Kitty - Ein ungezähmtes Herz
London, 1838: Kitty Carlisle ist achtzehn Jahre jung, Halbwaise und gilt als "gefallenes Mädchen", als sie mit ihrem mürrischen Onkel und ihrer kränklichen Tante nach Neuseeland aufbricht. In der Bay of Islands auf der Nordinsel soll eine...
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Produktinformationen zu „Kitty - Ein ungezähmtes Herz “
London, 1838: Kitty Carlisle ist achtzehn Jahre jung, Halbwaise und gilt als "gefallenes Mädchen", als sie mit ihrem mürrischen Onkel und ihrer kränklichen Tante nach Neuseeland aufbricht. In der Bay of Islands auf der Nordinsel soll eine Missionsstation errichtet werden, nicht weit entfernt von dem berüchtigten Walfängerhafen Kororareka, dem "Höllenloch des Pazifiks". Kitty schließt Freundschaft mit einer jungen Maorifrau – und sie verliebt sich in einen der Kapitäne, den gut aussehenden, arroganten Rian Farrell. Doch dann geschehen schlimme Dinge in der Bay of Islands, und Kitty muss nach Australien fliehen. Und bald findet sich die junge Frau mit dem leidenschaftlichen Herzen gefangen in einem Netz aus verbotener Leidenschaft, Betrug und Tod.
"Geheimnisse, Intrigen, Romantik und Tod – dieses Buch kann man kaum aus der Hand legen."
HERITAGE MATTERS
Lese-Probe zu „Kitty - Ein ungezähmtes Herz “
Kitty - Ein ungezähmtes Herz von Deborah Challinor1
Paihia, Neuseeland, Februar 1839
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Kitty Carlisle wusste es nicht, doch dies war der Wendepunkt in ihrem Leben. Hinter ihr lagen Wirren und Erniedrigungen, vor ihr, einen endlosen rollenden Ozean von all dem entfernt, das fremde Ufer und die Aussicht auf ungeahnte Begegnungen.
Sie lehnte an der Reling der Swordf sh, ihre langen schwarzen Röcke zwischen die Schenkel geklemmt, damit der Wind sie nicht aufbauschte und ihre Unterwäsche den Blicken jener preisgab, die zufällig zu ihr sahen. Ihre Hände umklammerten das glatte Holz, denn obwohl sie bereits Anker geworfen hatten, schaukelte das Schiff auf den Wellen. Zudem klingelten Kitty noch die Ohren vom Musketenfeuer vor einer Minute, das den Missionaren von ihrer Ankunft künden sollte. Sie hatte mindestens ein Dutzend weitere Schiffe gesehen, die ebenfalls in der unruhigen Bucht ankerten, beinahe alles Walfang-schiffe, von denen die meisten ihre Segel sicher vertäut hatten. Hier war Sommer, wie die Walfänger sagten, doch heute war der Himmel grau, und wenn es auch nicht kalt war, zurrte doch ein frischer Wind an allem, was ihm in den Weg kam.
Die Swordf sh war ein klobiges Walfangschiff, ein Rahsegler, und hatte vor dreizehn Tagen in der Bucht von Sydney abgelegt. Das Schiff, das Kitty, ihre Tante Sarah und ihren Onkel George Kelleher von England nach Australien gebracht hatte, musste für eine längere Reparatur in Sydney bleiben, und so hatten sie die Wahl gehabt, entweder auf einem Walfangschiff weiterzureisen oder sechs Wochen in Australien zu warten. George, ein Pfarrer der Kirchlichen Missionsgesellschaft, hatte auf eine baldige Weiterreise gedrängt. Er entschied sich daher entgegen der Bedenken seiner Frau wegen der unpassenden Gesellschaft, die sie und Kitty unterwegs zu ertragen hätten, für die Swordf sh. Kitty nahm an, dass ihre Tante vor allem die strapaziöse nächste Seereise möglichst lange aufschieben wollte, war sie doch beinahe den ganzen Weg von England hierher elend krank gewesen. Doch wie gewöhnlich setzte Onkel George seinen Willen durch.
Kitty selbst war nicht ein einziges Mal seekrank geworden, hatte die Monate auf See sogar genossen, trotz des Unglücks wegen all dem, was zuhause geschehen war. Die Schiffsbewegungen wirkten beruhigend auf sie, das Knallen und Rascheln der Segel über ihr empfand sie als aufregend, und sie war fasziniert von den sich immerfort verändernden Farben des Meeres und des Himmels, wenn sie sich am fernen Horizont begegneten.
Nun aber waren sie in Neuseeland angekommen, und die Bay of Islands machte ihrem Namen alle Ehre. Auf dem Weg in diesen tiefen, auf raue Art schönen Hafen, hatten sie schon sehr viele Inseln passiert, deren exotische Namen der Kapitän ausgerufen hatte. Offenbar entstammten sie alle der Sprache der eingeborenen Maori, und leider hatte Kitty sie sich nicht merken können. Die Hügel, Ufer und Täler dieses ungezähmten Landes waren zweifellos überwältigend, nur fühlte Kitty sich auf einmal eher wie eine Passagierin auf einem Gefangenenschiff in der Bucht von Sydney, als eine junge Frau, die im Begriff war, ein abenteuerliches neues Leben zu beginnen.
