Kannst du nachts die Sterne sehen
Seit Kates Ehemann vor zwei Jahren plötzlich gestorben ist, ist nichts mehr, wie es war. Die 14jährige Tochter Charlotte wird zur Zicke und der 4jährige Hunter entwickelt sonderbare Spleens. Kate glaubt, dass Abstand das beste für die...
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Produktinformationen zu „Kannst du nachts die Sterne sehen “
Seit Kates Ehemann vor zwei Jahren plötzlich gestorben ist, ist nichts mehr, wie es war. Die 14jährige Tochter Charlotte wird zur Zicke und der 4jährige Hunter entwickelt sonderbare Spleens. Kate glaubt, dass Abstand das beste für die ganze Familie sei. Sie fahren zu Kyles Eltern doch alles kommt anders als gedacht.
"Taschentücher rausholen."
Kirkus Reviews
"Taschentücher rausholen."
Kirkus Reviews
Lese-Probe zu „Kannst du nachts die Sterne sehen “
Kannst du nachts die Sterne sehen? von Mary E. Mitchell 1 Was wir lieben
Er starb, wie viele Leute sterben. Er ging einfach ins Bett und stand am nächsten Morgen nicht wieder auf. Er hatte den dichtesten schwarzen Haarschopf, den ich jemals bei einem Zweiundvierzigjährigen gesehen habe. Wenn er nicht gestorben wäre, hätte ich im Alter einen Ehemann ohne gelichtetes Haar gehabt. So etwas ist unglaublich selten. Es ist eine furchtbare Sache, einen Ehemann zu begraben, der so volles Haar hat.
Aber das ist natürlich nicht das, was seine Kinder vermissen. Kyle war einer dieser perfekten Papas, ein Mann, dessen Brust sichtbar schwoll beim Anblick seiner Tochter auf dem Fußballplatz oder seines kleinen Sohnes, der am Stoßschutz seiner Wiege kaute. Mein schöner Mann, dessen Bild ich ganz offen verklärt habe seit dem Tag, an dem ich ihn begrub, wusste, wie man seine Kinder liebt, ohne sie zu verziehen.
Er glaubte beispielsweise nicht, dass Charlotte einen Geiger aus der ersten Reihe des Bostoner Sinfonieorchesters brauchte, der ihr das Geigespielen beibringt. Aber er hörte jede Woche zu, wie Charlotte nach jeder Stunde bei Mrs Otten am Ende der Straße quietschend spielte.
... mehr
Er hatte nie Herzprobleme gehabt. Vielleicht war er noch zu jung, sodass die Arzte nie bei ihm nach so etwas gesucht hätten. Ich war einige Monate lang wütend auf alle seine Ärzte — sogar auf den Fußspezialisten, bei dem er nur einmal gewesen war und der ihm seine Warze auf der Fußsohle entfernt hatte. Doch dann gab ich es auf. Es waren einfach zu viele Menschen, denen ich die Schuld hätte geben können. Das strengte mich zu sehr an.
Nun ist es zwei Jahre her, dass Kyle starb, und ich habe all die Ratschläge von Müttern, Tanten, Freunden und Trauerberatern beachtet, die besagen, dass man in den ersten zwei Jahren keine großen Veränderungen in seinem Leben vornehmen soll, wie etwa das Haus zu verkaufen oder übereilt wieder zu heiraten oder mein wildes rotes Haar in einem künstlichen Silberblondton zu färben.
Ich habe Fortschritte gemacht. Ich habe mehr Energie und weniger Depressionen. Meine Kinder bekommen zum Abendessen keine Mikrowellenfertiggerichte mehr. Ich kaufe wieder Weihnachtsgeschenke für andere Leute. Im ersten Jahr hatte ich, am Weihnachtstag plötzlich bemerkend, dass ich meiner Mutter kein Geschenk gekauft hatte, hastig eine ungeöffnete Packung Seife mit Geißblattduft eingepackt, die im Haus herumlag. Als meine Mutter das Geschenkpapier mit den Rentieren aufriss, hockte Charlotte auf der Lehne ihres Zweisitzersofas, bereit, meine Sünde aufzudecken. Ich erinnere mich sehr deutlich an das Grinsen auf dem Gesicht meiner Zwölfjährigen, als sie mich verpfiff.
