Koma
Ein junges Mädchen wird tot im Wald gefunden. Sie wurde brutal vergewaltigt. Zehn Jahre später wird an derselben Stelle ein Polizist getötet, sein Gesicht ist grausam entstellt. Eine Sonderkommission ermittelt unter Hochdruck. Doch es geschehen weitere...
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Produktinformationen zu „Koma “
Ein junges Mädchen wird tot im Wald gefunden. Sie wurde brutal vergewaltigt.
Zehn Jahre später wird an derselben Stelle ein Polizist getötet, sein Gesicht
ist grausam entstellt. Eine Sonderkommission ermittelt unter Hochdruck. Doch es
geschehen weitere Morde. Die Polizei hat keine Spur, und ihr bester Ermittler
Harry Hole fehlt.In einem Krankenhaus liegt ein schwerverletzter Mann im Koma.
Das Zimmer wird von der Polizei bewacht. Niemand soll erfahren, wer der
geheimnisvolle Patient ist. Denn er hat einen Feind. Und der ist
überall.Spannung pur - der beste Harry Hole aller Zeiten!Entdecken Sie auch DER
SOHN, den neuen großen Kriminalroman von Jo Nesbø!
Lese-Probe zu „Koma “
Koma von Jo Nesbø... mehr
Prolog
Sie lag hinter der Tür und schlief.
Der Eckschrank roch im Innern nach altem Holz, Pulver und Waffenöl. Schien die Sonne durch das Fenster des Raums, fiel ein dünner Streifen Licht durch das Schlüsselloch und ließ die Pistole auf dem mittleren Brett matt aufblitzen. Es war eine russische Odessa, eine Kopie der etwas bekannteren Stetschkin-Pistole.
Die Waffe hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Sie war mit den Kulaken von Litauen nach Sibirien gezogen, war zwischen den verschiedenen Hauptquartieren der Urkas in Südsibirien hin und her gewandert, hatte einem Ataman gehört ¬ einem Anführer der Kosaken, der mit seiner Odessa in der Hand von der Polizei getötet worden war ¬, bevor sie schließlich in den Besitz eines waffensammelnden Gefängnisdirektors in Tagil gelangt war. Zu guter Letzt war die hässliche, kantige Maschinenpistole von Rudolf Asajev, der vor seinem Verschwinden den Osloer Drogenmarkt an sich gerissen und mit seinem neuen Opioid Violin ein Monopol aufgebaut hatte, nach Norwegen gebracht worden. Und hier befand die Waffe sich noch immer, genauer gesagt im Holmenkollveien in Oslo, im Haus von Rakel Fauke. Das Magazin der Odessa umfasste zwanzig Kugeln des Kalibers Makarov 9x18 mm, und sie schoss sowohl Einzelschüsse als auch Salven. Jetzt waren noch zwölf Kugeln im Magazin. Drei Patronen waren für Kosovo-Albaner verwendet worden, die Asajev Konkurrenz auf dem Drogenmarkt gemacht hatten, doch nur eine davon hatte Fleisch zu schmecken bekommen.
Zwei weitere Schüsse hatten Gusto Hanssen getötet, einen jungen Dieb und Dealer, der Geld und Drogen von Asajev unterschlagen hatte. Die letzten drei Kugeln waren erst vor kurzem abgefeuert worden, die Pistole roch noch immer danach. Sie hatten den früheren Polizisten Harry Hole, der im Mordfall Gusto Hanssen ermittelte, in Brust und Kopf getroffen, am gleichen Tatort, in der Hausmanns gate 92.
Die Polizei hatte den Hanssen-Fall noch nicht gelöst. Der 18-jährige Junge, der zuerst festgenommen worden war, musste wieder auf freien Fuß gesetzt werden, unter anderem weil es der Polizei nicht gelungen war, ihn mit der Mordwaffe in Verbindung zu bringen. Dieser Junge hieß Oleg Fauke. Er schrak jede Nacht aus dem Schlaf auf und starrte ins Dunkle, weil er wieder und wieder die Schüsse hörte. Nicht die, mit denen er Gusto getötet hatte, sondern die anderen, die er auf den Polizisten abgefeuert hatte, der in seiner Jugend so etwas wie ein Vater für ihn gewesen war. Harry Hole. Von dem er sich gewünscht hatte, dass er seine Mutter Rakel heiratete. Harrys Blick brannte vor Oleg im Dunkeln, und die Gedanken des Jungen wanderten immer wieder zu der Pistole im Eckschrank, die er niemals wiedersehen wollte. Die niemand je wiedersehen durfte. Die für alle Ewigkeiten dort drinnen schlafen sollte.
Er lag hinter der Tür und schlief.
Das bewachte Krankenhauszimmer roch nach Medizin und Farbe. Neben dem Bett stand ein Monitor, der jeden Herzschlag aufzeichnete.
Isabelle Skøyen, Sozialsenatorin im Osloer Rathaus, und Mikael Bellman, der frisch ernannte Polizeipräsident, hofften, dass sie ihn niemals wiedersehen müssten.
Dass niemand ihn je wiedersah.
Dass er für alle Ewigkeit dort drinnen schlief.
TEIL I
Kapitel 1
Ein langer, spätsommerlicher Septembertag ging zu Ende.
Das Licht verwandelte den Oslofjord in geschmolzenes Silber, und die Hügel ringsherum, die bereits den nahenden Herbst ankündigten, glühten in warmen Farben. Es war einer dieser Tage, an denen die Osloer darauf schworen, dass sie diese Stadt niemals, niemals verlassen würden. Die Sonne ging langsam hinter dem Ullern unter, und die letzten Strahlen strichen flach über die Landschaft und fielen auf niedrige, bescheidene Mietshäuser, die noch die ärmlichen Ursprünge der Stadt erkennen ließen, auf toprenovierte Penthousewohnungen mit Terrassen, von denen fast das Öl tropfte, welches das Land ganz plötzlich zu einem der reichsten der Welt gemacht hatte, und auf die Junkies am oberen Ende des Stensparks. Die Stadt war klein und wohlgeordnet, und doch gab es dort mehr Drogentote als in anderen europäischen Städten, die achtmal größer waren. Das Licht fiel auf Gärten mit Trampolinen, die mit Netzen gesichert waren und auf denen nie mehr als drei Kinder gleichzeitig hüpften, weil dies so in der Gebrauchsanweisung stand. Und auf die bewaldeten Hügel, die den Osloer Kessel, wie er genannt wurde, einrahmten. Die Sonne konnte sich noch nicht von der Stadt trennen und streckte ihre Strahlenfinger aus, als wollte sie den Abschied in die Länge ziehen.
Der Tag hatte kalt und klar begonnen, und das Licht war fast wie in einem Operationssaal gewesen. Im Laufe des Tages waren die Temperaturen gestiegen, der Himmel war tiefblau geworden, und die Luft hatte die angenehme Stofflichkeit bekommen, die den September zum schönsten Monat des Jahres machte. Und als die Dämmerung sich weich und vorsichtig über die Stadt legte, duftete es im Villenviertel an den Hängen hinauf zum See Maridalsvannet nach Äpfeln und sonnenwarmen Kiefernwäldern.
Erlend Vennesla näherte sich dem höchsten Punkt der letzten Steigung. Er spürte die Milchsäure in seinen Muskeln, konzentrierte sich aber weiter darauf, vertikal und mit leicht nach innen zeigenden Knien seine Klickpedale zu treten. Die richtige Technik war wichtig. Erst recht, wenn man müde wurde und das Hirn plötzlich Lust verspürte, die Position zu ändern, um weniger erschöpfte, aber eben auch weniger effektive Muskeln zu belasten. Er spürte, wie der Fahrradrahmen jedes Watt, das er trat, absorbierte und ausnutzte, wie er beschleunigte, wenn er einen größeren Gang einlegte, sich aufrichtete und im Stehen fuhr, um die Frequenz beizubehalten, etwa neunzig Tritt pro Minute. Er sah auf seine Pulsuhr. Hundertachtundsechzig. Dann richtete er das Licht seiner Stirnlampe auf das am Lenker befestigte GPS , das über eine Detailkarte des Großraums Oslo und einen aktiven Sender verfügte. Das Fahrrad hatte inklusive Sonderausstattung mehr gekostet, als ein frisch pensionierter Kriminalbeamter sich eigentlich leisten konnte. Aber jetzt, wo das Leben andere Herausforderungen bot, war es wichtig, sich in Form zu halten.