Gegenwärtig ankerten sie zwischen zwei Siedlungen : Paihia am westlichen Ufer und Kororareka am östlichen. Deren Anblick von See aus sagte Kitty nicht viel, obgleich in Kororareka eindeutig mehr europäisch anmutende Häuser standen. Paihia schien indes deutlich gepfl egter. Die wenigen Gebäude waren von Zäunen und ordentlichen Gärten umgeben, die sich hinter ihnen bis zu den grünen Hügeln erstreckten. Außerdem standen hier außergewöhnlich hohe Bäume, in denen, wie es aus der Distanz aussah, breite, leuchtend rote Schals hingen.
Captain Monk, der Kapitän der Swordfish, kam zu Kitty und stellte sich neben sie.
»Wie kommt es, dass Paihia hübsch und sauber ist, Captain Monk, während das Dorf auf der anderen Seite so viel ungepfl egter scheint ?«, fragte sie, wobei sie es vermied, den Namen Kororareka auszusprechen, weil sie fürchtete, sich zu verhaspeln.
»Das, Miss Carlisle«, sagte der Captain mit nicht ganz glaubwürdigem Ernst, »liegt daran, dass Gott in Paihia wohnt, wohingegen der Teufel, wie allgemein bekannt ist, über Kororareka herrscht.« Er lachte, als er ihre erschrockene Miene sah. Sein breites Grinsen teilte sein bärtiges Gesicht in zwei Hälften. »Fragen Sie Ihre Missionarsfreunde, wenn Sie an Land sind. Gewiss werden sie es Ihnen verraten.«
»Wir sollen an Land gehen ?«, fragte Kitty, die nicht auf seine sichtliche Belustigung achtete. Sie mochte Captain Monk, auch wenn Tante Sarah ihr sagte, sie dürfe nicht mit ihm reden, doch sie wusste nie, wann er sie veralberte. »Und wo ist der Pier ?«
»Pier ? Es gibt keinen Pier, Miss Carlisle.«
»Ach, nein ? Und wie kommen wir an Land ?«
»Sie rudern.«
»Ich?«
Abermals brach der Kapitän in ein, wie Kitty fand, unangebracht herzliches Lachen aus. »Nein, nein«, sagte er, immer noch grinsend, als wäre diese Vorstellung das Lustigste überhaupt. »Ich kann eine solch vornehme Gesellschaft wie Ihre unmöglich allein der See aussetzen. Zwei meiner Männer bringen Sie bald an Land. Haben Sie all Ihren Krimskrams gepackt?«
Kitty nickte. »Ich glaube schon. Meine Tante war beinahe fertig, als ich an Deck kam.«
»Schön«, sagte Captain Monk. So anregend es die letzten zwei Wochen auch gewesen war, die reizende Miss Carlisle an Bord zu haben, so war er doch froh, seine drei unerwarteten Passagiere loszuwerden. Dann konnten sich er und seine Mannschaft, die strikte Order hatten, sich bestens zu benehmen, endlich wieder entspannen. »Ich gebe Befehl, dass die Boote zu Wasser gelassen werden«, fügte er hinzu und schritt lauthals Kommandos brüllend davon.
Kitty fand ihre Tante in der engen, stickigen Kabine hockend, umgeben von Gepäckstücken und das Gesicht vom zarten Blassgrün einer Apfelgurke.
»Es dauert nicht mehr lange, Tante Sarah«, sagte sie. »Captain Monk lässt die Boote zu Wasser, die uns an Land bringen.«
Sarah erschrak. »Können wir denn nicht am Pier von Bord gehen ?« Sie war stets von schmaler Statur gewesen, nach fast fünf Monaten auf See aber noch dünner und unübersehbar erschöpft.
»Anscheinend gibt es keinen Pier. Man bringt uns in Ruderbooten ans Ufer.«
Sarah schloss die Augen. Kitty wusste, was ihre Tante dachte : Den weiten Weg in zwei knarrenden, schunkelnden Schiffen herzukommen, war schon beängstigend genug gewesen, aber nun musste sie auch noch eine Überfahrt in einem winzigen Boot über sich ergehen lassen, nur Zentimeter über den Wellen, bevor sie endlich festen Boden betreten könnte. Ihre Tante hatte schreckliche Angst vor dem Meer und inzwischen sicherlich begriffen, dass sie niemals die Reise zurück nach England antreten könnte, ganz gleich wie groß ihre Sehnsucht würde.
»Bist du dann bereit ?«, fragte Kitty und schenkte ihrer Tante einen mitfühlenden Blick. Sie wünschte, Sarah könnte sich, so spät es dafür auch sein mochte, ein wenig von ihrem Elend von der Seele reden.
Was Sarah jedoch nicht zu bemerken schien, denn sie kniff nur die Lippen zusammen, wickelte sich ihren Schal fester um die schmalen Schultern und nickte.
»Soll ich Captain Monk bitten, unsere Truhen an Deck bringen zu lassen ?«
»Nein, Kitty, ich bitte deinen Onkel, es ihm zu sagen. Du solltest nicht mit Captain Monk sprechen, sofern es nicht zwingend erforderlich ist.«
Beinahe hätte Kitty gelächelt. Wie typisch es für ihre Tante war. Sie konnte noch so seekrank und verängstigt angesichts der bevorstehenden Fahrt in einem kleinen Boot sein, ihre größte Sorge blieb, dass der Anstand gewahrt wurde.
