Lauf, wenn du kannst
Eine Frau, die ihren schrecklichsten Alptraum nach 25 Jahren noch einmal durchlebt. Ein Polizist, dessen Leben aus den Fugen gerät. Ein sadistischer Mörder, der auf Rache sinnt. Und ein entsetzlicher Augenblick. Während sich in der...
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Produktinformationen zu „Lauf, wenn du kannst “
Eine Frau, die ihren schrecklichsten Alptraum nach 25 Jahren noch einmal durchlebt. Ein Polizist, dessen Leben aus den Fugen gerät. Ein sadistischer Mörder, der auf Rache sinnt. Und ein entsetzlicher Augenblick. Während sich in der sogenannten besseren Gesellschaft Bostons das Grauen breit macht, sucht Catherine Rose Gagnon verzweifelt nach einer Möglichkeit, dem Alptraum zu entrinnen. Doch der Tod kennt keine Gnade.
Lese-Probe zu „Lauf, wenn du kannst “
Lauf, wenn du kannst von Lisa GardnerIn der Nacht, als der Anruf kam, hatte er schon eine Fünfzehn-Stunden-Schicht hinter sich. Auf der 93 waren zu viele ungeduldige Fahrer unterwegs, was dazu führte, dass es immer wieder knallte. Die Bäume ragten kahl in den Himmel, die Tage waren kurz, und Weihnachten rückte bedrohlich näher. Außerdem war es lausig kalt. Die unbeschwerte Geselligkeit sommerlicher Grillabende gehörte nun endgültig der Vergangenheit an, und man wanderte wieder allein durch die stillen Straßen der Stadt, wo mürbes Laub raschelnd über die vereisten Gehwege wehte.
Anders als seine Kollegen, die meist über die kurzen, grauen Tage im Februar jammerten, verabscheute Bobby Dodge besonders den November, und die letzten Stunden hatten nicht eben dazu beigetragen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
... mehr
Seine Schicht hatte mit einem unbedeutenden Blechschaden angefangen, gefolgt von zwei weiteren Auffahrunfällen, verursacht von Gaffern, die in nördlicher Richtung unterwegs waren. Vier Stunden Formularkram später hatte Bobby eigentlich geglaubt, das Schlimmste ausgestanden zu haben. Doch dann, am frühen Nachmittag, einer Zeit, zu der selbst auf der für ihre Staus berüchtigten 93 normalerweise kaum Verkehr herrschte, waren fünf Wagen ineinander gerast, weil ein Taxifahrer versucht hatte, mit überhöhter Geschwindigkeit gleich vier Spuren auf einmal zu überqueren, was ein gestresster Werbemanager in einem Hummer nicht auf sich sitzen lassen wollte. Der Hummer hatte
den Aufprall weggesteckt wie ein echter Boxweltmeister, während das angerostete Taxi k.o. ging und gleich drei weitere Autos mit ins Verderben riss. Bobby verständigte vier Abschleppunternehmen, fertigte eine Unfallskizze an und nahm schließlich den Werbemanager fest, denn inzwischen hatte sich herausgestellt, dass sich der Mann das mittägliche Geschäftsessen mit ein paar Martinis versüßt hatte.
Eine Festnahme wegen Alkohols am Steuer bedeutete weitere Formulare und außerdem eine Fahrt zum Revier in South Boston (inzwischen mitten im Berufsverkehr, wenn sich niemand mehr, nicht einmal unter dem Auge des Gesetzes, an die Vorfahrtsregeln hielt) und nicht zuletzt eine heftige Auseinandersetzung mit dem Werbemanager selbst, der sich der Gefangennahme widersetzte.
Der Werbemanager war etwa fünfundzwanzig Kilo schwerer als Bobby, verwechselte wie viele Männer, die es mit einem kleineren Gegner zu tun haben, Körpergröße mit kräftemäßiger Überlegenheit und missachtete zudem sämtliche Warnsignale. Nachdem er sich mit der rechten Hand am Türstock festgeklammert hatte, ließ er sich mit seinem ganzen Gewicht nach hinten fallen, offenbar in der Absicht, seinen zarter gebauten Begleiter einfach umzurempeln. Allerdings hatte er seine weitere Vorgehensweise nicht bedacht, da es schlicht-weg unmöglich war, so mir nichts, dir nichts aus einem Revier zu fliehen, in dem es von bewaffneten Polizisten nur so wimmelte. Jedenfalls duckte sich Bobby nach links, streckte den Fuß aus und sah seelenruhig zu, wie der übergewichtige Manager unsanft auf dem Boden landete. Das beeindruckende Gepolter ließ einige Kollegen innehalten, um die kostenlose Darbietung mit einem Applaus zu würdigen.
»Wir sehen uns vor dem Richter, du Arschloch!«, brüllte der betrunkene Manager. »Ich verklage dich, deinen Vorgesetzten und den ganzen beschissenen Staat Massachusetts. Mir gehört dieser Laden. Hast du kapiert? Ich hole mir deine gottverdammte Dienstmarke.«
Bobby zerrte den dicken Mann auf die Füße. Der Werbemanager stieß einen weiteren Schwall von Verwünschungen aus, vermutlich deshalb, weil Bobby ihn in den Daumen kniff. Dann schubste Bobby den Mann in die Arrestzelle und knallte die Tür zu.
»Wenn Sie kotzen müssen, benützen Sie bitte die Toilette«, teilte Bobby ihm mit, weil der Mann inzwischen eine leicht grünliche Gesichtsfarbe angenommen hatte. Der Werbemanager zeigte ihm den Stinkefinger. Im nächsten Moment krümmte er sich zusammen und erbrach sich auf den Fußboden.