»Wirklich clever, Mom«, hatte sie gesagt. »Deiner eigenen Mutter zu Weihnachten ihr eigenes Geschenk zurückzuschenken.«
Es ist nicht einfach gewesen, die Kinder ohne Kyle aufzuziehen. Er hat mich mit einer Tochter alleingelassen, die auf der abschüssigen Piste der Pubertät Halt suchte. Ihr Ärger explodierte genauso heftig wie die Pickel in ihrem Gesicht. Ihr Lieblingswort, an ihren besten Tagen, war Nein. Augenrollen. Wut. Schmerz darüber, ihren gut aussehenden Vater, den Fußballtrainer, verloren zu haben und stattdessen mit der lahmen alten Mom zurückgelassen zu werden.
Hunter, Kyles und mein Kind der Liebe, leichtsinnig gezeugt von Eltern, die es hätten besser wissen sollen, war erst zwei gewesen, als sein Daddy starb. Er kam zehn Jahre nach
Charlotte, aber ich schätze, wir dachten einfach, dass wir mehr als genug Zeit hätten, ihn großzuziehen. Er war nicht gerade sehr wortgewandt mit seinen zwei Jahren, doch er zeigte seinen Verlust auf andere Weise.
Von dem Tag an, an dem der Rettungswagen mit der Leiche seines Vaters wegfuhr, entwickelte Hunter eine tiefe Beziehung zu Ketchupflaschen. Leer oder gefüllt, ihre kurvigen Formen und ihr glattes Material, ihre bunten Etiketten, ihre schönen, schmalen Hälse, so perfekt geeignet für den Griffkleiner Hände, zogen ihn unwiderstehlich an. Und da unser Haus nun nicht mehr vom Klang einer männlichen Stimme erfüllt war, fing Hunter an, mit einer Ketchupflasche als seinem engsten Gefährten herumzuwatscheln, die er an sein Herz gepresst hielt, als würde er sie beschützen.
Ich dachte, er würde vielleicht bald das Interesse daran verlieren, aber nachdem er zwei oder drei weitere Plastikflaschen aus den Eingeweiden unseres unbeaufsichtigten Küchenschranks geholt hatte, begann er, sie in einem leeren Windelkarton zu verstauen, der neben seinem Wickeltisch in seinem traurigen Kinderzimmer mit den gelben Wänden stand.
Eines Tages verhalf ihm Charlotte zu einem Griff für seinen Karton, indem sie einen Schlitz in die Seite schnitt und einen von Kyles Gürteln hindurchzog. Von diesem Augenblick an zog Hunter sein geheimes Ketchupflaschenlager hinter sich her, wo immer er hinging. Er blieb oft stehen und stellte den Karton neben mir ab, wenn ich das Geschirr abwusch oder telefonierte. Er stand dort, bis er meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Seine Augen sahen müde aus für einen Vierjährigen.
Nun sitze ich herum und warte im Beratungslehrerbüro der Alan-B.-Shepard-Schule. Das ist peinlich für mich, da ich hier als Vertrauenslehrerin arbeite. Es wäre völlig in Ordnung, einen Termin bei Mr Johnson zu haben, wenn
Charlotte und ich nur einige Ergebnisse der Tests für die Aufnahme ins College besprechen müssten. Aber es ist September, und wir sind zu Tom Johnson bestellt, weil Charlotte, die erst in der neunten Klasse ist, den Unterricht geschwänzt hat. Bereits zum dritten Mal. Außerdem hat sie sich die Zunge piercen lassen — nicht, dass das gegen die Schulvorschriften verstoßen würde. Es ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass ich eine lausige Mutter für ein vierzehnjähriges Mädchen bin. Ich weiß nicht einmal, wie oder wo sie ihre Verstümmelung zustande gebracht hat. Wer würde da sein Kind zu mir schicken, um einen Plan auszuarbeiten, der es nach Harvard bringt?
Die Beratungsbüros der Alan Shepard High liegen rund um einen kleinen Warteraum, der von einem genialen Architekten entworfen wurde. Er dachte wohl, es wäre lustig, alle bestürzten und peinlich berührten Eltern in einem Raum zu versammeln, während sie auf einen Termin warten, um über ihre schwer erziehbaren Kinder zu sprechen.