Wieder an Deck, stellte Kitty fest, dass zwei Boote zu Wasser gelassen worden waren, eines für die Passagiere und ihre persönliche Habe, das andere für die größeren Gepäckstücke, die sie mitgebracht hatten. Sehr zu Sarahs Erleichterung waren beide Boote weniger klein als erwartet. Kitty indes war ein wenig enttäuscht ; in der Bucht herrschte ein mächtiger Seegang, und sie hatte sich darauf gefreut, auf dem Weg zur Küste von Wellen durchgeschüttelt zu werden. Es handelte sich um Walfangboote, gemacht zum Jagen und Harpunieren der riesigen Meereskreaturen, die, sobald erlegt, zur Swordfish zurückgeschleppt wurden. Entsprechend waren sie zwar leicht, aber auch robust, und lagen erstaunlich ruhig im Wasser.
Zunächst allerdings galt es, vom Schiff über eine Tauleiter ins Walfangboot zu gelangen, was an sich schon ein heikles Unterfangen war. Auch wenn die Männer unten im Boot freundlicherweise die Blicke abwandten, musste Kitty beim Klettern ihre Haube und ihre Röcke festhalten. Sie erlebte einen Moment lähmenden Schreckens, als die Leiter über dem Wasser weit in die eine Richtung schwang, während das Schiff in die andere wippte. Am Ende schaffte sie es hinunter, ohne sich zu verletzen oder versehentlich zu entblößen, was niemals entblößt werden durfte.
Onkel George, der sich seinen schwarzen Hut tief über die knochigen Schläfen gezogen hatte, stieg ebenfalls unbeschadet nach unten. Bei Tante Sarah jedoch versagten die Nerven, als sie an der Reling wartete, so dass sie auf einen Holzstuhl gebunden und mit einem Seil ins Boot hinabgehangelt werden musste, wo zwei Männer sie abfi ngen. Derweil hielt sie die Augen fest geschlossen, um nicht die fürchterlichen Wellen sehen zu müssen, die nur darauf lauerten, sie zu verschlingen.
Das erste Boot ruderte mit den Passagieren los in Richtung Küste, in das zweite wurde über einen Mastenkran verschiedenes Mobiliar geladen, bevor es sich in Bewegung setzte. Nachdem sie beobachtet hatte, wie alles sicher verstaut wurde, wandte Kitty sich nach vorn und blinzelte im Gischtnebel, den die Ruderer aufwirbelten, zu den näher und näher kommenden Häusern und Zäunen am Ufer.
Und da sah sie sie. Noch waren sie bloß Gestalten am Strand, die eilig in ihre Kanus stiegen, um den Walbooten entgegenzupaddeln, aber selbst aus der Entfernung ahnte Kitty, dass sie Menschen wie ihnen noch nie im Leben begegnet war. Hier waren sie endlich, jene Maori, über die Kitty so viel gehört hatte. In stummer Faszination wartete sie, während eines der Kanus sich den Walfangbooten näherte. Zwei weitere, in denen mehrere junge Frauen saßen, trieben an ihnen vorbei auf die Swordf sh zu. Kitty drehte sich auf ihrem Sitzplatz um, vergaß vollkommen ihre Manieren, und starrte die Insassen des schmalen Bootes an, das längsseits kam.
Acht Männer paddelten das lange Kanu, in dessen Mitte ein neunter stand, dem das Schaukeln des Bootes nicht das Geringste auszumachen schien. Er erwiderte Kittys Starren - zu ihrem Schrecken anscheinend nur mit einem Auge. Sie alle hatten dunkle Haut und buschiges schwarzes Haar, das manche von ihnen offen schulterlang, andere zu Knoten gewunden hoch oben auf ihren Häuptern trugen. Ihre Kleidung war eine Mischung aus europäischem Stil und dem, was die hiesige Gewandung sein musste : eine Art kurzer Rock, der in der Körpermitte zusammengebunden war. Mehrere von ihnen waren von der Taille aufwärts nackt, so dass zu sehen war, wie sich ihre Muskeln bei jeder Paddelbewegung bewegten. Während Kitty noch starrte, brüllte einer der Walfänger ein paar kehlige Worte in der Eingeborenensprache. Kitty zuckte zusammen. Der aufrecht stehende Maori neigte den Kopf, gab ein Kommando, und sie paddelten rasch wieder weg, hinter den anderen her zur Swordfish.
»Sehen garstig aus, was ?«, fragte der Walfänger, der sich unverhohlen über Kittys entgeisterte Miene amüsierte.
»Ähm, ja«, pflichtete sie ihm bei. »Recht Furcht einflößend.«
»Furcht einflößend oder nicht«, sagte Onkel George und fixierte Kitty mit seinem üblichen strengen Blick, »sie sind Gottes Geschöpfe, und wir wurden hergeschickt, um sie zum Christentum zu bekehren und ihnen Vergebung anzubieten, auf dass sie ein besseres Leben zum Ruhme Gottes führen und ihnen der Weg ins himmlische Königreich offensteht.«
Kitty wandte den Blick ab, mied es, den Walfänger anzusehen, und bemühte sich, nicht zu schmunzeln. Selbst wenn Onkel George bei Tisch um das Salz bat, klang es wie eine Predigt.