Weniger Herausforderungen, wenn er ehrlich war.
Die Milchsäure biss immer fester in seine Schenkel und Waden, aber der Schmerz weckte bereits die Vorfreude auf das Fest der Endorphine, das auf ihn wartete, wenn er es geschafft hatte. Die mürben Muskeln. Das gute Gewissen. Das Bier auf dem Balkon gemeinsam mit seiner Frau, vorausgesetzt, die Temperaturen gingen nach Sonnenuntergang nicht gleich wieder so drastisch in den Keller.
Und dann war er oben. Die Straße wurde flacher, und vor ihm lag der See Maridalsvannet. Er ließ das Rad rollen. Mit einem Mal war er auf dem Land. Es war schon absurd, dass man nach fünfzehn Minuten schnellem Radfahren aus dem Zentrum einer europäischen Hauptstadt plötzlich von Feldern, Höfen und Wald umgeben war, durch dessen abendliches Dunkel zahllose Wege führten. Der Schweiß ließ seine Kopfhaut unter dem koksgrauen Bell-Fahrradhelm jucken, der so viel gekostet hatte wie das Fahrrad, das er seiner Enkelin Line Marie zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte. Aber Erlend Vennesla behielt den Helm auf. Die meisten tödlichen Fahrradunfälle waren auf Kopfverletzungen zurückzuführen.
Er sah auf seine Pulsuhr. Hundertfünfundsiebzig. Hundertsiebenundsiebzig. Ein willkommener, leichter Windhauch trug entfernten Jubel aus der Stadt zu ihm nach oben. Das musste aus dem Ullevål-Stadion kommen, in dem an diesem Abend ein wichtiges Länderspiel lief, Slowakei oder Slowenien, aber Erlend Vennesla stellte sich einen Moment lang vor, der Jubel gelte ihm. Es war eine Weile her, dass ihm zuletzt applaudiert worden war. Vermutlich war das bei seiner Verabschiedung im Hauptsitz des Kriminalamts oben in Bryn gewesen. Es hatte Sahnekuchen gegeben, und sein Chef, Mikael Bellman, der seitdem die Karriereleiter immer weiter nach oben geklettert war, hatte ihm zu Ehren eine Rede gehalten. Erlend hatte den Applaus entgegengenommen, alle Blicke erwidert, sich bedankt und gespürt, wie sein Hals sich zusammengezogen hatte, als er, ganz den Traditionen des Kriminalamts entsprechend, seine einfache, kurze und auf Tatsachen basierende Dankesrede gehalten hatte. Als Ermittler hatte er seine Höhen und Tiefen erlebt, wobei ihm die ganz großen Fehler erspart geblieben waren. Auf jeden Fall soweit er wusste, ganz sicher konnte man sich ja nie sein. Ein paar Fragen waren nie endgültig beantwortet worden. Fragen, auf die man jetzt, da die DNA-Analysetechnik so weit fortgeschritten war, dass die Polizeileitung angedeutet hatte, ein paar alte Fälle wieder aufrollen zu wollen, Antworten zu bekommen riskierte. Unerwartete Antworten. Ergebnisse. Solange es sich um ungeklärte Fälle handelte, war das natürlich in Ordnung, aber Erlend verstand nicht, wieso man Ressourcen darauf verwenden wollte, in alten, längst aufgeklärten und erledigten Fällen herumzuwühlen.
Trotz des Lichtes der Straßenlaternen wäre er fast an dem Holzschild vorbeigefahren, das in den Wald zeigte. Da war es. Genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Er bog von der Straße ab, kam auf einen weichen Waldweg und fuhr so langsam, wie es ging, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, weiter. Der Lichtkegel seiner Stirnlampe, die er außen auf dem Helm angebracht hatte, schweifte über den Weg und blieb an den dunklen Kiefern auf beiden Seiten hängen. Schatten huschten vor ihm her, ängstlich und scheu, verwandelten sich und verschwanden im Dickicht. Genau so hatte er es sich vorgestellt, als er sich in ihre Situation zu versetzen versucht hatte. Rennend, mit einer Lampe in der Hand, auf der Flucht, eingesperrt und vergewaltigt, drei lange Tage.
Als Erlend Vennesla das Licht sah, das in diesem Moment vor ihm eingeschaltet wurde, dachte er für den Bruchteil einer Sekunde, dass es ihre Taschenlampe war, dass sie wieder auf der Flucht war und er auf einem Motorrad saß und ihr immer näher kam. Das Licht vor Erlend flackerte, bevor es auf ihn gerichtet wurde. Er blieb stehen, stieg vom Rad ab und richtete die Stirnlampe auf seine Pulsuhr. Unter hundert. Nicht schlecht.
Er löste den Kinnriemen, zog den Helm ab und kratzte sich am Kopf. Mein Gott, wie gut das tat. Dann schaltete er die Stirnlampe aus, hängte den Helm an die Lenkstange und schob sein Fahrrad auf das Licht der Taschenlampe zu. Der baumelnde Helm stieß gegen sein Handgelenk.
Als das Licht nach oben zuckte, blieb er stehen. Die hellen Strahlen blendeten ihn. Und geblendet dachte er, dass er doch noch ziemlich keuchte, erstaunlich, bei dem niedrigen Puls. Er ahnte eine Bewegung hinter dem großen, zitternden Kreis aus Licht. Dann ging ein Pfeifen durch die Luft und im selben Moment schoss ihm durch den Kopf, dass er den Helm nicht hätte absetzen sollen. Die meisten tödlichen Fahrradunfälle ...
Der Gedanke geriet ins Stocken, die Zeit hakte, die Bildleitung wurde für einen Augenblick unterbrochen.
Erlend Vennesla starrte überrascht nach vorn und spürte einen warmen Schweißtropfen über seine Stirn laufen. Er sprach, aber seine Worte ergaben keinen Sinn, als gäbe es einen Kopplungsfehler zwischen Hirn und Mund. Wieder hörte er das leise Pfeifen. Dann nichts mehr. Alle Geräusche waren weg, nicht einmal seinen eigenen Atem hörte er noch. Und er bemerkte, dass er kniete und das Fahrrad langsam in den Graben kippte. Vor ihm tanzte das gelbe Licht, verschwand aber, als die Schweißtropfen seine Nasenwurzel erreichten, ihm in die Augen flossen und ihm die Sicht nahmen. Erst jetzt begriff er, dass das kein Schweiß war.
Der dritte Schlag fühlte sich an, als würde ein Eiszapfen durch seinen Kopf in seinen Hals, ja bis in seinen Körper getrieben. Alles gefror.
Ich will nicht sterben, dachte er und versuchte, schützend einen Arm zu heben, doch er konnte sich nicht bewegen, nicht ein Glied, er war gelähmt.
Den vierten Schlag registrierte er nicht mehr, aber aus dem Geruch der nassen Erde schloss er, dass er inzwischen am Boden lag. Er blinzelte mehrmals und konnte plötzlich auf einem Auge wieder sehen. Direkt vor sich erkannte er ein paar große, dreckige Stiefel im Schlamm. Die Absätze lösten sich vom Boden, dann die ganzen Stiefel. Und landeten wieder. Dieser Prozess wiederholte sich, erst gingen die Absätze hoch, dann die Sohlen. Als ob sich derjenige, der schlug, vom Boden abstieß, um noch mehr Kraft in seine Schläge legen zu können. Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war, dass er nicht vergessen durfte, wie seine Enkelin hieß, er musste ihren Namen behalten.
