Karfreitagsmord / Kommissarin Jo Weber Bd.2
Kriminalroman. Originalausgabe
Tatort Vergangenheit: nicht schon wieder!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Karfreitagsmord / Kommissarin Jo Weber Bd.2 “
Tatort Vergangenheit: nicht schon wieder!
Klappentext zu „Karfreitagsmord / Kommissarin Jo Weber Bd.2 “
Jo hatte gehofft, dass ihre unfreiwillige Zeitreise ins Mittelalter ein einmaliger Vorfall bleiben würde... Bis sie sich nach dem Fund der nächsten Leiche, diesmal aus dem neunzehnten Jahrhundert, als gnädiges Fräulein in der Kaiserzeit wiederfindet. Tatkräftig und mit viel Einfallsreichtum muss sie nun zusammen mit Lutz einen eiskalten Frauenmörder dingfest machen. Und erkennt dabei am Ende, dass wirklich jede Familie ihre sprichwörtliche Leiche im Keller hat. Auch ihre.
Lese-Probe zu „Karfreitagsmord / Kommissarin Jo Weber Bd.2 “
Karfreitagsmord von Bea Rauenthal1. KAPITEL
Puh, das ist ja die reinste Sauna! Heiße, stickige Luft schlug Hauptkommissarin Jo Weber aus ihrem Büro im Polizeipräsidium entgegen. Sie eilte durch den Raum und riss das Fenster auf. Der Aprilmorgen war für die Jahreszeit ungewöhnlich schwül. Zudem funktionierte der Temperaturregler der Klimaanlage wieder einmal nicht. »Verdammte Technik!«, fluchte sie.
»Interessant. Haben Sie während Ihrer Mittelalter-Komafantasien die technischen Segnungen des 21. Jahrhunderts nicht vermisst?«, hörte sie eine spröde Männerstimme sagen.
Jo fuhr herum. Auf dem Besucherstuhl saß ein großer hagerer Mann, der die Beine übereinandergeschlagen hatte. Sein schütteres, akkurat gescheiteltes Haar war grau. Grau war auch die Farbe seines schlecht geschnittenen Anzugs, der Jo unwillkürlich an die Mode in der DDR erinnerte. Die Gläser seiner randlosen Brille spiegelten das Sonnenlicht und verhinderten so den Blick in seine Augen.
»Wer sind Sie? Und wie kommen Sie dazu, einfach mein Büro zu betreten?«, fragte sie scharf.
»Herbert Rosner, Polizeipsychologe mit dem Dienstrang eines Hauptkommissars.« Er verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln, während er ihr seinen Ausweis präsentierte. »Und was Ihre zweite Frage betrifft: Ich bin hier, um Ihre Diensttauglichkeit und die Ihres Kollegen Lutz Jäger zu überprüfen. Schließlich waren Sie beide im letzten Jahr nach einem Dienstunfall mehrere Monate lang krankgeschrieben. «
... mehr
»Unsere Diensttauglichkeit wurde bereits kurz vor unserem Dienstantritt eingehend überprüft.« Jo ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder und verschränkte die Arme vor der Brust. Was für ein Ekel, dachte sie. Hoffentlich taucht Lutz bald auf, damit ich mich nicht allein mit ihm herumschlagen muss.
»Neue Vorschriften sehen eine nochmalige Überprüfung im Laufe eines Jahres vor.« Rosner wirkte gänzlich ungerührt. Noch immer konnte sie seine Augen hinter den Brillengläsern nicht erkennen. »Schon sehr ungewöhnlich, Komafantasien ausgerechnet über das Mittelalter. Noch dazu zeichneten sich Ihre Fantasien durch einen bemerkenswerten Detailreichtum aus. Zum Beispiel, wie Sie und Jäger Spuren mit Hilfe eines Lesesteins sicherten.« Rosner hatte aus seiner abgewetzten Aktentasche einen Ordner herausgeholt und blätterte darin herum.
Jo spürte, wie ihr unter ihrer hellen Leinenbluse der Schweiß ausbrach. Noch dazu schnitt ihr der sündhaft teure, spitzenbesetzte BH, den sie am Vortag in einem Anfall von Kaufrausch erworben hatte, schmerzhaft ins Fleisch. Die Komafantasien, von denen Rosner sprach, waren nur zu real gewesen: Im Dezember des vorletzten Jahres waren sie und Lutz Jäger nach einem Autounfall auf schneeglatter Straße im Mittelalter zu sich gekommen und hatten dort einen vierfachen Mörder überführen müssen, um zurück in die Gegenwart gelangen zu können.