Danach saßen alle schweigend da. Tante Sarah klammerte sich mit beiden Händen an die Bootskante, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und blickte starr auf das nahende Ufer. Dann waren die Wellen plötzlich hinter ihnen, und einen Moment später wurde das Boot erschüttert, als es im Flachen auf Grund lief. Der Geschwätzigere der beiden Walfänger verkündete : »Boot angelandet, alle Mann von Bord!«
Doch Kitty hörte ihm gar nicht zu, denn ihre Aufmerksamkeit wurde vollständig vom Anblick eines schwarzhaarigen Riesen gebannt, dessen dunkles Gesicht von tiefen Furchen und Wirbeln gezeichnet war. Er schritt entschlossen über den Strand auf sie zu, gefolgt von einer Phalanx hüpfender, schnatternder Kinder mit teils dunkler, teils heller Haut. Kitty stand auf ; ob es eine Art unwillkürlicher Reflex war oder sie weglaufen wollte, konnte sie nicht sagen. Als der breit grinsende Riese durchs seichte Wasser stapfte und sie mit seinen gewaltigen Armen aus dem Walboot hob, stieß sie jedenfalls einen spitzen Schrei aus und hieb ihm so fest sie konnte seitlich gegen den Kopf.
Hinter ihr quiekte Tante Sarah vor Angst.
Das Lächeln des gewaltigen Maori erstarb sofort, er ließ Kitty fallen und trat einige Schritte zurück. »Verzeihen Sie«, sagte er mit einer Stimme so tief wie fernes Donnergrollen.
Kitty landete auf Händen und Knien im flachen Wasser. Ihre Haube rutschte ihr vorne über die Nase, und ihre Röcke wurden vom kräftigen Wind über ihren Rücken geweht. Ihre Verlegenheit wandelte sich rasch in tiefe Scham, als ihr durch die Öffnung in ihrer Unterwäsche frische Luft über die Haut blies. Schlimmer noch war, dass sie glaubte, einen der Walfänger zu hören, wie er einen erstickten Ausruf der Bewunderung tat.
Bevor sie etwas unternehmen konnte, erschien ein Paar langer, verwitterter Seefahrerstiefel vor ihr. Sie brauchte einen Moment, um ihre Röcke wieder herunterzuzwingen, ehe sie vorsichtig aufsah : Ihr Blick wanderte über braune Lederstiefel, eine helle Hose sowie über ein ausgeblichenes, oben aufgeknöpftes blaues Hemd und endete schließlich im Gesicht des Stiefelträgers. Er war ein Europäer, und er lachte schallend. Immerhin musste Kitty ihm zugute halten, dass er sich hinabbeugte und ihr seine Hand reichte.
Sie schob ihre Haube wieder dorthin, wo sie hingehörte, ergriff die dargebotene Hand und hievte sich an ihr aus dem Wasser. Die schweren Röcke klebten an ihr, was das Aufstehen schwierig machte.
»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte sie. Ihre Wangen glühten. Welche himmelschreiende Unverschämtheit von ihm, zu lachen !
Immer noch grinsend entgegnete der Mann : »Ist mir ein Vergnügen, Madam.« Da war ein melodischer Anklang des Irischen in seinem Akzent.
Kitty, deren Ärmel bis zu den Ellbogen durchnässt waren und deren Beine vom Seewasser bereits zu jucken begannen, sah ihn erbost an. Doch auf einmal, aus gänzlich unerfi ndlichen Gründen, spürte sie, wie sich ihr Nackenfell sträubte. So nannte es ihre Großmutter bisweilen, die seit langem tot war und im Alter durch zunehmend exzentrisches Gebaren auffiel. Und nun fiel Kitty keine treffendere Beschreibung für das unangenehme Kribbeln direkt unter ihrer Gänsehaut ein.
Der Mann war kräftig und recht groß gewachsen. Sein Haar war von der Farbe reifen Weizens und zu einem kurzen Zopf gebunden, seine Brauen sowie der Backenbart und die Stoppeln auf seinem Kinn hingegen waren deutlich dunkler. Eine leicht gebogene Nase dominierte fast sein sonnengegerbtes Gesicht, die Augen blitzten silbrig grau, und Lachfalten umrahmten seinen Mund. Recht unspektakulär, dachte Kitty, aber nicht unansehnlich, vorausgesetzt, man mochte dieses windzerzauste Aussehen - was auf sie nicht zutraf, erst recht nicht in Kombination mit einem derart unhöflichen Charakter, wie ihn dieser Mann offensichtlich besaß.
Ein ersticktes Wimmern aus dem Walfangboot lenkte sie ab : Onkel George mühte sich mit wenig Erfolg, Tante Sarah aus dem Boot zu heben und zum Strand zu tragen. Der hellhaarige Fremde watete zu ihnen, nahm Sarah deren Gemahl ab und stellte sie behutsam in den weichen Sand. Er trug sie, als wäre sie ein Federgewicht, was nach den Strapazen der Überfahrt wohl auch stimmte.
»Ich danke Ihnen, junger Mann«, sagte Sarah und richtete ein wenig schwankend ihre Haube. Sie wirkte maßlos erleichtert, endlich trockenen Boden unter den Füßen zu haben. »Verzeihen Sie, aber Sie sind ... ?«
Bevor der junge Mann antworten konnte, kam eine Frau mit hochrotem Gesicht und rotem Haar, das unter ihrer Haube vorlugte, den Strand hinunter auf sie zugelaufen.