Kapitel 2
Anton Mittet nahm den halbvollen Plastikbecher aus der kleinen roten Nespresso-D-290-Maschine, bückte sich und stellte ihn auf den Boden. Einen Tisch gab es nicht. Dann drehte der Polizist die längliche Schachtel um, fischte eine weitere Kapsel heraus, überprüfte automatisch, ob die dünne Metallfolie des Deckels auch nicht perforiert war, und steckte sie in die Espressomaschine. Er stellte einen leeren Plastikbecher unter den Hahn und drückte auf einen der leuchtenden Knöpfe.
Während die Maschine zu prusten und stöhnen begann, sah er auf die Uhr. Es war bald Mitternacht. Wachablösung. Er wurde zu Hause erwartet, wollte die Neue aber trotzdem erst noch in ihre Aufgabe einweisen, schließlich kam seine Kollegin direkt von der Polizeischule. Er glaubte sich zu erinnern, dass sie Silje hieß. Anton Mittet starrte auf den Hahn. Hätte er auch für einen männlichen Kollegen Kaffee gemacht? Er wusste es nicht, aber eigentlich war es ihm auch egal, er dachte schon lange nicht mehr über solche Fragen nach. Es war so still geworden, dass er die letzten, klaren Tropfen in den Plastikbecher fallen hörte. Eigentlich hatte das, was am Schluss kam, weder Farbe noch Geschmack, aber es war wichtig, alles mitzunehmen, schließlich würde es für die junge Frau eine lange Nacht werden. Ohne Gesellschaft, ohne Abwechslung, einzig mit der Aufgabe, an die kahlen farblosen Betonwände des Reichshospitals zu starren. Wahrscheinlich war er deshalb auf den Gedanken gekommen, vor seinem Nachhauseweg noch einen Kaffee mit ihr zu trinken. Er nahm die beiden Becher und ging zurück. Seine Schritte hallten von den Wänden wider. Er passierte verschlossene Türen, hinter denen nichts anderes war als weitere kahle Wände, das hatte er überprüft. Mit dem Reichshospital hatten die Norweger für die Zukunft geplant, wohl wissend, dass die Bevölkerungszahl wuchs und es irgendwann mehr ältere, kränkere und anspruchsvollere Menschen geben würde. Man hatte Weitsicht gezeigt, wie die Deutschen mit ihren Autobahnen und die Schweden mit ihren Flughäfen. Aber hatten die wenigen Autofahrer, die in den dreißiger Jahren in einsamer Majestät über die mastodontischen Betontrassen durch das bäuerliche Deutschland gefahren waren, oder die schwedischen Passagiere, die in den sechziger Jahren durch die überdimensionierten Hallen Arlandas gelaufen waren, auch das Gefühl gehabt, dass es spukte? Dass irgendetwas umging, obwohl alles neu und unbesudelt war und noch niemand bei einem Verkehrsunfall oder Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war? Dass das Licht der Scheinwerfer jeden Augenblick eine Familie am Straßenrand einfangen konnte, die ausdruckslos ins Licht starrte? Blutig, blass, der Vater durchbohrt, die Mutter mit verdrehtem Kopf und das Kind mit auf einer Seite abgerissenem Arm und Bein? Dass durch den Plastikvorhang des Gepäckbandes in der Ankunftshalle von Arlanda plötzlich verbrannte, noch immer glühende Leichen kamen, die mit dem Gummi verschmolzen und aus deren weit aufgerissenen, dampfenden Mündern stumme Schreie drangen? Keiner der Ärzte hatte ihm sagen können, wofür dieser Flügel verwendet werden sollte, sicher war nur, dass hinter diesen Türen einmal Menschen sterben würden. Die unsichtbaren Körper mit ihren ruhelosen Seelen waren längst da.
Anton bog um eine Ecke, und ein neuer Flur erstreckte sich vor ihm, notdürftig beleuchtet, ebenso kahl und weiß und sich symmetrisch nach hinten verjüngend, so dass die uniformierte, junge Frau auf dem Stuhl am Ende des Flurs wie ein Miniaturbild auf einer großen weißen Leinwand aussah.
»Hier, ich habe Ihnen einen Kaffee mitgebracht«, sagte er, als er vor ihr stand. War sie zwanzig? Zweiundzwanzig?
»Danke, aber ich habe selbst welchen dabei«, antwortete sie und nahm eine Thermoskanne aus dem kleinen Rucksack, den sie neben ihren Stuhl gestellt hatte. In ihrer Stimme war eine kaum hörbare Melodie, die Reste eines nördlichen Dialekts?
»Der hier ist besser«, sagte er noch immer mit ausgestreckter Hand.
Sie zögerte und nahm den Becher.
»Und gratis«, sagte Anton, legte die Hand hinter den Rücken und rieb diskret die heißen Fingerkuppen an dem kalten Stoff der Jacke. »Die Maschine ist nur für uns, sie steht hinten im Flur beim ...«
»Ich weiß, ich habe sie gesehen, als ich gekommen bin«, sagte sie. »Aber in der Dienstanweisung steht, dass wir die Tür des Patienten unter keinen Umständen aus den Augen lassen sollen, weshalb ich mich selbst versorgt habe.«
Anton Mittet nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Richtig gedacht, aber es führt nur ein Flur hierher. Wir sind im dritten Stock und zwischen hier und der Kaffeemaschine gibt es keine Türen, die zu anderen Treppen oder Eingängen führen. Es ist unmöglich, an uns vorbeizukommen, selbst wenn wir Kaffee holen.«
»Gut zu wissen, ich werde mich trotzdem an die Vorschrift halten.« Sie lächelte ihn kurz an, nahm dann aber einen Schluck aus dem Plastikbecher, als wollte sie damit die unausgesprochene Zurechtweisung abmildern.
Anton fühlte sich ein wenig auf den Schlips getreten und wollte gerade sagen, dass man mit genügend Erfahrung durchaus auch einmal selbständig denken durfte, doch bevor er sich die Worte richtig zurechtgelegt hatte, ging sein Blick nach hinten in den Flur. Eine weiße Gestalt schwebte auf sie zu. Er hörte, dass Silje sich erhob. Die Gestalt nahm klarere Formenan und wurde zu einer üppigen blonden Frau im Kittel des Pflegepersonals. Er wusste, dass sie Nachtschicht hatte und morgen Abend freihaben würde.
»Guten Abend«, sagte die Schwester mit verschmitztem Lächeln, hielt zwei Spritzen hoch, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.
»Moment«, sagte Silje und trat vor. »Ich muss Sie bitten, mich einen Blick auf Ihr Schild werfen zu lassen. Und könnten Sie mir das heutige Passwort nennen?«
Die Schwester sah Anton überrascht an.
»Außer mein Kollege hat Sie schon überprüft«, sagte Silje.
Anton nickte: »Geh nur rein, Mona.«
Die Schwester öffnete die Tür, und Anton blickte ihr nach. In dem schwach beleuchteten Raum konnte er die Apparate, die um das Bett herumstanden, und die Zehen des Mannes erkennen, die am Fußende unter der Bettdecke hervorragten. Der Patient war so groß, dass sie ein längeres Bett hatten beschaffen müssen. Die Tür schloss sich.
»Gut«, sagte Anton und lächelte Silje an, sah aber gleich, dass seine Kollegin das nicht mochte. Fühlte sie sich benotet? Hielt sie ihn für einen Chauvinisten? Aber verdammt, sie war ja noch nicht mal mit der Ausbildung fertig, und bei den ersten Praxiseinsätzen war es doch wohl in Ordnung, von erfahrenen Kollegen zu lernen. Er blieb stehen und wippte auf den Füßen, unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte.
Sie kam ihm zuvor.
»Keine Sorge, ich habe die Dienstanweisung studiert. Und Sie werden doch wohl von Ihrer Familie erwartet.«
Er setzte den Becher an die Lippen. Was wusste sie sonst noch über ihn? War das eine Andeutung, eine Anspielung auf Mona und ihn? Wusste sie etwa, dass er sie ein paarmal abends nach der Schicht nach Hause gefahren hatte und dass es dabei nicht geblieben war?
»Der Bärchenaufkleber auf Ihrer Tasche«, erklärte sie lächelnd.