Obwohl es nicht nötig wäre, auf den rutschigen Stühlen aus Kunstleder im Blickfeld von Gladys Panella, unserer Sekretärin, auszuharren, habe ich mich entschieden, mich dort hinzusetzen, statt weitere Augenblicke in meinem eigenen Büro damit zu verbringen, Telefonanrufe zu ignorieren. Gladys nickt mir kurz zu und schaut erstaunt. Ich nicke professionell zurück, verrate aber nichts. Ich bin derzeit sehr unkonzentriert bei der Arbeit, und es fällt mir schwer, meine Pflichten gut gelaunt zu erfüllen.
Eigentlich kann ich meinen Job gerade gar nicht ausstehen, um die Wahrheit zu sagen. Ich kann nicht — guten Gewissens jedenfalls — mit weiteren, übereifrigen Eltern sprechen, die einen Brief vom Dalai Lama wollen, um ihn dem Paket mit den Unterlagen für die College-Bewerbung ihres Sohnes beizufügen. Ich kann nicht noch eine ahnungslose Mutter ertragen, der die Tatsache entgangen ist, dass die Anmeldefrist für den College-Eignungstest letzte Woche abgelaufen ist. Mich regen diese Eltern von formbaren, fügsamen Kindern furchtbar auf und genauso die Schüler, die pflichtschuldig in ihren Sommerferien Latrinen in Mexiko ausheben, um in ihren College-Bewerbungen damit angeben zu können, obwohl sie arme Leute nicht mögen und Plumpsklos sogar auf Campingreisen verabscheuen.
Ich hasse auch Vororte, obwohl ich selbst derzeit in einem der schicksten von ihnen im Umkreis von Boston vor mich hin vegetiere. Ich bleibe aus beruflichen und persönlichen Gründen: wegen der Schulen, auf die meine Kinder gehen sollen, der Betriebsrente und den Arbeitgeberleistungen, die die öffentlichen Schulen in Appleton mir bieten.
Ich versuche jeden Morgen, wenn ich in die Schule komme, meine Abneigung gegen meine Arbeit hinter einem glücklichen Lächeln zu verstecken. Niemand hat eine Frau mit wildem roten Haar und einem glücklichen Lächeln im Verdacht, etwas anderes als eine positive Person zu sein. Nur meine Kinder und meine Nachbarin Marge wissen, was für ein missmutiger Mensch ich in Wirklichkeit bin, und möglicherweise Jack, der Fahrlehrer unserer Schule, der meint, dass ich verrückt aussehe.
Tom Johnsons Bürotür öffnet sich, und er kommt mit dem verzagten Grinsen eines Fünfzigjährigen auf mich zu, das sich irgendwo zwischen seinem Schnauzer und seinem Kinnbart verliert. Es muss peinlich für ihn sein, mit einer seiner Kolleginnen darüber zu reden, was für eine Katastrophe ihr Kind ist. Ich fühle mit Tom, fand aber immer, dass ihm sein Schnauzer und sein Kinnbart peinlicher sein sollten.
»Kate«, sagt er und drückt meine Schulter, bevor ich aufstehe. »Komm herein.«
Gladys runzelt die Stirn über einem Stapel von Papieren auf ihrem Schreibtisch, während ich zu Toms Büro gehe. Ich gehe an dem Poster auf seiner offen stehenden Tür vorbei und folge seinem langen, schmalen Rücken in den
Raum. Er kleidet sich wie der Vertrauenslehrer in den MadMagazinen, die ich früher als Kind gelesen habe. Er trägt Pullunder und Cordhosen mit glänzenden Stellen an Hintern und Knien.
»Wenn du etwas liebst, lass es frei«, steht auf dem Poster an seiner Tür. »Wenn es zu dir zurückkehrt, gehört es dir. Wenn es nicht zurückkehrt, dann hat es dir niemals gehört.«
Die Hälfte des Gedichts ist umschlossen mit der kitschigen Zeichnung eines offen stehenden Vogelkäfigs. Ich wollte dem Vogel, der da selbstgefällig in dem Käfig sitzt, schon immer einen Schnauzer und einen Kinnbart anmalen.
Wenn du etwas liebst, dann sperr es ein, denke ich immer. Wenn es entkommt, schrei es an, wenn es zurückkehrt.