»Es tut mir schrecklich leid«, rief sie atemlos. »Reverend Kelleher, nehme ich an ? Wir waren nicht sicher, wann genau Sie ankommen würden. Mein kleiner Albert hat mir eben erst Bescheid gegeben. Hätten wir geahnt ...«
Onkel George hob eine Hand, um sie zu beruhigen. »Kein Grund zur Besorgnis, obgleich der Kapitän unsere Ankunft mit Musketenschüssen ankündigte. Der Herr hat uns gnädigerweise heil hergebracht, Mrs ... «
»Purcell, Rebecca Purcell. Mein Gemahl ist einer der Missionare hier. Gütiger Himmel !«, sagte Rebecca, als sie Kitty bemerkte. »Sie sind ins Wasser gefallen, nicht wahr ? Kommen Sie ! Kommen Sie rasch hinauf ins Haus. Ich habe eben den Kessel aufgesetzt.«
Kitty blickte sich nach dem Mann in den Seestiefeln um, doch er war fort.
...
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Kitty Carlisle wusste es nicht, doch dies war der Wendepunkt in ihrem Leben. Hinter ihr lagen Wirren und Erniedrigungen, vor ihr, einen endlosen rollenden Ozean von all dem entfernt, das fremde Ufer und die Aussicht auf ungeahnte Begegnungen.
Sie lehnte an der Reling der Swordf sh, ihre langen schwarzen Röcke zwischen die Schenkel geklemmt, damit der Wind sie nicht aufbauschte und ihre Unterwäsche den Blicken jener preisgab, die zufällig zu ihr sahen. Ihre Hände umklammerten das glatte Holz, denn obwohl sie bereits Anker geworfen hatten, schaukelte das Schiff auf den Wellen. Zudem klingelten Kitty noch die Ohren vom Musketenfeuer vor einer Minute, das den Missionaren von ihrer Ankunft künden sollte. Sie hatte mindestens ein Dutzend weitere Schiffe gesehen, die ebenfalls in der unruhigen Bucht ankerten, beinahe alles Walfang-schiffe, von denen die meisten ihre Segel sicher vertäut hatten. Hier war Sommer, wie die Walfänger sagten, doch heute war der Himmel grau, und wenn es auch nicht kalt war, zurrte doch ein frischer Wind an allem, was ihm in den Weg kam.
Die Swordf sh war ein klobiges Walfangschiff, ein Rahsegler, und hatte vor dreizehn Tagen in der Bucht von Sydney abgelegt. Das Schiff, das Kitty, ihre Tante Sarah und ihren Onkel George Kelleher von England nach Australien gebracht hatte, musste für eine längere Reparatur in Sydney bleiben, und so hatten sie die Wahl gehabt, entweder auf einem Walfangschiff weiterzureisen oder sechs Wochen in Australien zu warten. George, ein Pfarrer der Kirchlichen Missionsgesellschaft, hatte auf eine baldige Weiterreise gedrängt. Er entschied sich daher entgegen der Bedenken seiner Frau wegen der unpassenden Gesellschaft, die sie und Kitty unterwegs zu ertragen hätten, für die Swordf sh. Kitty nahm an, dass ihre Tante vor allem die strapaziöse nächste Seereise möglichst lange aufschieben wollte, war sie doch beinahe den ganzen Weg von England hierher elend krank gewesen. Doch wie gewöhnlich setzte Onkel George seinen Willen durch.
Kitty selbst war nicht ein einziges Mal seekrank geworden, hatte die Monate auf See sogar genossen, trotz des Unglücks wegen all dem, was zuhause geschehen war. Die Schiffsbewegungen wirkten beruhigend auf sie, das Knallen und Rascheln der Segel über ihr empfand sie als aufregend, und sie war fasziniert von den sich immerfort verändernden Farben des Meeres und des Himmels, wenn sie sich am fernen Horizont begegneten.
Nun aber waren sie in Neuseeland angekommen, und die Bay of Islands machte ihrem Namen alle Ehre. Auf dem Weg in diesen tiefen, auf raue Art schönen Hafen, hatten sie schon sehr viele Inseln passiert, deren exotische Namen der Kapitän ausgerufen hatte. Offenbar entstammten sie alle der Sprache der eingeborenen Maori, und leider hatte Kitty sie sich nicht merken können. Die Hügel, Ufer und Täler dieses ungezähmten Landes waren zweifellos überwältigend, nur fühlte Kitty sich auf einmal eher wie eine Passagierin auf einem Gefangenenschiff in der Bucht von Sydney, als eine junge Frau, die im Begriff war, ein abenteuerliches neues Leben zu beginnen.
Gegenwärtig ankerten sie zwischen zwei Siedlungen : Paihia am westlichen Ufer und Kororareka am östlichen. Deren Anblick von See aus sagte Kitty nicht viel, obgleich in Kororareka eindeutig mehr europäisch anmutende Häuser standen. Paihia schien indes deutlich gepfl egter. Die wenigen Gebäude waren von Zäunen und ordentlichen Gärten umgeben, die sich hinter ihnen bis zu den grünen Hügeln erstreckten. Außerdem standen hier außergewöhnlich hohe Bäume, in denen, wie es aus der Distanz aussah, breite, leuchtend rote Schals hingen.
Captain Monk, der Kapitän der Swordfish, kam zu Kitty und stellte sich neben sie.
»Wie kommt es, dass Paihia hübsch und sauber ist, Captain Monk, während das Dorf auf der anderen Seite so viel ungepfl egter scheint ?«, fragte sie, wobei sie es vermied, den Namen Kororareka auszusprechen, weil sie fürchtete, sich zu verhaspeln.