Bobby schüttelte den Kopf. »Reicher Schnösel«, murmelte er.
Manche Tage konnte man eben vergessen. Vor allem im November.
Inzwischen war es kurz nach zehn Uhr abends. Der Werbemanager war von seinem überteuerten Anwalt mit einer Kaution freigekauft worden, und die Zelle war mittlerweile gereinigt. Bobbys Schicht, die um sieben Uhr morgens begonnen hatte, war endlich vorbei. Eigentlich hätte er jetzt nach Hause fahren sollen. Susan anrufen. Dafür sorgen, dass er eine Mütze voll Schlaf bekam, bevor um fünf wieder der Wecker klingelte und das ganze Vergnügen von vorne anfing.
Stattdessen jedoch fühlte er sich merkwürdig zappelig und von einer inneren Nervosität getrieben. Und dabei galt er doch sonst als Inbegriff von Ruhe, Vernunft und Gelassenheit.
Also ging Bobby nicht nach Hause, sondern vertauschte die Uniform mit Jeans und einem Flanellhemd und machte sich auf den Weg in seine Stammkneipe.
Im Boston Beer Garden saßen vierzehn Männer am rechteckigen Tresen, rauchten ihre Zigaretten, ein Glas frisch gezapftes Bier vor sich, und stierten in die Fernseher mit Plasmabildschirm. Bobby nickte ein paar Bekannten zu, winkte Carl, den Barmann, heran und ließ sich dann, ein Stück entfernt von den anderen, auf einem Barhocker nieder. Carrie brachte ihm wie immer eine Portion Nachos, Carl servierte ihm persönlich die Cola. »Langer Tag, Bobby?«
»Dasselbe wie immer.«
»Kommt Susan auch noch?«
»Sie hat Probe.«
»Ach ja, das Konzert. In zwei Wochen, richtig?« Carl schüttelte den Kopf. »Schön und begabt. Eins sage ich dir, Bobby, bei der könnte ich schwach werden.«
»Lass das nur nicht Martha hören«, erwiderte Bobby. »Nachdem ich deine Frau beim Bierfass-Schleppen gesehen habe, möchte ich lieber gar nicht wissen, was sie so alles mit einem Nudelholz anstellen könnte.«
»Bei meiner Martha werde ich auch schwach«, beteuerte Carl. »Ansonsten müsste ich nämlich um mein Leben fürchten.«
Carl überließ Bobby seiner Cola und den Nachos. Im Fernseher über dem Tresen meldeten die Nachrichten gerade, in Revere sei es zu einer Krisensituation gekommen. Ein schwer bewaffneter Verdächtiger habe sich in seinem Haus verschanzt und zuvor wahllos auf seine Nachbarn geschossen. Inzwischen habe die Bostoner Polizei ein Sondereinsatzkommando hingeschickt, denn »man wolle kein Risiko eingehen«.
Ja, der November war wirklich ein seltsamer Monat. Die Menschen waren gereizt und wussten ihrem Grauen vor dem bevorstehenden trüben Winter nichts entgegenzusetzen. Selbst Kerle wie Bobby hatten ihre liebe Not, sich nicht von dieser Stimmung anstecken zu lassen.Bobby verspeiste seine Nachos und leerte das Colaglas. Dann bezahlte er. Gerade hatte er es geschafft, sich zu überreden, dass es das Beste war, nach Hause zu fahren, als an seinem Gürtel plötzlich der Piepser losging. Nachdem er rasch den Text auf der Anzeige gelesen hatte, hastete er zur Tür.
Es war ein scheußlicher Tag gewesen. Und nun sah es
ganz danach aus, als wäre er noch lange nicht zu Ende.
Auch Catherine Rose Gagnon war nicht unbedingt eine Freundin des Monats November, selbst wenn ihr Problem eigentlich schon im Oktober angefangen hatte. Am 22. Oktober 1980, um genau zu sein.
Die Luft war warm, und die Sonne hauchte ihr einen heißen Kuss aufs Gesicht, als sie von der Schule nach Hause ging. Sie hatte ihre Bücher im Arm und trug ihre eigens für den Schulanfang gekaufte Lieblingskombination, bestehend aus braunen Kniestrümpfen, einem dunkelbraunen Kordrock und einem langärmeligen goldgelben Oberteil.
Von hinten näherte sich ein Auto. Zunächst fiel es ihr gar nicht auf, doch dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass der blaue Chevy im Schritttempo neben ihr herfuhr. Eine Männerstimme: »Hallo, Kleine, kannst du mir vielleicht helfen? Ich suche einen entlaufenen Hund.« Und dann gab es nichts mehr als Schmerzen, Blut und erstickte Schreie. Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ihre Zähne, wie sie sich in ihre Unterlippe gruben. Gefolgt von endloser Leere.
Später sagte man ihr, es wären achtundzwanzig Tage gewesen. Doch während es andauerte, hatte Catherine nicht die geringste Möglichkeit, das festzustellen. In der Dunkelheit gab es keine Zeit, nur eine Einsamkeit, die sich bis in alle Ewigkeit zu erstrecken schien. Kälte und Toten-
stille, nur davon unterbrochen, wenn er wiederkam. Aber wenigstens geschah dann endlich etwas. Denn es war das Nichts, der nicht abreißen wollende Strom des Nichts, der einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte.