Das wäre ein Postertext, für den ich mich erwärmen könnte. Tom rührt für jeden von uns eine Tasse Instantkaffee an. Er ist so sicher, mich zu kennen, nach den elf Jahren, in denen er mit mir zusammengearbeitet hat.
»Wo bleibt Charlotte?«, frage ich ihn und falle in einen von zwei Besucherstühlen gegenüber seinem Schreibtisch. »Wolltest du sie nicht für dieses Treffen aus der Klasse holen?«
Tom seufzt sein Vertrauenslehrerseufzen und wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Er hat ein langes, schmales Gesicht. Meine Mutter hat Weihnachtsbaumschmuck aus Glas, der genau die gleiche Form hat.
»Ich hätte sie aus der Klasse geholt«, sagt er und spricht langsam für den Fall, dass ich Medikamente gegen Angstzustände nehme, »wenn sie heute im Unterricht gewesen wäre.«
Er stellt meinen Kaffee vorsichtig auf der Vorderseite seines Schreibtisches ab, als könnte sich die Flüssigkeit verflüchtigen.
»Verdammter Mist«, murmele ich, und damit ist der letzte Anschein von professionellem Verhalten dahin.
»Kate«, beginnt Tom sanft. »Deswegen stürzt der Himmel
nicht ein. Das Kind hat eine Menge durchgemacht, und sie schlägt über die Stränge. Doch vielleicht wäre das der richtige Zeitpunkt, einen wirklich guten Therapeuten für sie zu finden, damit ...«
»Damit sie auch diese Termine schwänzt?« Ich fühle, wie der Ärger über Charlotte unter den Ärmeln meiner Strickjacke meine Arme entlang pulsiert, auf und ab. »Und hinterher mit gepiercten Brustwarzen und einer Rechnung über 15o Dollar nach Hause kommt?«
Tom schwankt zwischen Lächeln und Stirnrunzeln. Ist er mein Freund oder der Vertrauenslehrer meines Kindes? Er versucht sich zu entscheiden und zieht an seinen Barthaaren, während er das tut.
»Tut mir leid«, sage ich und reibe über die Plastikarmlehnen der Besucherstühle.
»Kate«, wiederholt Tom. Dann verliert sich seine Stimme, als wäre da viel mehr, was er mir zu sagen hätte: Hör auf, die arme Witwe zu spielen. Lass dein Kind in Frieden leben. Lächle einmal, um Gottes willen.
Ich kann nichts von alldem tun. Irgendwo in dem Kokon aus Trauer, den ich in den letzten zwei Jahren um mich gesponnen habe, sind meine guten Umgangsformen verloren gegangen. Ich war früher beliebt bei Schülern und Kollegen. Meine Kinder haben mich gemocht. Doch das ist vorbei, komplett verschwunden so wie Kyle.
»Sieh mal«, sage ich und erhebe mich von dem unbequemen Stuhl. »Ich weiß, dass du versuchst zu helfen. Und ich weiß, dass ich mich unvernünftig verhalte, aber lass uns einfach dieses Gespräch auf einen Zeitpunkt verschieben, zu dem wir Charlotte tatsächlich dazu bringen können, in einem Raum mit uns zu sein.«
Ich drehe mich um und verlasse sein Büro. Der furchtbare Geruch des Instantkaffees folgt mir hinaus. Ich fühle mich natürlich schrecklich, denn Tom ist eines der nettesten, fürsorglichsten menschlichen Wesen auf diesem Planeten.
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Mary E. Mitchell
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung:»Sabine Schäfer«
Nun ist es zwei Jahre her, dass Kyle starb, und ich habe all die Ratschläge von Müttern, Tanten, Freunden und Trauerberatern beachtet, die besagen, dass man in den ersten zwei Jahren keine großen Veränderungen in seinem Leben vornehmen soll, wie etwa das Haus zu verkaufen oder übereilt wieder zu heiraten oder mein wildes rotes Haar in einem künstlichen Silberblondton zu färben.