Die Hitze im Zimmer schien Rosner nichts auszumachen. Er musterte Jo mit einem unergründlichen Lächeln. »Auch wie Sie als reiche Witwe eine Weberei und einen großen Haushalt managten und wie Lutz Jäger seine Wirtschaft zur Grünen Traube betrieb, hat mich sehr beeindruckt.«
Weiß dieser Kerl etwa über Zeitreisen Bescheid?, durchfuhr es Jo. Aber nein, das ist unmöglich. Er kommt vom BKA und nicht von einer Geheimabteilung des FBI, die sich mit paranormalen Phänomenen befasst. Trotzdem war sie erleichtert, als das Telefon klingelte und sie einer Antwort enthob.
»Jo«, drang die rauchige Stimme ihrer Chefi n Brunhild Birnbaum durch den Hörer, »im ehemaligen Industriegebiet am Stadtrand hat es einen Unfall mit ungeklärter Todesursache gegeben. Ein Arbeiter ist von einem Gerüst gestürzt. Fahr bitte mit Lutz zusammen hin, und sieh dir die Sache mal an.«
»Lutz ist noch nicht hier.«
»Ich schicke ihn dir hinterher.«
»Ähm, Brunhild, ich hab hier einen Psychologen vom BKA im Büro sitzen, der meine Diensttauglichkeit überprüfen will.«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Du bringst das schon hinter dich.«
Super Rückendeckung ... Jo unterdrückte ein gereiztes Stöhnen.
»Sie wurden zu einem Tatort gerufen?« Rosner erhob sich, nachdem Jo sich die genaue Adresse notiert hatte. »Ich werde Sie selbstverständlich begleiten, um mir ein Bild davon machen zu können, wie Sie vor Ort agieren.« Er musterte sie
- wie ihr schien - lauernd. Jo beschloss, sich keine Blöße zu geben. »Von mir aus gerne«, gab sie mit falscher Freundlichkeit zurück. Während sie das Büro verließen, streifte Rosners missbilligender Blick Lutz' Schreibtisch, auf dem leere Coladosen, benutzte Tassen, Wimpel von diversen Fußballvereinen und Aktenordner ein chaotisches Stillleben formten.
Habe ich eigentlich dem Psychologen, der mich im Krankenhaus und dann während meiner Reha-Zeit betreute, erzählt, dass Lutz und ich uns geküsst haben? Kurz bevor wir den Mörder überführten? Jo konnte sich nicht mehr erinnern. Nicht auszudenken, dass Rosner auch das gelesen haben könnte.
Der Dienstwagen hatte in der prallen Sonne gestanden. Schon als sie vom Parkplatz des Polizeipräsidiums fuhren, gab die Klimaanlage den Geist auf. Obwohl Jo das Fenster auf ihrer Wagenseite ganz herunterließ, drang nur schwüle Luft ins Innere und milderte die Hitze kein bisschen. Wieder brach ihr der Schweiß aus.
Herbert Rosner hatte sich - wie Jo mit einem raschen Seitenblick feststellte - kryptische Notizen gemacht und blätterte nun in seinen Papieren. Der warme Fahrtwind ließ sie rascheln wie trockenes Laub.
Mittlerweile hatten sie das Zentrum von Ebersheim hinter sich gelassen und fuhren eine von Pappeln gesäumte Allee entlang. Die Sonne war bereits hinter einem Wolkenberg verschwunden. Die kahlen Bäume wirkten im Zwielicht wie von einer Staubschicht überzogen. Am Ende der Straße tauchte nun das ehemalige Industriegebiet auf. Hinter den Gebäuden aus rotem Backstein ragte ein Kran in den Himmel.
Jo drosselte die Geschwindigkeit. Die Straße war mit Schlaglöchern übersät. In der Mitte verliefen rostige Eisenbahnschienen. Die Fenster der meisten Gebäude waren zerbrochen. Zwischen den Steinen und am Straßenrand wucherte Unkraut. Die Wände waren mit Graffiti besprüht. Ein Transparent, das über einer bröckelnden Fassade hing, verkündete, dass hier bald ein Einkaufszentrum entstehen würde.
Nachdem sie von der einstigen Hauptdurchfahrtsstraße abgebogen war, tat sich der Neubaukomplex vor ihnen auf. Klobige Gebäude aus mattem, hell beigefarbenem Stein, die eingerüstet waren. »Premium-Eigentumswohnungen« verkündete ein weiteres Transparent. »Wählen Sie das Besondere. « Vor einem der Häuser entdeckte Jo einige uniformierte Kollegen und die Gerichtsmedizinerin Yun-Si Mittermaier. Auf einer Brache auf der anderen Seite der Neubauten hob ein Bagger Erdreich aus. Sein monotones Dröhnen ließ die Luft vibrieren. Der Himmel war inzwischen schiefergrau geworden.