Jäger fanden sie. Am 18. November. Sie bemerkten die Abdeckung aus Sperrholz, stießen mit ihren Gewehren dagegen und hörten zu ihrem Schrecken leise Rufe. Die stolzen Retter befreiten Catherine aus ihrem eins zwanzig mal eins achtzig großen unterirdischen Gefängnis und entließen sie in die frische Herbstluft. Sie sah die Fotos von sich in der Zeitung: gewaltige dunkelblaue Augen, ihr Kopf gleich einem Totenschädel, ihr Körper mager und zusammengekrümmt, sodass er an eine kleine braune Fledermaus erinnerte, die grob ins grelle Sonnenlicht gezerrt worden war.
Die Zeitungen bezeichneten Catherine als »Thanksgiving-Wunder«. Ihre Eltern nahmen sie mit nach Hause. Nachbarn und Verwandte gaben sich die Klinke in die Hand und wiederholten unablässig Sätze wie: »Oh, Gott sei Dank!« und »Gerade noch rechtzeitig vor den Feiertagen!« und »Ach, ist es zu fassen ... !«
Catherine saß nur da und ließ die Gespräche über sich hinwegbranden. Heimlich stibitzte sie Essen von den übervollen Tellern und steckte es in ihre Kleidertaschen. Den Kopf hielt sie gesenkt, die Schultern hatte sie bis zu den Ohren hochgezogen. Sie war noch immer die kleine Fledermaus, und aus unerklärlichen Gründen empfand sie das Licht als aufdringlich.
Weitere Polizisten erschienen. Sie berichtete ihnen von dem Mann und dem Auto. Dann zeigte man ihr Fotos. Sie deutete auf eines. Später-nach Tagen oder Wochen, spielte das eine Rolle? - wurde sie zum Polizeirevier gebracht, betrachtete eine Reihe nebeneinander stehender Männer und deutete feierlich noch einmal mit dem Finger.
Sechs Monate später wurde Richard Umbrio vor Gericht gestellt. Und drei Wochen nach Prozessbeginn trat Catherine in einem schlichten blauen Kleid und polierten Lackschuhen in den Zeugenstand. Ein letztes Mal deutete sie mit dem Finger, und Richard Umbrio wurde für den Rest seines Lebens weggesperrt.
Catherine Rose kehrte mit ihren Eltern nach Hause zurück. Sie aß kaum etwas. Viel lieber steckte sie die Lebensmittel in die Tasche oder hielt sie einfach in der Hand. Sie schlief auch nicht viel, sondern lag in der Dunkelheit, während ihre blinden Fledermausaugen nach etwas suchten, das sie nicht beim Namen nennen konnte. Oft hielt sie sich ganz ruhig, um festzustellen, ob sie atmen konnte, ohne ein Geräusch zu machen.
Manchmal stand ihre Mutter in der Tür, die unruhig zitternden bleichen Hände vor das Schlüsselbein haltend. Nach einer Weile hörte Catherine ihren Vater dann über den Flur hallen. Komm ins Bett, Louise. Sie ruft dich schon, wenn sie dich braucht. Aber Catherine rief nie.
Die Jahre vergingen. Catherine wurde erwachsen, hielt ihre Schultern wieder gerade, ließ sich die Haare wachsen und stellte fest, dass sie eine dunkle und sinnliche Schönheit besaß, die Männer mitten im Gehen innehalten ließ. Sie hatte weiße Haut, schimmerndes schwarzes Haar und riesige dunkelblaue Augen. Die Männer verzehrten sich nach ihr. Und Catherine nutzte sie skrupellos aus. Es war nicht ihre Schuld. Und die Männer konnten auch nichts dafür. Catherine hatte einfach keine Gefühle.
Ihre Mutter starb 1994. Krebs. Bei der Beerdigung stand Catherine am Grab und versuchte zu weinen. Aber ihr Körper war ausgedörrt, und ihre Schluchzer klangen hohl und unecht. Sie ging nach Hause in ihre kahle Wohnung und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Doch manchmal, aus heiterem Himmel, sah sie ihre Mutter wieder in der Tür ihres Zimmers stehen. »Komm ins Bett, Louise. Sie ruft dich schon, wenn sie dich braucht.« Hallo, Kleine ... ich suche einen entlaufenen Hund.
November 1998. Das »Thanksgiving-Wunder« lag nackt und zusammengekrümmt in der weißen Porzellanwanne. Ihr abgemagerter Körper zitterte vor Kälte, und ihre Faust umklammerte das Rasiermesser. Etwas Schreckliches würde geschehen. Eine Dunkelheit, die alles bisher Dagewesene übertraf.
Komm ins Bett, Louise. Sie ruft dich schon, wenn sie dich braucht.
Hallo, Kleine ... Ich suche einen entlaufenen Hund.
Die Klinge, so schlank und leicht in ihrer Hand. Das Gefühl, wie ihre Kante das Handgelenk küsste, so als gehöre das warme, rote Blut, das über ihre Haut rann, einer anderen. Dann läutete das Telefon. Ein einziger Anruf rettete ihr das Leben. Wieder ein »Thanksgiving-Wunder«.
Sie erinnerte sich. Im Hintergrund plärrte der Fernseher: Ein bewaffneter Verdächtiger hat sich in seinem Haus verschanzt, nachdem er mehrfach auf seine Nachbarn geschossen hatte. Ein Sprecher des Bostoner Sondereinsatzkommandos bezeichnete die Lage als höchst brisant und äußerst gefährlich.