Ich habe Fortschritte gemacht. Ich habe mehr Energie und weniger Depressionen. Meine Kinder bekommen zum Abendessen keine Mikrowellenfertiggerichte mehr. Ich kaufe wieder Weihnachtsgeschenke für andere Leute. Im ersten Jahr hatte ich, am Weihnachtstag plötzlich bemerkend, dass ich meiner Mutter kein Geschenk gekauft hatte, hastig eine ungeöffnete Packung Seife mit Geißblattduft eingepackt, die im Haus herumlag. Als meine Mutter das Geschenkpapier mit den Rentieren aufriss, hockte Charlotte auf der Lehne ihres Zweisitzersofas, bereit, meine Sünde aufzudecken. Ich erinnere mich sehr deutlich an das Grinsen auf dem Gesicht meiner Zwölfjährigen, als sie mich verpfiff.
»Wirklich clever, Mom«, hatte sie gesagt. »Deiner eigenen Mutter zu Weihnachten ihr eigenes Geschenk zurückzuschenken.«
Es ist nicht einfach gewesen, die Kinder ohne Kyle aufzuziehen. Er hat mich mit einer Tochter alleingelassen, die auf der abschüssigen Piste der Pubertät Halt suchte. Ihr Ärger explodierte genauso heftig wie die Pickel in ihrem Gesicht. Ihr Lieblingswort, an ihren besten Tagen, war Nein. Augenrollen. Wut. Schmerz darüber, ihren gut aussehenden Vater, den Fußballtrainer, verloren zu haben und stattdessen mit der lahmen alten Mom zurückgelassen zu werden.
Hunter, Kyles und mein Kind der Liebe, leichtsinnig gezeugt von Eltern, die es hätten besser wissen sollen, war erst zwei gewesen, als sein Daddy starb. Er kam zehn Jahre nach
Charlotte, aber ich schätze, wir dachten einfach, dass wir mehr als genug Zeit hätten, ihn großzuziehen. Er war nicht gerade sehr wortgewandt mit seinen zwei Jahren, doch er zeigte seinen Verlust auf andere Weise.
Von dem Tag an, an dem der Rettungswagen mit der Leiche seines Vaters wegfuhr, entwickelte Hunter eine tiefe Beziehung zu Ketchupflaschen. Leer oder gefüllt, ihre kurvigen Formen und ihr glattes Material, ihre bunten Etiketten, ihre schönen, schmalen Hälse, so perfekt geeignet für den Griffkleiner Hände, zogen ihn unwiderstehlich an. Und da unser Haus nun nicht mehr vom Klang einer männlichen Stimme erfüllt war, fing Hunter an, mit einer Ketchupflasche als seinem engsten Gefährten herumzuwatscheln, die er an sein Herz gepresst hielt, als würde er sie beschützen.
Ich dachte, er würde vielleicht bald das Interesse daran verlieren, aber nachdem er zwei oder drei weitere Plastikflaschen aus den Eingeweiden unseres unbeaufsichtigten Küchenschranks geholt hatte, begann er, sie in einem leeren Windelkarton zu verstauen, der neben seinem Wickeltisch in seinem traurigen Kinderzimmer mit den gelben Wänden stand.
Eines Tages verhalf ihm Charlotte zu einem Griff für seinen Karton, indem sie einen Schlitz in die Seite schnitt und einen von Kyles Gürteln hindurchzog. Von diesem Augenblick an zog Hunter sein geheimes Ketchupflaschenlager hinter sich her, wo immer er hinging. Er blieb oft stehen und stellte den Karton neben mir ab, wenn ich das Geschirr abwusch oder telefonierte. Er stand dort, bis er meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Seine Augen sahen müde aus für einen Vierjährigen.
Nun sitze ich herum und warte im Beratungslehrerbüro der Alan-B.-Shepard-Schule. Das ist peinlich für mich, da ich hier als Vertrauenslehrerin arbeite. Es wäre völlig in Ordnung, einen Termin bei Mr Johnson zu haben, wenn
Charlotte und ich nur einige Ergebnisse der Tests für die Aufnahme ins College besprechen müssten. Aber es ist September, und wir sind zu Tom Johnson bestellt, weil Charlotte, die erst in der neunten Klasse ist, den Unterricht geschwänzt hat. Bereits zum dritten Mal. Außerdem hat sie sich die Zunge piercen lassen — nicht, dass das gegen die Schulvorschriften verstoßen würde. Es ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass ich eine lausige Mutter für ein vierzehnjähriges Mädchen bin. Ich weiß nicht einmal, wie oder wo sie ihre Verstümmelung zustande gebracht hat. Wer würde da sein Kind zu mir schicken, um einen Plan auszuarbeiten, der es nach Harvard bringt?