Er nahm einen großen Schluck und räusperte sich. »Ich habe Zeit, und das ist Ihre erste Wache. Vielleicht sollten Sie die Gelegenheit für Fragen nutzen, wenn Sie irgendetwas wissen wollen. Es steht nicht immer alles in der Dienstanweisung, wissen Sie.« Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Hoffte, dass sie den Text zwischen den Zeilen verstand.
»Wie Sie wollen«, sagte sie mit dem irritierenden Selbstvertrauen, das man in dieser Form nur mit Anfang zwanzig hatte. »Der Patient da drinnen, wer ist das eigentlich?«
»Das weiß ich auch nicht. In der Dienstanweisung steht, dass er anonym ist und es auch bleiben soll.«
»Aber Sie wissen etwas?«
»Tue ich das?«
»Mona. Sie duzen niemanden, mit dem Sie nicht auch länger geredet haben. Was hat sie Ihnen erzählt?«
Anton Mittet sah sie an. Sie war recht hübsch, aber ohne Wärme oder Charme und für seinen Geschmack zu dünn. Ihre Haare waren ungekämmt, und ihre Oberlippe sah aus, als würde sie von zu kurzen Sehnen nach oben gezogen, so dass zwei ungleiche Schneidezähne zu sehen waren. Aber sie strahlte Jugend und Frische aus. Und in ihrer schwarzen Uniform steckte ein straffer, austrainierter Körper, das roch er förmlich. Sollte er ihr sagen, was er wusste? Weil das seine Chancen, bei ihr zu landen, um null Komma null eins Prozent erhöhte oder weil Frauen wie Silje im Laufe von nur fünf Jahren zur leitenden Hauptkommissarin oder Spezialermittlerin und damit zu seiner Vorgesetzten avancierten? Er würde wegen der Sache in Drammen für immer und ewig einfacher Polizist bleiben. Der Vorfall bremste seine Karriere wie eine unüberwindbare Mauer, war wie ein Fleck, der nicht wegzuwischen war.
»Mordversuch«, sagte Anton. »Hat viel Blut verloren, hat bei der Einlieferung kaum noch Puls gehabt und liegt seither im Koma.«
»Und warum wird er bewacht?«
Anton zuckte mit den Schultern. »Ein potentieller Zeuge. Wenn er überlebt.«
»Und was weiß er?«
»Ach, irgendwelche Drogensachen. Aber auf hohem Niveau. Wenn er aufwacht, kann er mit seinen Informationen vermutlich wichtige Leute im Osloer Heroingeschäft zu Fall bringen. Und natürlich sagen, wer ihn zu töten versucht hat.«
»Die glauben also, dass der Täter zurückkommt, um seinen Job zu Ende zu bringen?«
»Wenn bekannt wird, dass er noch am Leben ist und wo man ihn finden kann: Ja. Vermutlich sind wir deshalb hier.«
Sie nickte. »Und? Wird er überleben?«
Anton schüttelte den Kopf. »Sie gehen davon aus, ihn noch ein paar Monate am Leben erhalten zu können, aber die Chancen, dass er jemals wieder aus dem Koma aufwacht, sind gering. Egal ...« Anton verlagerte das Gewicht wieder auf das andere Bein, ihr musternder Blick war auf die Dauer unangenehm. »Bis dahin müssen wir auf ihn aufpassen.«
Anton Mittet verließ sie mit einem Gefühl der Niederlage. Er ging die Treppe hinunter zur Rezeption und trat nach draußen in den Herbstabend. Als er sich auf dem Parkplatz in sein Auto setzte, klingelte sein Handy.
Es war die Einsatzzentrale.
»Mord im Maridalen«, sagte Null eins. »Ich weiß, dass Sie eigentlich für heute fertig sind, aber die brauchen da oben dringend Hilfe bei der Absicherung des Tatorts. Und da Sie ohnehin schon Uniform tragen ...«
»Wie lange?«
»Sie werden in spätestens drei Stunden abgelöst, allerspätestens.«
Anton war überrascht. Eigentlich unternahmen sie zurzeit alle nur erdenklichen Anstrengungen, um Überstunden zu vermeiden. Die Kombination aus korrekter Regelauslegung und begrenztem Budget ließ normalerweise keine praktische Lösung zu. Also musste dieser Mord etwas Besonderes sein, vermutete er. Hoffentlich war das Opfer kein Kind.
»Okay«, sagte Anton Mittet.
»Ich schicke Ihnen die GPS -Koordinaten.«
Das war eine Neuerung. Durch das GPS mit der Detailkarte vom Großraum Oslo und den aktiven Sender konnte die Einsatzzentrale jeden sofort orten. Vermutlich hatten sie deshalb ihn angerufen. Er war am nächsten.
»Gut«, sagte Anton. »Drei Stunden.«
Laura war schon im Bett, aber sie mochte es, wenn er nach der Arbeit gleich nach Hause kam, weshalb er ihr eine SMS schickte, bevor er sich ins Auto setzte und in Richtung Maridalsvannet fuhr.
Anton brauchte kein GPS . An der Einfahrt des Ullevålseterveien standen bereits vier Polizeiwagen und dahinter wies ihm das orangeweiße Absperrband den Weg.
Anton nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und ging zu dem Beamten, der an der Absperrung stand. Im Wald huschten Lichter hin und her, und ein Teil des Weges war von den festmontierten Scheinwerfern der Kriminaltechniker hell erleuchtet, bei denen er immer an Filmaufnahmen denken musste. Eine gar nicht so abwegige Assoziation, denn seit neuestem machten sie nicht nur Fotos, sondern filmten das Opfer und den Tatort auch mit einer HD -Videokamera, um auch nachträglich noch den Tatort absuchen und verschiedene Bereiche, die ihnen zuvor nicht als relevant erschienen waren, einzoomen zu können.
»Was ist passiert?«, fragte er den Kollegen, der mit vor der Brust verschränkten Armen zitternd vor der Absperrung stand. »Mord.« Die Stimme des Mannes war belegt, und seine rotgeränderten Augen unterstrichen die Blässe seines Gesichts. »Das habe ich gehört. Wer leitet den Einsatz?« »Die Kriminaltechnik. Lønn.«
© 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Prolog
Sie lag hinter der Tür und schlief.
Der Eckschrank roch im Innern nach altem Holz, Pulver und Waffenöl. Schien die Sonne durch das Fenster des Raums, fiel ein dünner Streifen Licht durch das Schlüsselloch und ließ die Pistole auf dem mittleren Brett matt aufblitzen. Es war eine russische Odessa, eine Kopie der etwas bekannteren Stetschkin-Pistole.
Die Waffe hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Sie war mit den Kulaken von Litauen nach Sibirien gezogen, war zwischen den verschiedenen Hauptquartieren der Urkas in Südsibirien hin und her gewandert, hatte einem Ataman gehört ¬ einem Anführer der Kosaken, der mit seiner Odessa in der Hand von der Polizei getötet worden war ¬, bevor sie schließlich in den Besitz eines waffensammelnden Gefängnisdirektors in Tagil gelangt war. Zu guter Letzt war die hässliche, kantige Maschinenpistole von Rudolf Asajev, der vor seinem Verschwinden den Osloer Drogenmarkt an sich gerissen und mit seinem neuen Opioid Violin ein Monopol aufgebaut hatte, nach Norwegen gebracht worden. Und hier befand die Waffe sich noch immer, genauer gesagt im Holmenkollveien in Oslo, im Haus von Rakel Fauke. Das Magazin der Odessa umfasste zwanzig Kugeln des Kalibers Makarov 9x18 mm, und sie schoss sowohl Einzelschüsse als auch Salven. Jetzt waren noch zwölf Kugeln im Magazin. Drei Patronen waren für Kosovo-Albaner verwendet worden, die Asajev Konkurrenz auf dem Drogenmarkt gemacht hatten, doch nur eine davon hatte Fleisch zu schmecken bekommen.
Zwei weitere Schüsse hatten Gusto Hanssen getötet, einen jungen Dieb und Dealer, der Geld und Drogen von Asajev unterschlagen hatte. Die letzten drei Kugeln waren erst vor kurzem abgefeuert worden, die Pistole roch noch immer danach. Sie hatten den früheren Polizisten Harry Hole, der im Mordfall Gusto Hanssen ermittelte, in Brust und Kopf getroffen, am gleichen Tatort, in der Hausmanns gate 92.