Ihr Sohn schluchzte in ihren Armen: »Mommy, Mommy, Mommy.«
Und von unten brüllte ihr Mann: »Ich weiß, was du da treibst, Cat! Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Aber es wird nicht klappen. Damit kommst du nicht durch!« Jimmy stürmte die Treppe hinauf zum Schlafzimmer. Das Telefon hatte Catherine schon einmal gerettet. Nun betete sie, dass es wieder funktionieren würde. »Hallo, hallo, spricht hier die Polizei? Können Sie mich hören? Es geht um meinen Mann. Ich glaube, er hat eine Waffe.«
Seit mittlerweile sechs Jahren gehörte Bobby der Spezialeinheit »Special Tactics and Operations (STOP)« bei der Staatspolizei von Massachusetts an. Mindestens drei Mal im Monat - und grundsätzlich an jedem gottverdammten Feiertag - wurde er alarmiert und war mittlerweile ziemlich sicher, dass ihn nichts mehr überraschen konnte. Doch heute sollte sich das als Irrtum entpuppen.
Er raste durch die Straßen von Boston, bog mit quietschenden Reifen nach rechts in die Park Street ein und fuhr in Richtung der mit einer goldenen Kuppel versehenen Staatskanzlei. Sein Streifenwagen sauste nach links in die Beacon Street und passierte in Windeseile die Common Street und den Public Garden. In letzter Minute hätte er sich fast noch verfahren, indem er die Arlington Street zur Marlborough Street nahm. Dann jedoch erinnerte er sich, dass die Marlborough Street eine Einbahnstraße war, allerdings in die falsche Richtung. Also trat er wie jeder gute Straßenrambo auf die Bremse, riss das Steuer herum und drückte kräftig auf die Hupe, während er drei Spuren überquerte, um auf der Beacon Street zu bleiben. Nun bestand sein größtes Problem nur noch darin, die richtige Straßenkreuzung zur Marlborough Street zu finden. Die Lösung war, einfach auf die weiß gleißenden Scheinwerfer und die roten Blinklichter des Krankenwagens zuzufahren.
Als Bobby die Ecke Marlborough Street und Gloucester Street erreichte, stürmte eine Unzahl von Eindrücken auf ihn ein. Der winzige Häuserblock im Herzen vonBack Bay wurde bereits von blauen Absperrböcken und Streifenwagen der Bostoner Polizei abgeriegelt. An einigen der Backsteinhäuser prangte gelbes Absperrband, und uniformierte Polizisten hatten Posten bezogen. Inzwischen war ein Krankenwagen eingetroffen, gefolgt von einigen Übertragungswagen der Lokalsender.
Die Ereignisse waren in vollem Gange.
Bobby parkte seinen Crown Vic vor einem blauen Absperrbock, sprang aus dem Wagen und eilte zum Kofferraum, in dem sich alles befand, was ein gut ausgebildeter Scharfschütze der Polizei brauchte, um mitzumischen. Gewehr, Zielfernrohr, schwarzer Kampfanzug, Tarn-Kampfanzug für Stadteinsätze, Sturmhaube, kugelsichere Weste, Kleider zum Wechseln, etwas Essbares, Wasser, eine Gürteltasche, Nachtsichtgerät, Fernglas, Entfernungsmesser, Gesichtsschminke, Schweizer Messer und Taschenlampe. Während gewöhnliche städtische Polizisten im Kofferraum höchstens ihren Ersatzreifen aufbewahrten, konnte ein Angehöriger der Staatspolizei nötigenfalls einen Monat lang in seinem Streifenwagen leben.
Bobby schulterte seinen Rucksack und machte sich daran, die Lage zu sondieren.
Im Gegensatz zu anderen Sondereinsatzkommandos traf Bobbys Mannschaft nie im Pulk ein. Die Einheit bestand aus zweiunddreißig Männern, die verstreut in ganz Massachusetts, angefangen von Cape Code bis zu den Ausläufern des Berkshire-Gebirges, lebten. Die Zentrale befand sich in Adams, Massachusetts, im Westen des Bundesstaates, wo Bobbys Lieutenant den Anruf von Framingham Communications entgegengenommen und dann entschieden hatte, einen Einsatz durchzuführen. Da es in diesem Fall um einen Mann ging, der sich in seinem eigenen Haus verschanzt und Geiseln genommen hatte, waren alle zweiunddreißig Mitglieder des Teams verständigt worden - und es würden auch alle kommen. Bei einigen würde die Anreise drei bis vier Stunden dauern. Andere, so wie Bobby, konnten in knappen fünfzehn Minuten vor Ort sein. Bobbys Vorgesetzter war stolz darauf, dass er in weniger als einer Stunde mindestens fünf Mitarbeiter an jedem beliebigen Ort innerhalb des Bundesstaates zusammenrufen konnte.
Als Bobby sich nun umsah, kam er zu dem Schluss, dass er der erste dieser fünf Mitarbeiter war. Also war Beeilung angesagt.
Die meisten Sondereinsatzkommandos waren in drei Teams organisiert. Eins stürmte den Tatort, das zweite sicherte die Umgebung ab, und das dritte bestand aus Scharfschützen. Nachdem der Tatort umzingelt war, nahmen die Scharfschützen ringsum ihre Positionen ein. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Erkundung, indem sie durch das Zielfernrohr oder ein Fernglas die Situation ausspähten und per Funk Einzelheiten, die das Gebäude oder die sich darin befindlichen Personen betrafen, an die Einsatzleitung weitermeldeten. Währenddessen bereitete sich das Sturmteam auf ein Eingreifen als letzte Möglichkeit vor: Falls es dem Geiselbefreiungsspezialisten nicht gelang, die Täter durch Verhandlungen zum Aufgeben zu bewegen, wurde gestürmt, was immer eine unschöne Angelegenheit war. Alle beteten, dass es nicht dazu kommen würde, doch manchmal ließ es sich nicht vermeiden.
