, sie mit gezinkten Würfeln zu betrügen. Doch das ist mir nicht gelungen, der Teufel weiß warum.« Er kratzte sich unter seiner Fellmütze den Kopf. »Ich glaube, sie hat irgendwie davon gewusst und mich mit meinen eigenen faulen Tricks geschlagen. Na, ich will's heute gar nicht mehr wissen. Auf jeden Fall: Jessica ist keine Frau, die sich so leicht in die Defensive drängen lässt. Sie weiß schon auf sich aufzupassen. Und sie hat ja auch noch einige gute Freunde.«
»Lieutenant Forbes ist nicht irgendjemand«, wandte Mitchell ein. »Ein Offizier vom New South Wales Corps war schon immer ein gefährlicher Gegner in dieser Sträflingskolonie. Doch seit der Rebellion ist er zugleich auch ein erschreckend machtvoller Gegner, vergessen Sie das nicht, Captain!«
Patrick Rourke verzog das Gesicht. »Wie könnte ich das vergessen, Mister Hamilton. Die Pest über diese ehrlose Bande, die am nächsten Ast aufgeknüpft gehört.«
»Doch sie haben die Macht übernommen, sonst wäre ich nicht auf der Flucht.«
Patrick blickte finster drein. »Zur Hölle mit diesen Blutsaugern! Zur Hölle mit dem gesamten Rum-Corps! Wenn es sie nicht gäbe, ginge es uns allen, der ganzen Kolonie, zehnmal besser! Eine Schande, dass Bounty-Bligh gescheitert ist, diesen Saustall mit eisernem Besen auszukehren!«
Das Rum-Corps, so nannten die Sträflinge, die Emanzipisten und sogar diejenigen, die als Freie nach New South Wales gekommen waren, die korrupte Offiziersclique. Die Männer mit den goldbetressten Uniformen hatten sich nicht darauf beschränkt, die junge Kolonie vor Gefahren von außen zu schützen und die innere Sicherheit und Ordnung in diesem riesigen Gefängnis ohne sichtbare Mauern zu gewährleisten. Schon von Anfang an hatten sie die Macht an sich gerissen und bisher noch jedem Gouverneur ihren Willen aufgezwungen. Sie hatten Rum zur Währung der Kolonie gemacht - und sich kraft ihrer militärischen Macht das Handelsmonopol darauf gesichert. Sie bestimmten den Preis des von ihnen importierten Rums, den sie für ein paar Schilling pro Gallone einkauften und für das Zehnfache und mehr wieder verkauften. Planmäßig hatten sie die Sträflinge und Emanzipisten, wie die Freigelassenen genannt wurden, nach diesem billigen Fusel süchtig gemacht und dem gesamten Handel ihren Stempel aufgedrückt. Die Siedler, die fast ausnahmslos mit ihnen zugewiesenen Sträflingen Äcker, Felder und Weiden bestellten, waren gezwungen, den unverschämt überteuerten Rum zu kaufen, denn jedem Sträfling stand sein wöchentliches Quantum zu. Ohne Rum gingen sie nicht an die Arbeit.
Genehmigte Lizenzausgabe für
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Ashley Carrington
Mit einer Gesamtauflage in Deutschland von fast 6 Millionen zählt Rainer M. Schröder, alias Ashley Carrington, zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern von Jugendbüchern sowie historischen Gesellschaftsromanen für Erwachsene. Letztere erscheinen seit 1984 unter seinem zweiten, im Pass eingetragenen Namen Ashley Carrington.Rainer M. Schröder lebt Atlanta in den USA.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ashley Carrington
- 2011, 1, 303 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004327
- ISBN-13: 9783868004328
Kommentare zu "Jessica - Was bleibt, ist die Hoffnung"
0 Gebrauchte Artikel zu „Jessica - Was bleibt, ist die Hoffnung“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 25Schreiben Sie einen Kommentar zu "Jessica - Was bleibt, ist die Hoffnung".
Kommentar verfassen