Jo parkte den Wagen am Straßenrand. Als sie ausstieg, klebte ihr die Bluse am Rücken, und der BH zwickte erneut schmerzhaft. Allmählich kann ich verstehen, dass Frauen diese Dinger in den siebziger Jahren verbrannt haben, dachte sie gereizt. Dem Himmel sei Dank sind wenigstens die Zeiten des Korsetts vorbei.
»Haben Sie grade etwas gesagt, Frau Weber?«, ließ sich Herbert Rosner vernehmen.
»Ähm, nein ...« Fing sie etwa an, laut Selbstgespräche zu führen?
»Nun, dann wollen wir mal.« Mit weit ausgreifenden Schritten eilte Herbert Rosner auf Yun-Si Mittermaier zu. In dem Schutzanzug wirkte die hübsche Frau asiatischer Herkunft noch zierlicher, als sie ohnehin war.
»Hauptkommissar Herbert Rosner vom psychologischen Dienst des BKA«, stellte er sich vor.
»Oh, guten Tag.« Yun-Si warf Jo einen irritierten Blick zu. Jo verdrehte hinter Rosners Rücken die Augen. Papptäfelchen mit Nummern darauf markierten dunkle Flecken auf dem rauen Betonboden. Ihr Ursprung war eindeutig Blut. Einige Meter entfernt umhüllte ein Leichensack auf einer Bahre die Überreste des Toten.
»Ich möchte den Leichnam sehen«, verlangte Herbert Rosner.
»Das ist aber wirklich kein schöner Anblick«, wandte Yun-Si ein.
»Denken Sie, ich habe noch nie mit einem zerschmetterten Körper zu tun gehabt?« Er winkte ungeduldig ab.
»Wie Sie meinen.« Yun-Si zuckte mit den Schultern und begleitete ihn und Jo zu der Bahre. Nachdem sie den Reißverschluss des Leichensackes geöffnet hatte, zwang Jo sich, einen Blick auf den Toten zu werfen. Die blutige Masse aus Fleisch und Knochen ließ sie würgen. Herbert Rosner betrachtete den Leichnam dagegen so distanziert, als sei dieser ein interessantes seltenes Insekt.
Energisch zog Yun-Si den Reißverschluss wieder zu. »Der Name des Toten ist Conrad Hesse«, erklärte sie, während sie auf eins der Gerüste deutete, wo - wie Jo jetzt bemerkte - ein Kollege von der Spurensicherung in etwa zwanzig Metern Höhe auf einem Brett kniete und sich mit seiner Ausrüstung zu schaffen machte. »Von da oben ist er heruntergestürzt. Seine Kollegen erzählten mir, dass Hesse Ende fünfzig und stark übergewichtig war. Deshalb halte ich eine natürliche Todesursache wie einen Herzinfarkt für nicht unwahrscheinlich. «
Jo registrierte plötzlich, dass das Motorengeräusch des Baggers verstummt war. Eine warme Windböe fuhr über den Platz, die die Planen vor den Gerüsten knatternd gegen die Gestänge drückte, Staub aufwirbelte und an Jos Bluse und Hose zerrte.
»Ohne eine Autopsie vorgenommen zu haben, sollten Sie keine voreiligen Schlüsse ziehen«, fuhr Herbert Rosner Yun-Si Mittermaier an.
Yun-Si verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine voreiligen Schlüsse gezogen ...«, begann sie. Doch aufgeregte Rufe ließen sie abbrechen. Von der Brache her kamen einige Männer auf sie zugerannt. »Dort drüben ... Wir haben ein Skelett gefunden!«, schrie einer von ihnen.
»Wie bitte?« Herbert Rosner fuhr herum.
Jo spurtete in Richtung des Baggers. Der Baggerarm wies in die Höhe, die Schaufel war umgeklappt. Aus dem Erdaus hub darunter ragte ein Armknochen. Als Jo den Bagger fast erreicht hatte, kullerte etwas die Erdschollen herunter und blieb dicht vor ihren Füßen liegen. Ein vom Rumpf abgetrennter skelettierter Schädel, wie sie nun erkannte. Die mit Erde gefüllten Augenhöhlen schienen sie anzusehen. Für einen Moment hatte Jo das Gefühl, dass alles um sie herum verschwamm. Intakte Fabrikgebäude standen plötzlich auf der Brache, und ein dampf betriebener Zug rumpelte die Schienen entlang.