Die Mitglieder von Bobbys STOP-Einheit waren für alle drei Bereiche ausgebildet, ohne sich auf eine Position zu spezialisieren. Da sie stets einzeln eintrafen und flexibel einsetzbar waren, konnten sie loslegen, sobald ihre Füße den Boden berührten. Bobby war zwar einer der Scharfschützen seiner Mannschaft, hatte im Moment jedoch andere Pläne.
Das erste Ziel war es, den inneren Umkreis abzusi-
Roman, Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel -Alone bei Bantam Books, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Lisa Gardner, Inc.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2006 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt 67, 86167 Augsburg
Published by arrangement with Lisa Gardner, Inc.
Dieses Werk wurde im Auftrag der Agentur Jane Rotrosen, New York, vermittelt
durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Karin Dufner
Projektleitung: Dr. Ulrike Strerath-Bolz
Redaktion: Ingola Lammers
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur GmbH, Zürich
Umschlagmotiv: George Simhoni / Masterfile
Satz: Andrea Hartkop
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-621-6
2013 2012 2011 2010
Seine Schicht hatte mit einem unbedeutenden Blechschaden angefangen, gefolgt von zwei weiteren Auffahrunfällen, verursacht von Gaffern, die in nördlicher Richtung unterwegs waren. Vier Stunden Formularkram später hatte Bobby eigentlich geglaubt, das Schlimmste ausgestanden zu haben. Doch dann, am frühen Nachmittag, einer Zeit, zu der selbst auf der für ihre Staus berüchtigten 93 normalerweise kaum Verkehr herrschte, waren fünf Wagen ineinander gerast, weil ein Taxifahrer versucht hatte, mit überhöhter Geschwindigkeit gleich vier Spuren auf einmal zu überqueren, was ein gestresster Werbemanager in einem Hummer nicht auf sich sitzen lassen wollte. Der Hummer hatte
den Aufprall weggesteckt wie ein echter Boxweltmeister, während das angerostete Taxi k.o. ging und gleich drei weitere Autos mit ins Verderben riss. Bobby verständigte vier Abschleppunternehmen, fertigte eine Unfallskizze an und nahm schließlich den Werbemanager fest, denn inzwischen hatte sich herausgestellt, dass sich der Mann das mittägliche Geschäftsessen mit ein paar Martinis versüßt hatte.
Eine Festnahme wegen Alkohols am Steuer bedeutete weitere Formulare und außerdem eine Fahrt zum Revier in South Boston (inzwischen mitten im Berufsverkehr, wenn sich niemand mehr, nicht einmal unter dem Auge des Gesetzes, an die Vorfahrtsregeln hielt) und nicht zuletzt eine heftige Auseinandersetzung mit dem Werbemanager selbst, der sich der Gefangennahme widersetzte.
Der Werbemanager war etwa fünfundzwanzig Kilo schwerer als Bobby, verwechselte wie viele Männer, die es mit einem kleineren Gegner zu tun haben, Körpergröße mit kräftemäßiger Überlegenheit und missachtete zudem sämtliche Warnsignale. Nachdem er sich mit der rechten Hand am Türstock festgeklammert hatte, ließ er sich mit seinem ganzen Gewicht nach hinten fallen, offenbar in der Absicht, seinen zarter gebauten Begleiter einfach umzurempeln. Allerdings hatte er seine weitere Vorgehensweise nicht bedacht, da es schlicht-weg unmöglich war, so mir nichts, dir nichts aus einem Revier zu fliehen, in dem es von bewaffneten Polizisten nur so wimmelte. Jedenfalls duckte sich Bobby nach links, streckte den Fuß aus und sah seelenruhig zu, wie der übergewichtige Manager unsanft auf dem Boden landete. Das beeindruckende Gepolter ließ einige Kollegen innehalten, um die kostenlose Darbietung mit einem Applaus zu würdigen.
»Wir sehen uns vor dem Richter, du Arschloch!«, brüllte der betrunkene Manager. »Ich verklage dich, deinen Vorgesetzten und den ganzen beschissenen Staat Massachusetts. Mir gehört dieser Laden. Hast du kapiert? Ich hole mir deine gottverdammte Dienstmarke.«
Bobby zerrte den dicken Mann auf die Füße. Der Werbemanager stieß einen weiteren Schwall von Verwünschungen aus, vermutlich deshalb, weil Bobby ihn in den Daumen kniff. Dann schubste Bobby den Mann in die Arrestzelle und knallte die Tür zu.
»Wenn Sie kotzen müssen, benützen Sie bitte die Toilette«, teilte Bobby ihm mit, weil der Mann inzwischen eine leicht grünliche Gesichtsfarbe angenommen hatte. Der Werbemanager zeigte ihm den Stinkefinger. Im nächsten Moment krümmte er sich zusammen und erbrach sich auf den Fußboden.
Bobby schüttelte den Kopf. »Reicher Schnösel«, murmelte er.
Manche Tage konnte man eben vergessen. Vor allem im November.
Inzwischen war es kurz nach zehn Uhr abends. Der Werbemanager war von seinem überteuerten Anwalt mit einer Kaution freigekauft worden, und die Zelle war mittlerweile gereinigt. Bobbys Schicht, die um sieben Uhr morgens begonnen hatte, war endlich vorbei. Eigentlich hätte er jetzt nach Hause fahren sollen. Susan anrufen. Dafür sorgen, dass er eine Mütze voll Schlaf bekam, bevor um fünf wieder der Wecker klingelte und das ganze Vergnügen von vorne anfing.
Stattdessen jedoch fühlte er sich merkwürdig zappelig und von einer inneren Nervosität getrieben. Und dabei galt er doch sonst als Inbegriff von Ruhe, Vernunft und Gelassenheit.