Die Beratungsbüros der Alan Shepard High liegen rund um einen kleinen Warteraum, der von einem genialen Architekten entworfen wurde. Er dachte wohl, es wäre lustig, alle bestürzten und peinlich berührten Eltern in einem Raum zu versammeln, während sie auf einen Termin warten, um über ihre schwer erziehbaren Kinder zu sprechen.
Obwohl es nicht nötig wäre, auf den rutschigen Stühlen aus Kunstleder im Blickfeld von Gladys Panella, unserer Sekretärin, auszuharren, habe ich mich entschieden, mich dort hinzusetzen, statt weitere Augenblicke in meinem eigenen Büro damit zu verbringen, Telefonanrufe zu ignorieren. Gladys nickt mir kurz zu und schaut erstaunt. Ich nicke professionell zurück, verrate aber nichts. Ich bin derzeit sehr unkonzentriert bei der Arbeit, und es fällt mir schwer, meine Pflichten gut gelaunt zu erfüllen.
Eigentlich kann ich meinen Job gerade gar nicht ausstehen, um die Wahrheit zu sagen. Ich kann nicht — guten Gewissens jedenfalls — mit weiteren, übereifrigen Eltern sprechen, die einen Brief vom Dalai Lama wollen, um ihn dem Paket mit den Unterlagen für die College-Bewerbung ihres Sohnes beizufügen. Ich kann nicht noch eine ahnungslose Mutter ertragen, der die Tatsache entgangen ist, dass die Anmeldefrist für den College-Eignungstest letzte Woche abgelaufen ist. Mich regen diese Eltern von formbaren, fügsamen Kindern furchtbar auf und genauso die Schüler, die pflichtschuldig in ihren Sommerferien Latrinen in Mexiko ausheben, um in ihren College-Bewerbungen damit angeben zu können, obwohl sie arme Leute nicht mögen und Plumpsklos sogar auf Campingreisen verabscheuen.
Ich hasse auch Vororte, obwohl ich selbst derzeit in einem der schicksten von ihnen im Umkreis von Boston vor mich hin vegetiere. Ich bleibe aus beruflichen und persönlichen Gründen: wegen der Schulen, auf die meine Kinder gehen sollen, der Betriebsrente und den Arbeitgeberleistungen, die die öffentlichen Schulen in Appleton mir bieten.
Ich versuche jeden Morgen, wenn ich in die Schule komme, meine Abneigung gegen meine Arbeit hinter einem glücklichen Lächeln zu verstecken. Niemand hat eine Frau mit wildem roten Haar und einem glücklichen Lächeln im Verdacht, etwas anderes als eine positive Person zu sein. Nur meine Kinder und meine Nachbarin Marge wissen, was für ein missmutiger Mensch ich in Wirklichkeit bin, und möglicherweise Jack, der Fahrlehrer unserer Schule, der meint, dass ich verrückt aussehe.
Tom Johnsons Bürotür öffnet sich, und er kommt mit dem verzagten Grinsen eines Fünfzigjährigen auf mich zu, das sich irgendwo zwischen seinem Schnauzer und seinem Kinnbart verliert. Es muss peinlich für ihn sein, mit einer seiner Kolleginnen darüber zu reden, was für eine Katastrophe ihr Kind ist. Ich fühle mit Tom, fand aber immer, dass ihm sein Schnauzer und sein Kinnbart peinlicher sein sollten.
»Kate«, sagt er und drückt meine Schulter, bevor ich aufstehe. »Komm herein.«
Gladys runzelt die Stirn über einem Stapel von Papieren auf ihrem Schreibtisch, während ich zu Toms Büro gehe. Ich gehe an dem Poster auf seiner offen stehenden Tür vorbei und folge seinem langen, schmalen Rücken in den
Raum. Er kleidet sich wie der Vertrauenslehrer in den MadMagazinen, die ich früher als Kind gelesen habe. Er trägt Pullunder und Cordhosen mit glänzenden Stellen an Hintern und Knien.