Dann verschwand das Bild, und Jo hörte, wie jemand scharf die Luft einsog. Herbert Rosners Blick war nicht auf das Skelett, sondern auf den Straßenrand gerichtet. Dort stand ein roter Sportwagen mit offenem Verdeck. Lutz Jäger lehnte an dem Auto. Die Arme einer dunkelhaarigen Frau waren um seinen Hals geschlungen. Der Kuss, den die beiden austauschten, war - wie Jo feststellte - einzig und allein als »heiß« zu bezeichnen.
»Oh, Lutz hat etwas mit Jacqueline Steinert von der Sitte«, hörte sie Yun-Si Mittermaier amüsiert fl üstern.
Jetzt löste sich Lutz Jäger von Jacqueline Steinert und kam, nachdem er ihr zum Abschied noch einmal zugewinkt hatte, auf den Bagger zugeschlendert. Seine Schritte hallten in der Stille wider. Wie immer trug er Cowboystiefel.
»Ist das etwa unser toter Bauarbeiter?«, sagte er, während er das Skelett interessiert betrachtete. »Der arme Kerl hat sich ja wahrhaftig zu Tode geschuftet.«
»Herr Jäger ...« Herbert Rosners Stimme klang eisig. Doch er sollte seinen Satz nie vollenden. Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte alles in eine gleißende Helligkeit. Gleichzeitig fühlte sich Jo wie von einer riesigen Faust gepackt und zur Seite geschleudert. Sie hörte noch weit entfernte Schreie und den Donner. Dann fiel sie und fiel und fiel ...
Resigniert hob Jo die Lider. Ach, verdammt, irgendwie hab ich es schon geahnt, als die Augenhöhlen des Skeletts mich anzusehen schienen und alles um mich herum verschwamm. Trotzdem war es ein Schock, als sie den dunkelgrünen Samt-Baldachin über sich hängen sah. Sie lag in einem klobigen Himmelbett. Licht sickerte durch die Ritzen der Fensterläden.
Sie wünschte sich, die Augen schließen und einschlafen zu können. Doch da sie nur zu gut wusste, dass sie wieder in diesem Raum aufwachen würde, zwang sie sich, die Decke zurückzuschlagen und aus dem Bett zu steigen. Sie hatte kaum den ersten Schritt getan, als sie mit dem linken Bein stolperte. Zuerst glaubte Jo, es sei steif vom Schlafen. Aber beim nächsten vorsichtigen Schritt stellte sie fest, dass sie hinkte, da das linke Bein kürzer war als das rechte.
Auch das noch! Sie war in einem gehbehinderten Körper zu sich gekommen. Langsam und darum bemüht, nicht wieder zu stolpern, humpelte sie zu einem der Fenster. Nachdem sie den Laden aufgestoßen hatte, flutete Sonnenlicht in den Raum. Das Grün der Seidentapeten wich nur um Nuancen von dem des Baldachins ab. Ein Bundeswehrgrün genau genommen ... An der Wand gegenüber dem Bett hing das Gemälde einer anämischen Frau in klassischem Gewand, die auf einem Felsen kauerte und melancholisch in die Ferne starrte. Jo schauderte. Wie außerordentlich geschmacklos! Eindeutig spätes 19. Jahrhundert.
Auf einer Kommode, ähnlich wuchtig wie das Himmelbett, entdeckte sie einen Spiegel. Wie ich wohl aussehe?, fragte sie sich nervös. Das Gesicht, das ihr aus dem Glas über einem züchtig bis zum Hals hochgeschlossenen, spitzenbesetzten Nachthemd entgegenblickte, war schmal und feingeschnitten. Nicht eigentlich hübsch, aber apart dank der großen graugrünen Augen. Einige Sommersprossen auf der Nase verliehen ihm etwas Keckes. Rotblondes Haar, das sich aus einem dicken Zopf gelöst hatte, kringelte sich an ihren Wangen. Na ja, es hätte schlimmer kommen können.
Das sackartige Nachthemd war allerdings wirklich der Gipfel des Erotischen. Im nächsten Moment begriff Jo, dass die junge Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, kaum älter als achtzehn sein konnte. Sie befand sich nicht nur in einem gehbehinderten, sondern obendrein in einem pubertierenden Körper und war - nach dem Recht des 19. Jahrhunderts
- noch nicht volljährig. Jo berührte ihre Brust. Ihr Busen war winzig. Nein, sie besaß eindeutig nicht die sexy Rundungen ihres Mittelalter- Ichs. Positiv ausgedrückt hatte sie nun eine Audrey-Hepburn- Figur. Wenn man einmal davon absah, dass sie kleiner war. Negativ ausgedrückt - und Jo war eigentlich nicht in der Stimmung für Positives - war sie ein mageres, unreifes und unweibliches Ding.