Also ging Bobby nicht nach Hause, sondern vertauschte die Uniform mit Jeans und einem Flanellhemd und machte sich auf den Weg in seine Stammkneipe.
Im Boston Beer Garden saßen vierzehn Männer am rechteckigen Tresen, rauchten ihre Zigaretten, ein Glas frisch gezapftes Bier vor sich, und stierten in die Fernseher mit Plasmabildschirm. Bobby nickte ein paar Bekannten zu, winkte Carl, den Barmann, heran und ließ sich dann, ein Stück entfernt von den anderen, auf einem Barhocker nieder. Carrie brachte ihm wie immer eine Portion Nachos, Carl servierte ihm persönlich die Cola. »Langer Tag, Bobby?«
»Dasselbe wie immer.«
»Kommt Susan auch noch?«
»Sie hat Probe.«
»Ach ja, das Konzert. In zwei Wochen, richtig?« Carl schüttelte den Kopf. »Schön und begabt. Eins sage ich dir, Bobby, bei der könnte ich schwach werden.«
»Lass das nur nicht Martha hören«, erwiderte Bobby. »Nachdem ich deine Frau beim Bierfass-Schleppen gesehen habe, möchte ich lieber gar nicht wissen, was sie so alles mit einem Nudelholz anstellen könnte.«
»Bei meiner Martha werde ich auch schwach«, beteuerte Carl. »Ansonsten müsste ich nämlich um mein Leben fürchten.«
Carl überließ Bobby seiner Cola und den Nachos. Im Fernseher über dem Tresen meldeten die Nachrichten gerade, in Revere sei es zu einer Krisensituation gekommen. Ein schwer bewaffneter Verdächtiger habe sich in seinem Haus verschanzt und zuvor wahllos auf seine Nachbarn geschossen. Inzwischen habe die Bostoner Polizei ein Sondereinsatzkommando hingeschickt, denn »man wolle kein Risiko eingehen«.
Ja, der November war wirklich ein seltsamer Monat. Die Menschen waren gereizt und wussten ihrem Grauen vor dem bevorstehenden trüben Winter nichts entgegenzusetzen. Selbst Kerle wie Bobby hatten ihre liebe Not, sich nicht von dieser Stimmung anstecken zu lassen.Bobby verspeiste seine Nachos und leerte das Colaglas. Dann bezahlte er. Gerade hatte er es geschafft, sich zu überreden, dass es das Beste war, nach Hause zu fahren, als an seinem Gürtel plötzlich der Piepser losging. Nachdem er rasch den Text auf der Anzeige gelesen hatte, hastete er zur Tür.
Es war ein scheußlicher Tag gewesen. Und nun sah es
ganz danach aus, als wäre er noch lange nicht zu Ende.
Auch Catherine Rose Gagnon war nicht unbedingt eine Freundin des Monats November, selbst wenn ihr Problem eigentlich schon im Oktober angefangen hatte. Am 22. Oktober 1980, um genau zu sein.
Die Luft war warm, und die Sonne hauchte ihr einen heißen Kuss aufs Gesicht, als sie von der Schule nach Hause ging. Sie hatte ihre Bücher im Arm und trug ihre eigens für den Schulanfang gekaufte Lieblingskombination, bestehend aus braunen Kniestrümpfen, einem dunkelbraunen Kordrock und einem langärmeligen goldgelben Oberteil.
Von hinten näherte sich ein Auto. Zunächst fiel es ihr gar nicht auf, doch dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass der blaue Chevy im Schritttempo neben ihr herfuhr. Eine Männerstimme: »Hallo, Kleine, kannst du mir vielleicht helfen? Ich suche einen entlaufenen Hund.« Und dann gab es nichts mehr als Schmerzen, Blut und erstickte Schreie. Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ihre Zähne, wie sie sich in ihre Unterlippe gruben. Gefolgt von endloser Leere.
Später sagte man ihr, es wären achtundzwanzig Tage gewesen. Doch während es andauerte, hatte Catherine nicht die geringste Möglichkeit, das festzustellen. In der Dunkelheit gab es keine Zeit, nur eine Einsamkeit, die sich bis in alle Ewigkeit zu erstrecken schien. Kälte und Toten-
stille, nur davon unterbrochen, wenn er wiederkam. Aber wenigstens geschah dann endlich etwas. Denn es war das Nichts, der nicht abreißen wollende Strom des Nichts, der einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte.
Jäger fanden sie. Am 18. November. Sie bemerkten die Abdeckung aus Sperrholz, stießen mit ihren Gewehren dagegen und hörten zu ihrem Schrecken leise Rufe. Die stolzen Retter befreiten Catherine aus ihrem eins zwanzig mal eins achtzig großen unterirdischen Gefängnis und entließen sie in die frische Herbstluft. Sie sah die Fotos von sich in der Zeitung: gewaltige dunkelblaue Augen, ihr Kopf gleich einem Totenschädel, ihr Körper mager und zusammengekrümmt, sodass er an eine kleine braune Fledermaus erinnerte, die grob ins grelle Sonnenlicht gezerrt worden war.
Die Zeitungen bezeichneten Catherine als »Thanksgiving-Wunder«. Ihre Eltern nahmen sie mit nach Hause. Nachbarn und Verwandte gaben sich die Klinke in die Hand und wiederholten unablässig Sätze wie: »Oh, Gott sei Dank!« und »Gerade noch rechtzeitig vor den Feiertagen!« und »Ach, ist es zu fassen ... !«
Catherine saß nur da und ließ die Gespräche über sich hinwegbranden. Heimlich stibitzte sie Essen von den übervollen Tellern und steckte es in ihre Kleidertaschen. Den Kopf hielt sie gesenkt, die Schultern hatte sie bis zu den Ohren hochgezogen. Sie war noch immer die kleine Fledermaus, und aus unerklärlichen Gründen empfand sie das Licht als aufdringlich.