»Das, Miss Carlisle«, sagte der Captain mit nicht ganz glaubwürdigem Ernst, »liegt daran, dass Gott in Paihia wohnt, wohingegen der Teufel, wie allgemein bekannt ist, über Kororareka herrscht.« Er lachte, als er ihre erschrockene Miene sah. Sein breites Grinsen teilte sein bärtiges Gesicht in zwei Hälften. »Fragen Sie Ihre Missionarsfreunde, wenn Sie an Land sind. Gewiss werden sie es Ihnen verraten.«
»Wir sollen an Land gehen ?«, fragte Kitty, die nicht auf seine sichtliche Belustigung achtete. Sie mochte Captain Monk, auch wenn Tante Sarah ihr sagte, sie dürfe nicht mit ihm reden, doch sie wusste nie, wann er sie veralberte. »Und wo ist der Pier ?«
»Pier ? Es gibt keinen Pier, Miss Carlisle.«
»Ach, nein ? Und wie kommen wir an Land ?«
»Sie rudern.«
»Ich?«
Abermals brach der Kapitän in ein, wie Kitty fand, unangebracht herzliches Lachen aus. »Nein, nein«, sagte er, immer noch grinsend, als wäre diese Vorstellung das Lustigste überhaupt. »Ich kann eine solch vornehme Gesellschaft wie Ihre unmöglich allein der See aussetzen. Zwei meiner Männer bringen Sie bald an Land. Haben Sie all Ihren Krimskrams gepackt?«
Kitty nickte. »Ich glaube schon. Meine Tante war beinahe fertig, als ich an Deck kam.«
»Schön«, sagte Captain Monk. So anregend es die letzten zwei Wochen auch gewesen war, die reizende Miss Carlisle an Bord zu haben, so war er doch froh, seine drei unerwarteten Passagiere loszuwerden. Dann konnten sich er und seine Mannschaft, die strikte Order hatten, sich bestens zu benehmen, endlich wieder entspannen. »Ich gebe Befehl, dass die Boote zu Wasser gelassen werden«, fügte er hinzu und schritt lauthals Kommandos brüllend davon.
Kitty fand ihre Tante in der engen, stickigen Kabine hockend, umgeben von Gepäckstücken und das Gesicht vom zarten Blassgrün einer Apfelgurke.
»Es dauert nicht mehr lange, Tante Sarah«, sagte sie. »Captain Monk lässt die Boote zu Wasser, die uns an Land bringen.«
Sarah erschrak. »Können wir denn nicht am Pier von Bord gehen ?« Sie war stets von schmaler Statur gewesen, nach fast fünf Monaten auf See aber noch dünner und unübersehbar erschöpft.
»Anscheinend gibt es keinen Pier. Man bringt uns in Ruderbooten ans Ufer.«
Sarah schloss die Augen. Kitty wusste, was ihre Tante dachte : Den weiten Weg in zwei knarrenden, schunkelnden Schiffen herzukommen, war schon beängstigend genug gewesen, aber nun musste sie auch noch eine Überfahrt in einem winzigen Boot über sich ergehen lassen, nur Zentimeter über den Wellen, bevor sie endlich festen Boden betreten könnte. Ihre Tante hatte schreckliche Angst vor dem Meer und inzwischen sicherlich begriffen, dass sie niemals die Reise zurück nach England antreten könnte, ganz gleich wie groß ihre Sehnsucht würde.
»Bist du dann bereit ?«, fragte Kitty und schenkte ihrer Tante einen mitfühlenden Blick. Sie wünschte, Sarah könnte sich, so spät es dafür auch sein mochte, ein wenig von ihrem Elend von der Seele reden.
Was Sarah jedoch nicht zu bemerken schien, denn sie kniff nur die Lippen zusammen, wickelte sich ihren Schal fester um die schmalen Schultern und nickte.
»Soll ich Captain Monk bitten, unsere Truhen an Deck bringen zu lassen ?«
»Nein, Kitty, ich bitte deinen Onkel, es ihm zu sagen. Du solltest nicht mit Captain Monk sprechen, sofern es nicht zwingend erforderlich ist.«
Beinahe hätte Kitty gelächelt. Wie typisch es für ihre Tante war. Sie konnte noch so seekrank und verängstigt angesichts der bevorstehenden Fahrt in einem kleinen Boot sein, ihre größte Sorge blieb, dass der Anstand gewahrt wurde.
Wieder an Deck, stellte Kitty fest, dass zwei Boote zu Wasser gelassen worden waren, eines für die Passagiere und ihre persönliche Habe, das andere für die größeren Gepäckstücke, die sie mitgebracht hatten. Sehr zu Sarahs Erleichterung waren beide Boote weniger klein als erwartet. Kitty indes war ein wenig enttäuscht ; in der Bucht herrschte ein mächtiger Seegang, und sie hatte sich darauf gefreut, auf dem Weg zur Küste von Wellen durchgeschüttelt zu werden. Es handelte sich um Walfangboote, gemacht zum Jagen und Harpunieren der riesigen Meereskreaturen, die, sobald erlegt, zur Swordfish zurückgeschleppt wurden. Entsprechend waren sie zwar leicht, aber auch robust, und lagen erstaunlich ruhig im Wasser.
Zunächst allerdings galt es, vom Schiff über eine Tauleiter ins Walfangboot zu gelangen, was an sich schon ein heikles Unterfangen war. Auch wenn die Männer unten im Boot freundlicherweise die Blicke abwandten, musste Kitty beim Klettern ihre Haube und ihre Röcke festhalten. Sie erlebte einen Moment lähmenden Schreckens, als die Leiter über dem Wasser weit in die eine Richtung schwang, während das Schiff in die andere wippte. Am Ende schaffte sie es hinunter, ohne sich zu verletzen oder versehentlich zu entblößen, was niemals entblößt werden durfte.