Jo stöhnte auf. Und bei meiner letzten Reise durch die Zeit habe ich noch gedacht, schlimmer als mit dem Mittelalter könnte es mich nicht treffen. Bestimmt war sie wegen des Skeletts auf der Baustelle hierhergeraten. Mit einem Skelettfund hatte damals auch ihr Aufenthalt im Mittelalter begonnen. Ob Lutz ebenfalls wieder in der Zeit gereist war? Und, falls er auch im späten 19. Jahrhundert gelandet war, wie sollte sie ihn dann finden? Unwillkürlich musste Jo an Jacqueline Steinert denken. Die großbusige Kollegin hätte ohne Weiteres bei »Baywatch « mitspielen können. Während sie selbst nun diese Kümmer-Brüste hatte.
Und wenn schon, dachte Jo wütend, soll Lutz es doch treiben, mit wem er will. Dass wir uns im Mittelalter geküsst haben, war nichts weiter als eine stressbedingte Reaktion. So wie Menschen ja häufi g dazu neigen, sich in Extremsituationen ineinander zu verlieben. Jo schob die Gedanken beiseite: Höchste Zeit, dass sie endlich herausfand, wo sie eigentlich war.
Copyright © Ullstein Verlag
»Unsere Diensttauglichkeit wurde bereits kurz vor unserem Dienstantritt eingehend überprüft.« Jo ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder und verschränkte die Arme vor der Brust. Was für ein Ekel, dachte sie. Hoffentlich taucht Lutz bald auf, damit ich mich nicht allein mit ihm herumschlagen muss.
»Neue Vorschriften sehen eine nochmalige Überprüfung im Laufe eines Jahres vor.« Rosner wirkte gänzlich ungerührt. Noch immer konnte sie seine Augen hinter den Brillengläsern nicht erkennen. »Schon sehr ungewöhnlich, Komafantasien ausgerechnet über das Mittelalter. Noch dazu zeichneten sich Ihre Fantasien durch einen bemerkenswerten Detailreichtum aus. Zum Beispiel, wie Sie und Jäger Spuren mit Hilfe eines Lesesteins sicherten.« Rosner hatte aus seiner abgewetzten Aktentasche einen Ordner herausgeholt und blätterte darin herum.
Jo spürte, wie ihr unter ihrer hellen Leinenbluse der Schweiß ausbrach. Noch dazu schnitt ihr der sündhaft teure, spitzenbesetzte BH, den sie am Vortag in einem Anfall von Kaufrausch erworben hatte, schmerzhaft ins Fleisch. Die Komafantasien, von denen Rosner sprach, waren nur zu real gewesen: Im Dezember des vorletzten Jahres waren sie und Lutz Jäger nach einem Autounfall auf schneeglatter Straße im Mittelalter zu sich gekommen und hatten dort einen vierfachen Mörder überführen müssen, um zurück in die Gegenwart gelangen zu können.
Die Hitze im Zimmer schien Rosner nichts auszumachen. Er musterte Jo mit einem unergründlichen Lächeln. »Auch wie Sie als reiche Witwe eine Weberei und einen großen Haushalt managten und wie Lutz Jäger seine Wirtschaft zur Grünen Traube betrieb, hat mich sehr beeindruckt.«
Weiß dieser Kerl etwa über Zeitreisen Bescheid?, durchfuhr es Jo. Aber nein, das ist unmöglich. Er kommt vom BKA und nicht von einer Geheimabteilung des FBI, die sich mit paranormalen Phänomenen befasst. Trotzdem war sie erleichtert, als das Telefon klingelte und sie einer Antwort enthob.
»Jo«, drang die rauchige Stimme ihrer Chefi n Brunhild Birnbaum durch den Hörer, »im ehemaligen Industriegebiet am Stadtrand hat es einen Unfall mit ungeklärter Todesursache gegeben. Ein Arbeiter ist von einem Gerüst gestürzt. Fahr bitte mit Lutz zusammen hin, und sieh dir die Sache mal an.«
»Lutz ist noch nicht hier.«
»Ich schicke ihn dir hinterher.«
»Ähm, Brunhild, ich hab hier einen Psychologen vom BKA im Büro sitzen, der meine Diensttauglichkeit überprüfen will.«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Du bringst das schon hinter dich.«
Super Rückendeckung ... Jo unterdrückte ein gereiztes Stöhnen.