Die Polizei hatte den Hanssen-Fall noch nicht gelöst. Der 18-jährige Junge, der zuerst festgenommen worden war, musste wieder auf freien Fuß gesetzt werden, unter anderem weil es der Polizei nicht gelungen war, ihn mit der Mordwaffe in Verbindung zu bringen. Dieser Junge hieß Oleg Fauke. Er schrak jede Nacht aus dem Schlaf auf und starrte ins Dunkle, weil er wieder und wieder die Schüsse hörte. Nicht die, mit denen er Gusto getötet hatte, sondern die anderen, die er auf den Polizisten abgefeuert hatte, der in seiner Jugend so etwas wie ein Vater für ihn gewesen war. Harry Hole. Von dem er sich gewünscht hatte, dass er seine Mutter Rakel heiratete. Harrys Blick brannte vor Oleg im Dunkeln, und die Gedanken des Jungen wanderten immer wieder zu der Pistole im Eckschrank, die er niemals wiedersehen wollte. Die niemand je wiedersehen durfte. Die für alle Ewigkeiten dort drinnen schlafen sollte.
Er lag hinter der Tür und schlief.
Das bewachte Krankenhauszimmer roch nach Medizin und Farbe. Neben dem Bett stand ein Monitor, der jeden Herzschlag aufzeichnete.
Isabelle Skøyen, Sozialsenatorin im Osloer Rathaus, und Mikael Bellman, der frisch ernannte Polizeipräsident, hofften, dass sie ihn niemals wiedersehen müssten.
Dass niemand ihn je wiedersah.
Dass er für alle Ewigkeit dort drinnen schlief.
TEIL I
Kapitel 1
Ein langer, spätsommerlicher Septembertag ging zu Ende.
Das Licht verwandelte den Oslofjord in geschmolzenes Silber, und die Hügel ringsherum, die bereits den nahenden Herbst ankündigten, glühten in warmen Farben. Es war einer dieser Tage, an denen die Osloer darauf schworen, dass sie diese Stadt niemals, niemals verlassen würden. Die Sonne ging langsam hinter dem Ullern unter, und die letzten Strahlen strichen flach über die Landschaft und fielen auf niedrige, bescheidene Mietshäuser, die noch die ärmlichen Ursprünge der Stadt erkennen ließen, auf toprenovierte Penthousewohnungen mit Terrassen, von denen fast das Öl tropfte, welches das Land ganz plötzlich zu einem der reichsten der Welt gemacht hatte, und auf die Junkies am oberen Ende des Stensparks. Die Stadt war klein und wohlgeordnet, und doch gab es dort mehr Drogentote als in anderen europäischen Städten, die achtmal größer waren. Das Licht fiel auf Gärten mit Trampolinen, die mit Netzen gesichert waren und auf denen nie mehr als drei Kinder gleichzeitig hüpften, weil dies so in der Gebrauchsanweisung stand. Und auf die bewaldeten Hügel, die den Osloer Kessel, wie er genannt wurde, einrahmten. Die Sonne konnte sich noch nicht von der Stadt trennen und streckte ihre Strahlenfinger aus, als wollte sie den Abschied in die Länge ziehen.
Der Tag hatte kalt und klar begonnen, und das Licht war fast wie in einem Operationssaal gewesen. Im Laufe des Tages waren die Temperaturen gestiegen, der Himmel war tiefblau geworden, und die Luft hatte die angenehme Stofflichkeit bekommen, die den September zum schönsten Monat des Jahres machte. Und als die Dämmerung sich weich und vorsichtig über die Stadt legte, duftete es im Villenviertel an den Hängen hinauf zum See Maridalsvannet nach Äpfeln und sonnenwarmen Kiefernwäldern.
Erlend Vennesla näherte sich dem höchsten Punkt der letzten Steigung. Er spürte die Milchsäure in seinen Muskeln, konzentrierte sich aber weiter darauf, vertikal und mit leicht nach innen zeigenden Knien seine Klickpedale zu treten. Die richtige Technik war wichtig. Erst recht, wenn man müde wurde und das Hirn plötzlich Lust verspürte, die Position zu ändern, um weniger erschöpfte, aber eben auch weniger effektive Muskeln zu belasten. Er spürte, wie der Fahrradrahmen jedes Watt, das er trat, absorbierte und ausnutzte, wie er beschleunigte, wenn er einen größeren Gang einlegte, sich aufrichtete und im Stehen fuhr, um die Frequenz beizubehalten, etwa neunzig Tritt pro Minute. Er sah auf seine Pulsuhr. Hundertachtundsechzig. Dann richtete er das Licht seiner Stirnlampe auf das am Lenker befestigte GPS , das über eine Detailkarte des Großraums Oslo und einen aktiven Sender verfügte. Das Fahrrad hatte inklusive Sonderausstattung mehr gekostet, als ein frisch pensionierter Kriminalbeamter sich eigentlich leisten konnte. Aber jetzt, wo das Leben andere Herausforderungen bot, war es wichtig, sich in Form zu halten.
Weniger Herausforderungen, wenn er ehrlich war.
Die Milchsäure biss immer fester in seine Schenkel und Waden, aber der Schmerz weckte bereits die Vorfreude auf das Fest der Endorphine, das auf ihn wartete, wenn er es geschafft hatte. Die mürben Muskeln. Das gute Gewissen. Das Bier auf dem Balkon gemeinsam mit seiner Frau, vorausgesetzt, die Temperaturen gingen nach Sonnenuntergang nicht gleich wieder so drastisch in den Keller.
Und dann war er oben. Die Straße wurde flacher, und vor ihm lag der See Maridalsvannet. Er ließ das Rad rollen. Mit einem Mal war er auf dem Land. Es war schon absurd, dass man nach fünfzehn Minuten schnellem Radfahren aus dem Zentrum einer europäischen Hauptstadt plötzlich von Feldern, Höfen und Wald umgeben war, durch dessen abendliches Dunkel zahllose Wege führten. Der Schweiß ließ seine Kopfhaut unter dem koksgrauen Bell-Fahrradhelm jucken, der so viel gekostet hatte wie das Fahrrad, das er seiner Enkelin Line Marie zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte. Aber Erlend Vennesla behielt den Helm auf. Die meisten tödlichen Fahrradunfälle waren auf Kopfverletzungen zurückzuführen.
Er sah auf seine Pulsuhr. Hundertfünfundsiebzig. Hundertsiebenundsiebzig. Ein willkommener, leichter Windhauch trug entfernten Jubel aus der Stadt zu ihm nach oben. Das musste aus dem Ullevål-Stadion kommen, in dem an diesem Abend ein wichtiges Länderspiel lief, Slowakei oder Slowenien, aber Erlend Vennesla stellte sich einen Moment lang vor, der Jubel gelte ihm. Es war eine Weile her, dass ihm zuletzt applaudiert worden war. Vermutlich war das bei seiner Verabschiedung im Hauptsitz des Kriminalamts oben in Bryn gewesen. Es hatte Sahnekuchen gegeben, und sein Chef, Mikael Bellman, der seitdem die Karriereleiter immer weiter nach oben geklettert war, hatte ihm zu Ehren eine Rede gehalten. Erlend hatte den Applaus entgegengenommen, alle Blicke erwidert, sich bedankt und gespürt, wie sein Hals sich zusammengezogen hatte, als er, ganz den Traditionen des Kriminalamts entsprechend, seine einfache, kurze und auf Tatsachen basierende Dankesrede gehalten hatte. Als Ermittler hatte er seine Höhen und Tiefen erlebt, wobei ihm die ganz großen Fehler erspart geblieben waren. Auf jeden Fall soweit er wusste, ganz sicher konnte man sich ja nie sein. Ein paar Fragen waren nie endgültig beantwortet worden. Fragen, auf die man jetzt, da die DNA-Analysetechnik so weit fortgeschritten war, dass die Polizeileitung angedeutet hatte, ein paar alte Fälle wieder aufrollen zu wollen, Antworten zu bekommen riskierte. Unerwartete Antworten. Ergebnisse. Solange es sich um ungeklärte Fälle handelte, war das natürlich in Ordnung, aber Erlend verstand nicht, wieso man Ressourcen darauf verwenden wollte, in alten, längst aufgeklärten und erledigten Fällen herumzuwühlen.