Onkel George, der sich seinen schwarzen Hut tief über die knochigen Schläfen gezogen hatte, stieg ebenfalls unbeschadet nach unten. Bei Tante Sarah jedoch versagten die Nerven, als sie an der Reling wartete, so dass sie auf einen Holzstuhl gebunden und mit einem Seil ins Boot hinabgehangelt werden musste, wo zwei Männer sie abfi ngen. Derweil hielt sie die Augen fest geschlossen, um nicht die fürchterlichen Wellen sehen zu müssen, die nur darauf lauerten, sie zu verschlingen.
Das erste Boot ruderte mit den Passagieren los in Richtung Küste, in das zweite wurde über einen Mastenkran verschiedenes Mobiliar geladen, bevor es sich in Bewegung setzte. Nachdem sie beobachtet hatte, wie alles sicher verstaut wurde, wandte Kitty sich nach vorn und blinzelte im Gischtnebel, den die Ruderer aufwirbelten, zu den näher und näher kommenden Häusern und Zäunen am Ufer.
Und da sah sie sie. Noch waren sie bloß Gestalten am Strand, die eilig in ihre Kanus stiegen, um den Walbooten entgegenzupaddeln, aber selbst aus der Entfernung ahnte Kitty, dass sie Menschen wie ihnen noch nie im Leben begegnet war. Hier waren sie endlich, jene Maori, über die Kitty so viel gehört hatte. In stummer Faszination wartete sie, während eines der Kanus sich den Walfangbooten näherte. Zwei weitere, in denen mehrere junge Frauen saßen, trieben an ihnen vorbei auf die Swordf sh zu. Kitty drehte sich auf ihrem Sitzplatz um, vergaß vollkommen ihre Manieren, und starrte die Insassen des schmalen Bootes an, das längsseits kam.
Acht Männer paddelten das lange Kanu, in dessen Mitte ein neunter stand, dem das Schaukeln des Bootes nicht das Geringste auszumachen schien. Er erwiderte Kittys Starren - zu ihrem Schrecken anscheinend nur mit einem Auge. Sie alle hatten dunkle Haut und buschiges schwarzes Haar, das manche von ihnen offen schulterlang, andere zu Knoten gewunden hoch oben auf ihren Häuptern trugen. Ihre Kleidung war eine Mischung aus europäischem Stil und dem, was die hiesige Gewandung sein musste : eine Art kurzer Rock, der in der Körpermitte zusammengebunden war. Mehrere von ihnen waren von der Taille aufwärts nackt, so dass zu sehen war, wie sich ihre Muskeln bei jeder Paddelbewegung bewegten. Während Kitty noch starrte, brüllte einer der Walfänger ein paar kehlige Worte in der Eingeborenensprache. Kitty zuckte zusammen. Der aufrecht stehende Maori neigte den Kopf, gab ein Kommando, und sie paddelten rasch wieder weg, hinter den anderen her zur Swordfish.
»Sehen garstig aus, was ?«, fragte der Walfänger, der sich unverhohlen über Kittys entgeisterte Miene amüsierte.
»Ähm, ja«, pflichtete sie ihm bei. »Recht Furcht einflößend.«
»Furcht einflößend oder nicht«, sagte Onkel George und fixierte Kitty mit seinem üblichen strengen Blick, »sie sind Gottes Geschöpfe, und wir wurden hergeschickt, um sie zum Christentum zu bekehren und ihnen Vergebung anzubieten, auf dass sie ein besseres Leben zum Ruhme Gottes führen und ihnen der Weg ins himmlische Königreich offensteht.«
Kitty wandte den Blick ab, mied es, den Walfänger anzusehen, und bemühte sich, nicht zu schmunzeln. Selbst wenn Onkel George bei Tisch um das Salz bat, klang es wie eine Predigt.
Danach saßen alle schweigend da. Tante Sarah klammerte sich mit beiden Händen an die Bootskante, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und blickte starr auf das nahende Ufer. Dann waren die Wellen plötzlich hinter ihnen, und einen Moment später wurde das Boot erschüttert, als es im Flachen auf Grund lief. Der Geschwätzigere der beiden Walfänger verkündete : »Boot angelandet, alle Mann von Bord!«
Doch Kitty hörte ihm gar nicht zu, denn ihre Aufmerksamkeit wurde vollständig vom Anblick eines schwarzhaarigen Riesen gebannt, dessen dunkles Gesicht von tiefen Furchen und Wirbeln gezeichnet war. Er schritt entschlossen über den Strand auf sie zu, gefolgt von einer Phalanx hüpfender, schnatternder Kinder mit teils dunkler, teils heller Haut. Kitty stand auf ; ob es eine Art unwillkürlicher Reflex war oder sie weglaufen wollte, konnte sie nicht sagen. Als der breit grinsende Riese durchs seichte Wasser stapfte und sie mit seinen gewaltigen Armen aus dem Walboot hob, stieß sie jedenfalls einen spitzen Schrei aus und hieb ihm so fest sie konnte seitlich gegen den Kopf.
Hinter ihr quiekte Tante Sarah vor Angst.