Weitere Polizisten erschienen. Sie berichtete ihnen von dem Mann und dem Auto. Dann zeigte man ihr Fotos. Sie deutete auf eines. Später-nach Tagen oder Wochen, spielte das eine Rolle? - wurde sie zum Polizeirevier gebracht, betrachtete eine Reihe nebeneinander stehender Männer und deutete feierlich noch einmal mit dem Finger.
Sechs Monate später wurde Richard Umbrio vor Gericht gestellt. Und drei Wochen nach Prozessbeginn trat Catherine in einem schlichten blauen Kleid und polierten Lackschuhen in den Zeugenstand. Ein letztes Mal deutete sie mit dem Finger, und Richard Umbrio wurde für den Rest seines Lebens weggesperrt.
Catherine Rose kehrte mit ihren Eltern nach Hause zurück. Sie aß kaum etwas. Viel lieber steckte sie die Lebensmittel in die Tasche oder hielt sie einfach in der Hand. Sie schlief auch nicht viel, sondern lag in der Dunkelheit, während ihre blinden Fledermausaugen nach etwas suchten, das sie nicht beim Namen nennen konnte. Oft hielt sie sich ganz ruhig, um festzustellen, ob sie atmen konnte, ohne ein Geräusch zu machen.
Manchmal stand ihre Mutter in der Tür, die unruhig zitternden bleichen Hände vor das Schlüsselbein haltend. Nach einer Weile hörte Catherine ihren Vater dann über den Flur hallen. Komm ins Bett, Louise. Sie ruft dich schon, wenn sie dich braucht. Aber Catherine rief nie.
Die Jahre vergingen. Catherine wurde erwachsen, hielt ihre Schultern wieder gerade, ließ sich die Haare wachsen und stellte fest, dass sie eine dunkle und sinnliche Schönheit besaß, die Männer mitten im Gehen innehalten ließ. Sie hatte weiße Haut, schimmerndes schwarzes Haar und riesige dunkelblaue Augen. Die Männer verzehrten sich nach ihr. Und Catherine nutzte sie skrupellos aus. Es war nicht ihre Schuld. Und die Männer konnten auch nichts dafür. Catherine hatte einfach keine Gefühle.
Ihre Mutter starb 1994. Krebs. Bei der Beerdigung stand Catherine am Grab und versuchte zu weinen. Aber ihr Körper war ausgedörrt, und ihre Schluchzer klangen hohl und unecht. Sie ging nach Hause in ihre kahle Wohnung und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Doch manchmal, aus heiterem Himmel, sah sie ihre Mutter wieder in der Tür ihres Zimmers stehen. »Komm ins Bett, Louise. Sie ruft dich schon, wenn sie dich braucht.« Hallo, Kleine ... ich suche einen entlaufenen Hund.
November 1998. Das »Thanksgiving-Wunder« lag nackt und zusammengekrümmt in der weißen Porzellanwanne. Ihr abgemagerter Körper zitterte vor Kälte, und ihre Faust umklammerte das Rasiermesser. Etwas Schreckliches würde geschehen. Eine Dunkelheit, die alles bisher Dagewesene übertraf.
Komm ins Bett, Louise. Sie ruft dich schon, wenn sie dich braucht.
Hallo, Kleine ... Ich suche einen entlaufenen Hund.
Die Klinge, so schlank und leicht in ihrer Hand. Das Gefühl, wie ihre Kante das Handgelenk küsste, so als gehöre das warme, rote Blut, das über ihre Haut rann, einer anderen. Dann läutete das Telefon. Ein einziger Anruf rettete ihr das Leben. Wieder ein »Thanksgiving-Wunder«.
Sie erinnerte sich. Im Hintergrund plärrte der Fernseher: Ein bewaffneter Verdächtiger hat sich in seinem Haus verschanzt, nachdem er mehrfach auf seine Nachbarn geschossen hatte. Ein Sprecher des Bostoner Sondereinsatzkommandos bezeichnete die Lage als höchst brisant und äußerst gefährlich.
Ihr Sohn schluchzte in ihren Armen: »Mommy, Mommy, Mommy.«
Und von unten brüllte ihr Mann: »Ich weiß, was du da treibst, Cat! Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Aber es wird nicht klappen. Damit kommst du nicht durch!« Jimmy stürmte die Treppe hinauf zum Schlafzimmer. Das Telefon hatte Catherine schon einmal gerettet. Nun betete sie, dass es wieder funktionieren würde. »Hallo, hallo, spricht hier die Polizei? Können Sie mich hören? Es geht um meinen Mann. Ich glaube, er hat eine Waffe.«
Seit mittlerweile sechs Jahren gehörte Bobby der Spezialeinheit »Special Tactics and Operations (STOP)« bei der Staatspolizei von Massachusetts an. Mindestens drei Mal im Monat - und grundsätzlich an jedem gottverdammten Feiertag - wurde er alarmiert und war mittlerweile ziemlich sicher, dass ihn nichts mehr überraschen konnte. Doch heute sollte sich das als Irrtum entpuppen.