Trotz des Lichtes der Straßenlaternen wäre er fast an dem Holzschild vorbeigefahren, das in den Wald zeigte. Da war es. Genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Er bog von der Straße ab, kam auf einen weichen Waldweg und fuhr so langsam, wie es ging, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, weiter. Der Lichtkegel seiner Stirnlampe, die er außen auf dem Helm angebracht hatte, schweifte über den Weg und blieb an den dunklen Kiefern auf beiden Seiten hängen. Schatten huschten vor ihm her, ängstlich und scheu, verwandelten sich und verschwanden im Dickicht. Genau so hatte er es sich vorgestellt, als er sich in ihre Situation zu versetzen versucht hatte. Rennend, mit einer Lampe in der Hand, auf der Flucht, eingesperrt und vergewaltigt, drei lange Tage.
Als Erlend Vennesla das Licht sah, das in diesem Moment vor ihm eingeschaltet wurde, dachte er für den Bruchteil einer Sekunde, dass es ihre Taschenlampe war, dass sie wieder auf der Flucht war und er auf einem Motorrad saß und ihr immer näher kam. Das Licht vor Erlend flackerte, bevor es auf ihn gerichtet wurde. Er blieb stehen, stieg vom Rad ab und richtete die Stirnlampe auf seine Pulsuhr. Unter hundert. Nicht schlecht.
Er löste den Kinnriemen, zog den Helm ab und kratzte sich am Kopf. Mein Gott, wie gut das tat. Dann schaltete er die Stirnlampe aus, hängte den Helm an die Lenkstange und schob sein Fahrrad auf das Licht der Taschenlampe zu. Der baumelnde Helm stieß gegen sein Handgelenk.
Als das Licht nach oben zuckte, blieb er stehen. Die hellen Strahlen blendeten ihn. Und geblendet dachte er, dass er doch noch ziemlich keuchte, erstaunlich, bei dem niedrigen Puls. Er ahnte eine Bewegung hinter dem großen, zitternden Kreis aus Licht. Dann ging ein Pfeifen durch die Luft und im selben Moment schoss ihm durch den Kopf, dass er den Helm nicht hätte absetzen sollen. Die meisten tödlichen Fahrradunfälle ...
Der Gedanke geriet ins Stocken, die Zeit hakte, die Bildleitung wurde für einen Augenblick unterbrochen.
Erlend Vennesla starrte überrascht nach vorn und spürte einen warmen Schweißtropfen über seine Stirn laufen. Er sprach, aber seine Worte ergaben keinen Sinn, als gäbe es einen Kopplungsfehler zwischen Hirn und Mund. Wieder hörte er das leise Pfeifen. Dann nichts mehr. Alle Geräusche waren weg, nicht einmal seinen eigenen Atem hörte er noch. Und er bemerkte, dass er kniete und das Fahrrad langsam in den Graben kippte. Vor ihm tanzte das gelbe Licht, verschwand aber, als die Schweißtropfen seine Nasenwurzel erreichten, ihm in die Augen flossen und ihm die Sicht nahmen. Erst jetzt begriff er, dass das kein Schweiß war.
Der dritte Schlag fühlte sich an, als würde ein Eiszapfen durch seinen Kopf in seinen Hals, ja bis in seinen Körper getrieben. Alles gefror.
Ich will nicht sterben, dachte er und versuchte, schützend einen Arm zu heben, doch er konnte sich nicht bewegen, nicht ein Glied, er war gelähmt.
Den vierten Schlag registrierte er nicht mehr, aber aus dem Geruch der nassen Erde schloss er, dass er inzwischen am Boden lag. Er blinzelte mehrmals und konnte plötzlich auf einem Auge wieder sehen. Direkt vor sich erkannte er ein paar große, dreckige Stiefel im Schlamm. Die Absätze lösten sich vom Boden, dann die ganzen Stiefel. Und landeten wieder. Dieser Prozess wiederholte sich, erst gingen die Absätze hoch, dann die Sohlen. Als ob sich derjenige, der schlug, vom Boden abstieß, um noch mehr Kraft in seine Schläge legen zu können. Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, war, dass er nicht vergessen durfte, wie seine Enkelin hieß, er musste ihren Namen behalten.
Kapitel 2
Anton Mittet nahm den halbvollen Plastikbecher aus der kleinen roten Nespresso-D-290-Maschine, bückte sich und stellte ihn auf den Boden. Einen Tisch gab es nicht. Dann drehte der Polizist die längliche Schachtel um, fischte eine weitere Kapsel heraus, überprüfte automatisch, ob die dünne Metallfolie des Deckels auch nicht perforiert war, und steckte sie in die Espressomaschine. Er stellte einen leeren Plastikbecher unter den Hahn und drückte auf einen der leuchtenden Knöpfe.
Während die Maschine zu prusten und stöhnen begann, sah er auf die Uhr. Es war bald Mitternacht. Wachablösung. Er wurde zu Hause erwartet, wollte die Neue aber trotzdem erst noch in ihre Aufgabe einweisen, schließlich kam seine Kollegin direkt von der Polizeischule. Er glaubte sich zu erinnern, dass sie Silje hieß. Anton Mittet starrte auf den Hahn. Hätte er auch für einen männlichen Kollegen Kaffee gemacht? Er wusste es nicht, aber eigentlich war es ihm auch egal, er dachte schon lange nicht mehr über solche Fragen nach. Es war so still geworden, dass er die letzten, klaren Tropfen in den Plastikbecher fallen hörte. Eigentlich hatte das, was am Schluss kam, weder Farbe noch Geschmack, aber es war wichtig, alles mitzunehmen, schließlich würde es für die junge Frau eine lange Nacht werden. Ohne Gesellschaft, ohne Abwechslung, einzig mit der Aufgabe, an die kahlen farblosen Betonwände des Reichshospitals zu starren. Wahrscheinlich war er deshalb auf den Gedanken gekommen, vor seinem Nachhauseweg noch einen Kaffee mit ihr zu trinken. Er nahm die beiden Becher und ging zurück. Seine Schritte hallten von den Wänden wider. Er passierte verschlossene Türen, hinter denen nichts anderes war als weitere kahle Wände, das hatte er überprüft. Mit dem Reichshospital hatten die Norweger für die Zukunft geplant, wohl wissend, dass die Bevölkerungszahl wuchs und es irgendwann mehr ältere, kränkere und anspruchsvollere Menschen geben würde. Man hatte Weitsicht gezeigt, wie die Deutschen mit ihren Autobahnen und die Schweden mit ihren Flughäfen. Aber hatten die wenigen Autofahrer, die in den dreißiger Jahren in einsamer Majestät über die mastodontischen Betontrassen durch das bäuerliche Deutschland gefahren waren, oder die schwedischen Passagiere, die in den sechziger Jahren durch die überdimensionierten Hallen Arlandas gelaufen waren, auch das Gefühl gehabt, dass es spukte? Dass irgendetwas umging, obwohl alles neu und unbesudelt war und noch niemand bei einem Verkehrsunfall oder Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war? Dass das Licht der Scheinwerfer jeden Augenblick eine Familie am Straßenrand einfangen konnte, die ausdruckslos ins Licht starrte? Blutig, blass, der Vater durchbohrt, die Mutter mit verdrehtem Kopf und das Kind mit auf einer Seite abgerissenem Arm und Bein? Dass durch den Plastikvorhang des Gepäckbandes in der Ankunftshalle von Arlanda plötzlich verbrannte, noch immer glühende Leichen kamen, die mit dem Gummi verschmolzen und aus deren weit aufgerissenen, dampfenden Mündern stumme Schreie drangen? Keiner der Ärzte hatte ihm sagen können, wofür dieser Flügel verwendet werden sollte, sicher war nur, dass hinter diesen Türen einmal Menschen sterben würden. Die unsichtbaren Körper mit ihren ruhelosen Seelen waren längst da.