Das Lächeln des gewaltigen Maori erstarb sofort, er ließ Kitty fallen und trat einige Schritte zurück. »Verzeihen Sie«, sagte er mit einer Stimme so tief wie fernes Donnergrollen.
Kitty landete auf Händen und Knien im flachen Wasser. Ihre Haube rutschte ihr vorne über die Nase, und ihre Röcke wurden vom kräftigen Wind über ihren Rücken geweht. Ihre Verlegenheit wandelte sich rasch in tiefe Scham, als ihr durch die Öffnung in ihrer Unterwäsche frische Luft über die Haut blies. Schlimmer noch war, dass sie glaubte, einen der Walfänger zu hören, wie er einen erstickten Ausruf der Bewunderung tat.
Bevor sie etwas unternehmen konnte, erschien ein Paar langer, verwitterter Seefahrerstiefel vor ihr. Sie brauchte einen Moment, um ihre Röcke wieder herunterzuzwingen, ehe sie vorsichtig aufsah : Ihr Blick wanderte über braune Lederstiefel, eine helle Hose sowie über ein ausgeblichenes, oben aufgeknöpftes blaues Hemd und endete schließlich im Gesicht des Stiefelträgers. Er war ein Europäer, und er lachte schallend. Immerhin musste Kitty ihm zugute halten, dass er sich hinabbeugte und ihr seine Hand reichte.
Sie schob ihre Haube wieder dorthin, wo sie hingehörte, ergriff die dargebotene Hand und hievte sich an ihr aus dem Wasser. Die schweren Röcke klebten an ihr, was das Aufstehen schwierig machte.
»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte sie. Ihre Wangen glühten. Welche himmelschreiende Unverschämtheit von ihm, zu lachen !
Immer noch grinsend entgegnete der Mann : »Ist mir ein Vergnügen, Madam.« Da war ein melodischer Anklang des Irischen in seinem Akzent.
Kitty, deren Ärmel bis zu den Ellbogen durchnässt waren und deren Beine vom Seewasser bereits zu jucken begannen, sah ihn erbost an. Doch auf einmal, aus gänzlich unerfi ndlichen Gründen, spürte sie, wie sich ihr Nackenfell sträubte. So nannte es ihre Großmutter bisweilen, die seit langem tot war und im Alter durch zunehmend exzentrisches Gebaren auffiel. Und nun fiel Kitty keine treffendere Beschreibung für das unangenehme Kribbeln direkt unter ihrer Gänsehaut ein.
Der Mann war kräftig und recht groß gewachsen. Sein Haar war von der Farbe reifen Weizens und zu einem kurzen Zopf gebunden, seine Brauen sowie der Backenbart und die Stoppeln auf seinem Kinn hingegen waren deutlich dunkler. Eine leicht gebogene Nase dominierte fast sein sonnengegerbtes Gesicht, die Augen blitzten silbrig grau, und Lachfalten umrahmten seinen Mund. Recht unspektakulär, dachte Kitty, aber nicht unansehnlich, vorausgesetzt, man mochte dieses windzerzauste Aussehen - was auf sie nicht zutraf, erst recht nicht in Kombination mit einem derart unhöflichen Charakter, wie ihn dieser Mann offensichtlich besaß.
Ein ersticktes Wimmern aus dem Walfangboot lenkte sie ab : Onkel George mühte sich mit wenig Erfolg, Tante Sarah aus dem Boot zu heben und zum Strand zu tragen. Der hellhaarige Fremde watete zu ihnen, nahm Sarah deren Gemahl ab und stellte sie behutsam in den weichen Sand. Er trug sie, als wäre sie ein Federgewicht, was nach den Strapazen der Überfahrt wohl auch stimmte.
»Ich danke Ihnen, junger Mann«, sagte Sarah und richtete ein wenig schwankend ihre Haube. Sie wirkte maßlos erleichtert, endlich trockenen Boden unter den Füßen zu haben. »Verzeihen Sie, aber Sie sind ... ?«
Bevor der junge Mann antworten konnte, kam eine Frau mit hochrotem Gesicht und rotem Haar, das unter ihrer Haube vorlugte, den Strand hinunter auf sie zugelaufen.
»Es tut mir schrecklich leid«, rief sie atemlos. »Reverend Kelleher, nehme ich an ? Wir waren nicht sicher, wann genau Sie ankommen würden. Mein kleiner Albert hat mir eben erst Bescheid gegeben. Hätten wir geahnt ...«
Onkel George hob eine Hand, um sie zu beruhigen. »Kein Grund zur Besorgnis, obgleich der Kapitän unsere Ankunft mit Musketenschüssen ankündigte. Der Herr hat uns gnädigerweise heil hergebracht, Mrs ... «
»Purcell, Rebecca Purcell. Mein Gemahl ist einer der Missionare hier. Gütiger Himmel !«, sagte Rebecca, als sie Kitty bemerkte. »Sie sind ins Wasser gefallen, nicht wahr ? Kommen Sie ! Kommen Sie rasch hinauf ins Haus. Ich habe eben den Kessel aufgesetzt.«
Kitty blickte sich nach dem Mann in den Seestiefeln um, doch er war fort.
...
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von DEBORAH CHALLINOR
Deborah Challinor lebt als Historikerin und Autorin im neuseeländischen Waikato. Ihre historischen Romane wurden internationale Bestseller.
Bibliographische Angaben
- Autor: DEBORAH CHALLINOR
- 2011, 1, 368 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800873X
- ISBN-13: 9783868008739
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