Er raste durch die Straßen von Boston, bog mit quietschenden Reifen nach rechts in die Park Street ein und fuhr in Richtung der mit einer goldenen Kuppel versehenen Staatskanzlei. Sein Streifenwagen sauste nach links in die Beacon Street und passierte in Windeseile die Common Street und den Public Garden. In letzter Minute hätte er sich fast noch verfahren, indem er die Arlington Street zur Marlborough Street nahm. Dann jedoch erinnerte er sich, dass die Marlborough Street eine Einbahnstraße war, allerdings in die falsche Richtung. Also trat er wie jeder gute Straßenrambo auf die Bremse, riss das Steuer herum und drückte kräftig auf die Hupe, während er drei Spuren überquerte, um auf der Beacon Street zu bleiben. Nun bestand sein größtes Problem nur noch darin, die richtige Straßenkreuzung zur Marlborough Street zu finden. Die Lösung war, einfach auf die weiß gleißenden Scheinwerfer und die roten Blinklichter des Krankenwagens zuzufahren.
Als Bobby die Ecke Marlborough Street und Gloucester Street erreichte, stürmte eine Unzahl von Eindrücken auf ihn ein. Der winzige Häuserblock im Herzen vonBack Bay wurde bereits von blauen Absperrböcken und Streifenwagen der Bostoner Polizei abgeriegelt. An einigen der Backsteinhäuser prangte gelbes Absperrband, und uniformierte Polizisten hatten Posten bezogen. Inzwischen war ein Krankenwagen eingetroffen, gefolgt von einigen Übertragungswagen der Lokalsender.
Die Ereignisse waren in vollem Gange.
Bobby parkte seinen Crown Vic vor einem blauen Absperrbock, sprang aus dem Wagen und eilte zum Kofferraum, in dem sich alles befand, was ein gut ausgebildeter Scharfschütze der Polizei brauchte, um mitzumischen. Gewehr, Zielfernrohr, schwarzer Kampfanzug, Tarn-Kampfanzug für Stadteinsätze, Sturmhaube, kugelsichere Weste, Kleider zum Wechseln, etwas Essbares, Wasser, eine Gürteltasche, Nachtsichtgerät, Fernglas, Entfernungsmesser, Gesichtsschminke, Schweizer Messer und Taschenlampe. Während gewöhnliche städtische Polizisten im Kofferraum höchstens ihren Ersatzreifen aufbewahrten, konnte ein Angehöriger der Staatspolizei nötigenfalls einen Monat lang in seinem Streifenwagen leben.
Bobby schulterte seinen Rucksack und machte sich daran, die Lage zu sondieren.
Im Gegensatz zu anderen Sondereinsatzkommandos traf Bobbys Mannschaft nie im Pulk ein. Die Einheit bestand aus zweiunddreißig Männern, die verstreut in ganz Massachusetts, angefangen von Cape Code bis zu den Ausläufern des Berkshire-Gebirges, lebten. Die Zentrale befand sich in Adams, Massachusetts, im Westen des Bundesstaates, wo Bobbys Lieutenant den Anruf von Framingham Communications entgegengenommen und dann entschieden hatte, einen Einsatz durchzuführen. Da es in diesem Fall um einen Mann ging, der sich in seinem eigenen Haus verschanzt und Geiseln genommen hatte, waren alle zweiunddreißig Mitglieder des Teams verständigt worden - und es würden auch alle kommen. Bei einigen würde die Anreise drei bis vier Stunden dauern. Andere, so wie Bobby, konnten in knappen fünfzehn Minuten vor Ort sein. Bobbys Vorgesetzter war stolz darauf, dass er in weniger als einer Stunde mindestens fünf Mitarbeiter an jedem beliebigen Ort innerhalb des Bundesstaates zusammenrufen konnte.
Als Bobby sich nun umsah, kam er zu dem Schluss, dass er der erste dieser fünf Mitarbeiter war. Also war Beeilung angesagt.
Die meisten Sondereinsatzkommandos waren in drei Teams organisiert. Eins stürmte den Tatort, das zweite sicherte die Umgebung ab, und das dritte bestand aus Scharfschützen. Nachdem der Tatort umzingelt war, nahmen die Scharfschützen ringsum ihre Positionen ein. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Erkundung, indem sie durch das Zielfernrohr oder ein Fernglas die Situation ausspähten und per Funk Einzelheiten, die das Gebäude oder die sich darin befindlichen Personen betrafen, an die Einsatzleitung weitermeldeten. Währenddessen bereitete sich das Sturmteam auf ein Eingreifen als letzte Möglichkeit vor: Falls es dem Geiselbefreiungsspezialisten nicht gelang, die Täter durch Verhandlungen zum Aufgeben zu bewegen, wurde gestürmt, was immer eine unschöne Angelegenheit war. Alle beteten, dass es nicht dazu kommen würde, doch manchmal ließ es sich nicht vermeiden.
Die Mitglieder von Bobbys STOP-Einheit waren für alle drei Bereiche ausgebildet, ohne sich auf eine Position zu spezialisieren. Da sie stets einzeln eintrafen und flexibel einsetzbar waren, konnten sie loslegen, sobald ihre Füße den Boden berührten. Bobby war zwar einer der Scharfschützen seiner Mannschaft, hatte im Moment jedoch andere Pläne.
Das erste Ziel war es, den inneren Umkreis abzusi-
Roman, Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel -Alone bei Bantam Books, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Lisa Gardner, Inc.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2006 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt 67, 86167 Augsburg
Published by arrangement with Lisa Gardner, Inc.
Dieses Werk wurde im Auftrag der Agentur Jane Rotrosen, New York, vermittelt
durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Karin Dufner
Projektleitung: Dr. Ulrike Strerath-Bolz
Redaktion: Ingola Lammers
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur GmbH, Zürich
Umschlagmotiv: George Simhoni / Masterfile
Satz: Andrea Hartkop
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-621-6
2013 2012 2011 2010
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Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Gardner
- 2010, 1, 431 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006214
- ISBN-13: 9783868006216
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