Anton bog um eine Ecke, und ein neuer Flur erstreckte sich vor ihm, notdürftig beleuchtet, ebenso kahl und weiß und sich symmetrisch nach hinten verjüngend, so dass die uniformierte, junge Frau auf dem Stuhl am Ende des Flurs wie ein Miniaturbild auf einer großen weißen Leinwand aussah.
»Hier, ich habe Ihnen einen Kaffee mitgebracht«, sagte er, als er vor ihr stand. War sie zwanzig? Zweiundzwanzig?
»Danke, aber ich habe selbst welchen dabei«, antwortete sie und nahm eine Thermoskanne aus dem kleinen Rucksack, den sie neben ihren Stuhl gestellt hatte. In ihrer Stimme war eine kaum hörbare Melodie, die Reste eines nördlichen Dialekts?
»Der hier ist besser«, sagte er noch immer mit ausgestreckter Hand.
Sie zögerte und nahm den Becher.
»Und gratis«, sagte Anton, legte die Hand hinter den Rücken und rieb diskret die heißen Fingerkuppen an dem kalten Stoff der Jacke. »Die Maschine ist nur für uns, sie steht hinten im Flur beim ...«
»Ich weiß, ich habe sie gesehen, als ich gekommen bin«, sagte sie. »Aber in der Dienstanweisung steht, dass wir die Tür des Patienten unter keinen Umständen aus den Augen lassen sollen, weshalb ich mich selbst versorgt habe.«
Anton Mittet nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Richtig gedacht, aber es führt nur ein Flur hierher. Wir sind im dritten Stock und zwischen hier und der Kaffeemaschine gibt es keine Türen, die zu anderen Treppen oder Eingängen führen. Es ist unmöglich, an uns vorbeizukommen, selbst wenn wir Kaffee holen.«
»Gut zu wissen, ich werde mich trotzdem an die Vorschrift halten.« Sie lächelte ihn kurz an, nahm dann aber einen Schluck aus dem Plastikbecher, als wollte sie damit die unausgesprochene Zurechtweisung abmildern.
Anton fühlte sich ein wenig auf den Schlips getreten und wollte gerade sagen, dass man mit genügend Erfahrung durchaus auch einmal selbständig denken durfte, doch bevor er sich die Worte richtig zurechtgelegt hatte, ging sein Blick nach hinten in den Flur. Eine weiße Gestalt schwebte auf sie zu. Er hörte, dass Silje sich erhob. Die Gestalt nahm klarere Formenan und wurde zu einer üppigen blonden Frau im Kittel des Pflegepersonals. Er wusste, dass sie Nachtschicht hatte und morgen Abend freihaben würde.
»Guten Abend«, sagte die Schwester mit verschmitztem Lächeln, hielt zwei Spritzen hoch, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke.
»Moment«, sagte Silje und trat vor. »Ich muss Sie bitten, mich einen Blick auf Ihr Schild werfen zu lassen. Und könnten Sie mir das heutige Passwort nennen?«
Die Schwester sah Anton überrascht an.
»Außer mein Kollege hat Sie schon überprüft«, sagte Silje.
Anton nickte: »Geh nur rein, Mona.«
Die Schwester öffnete die Tür, und Anton blickte ihr nach. In dem schwach beleuchteten Raum konnte er die Apparate, die um das Bett herumstanden, und die Zehen des Mannes erkennen, die am Fußende unter der Bettdecke hervorragten. Der Patient war so groß, dass sie ein längeres Bett hatten beschaffen müssen. Die Tür schloss sich.
»Gut«, sagte Anton und lächelte Silje an, sah aber gleich, dass seine Kollegin das nicht mochte. Fühlte sie sich benotet? Hielt sie ihn für einen Chauvinisten? Aber verdammt, sie war ja noch nicht mal mit der Ausbildung fertig, und bei den ersten Praxiseinsätzen war es doch wohl in Ordnung, von erfahrenen Kollegen zu lernen. Er blieb stehen und wippte auf den Füßen, unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte.
Sie kam ihm zuvor.
»Keine Sorge, ich habe die Dienstanweisung studiert. Und Sie werden doch wohl von Ihrer Familie erwartet.«
Er setzte den Becher an die Lippen. Was wusste sie sonst noch über ihn? War das eine Andeutung, eine Anspielung auf Mona und ihn? Wusste sie etwa, dass er sie ein paarmal abends nach der Schicht nach Hause gefahren hatte und dass es dabei nicht geblieben war?
»Der Bärchenaufkleber auf Ihrer Tasche«, erklärte sie lächelnd.
Er nahm einen großen Schluck und räusperte sich. »Ich habe Zeit, und das ist Ihre erste Wache. Vielleicht sollten Sie die Gelegenheit für Fragen nutzen, wenn Sie irgendetwas wissen wollen. Es steht nicht immer alles in der Dienstanweisung, wissen Sie.« Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Hoffte, dass sie den Text zwischen den Zeilen verstand.
»Wie Sie wollen«, sagte sie mit dem irritierenden Selbstvertrauen, das man in dieser Form nur mit Anfang zwanzig hatte. »Der Patient da drinnen, wer ist das eigentlich?«
»Das weiß ich auch nicht. In der Dienstanweisung steht, dass er anonym ist und es auch bleiben soll.«
»Aber Sie wissen etwas?«
»Tue ich das?«
»Mona. Sie duzen niemanden, mit dem Sie nicht auch länger geredet haben. Was hat sie Ihnen erzählt?«
Anton Mittet sah sie an. Sie war recht hübsch, aber ohne Wärme oder Charme und für seinen Geschmack zu dünn. Ihre Haare waren ungekämmt, und ihre Oberlippe sah aus, als würde sie von zu kurzen Sehnen nach oben gezogen, so dass zwei ungleiche Schneidezähne zu sehen waren. Aber sie strahlte Jugend und Frische aus. Und in ihrer schwarzen Uniform steckte ein straffer, austrainierter Körper, das roch er förmlich. Sollte er ihr sagen, was er wusste? Weil das seine Chancen, bei ihr zu landen, um null Komma null eins Prozent erhöhte oder weil Frauen wie Silje im Laufe von nur fünf Jahren zur leitenden Hauptkommissarin oder Spezialermittlerin und damit zu seiner Vorgesetzten avancierten? Er würde wegen der Sache in Drammen für immer und ewig einfacher Polizist bleiben. Der Vorfall bremste seine Karriere wie eine unüberwindbare Mauer, war wie ein Fleck, der nicht wegzuwischen war.
»Mordversuch«, sagte Anton. »Hat viel Blut verloren, hat bei der Einlieferung kaum noch Puls gehabt und liegt seither im Koma.«
»Und warum wird er bewacht?«
Anton zuckte mit den Schultern. »Ein potentieller Zeuge. Wenn er überlebt.«
»Und was weiß er?«
»Ach, irgendwelche Drogensachen. Aber auf hohem Niveau. Wenn er aufwacht, kann er mit seinen Informationen vermutlich wichtige Leute im Osloer Heroingeschäft zu Fall bringen. Und natürlich sagen, wer ihn zu töten versucht hat.«
»Die glauben also, dass der Täter zurückkommt, um seinen Job zu Ende zu bringen?«
»Wenn bekannt wird, dass er noch am Leben ist und wo man ihn finden kann: Ja. Vermutlich sind wir deshalb hier.«
Sie nickte. »Und? Wird er überleben?«
Anton schüttelte den Kopf. »Sie gehen davon aus, ihn noch ein paar Monate am Leben erhalten zu können, aber die Chancen, dass er jemals wieder aus dem Koma aufwacht, sind gering. Egal ...« Anton verlagerte das Gewicht wieder auf das andere Bein, ihr musternder Blick war auf die Dauer unangenehm. »Bis dahin müssen wir auf ihn aufpassen.«
Anton Mittet verließ sie mit einem Gefühl der Niederlage. Er ging die Treppe hinunter zur Rezeption und trat nach draußen in den Herbstabend. Als er sich auf dem Parkplatz in sein Auto setzte, klingelte sein Handy.