»Sie wurden zu einem Tatort gerufen?« Rosner erhob sich, nachdem Jo sich die genaue Adresse notiert hatte. »Ich werde Sie selbstverständlich begleiten, um mir ein Bild davon machen zu können, wie Sie vor Ort agieren.« Er musterte sie
- wie ihr schien - lauernd. Jo beschloss, sich keine Blöße zu geben. »Von mir aus gerne«, gab sie mit falscher Freundlichkeit zurück. Während sie das Büro verließen, streifte Rosners missbilligender Blick Lutz' Schreibtisch, auf dem leere Coladosen, benutzte Tassen, Wimpel von diversen Fußballvereinen und Aktenordner ein chaotisches Stillleben formten.
Habe ich eigentlich dem Psychologen, der mich im Krankenhaus und dann während meiner Reha-Zeit betreute, erzählt, dass Lutz und ich uns geküsst haben? Kurz bevor wir den Mörder überführten? Jo konnte sich nicht mehr erinnern. Nicht auszudenken, dass Rosner auch das gelesen haben könnte.
Der Dienstwagen hatte in der prallen Sonne gestanden. Schon als sie vom Parkplatz des Polizeipräsidiums fuhren, gab die Klimaanlage den Geist auf. Obwohl Jo das Fenster auf ihrer Wagenseite ganz herunterließ, drang nur schwüle Luft ins Innere und milderte die Hitze kein bisschen. Wieder brach ihr der Schweiß aus.
Herbert Rosner hatte sich - wie Jo mit einem raschen Seitenblick feststellte - kryptische Notizen gemacht und blätterte nun in seinen Papieren. Der warme Fahrtwind ließ sie rascheln wie trockenes Laub.
Mittlerweile hatten sie das Zentrum von Ebersheim hinter sich gelassen und fuhren eine von Pappeln gesäumte Allee entlang. Die Sonne war bereits hinter einem Wolkenberg verschwunden. Die kahlen Bäume wirkten im Zwielicht wie von einer Staubschicht überzogen. Am Ende der Straße tauchte nun das ehemalige Industriegebiet auf. Hinter den Gebäuden aus rotem Backstein ragte ein Kran in den Himmel.
Jo drosselte die Geschwindigkeit. Die Straße war mit Schlaglöchern übersät. In der Mitte verliefen rostige Eisenbahnschienen. Die Fenster der meisten Gebäude waren zerbrochen. Zwischen den Steinen und am Straßenrand wucherte Unkraut. Die Wände waren mit Graffiti besprüht. Ein Transparent, das über einer bröckelnden Fassade hing, verkündete, dass hier bald ein Einkaufszentrum entstehen würde.
Nachdem sie von der einstigen Hauptdurchfahrtsstraße abgebogen war, tat sich der Neubaukomplex vor ihnen auf. Klobige Gebäude aus mattem, hell beigefarbenem Stein, die eingerüstet waren. »Premium-Eigentumswohnungen« verkündete ein weiteres Transparent. »Wählen Sie das Besondere. « Vor einem der Häuser entdeckte Jo einige uniformierte Kollegen und die Gerichtsmedizinerin Yun-Si Mittermaier. Auf einer Brache auf der anderen Seite der Neubauten hob ein Bagger Erdreich aus. Sein monotones Dröhnen ließ die Luft vibrieren. Der Himmel war inzwischen schiefergrau geworden.
Jo parkte den Wagen am Straßenrand. Als sie ausstieg, klebte ihr die Bluse am Rücken, und der BH zwickte erneut schmerzhaft. Allmählich kann ich verstehen, dass Frauen diese Dinger in den siebziger Jahren verbrannt haben, dachte sie gereizt. Dem Himmel sei Dank sind wenigstens die Zeiten des Korsetts vorbei.
»Haben Sie grade etwas gesagt, Frau Weber?«, ließ sich Herbert Rosner vernehmen.
»Ähm, nein ...« Fing sie etwa an, laut Selbstgespräche zu führen?
»Nun, dann wollen wir mal.« Mit weit ausgreifenden Schritten eilte Herbert Rosner auf Yun-Si Mittermaier zu. In dem Schutzanzug wirkte die hübsche Frau asiatischer Herkunft noch zierlicher, als sie ohnehin war.
»Hauptkommissar Herbert Rosner vom psychologischen Dienst des BKA«, stellte er sich vor.
»Oh, guten Tag.« Yun-Si warf Jo einen irritierten Blick zu. Jo verdrehte hinter Rosners Rücken die Augen. Papptäfelchen mit Nummern darauf markierten dunkle Flecken auf dem rauen Betonboden. Ihr Ursprung war eindeutig Blut. Einige Meter entfernt umhüllte ein Leichensack auf einer Bahre die Überreste des Toten.
»Ich möchte den Leichnam sehen«, verlangte Herbert Rosner.