»Wenn du etwas liebst, lass es frei«, steht auf dem Poster an seiner Tür. »Wenn es zu dir zurückkehrt, gehört es dir. Wenn es nicht zurückkehrt, dann hat es dir niemals gehört.«
Die Hälfte des Gedichts ist umschlossen mit der kitschigen Zeichnung eines offen stehenden Vogelkäfigs. Ich wollte dem Vogel, der da selbstgefällig in dem Käfig sitzt, schon immer einen Schnauzer und einen Kinnbart anmalen.
Wenn du etwas liebst, dann sperr es ein, denke ich immer. Wenn es entkommt, schrei es an, wenn es zurückkehrt.
Das wäre ein Postertext, für den ich mich erwärmen könnte. Tom rührt für jeden von uns eine Tasse Instantkaffee an. Er ist so sicher, mich zu kennen, nach den elf Jahren, in denen er mit mir zusammengearbeitet hat.
»Wo bleibt Charlotte?«, frage ich ihn und falle in einen von zwei Besucherstühlen gegenüber seinem Schreibtisch. »Wolltest du sie nicht für dieses Treffen aus der Klasse holen?«
Tom seufzt sein Vertrauenslehrerseufzen und wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Er hat ein langes, schmales Gesicht. Meine Mutter hat Weihnachtsbaumschmuck aus Glas, der genau die gleiche Form hat.
»Ich hätte sie aus der Klasse geholt«, sagt er und spricht langsam für den Fall, dass ich Medikamente gegen Angstzustände nehme, »wenn sie heute im Unterricht gewesen wäre.«
Er stellt meinen Kaffee vorsichtig auf der Vorderseite seines Schreibtisches ab, als könnte sich die Flüssigkeit verflüchtigen.
»Verdammter Mist«, murmele ich, und damit ist der letzte Anschein von professionellem Verhalten dahin.
»Kate«, beginnt Tom sanft. »Deswegen stürzt der Himmel
nicht ein. Das Kind hat eine Menge durchgemacht, und sie schlägt über die Stränge. Doch vielleicht wäre das der richtige Zeitpunkt, einen wirklich guten Therapeuten für sie zu finden, damit ...«
»Damit sie auch diese Termine schwänzt?« Ich fühle, wie der Ärger über Charlotte unter den Ärmeln meiner Strickjacke meine Arme entlang pulsiert, auf und ab. »Und hinterher mit gepiercten Brustwarzen und einer Rechnung über 15o Dollar nach Hause kommt?«
Tom schwankt zwischen Lächeln und Stirnrunzeln. Ist er mein Freund oder der Vertrauenslehrer meines Kindes? Er versucht sich zu entscheiden und zieht an seinen Barthaaren, während er das tut.
»Tut mir leid«, sage ich und reibe über die Plastikarmlehnen der Besucherstühle.
»Kate«, wiederholt Tom. Dann verliert sich seine Stimme, als wäre da viel mehr, was er mir zu sagen hätte: Hör auf, die arme Witwe zu spielen. Lass dein Kind in Frieden leben. Lächle einmal, um Gottes willen.
Ich kann nichts von alldem tun. Irgendwo in dem Kokon aus Trauer, den ich in den letzten zwei Jahren um mich gesponnen habe, sind meine guten Umgangsformen verloren gegangen. Ich war früher beliebt bei Schülern und Kollegen. Meine Kinder haben mich gemocht. Doch das ist vorbei, komplett verschwunden so wie Kyle.
»Sieh mal«, sage ich und erhebe mich von dem unbequemen Stuhl. »Ich weiß, dass du versuchst zu helfen. Und ich weiß, dass ich mich unvernünftig verhalte, aber lass uns einfach dieses Gespräch auf einen Zeitpunkt verschieben, zu dem wir Charlotte tatsächlich dazu bringen können, in einem Raum mit uns zu sein.«
Ich drehe mich um und verlasse sein Büro. Der furchtbare Geruch des Instantkaffees folgt mir hinaus. Ich fühle mich natürlich schrecklich, denn Tom ist eines der nettesten, fürsorglichsten menschlichen Wesen auf diesem Planeten.
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Mary E. Mitchell
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung:»Sabine Schäfer«
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Mary E. Mitchell
- 2010, 1, 383 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003118
- ISBN-13: 9783868003116
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