Es war die Einsatzzentrale.
»Mord im Maridalen«, sagte Null eins. »Ich weiß, dass Sie eigentlich für heute fertig sind, aber die brauchen da oben dringend Hilfe bei der Absicherung des Tatorts. Und da Sie ohnehin schon Uniform tragen ...«
»Wie lange?«
»Sie werden in spätestens drei Stunden abgelöst, allerspätestens.«
Anton war überrascht. Eigentlich unternahmen sie zurzeit alle nur erdenklichen Anstrengungen, um Überstunden zu vermeiden. Die Kombination aus korrekter Regelauslegung und begrenztem Budget ließ normalerweise keine praktische Lösung zu. Also musste dieser Mord etwas Besonderes sein, vermutete er. Hoffentlich war das Opfer kein Kind.
»Okay«, sagte Anton Mittet.
»Ich schicke Ihnen die GPS -Koordinaten.«
Das war eine Neuerung. Durch das GPS mit der Detailkarte vom Großraum Oslo und den aktiven Sender konnte die Einsatzzentrale jeden sofort orten. Vermutlich hatten sie deshalb ihn angerufen. Er war am nächsten.
»Gut«, sagte Anton. »Drei Stunden.«
Laura war schon im Bett, aber sie mochte es, wenn er nach der Arbeit gleich nach Hause kam, weshalb er ihr eine SMS schickte, bevor er sich ins Auto setzte und in Richtung Maridalsvannet fuhr.
Anton brauchte kein GPS . An der Einfahrt des Ullevålseterveien standen bereits vier Polizeiwagen und dahinter wies ihm das orangeweiße Absperrband den Weg.
Anton nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und ging zu dem Beamten, der an der Absperrung stand. Im Wald huschten Lichter hin und her, und ein Teil des Weges war von den festmontierten Scheinwerfern der Kriminaltechniker hell erleuchtet, bei denen er immer an Filmaufnahmen denken musste. Eine gar nicht so abwegige Assoziation, denn seit neuestem machten sie nicht nur Fotos, sondern filmten das Opfer und den Tatort auch mit einer HD -Videokamera, um auch nachträglich noch den Tatort absuchen und verschiedene Bereiche, die ihnen zuvor nicht als relevant erschienen waren, einzoomen zu können.
»Was ist passiert?«, fragte er den Kollegen, der mit vor der Brust verschränkten Armen zitternd vor der Absperrung stand. »Mord.« Die Stimme des Mannes war belegt, und seine rotgeränderten Augen unterstrichen die Blässe seines Gesichts. »Das habe ich gehört. Wer leitet den Einsatz?« »Die Kriminaltechnik. Lønn.«
© 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
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Autoren-Porträt von Jo Nesbo
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Sein Roman Der Schneemann wird von Martin Scorsese verfilmt. Jo Nesbø lebt in Oslo.
Autoren-Interview mit Jo Nesbo
Vor einiger Zeit erreichte uns die Nachricht, Martin Scorsese ist Regisseur und Produzent der Hollywood-Verfilmung von Schneemann. Das muss doch eine große Ehre sein?Jo Nesbø: Das ist eine ganz große Ehre. Schon in jungen Jahren war ich ein Fan von ihm, er gehört zu den Regisseuren, die ich am meisten schätze. Entsprechend war meine Reaktion, als ich hörte, er ist an Bord.
Kaum ein Leser der Harry-Hole-Serie wird das Ende von Die Larve vergessen. Jeder hat sich gefragt, wie es um den Kommissar steht. Ist er tot? Lebt er?
Jo Nesbø: Ich habe Die Larve und Koma zur selben Zeit entwickelt. Es war tatsächlich fast wie Die Larve 1 und 2. Aber dann habe ich festgestellt, dass ich zwei völlig verschiedene Geschichten erzähle, und sie deutlicher voneinander getrennt. Trotzdem hat das Ende von Die Larve einen großen Einfluss auf Koma. Der Leser möchte natürlich wissen, was aus Harry geworden ist.
Sie haben Harry Hole immer wieder ein bitteres Ende vorhergesagt. Was erwartet ihn in Koma?
Jo Nesbø: Es ist natürlich schon so: Dieses Buch könnte das letzte Buch für Harry sein. Koma wäre ein guter Abschluss der Serie. Aber es muss nicht das Ende sein.
Rakel ist Harry Holes große Liebe, die beiden haben aber kein einfaches Verhältnis. Werden wir viel von ihr in Koma sehen?
Jo Nesbø: Rakel und Oleg sind mehr und mehr ein Teil von Harrys Leben geworden, er hat sie gewählt. Er hat sich entschieden, Vater zu sein, obwohl er noch nicht einmal der leibliche Vater von Oleg ist. Das sagt viel über seinen Charakter, er zieht die Liebe dem Hass vor.
Wie kam es zu dieser Veränderung bei Harry Hole?
Jo Nesbø: Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass man an einem bestimmten Punkt im Leben feststellt, dass man irgendwann sterben
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wird und dass die Familie, die Kinder die einzige Möglichkeit sind, dem etwas entgegenzusetzen. Harry war immer ein Einzelgänger, hätte die Einsamkeit immer der Gesellschaft anderer vorgezogen, aber in dieser Hinsicht hat er sich völlig verändert.
Worum geht es in Koma?
Jo Nesbø: Mit diesem Buch habe ich mich gefragt: Was geht wirklich in einem Kommissar vor, der mit Vergewaltigung konfrontiert wird? Harry kann sich diesem Sog fast nicht entziehen, dieser Männerphantasie, obwohl er gleichzeitig absolut davon abgestoßen ist.
Wird der aufmerksame Leser in Koma wieder so etwas finden wie die von Ihnen erdachte Tatwaffe in Leopard?
Jo Nesbø: Nicht dass ich wüsste.
Haben Sie und Ihre Hauptfigur viel gemeinsam?
Jo Nesbø: Wir sind beide romantisch, melancholisch und leben einen Mix aus Chaos und Disziplin.
Wie stark ist Ihre Verbindung mit Harry Hole?
Jo Nesbø: Anfangs habe ich gedacht, er und ich wären vollkommen verschieden. Inzwischen weiß ich, dass das nicht stimmt. Er ist zwar nicht mein Alter Ego und wir sind auch völlig verschiedene Menschen, trotzdem ist viel von mir in Harry eingeflossen. Sagen wir mal 70 Prozent. Das Beste von mir. Na ja, und auch die nicht ganz so guten Seiten.
Träumen Sie manchmal von Harry Hole?
Jo Nesbø: Nein, nie. Gott sei Dank.
Worum geht es in Koma?
Jo Nesbø: Mit diesem Buch habe ich mich gefragt: Was geht wirklich in einem Kommissar vor, der mit Vergewaltigung konfrontiert wird? Harry kann sich diesem Sog fast nicht entziehen, dieser Männerphantasie, obwohl er gleichzeitig absolut davon abgestoßen ist.
Wird der aufmerksame Leser in Koma wieder so etwas finden wie die von Ihnen erdachte Tatwaffe in Leopard?
Jo Nesbø: Nicht dass ich wüsste.
Haben Sie und Ihre Hauptfigur viel gemeinsam?
Jo Nesbø: Wir sind beide romantisch, melancholisch und leben einen Mix aus Chaos und Disziplin.
Wie stark ist Ihre Verbindung mit Harry Hole?
Jo Nesbø: Anfangs habe ich gedacht, er und ich wären vollkommen verschieden. Inzwischen weiß ich, dass das nicht stimmt. Er ist zwar nicht mein Alter Ego und wir sind auch völlig verschiedene Menschen, trotzdem ist viel von mir in Harry eingeflossen. Sagen wir mal 70 Prozent. Das Beste von mir. Na ja, und auch die nicht ganz so guten Seiten.
Träumen Sie manchmal von Harry Hole?
Jo Nesbø: Nein, nie. Gott sei Dank.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jo Nesbo
- 2013, 618 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4026411312514
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