»Das ist aber wirklich kein schöner Anblick«, wandte Yun-Si ein.
»Denken Sie, ich habe noch nie mit einem zerschmetterten Körper zu tun gehabt?« Er winkte ungeduldig ab.
»Wie Sie meinen.« Yun-Si zuckte mit den Schultern und begleitete ihn und Jo zu der Bahre. Nachdem sie den Reißverschluss des Leichensackes geöffnet hatte, zwang Jo sich, einen Blick auf den Toten zu werfen. Die blutige Masse aus Fleisch und Knochen ließ sie würgen. Herbert Rosner betrachtete den Leichnam dagegen so distanziert, als sei dieser ein interessantes seltenes Insekt.
Energisch zog Yun-Si den Reißverschluss wieder zu. »Der Name des Toten ist Conrad Hesse«, erklärte sie, während sie auf eins der Gerüste deutete, wo - wie Jo jetzt bemerkte - ein Kollege von der Spurensicherung in etwa zwanzig Metern Höhe auf einem Brett kniete und sich mit seiner Ausrüstung zu schaffen machte. »Von da oben ist er heruntergestürzt. Seine Kollegen erzählten mir, dass Hesse Ende fünfzig und stark übergewichtig war. Deshalb halte ich eine natürliche Todesursache wie einen Herzinfarkt für nicht unwahrscheinlich. «
Jo registrierte plötzlich, dass das Motorengeräusch des Baggers verstummt war. Eine warme Windböe fuhr über den Platz, die die Planen vor den Gerüsten knatternd gegen die Gestänge drückte, Staub aufwirbelte und an Jos Bluse und Hose zerrte.
»Ohne eine Autopsie vorgenommen zu haben, sollten Sie keine voreiligen Schlüsse ziehen«, fuhr Herbert Rosner Yun-Si Mittermaier an.
Yun-Si verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine voreiligen Schlüsse gezogen ...«, begann sie. Doch aufgeregte Rufe ließen sie abbrechen. Von der Brache her kamen einige Männer auf sie zugerannt. »Dort drüben ... Wir haben ein Skelett gefunden!«, schrie einer von ihnen.
»Wie bitte?« Herbert Rosner fuhr herum.
Jo spurtete in Richtung des Baggers. Der Baggerarm wies in die Höhe, die Schaufel war umgeklappt. Aus dem Erdaus hub darunter ragte ein Armknochen. Als Jo den Bagger fast erreicht hatte, kullerte etwas die Erdschollen herunter und blieb dicht vor ihren Füßen liegen. Ein vom Rumpf abgetrennter skelettierter Schädel, wie sie nun erkannte. Die mit Erde gefüllten Augenhöhlen schienen sie anzusehen. Für einen Moment hatte Jo das Gefühl, dass alles um sie herum verschwamm. Intakte Fabrikgebäude standen plötzlich auf der Brache, und ein dampf betriebener Zug rumpelte die Schienen entlang.
Dann verschwand das Bild, und Jo hörte, wie jemand scharf die Luft einsog. Herbert Rosners Blick war nicht auf das Skelett, sondern auf den Straßenrand gerichtet. Dort stand ein roter Sportwagen mit offenem Verdeck. Lutz Jäger lehnte an dem Auto. Die Arme einer dunkelhaarigen Frau waren um seinen Hals geschlungen. Der Kuss, den die beiden austauschten, war - wie Jo feststellte - einzig und allein als »heiß« zu bezeichnen.
»Oh, Lutz hat etwas mit Jacqueline Steinert von der Sitte«, hörte sie Yun-Si Mittermaier amüsiert fl üstern.
Jetzt löste sich Lutz Jäger von Jacqueline Steinert und kam, nachdem er ihr zum Abschied noch einmal zugewinkt hatte, auf den Bagger zugeschlendert. Seine Schritte hallten in der Stille wider. Wie immer trug er Cowboystiefel.
»Ist das etwa unser toter Bauarbeiter?«, sagte er, während er das Skelett interessiert betrachtete. »Der arme Kerl hat sich ja wahrhaftig zu Tode geschuftet.«
»Herr Jäger ...« Herbert Rosners Stimme klang eisig. Doch er sollte seinen Satz nie vollenden. Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte alles in eine gleißende Helligkeit. Gleichzeitig fühlte sich Jo wie von einer riesigen Faust gepackt und zur Seite geschleudert. Sie hörte noch weit entfernte Schreie und den Donner. Dann fiel sie und fiel und fiel ...
Resigniert hob Jo die Lider. Ach, verdammt, irgendwie hab ich es schon geahnt, als die Augenhöhlen des Skeletts mich anzusehen schienen und alles um mich herum verschwamm. Trotzdem war es ein Schock, als sie den dunkelgrünen Samt-Baldachin über sich hängen sah. Sie lag in einem klobigen Himmelbett. Licht sickerte durch die Ritzen der Fensterläden.
Sie wünschte sich, die Augen schließen und einschlafen zu können. Doch da sie nur zu gut wusste, dass sie wieder in diesem Raum aufwachen würde, zwang sie sich, die Decke zurückzuschlagen und aus dem Bett zu steigen. Sie hatte kaum den ersten Schritt getan, als sie mit dem linken Bein stolperte. Zuerst glaubte Jo, es sei steif vom Schlafen. Aber beim nächsten vorsichtigen Schritt stellte sie fest, dass sie hinkte, da das linke Bein kürzer war als das rechte.
Auch das noch! Sie war in einem gehbehinderten Körper zu sich gekommen. Langsam und darum bemüht, nicht wieder zu stolpern, humpelte sie zu einem der Fenster. Nachdem sie den Laden aufgestoßen hatte, flutete Sonnenlicht in den Raum. Das Grün der Seidentapeten wich nur um Nuancen von dem des Baldachins ab. Ein Bundeswehrgrün genau genommen ... An der Wand gegenüber dem Bett hing das Gemälde einer anämischen Frau in klassischem Gewand, die auf einem Felsen kauerte und melancholisch in die Ferne starrte. Jo schauderte. Wie außerordentlich geschmacklos! Eindeutig spätes 19. Jahrhundert.
Auf einer Kommode, ähnlich wuchtig wie das Himmelbett, entdeckte sie einen Spiegel. Wie ich wohl aussehe?, fragte sie sich nervös. Das Gesicht, das ihr aus dem Glas über einem züchtig bis zum Hals hochgeschlossenen, spitzenbesetzten Nachthemd entgegenblickte, war schmal und feingeschnitten. Nicht eigentlich hübsch, aber apart dank der großen graugrünen Augen. Einige Sommersprossen auf der Nase verliehen ihm etwas Keckes. Rotblondes Haar, das sich aus einem dicken Zopf gelöst hatte, kringelte sich an ihren Wangen. Na ja, es hätte schlimmer kommen können.
Das sackartige Nachthemd war allerdings wirklich der Gipfel des Erotischen. Im nächsten Moment begriff Jo, dass die junge Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, kaum älter als achtzehn sein konnte. Sie befand sich nicht nur in einem gehbehinderten, sondern obendrein in einem pubertierenden Körper und war - nach dem Recht des 19. Jahrhunderts
- noch nicht volljährig. Jo berührte ihre Brust. Ihr Busen war winzig. Nein, sie besaß eindeutig nicht die sexy Rundungen ihres Mittelalter- Ichs. Positiv ausgedrückt hatte sie nun eine Audrey-Hepburn- Figur. Wenn man einmal davon absah, dass sie kleiner war. Negativ ausgedrückt - und Jo war eigentlich nicht in der Stimmung für Positives - war sie ein mageres, unreifes und unweibliches Ding.
Jo stöhnte auf. Und bei meiner letzten Reise durch die Zeit habe ich noch gedacht, schlimmer als mit dem Mittelalter könnte es mich nicht treffen. Bestimmt war sie wegen des Skeletts auf der Baustelle hierhergeraten. Mit einem Skelettfund hatte damals auch ihr Aufenthalt im Mittelalter begonnen. Ob Lutz ebenfalls wieder in der Zeit gereist war? Und, falls er auch im späten 19. Jahrhundert gelandet war, wie sollte sie ihn dann finden? Unwillkürlich musste Jo an Jacqueline Steinert denken. Die großbusige Kollegin hätte ohne Weiteres bei »Baywatch « mitspielen können. Während sie selbst nun diese Kümmer-Brüste hatte.
Und wenn schon, dachte Jo wütend, soll Lutz es doch treiben, mit wem er will. Dass wir uns im Mittelalter geküsst haben, war nichts weiter als eine stressbedingte Reaktion. So wie Menschen ja häufi g dazu neigen, sich in Extremsituationen ineinander zu verlieben. Jo schob die Gedanken beiseite: Höchste Zeit, dass sie endlich herausfand, wo sie eigentlich war.
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Autoren-Porträt von Bea Rauenthal
Rauenthal, BeaBea Rauenthal ist das Pseudonym der Bestsellerautorin Beate Sauer, die mit ihren historischen Romanen große Erfolge feiert. Sie lebt in Bonn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bea Rauenthal
- 2014, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611834
- ISBN-13: 9783548611839
- Erscheinungsdatum: 08.01.2014
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