Lullaby
Roman
Carl Streator ist ein Reporter, der das Phänomen des plötzlichen Kindstodes recherchieren soll. Er findet heraus, dass allen Kindern in der Nacht, in der sie starben, ein und dasselbe Gedicht vorgelesen wurde...
Carl Streator - ein verwitweter Reporter...
Carl Streator - ein verwitweter Reporter...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Lullaby “
Carl Streator ist ein Reporter, der das Phänomen des plötzlichen Kindstodes recherchieren soll. Er findet heraus, dass allen Kindern in der Nacht, in der sie starben, ein und dasselbe Gedicht vorgelesen wurde...
Carl Streator - ein verwitweter Reporter um die vierzig - recherchiert für eine Artikelreihe über Fälle von plötzlichem Kindstod und stößt dabei auf eine merkwürdige Gemeinsamkeit: In den Kinderzimmern der verstorbenen Babys findet er den Sammelband "Gedichte und Lieder aus aller Welt", und immer ist dieser auf Seite 27 aufgeschlagen. Furchtbare, verdrängt geglaubte Erinnerungen werden in Streator geweckt, denn er erkennt sowohl das Buch als auch das afrikanische Wiegenlied, das auf jener Seite abgedruckt ist, wieder. Vor zwanzig Jahren hatte er das Gedicht seiner kleinen Tochter und seiner Frau vor dem Einschlafen vorgelesen; am nächsten Morgen waren beide tot. Todesursache: unbekannt.
Ganz allmählich wächst in Streator der Gedanke heran, dass die scheinbar harmlosen Worte des Schlafliedes den Tod verheißen, und sein Verdacht erhärtet sich, als er es an einem unglaubwürdigen Fernsehpriester und einem aufdringlichen Radiosprecher testet, die ihn mit ihrem nie enden wollenden Gerede belästigen. Mit Entsetzen wird ihm bewusst, welche Macht er auf einmal in seinen Händen hält. Denn geriete das Wissen von der tödlichen Wirkung des Wiegenlieds in die falschen Hände, oder würde das Lied im Radio oder im Fernsehen vorgetragen, es bedeutete ewige Nachtruhe für Millionen von Menschen ...
Carl Streator - ein verwitweter Reporter um die vierzig - recherchiert für eine Artikelreihe über Fälle von plötzlichem Kindstod und stößt dabei auf eine merkwürdige Gemeinsamkeit: In den Kinderzimmern der verstorbenen Babys findet er den Sammelband "Gedichte und Lieder aus aller Welt", und immer ist dieser auf Seite 27 aufgeschlagen. Furchtbare, verdrängt geglaubte Erinnerungen werden in Streator geweckt, denn er erkennt sowohl das Buch als auch das afrikanische Wiegenlied, das auf jener Seite abgedruckt ist, wieder. Vor zwanzig Jahren hatte er das Gedicht seiner kleinen Tochter und seiner Frau vor dem Einschlafen vorgelesen; am nächsten Morgen waren beide tot. Todesursache: unbekannt.
Ganz allmählich wächst in Streator der Gedanke heran, dass die scheinbar harmlosen Worte des Schlafliedes den Tod verheißen, und sein Verdacht erhärtet sich, als er es an einem unglaubwürdigen Fernsehpriester und einem aufdringlichen Radiosprecher testet, die ihn mit ihrem nie enden wollenden Gerede belästigen. Mit Entsetzen wird ihm bewusst, welche Macht er auf einmal in seinen Händen hält. Denn geriete das Wissen von der tödlichen Wirkung des Wiegenlieds in die falschen Hände, oder würde das Lied im Radio oder im Fernsehen vorgetragen, es bedeutete ewige Nachtruhe für Millionen von Menschen ...
Klappentext zu „Lullaby “
Carl Streator - ein verwitweter Reporter um die vierzig - recherchiert für eine Artikelreihe über Fälle von plötzlichem Kindstod und stößt dabei auf eine merkwürdige Gemeinsamkeit: In den Kinderzimmern der verstorbenen Babys findet er den Sammelband "Gedichte und Lieder aus aller Welt", und immer ist dieser auf Seite 27 aufgeschlagen. Furchtbare, verdrängt geglaubte Erinnerungen werden in Streator geweckt, denn er erkennt sowohl das Buch als auch das afrikanische Wiegenlied, das auf jener Seite abgedruckt ist, wieder. Vor zwanzig Jahren hatte er das Gedicht seiner kleinen Tochter und seiner Frau vor dem Einschlafen vorgelesen; am nächsten Morgen waren beide tot. Todesursache: unbekannt.Ganz allmählich wächst in Streator der Gedanke heran, dass die scheinbar harmlosen Worte des Schlafliedes den Tod verheißen, und sein Verdacht erhärtet sich, als er es an einem unglaubwürdigen Fernsehpriester und einem aufdringlichen Radiosprecher testet, die ihn mit ihrem nie enden wollenden Gerede belästigen. Mit Entsetzen wird ihm bewusst, welche Macht er auf einmal in seinen Händen hält. Denn geriete das Wissen von der tödlichen Wirkung des Wiegenlieds in die falschen Hände, oder würde das Lied im Radio oder im Fernsehen vorgetragen, es bedeutete ewige Nachtruhe für Millionen von Menschen ...
Lese-Probe zu „Lullaby “
PrologZuerst tut der neue Besitzer so, als hätte er sich den Boden im Wohnzimmer noch nie angesehen. Nie richtig hingesehen. Nicht beim ersten Mal, als sie durchs ganze Haus gegangen sind. Nicht, als der Inspektor sie herumgeführt hat. Sie hatten die Zimmer ausgemessen und den Möbelpackern gesagt, wo sie die Couch und das Klavier hinstellen sollten, hatten ihre gesamte Habe reingeschleppt und nicht ein einziges Mal den Boden im Wohnzimmer angesehen.
Behaupten sie.
Und als sie am ersten Morgen nach unten kommen, da steht es, in den hellen Eichenboden gekratzt:
Haut ab.
Manche neuen Besitzer tun so, als hätte ihnen da ein Freund einen Streich gespielt. Andere meinen, sie hätten den Möbelpackern doch lieber ein Trinkgeld geben sollen.
Zwei Nächte später schreit ein Baby in der Nordwand des Elternschlafzimmers.
Da rufen sie dann normalerweise an.
Und der neue Besitzer jetzt am Telefon ist nicht gerade das, was unsere Heldin, Helen Hoover Boyle, an diesem Morgen braucht.
Dieses Gestammel und Gewinsel.
Was sie braucht, ist eine frische Tasse Kaffee und ein Wort für "Geflügel" mit acht Buchstaben. Und sie will den Polizeifunk abhören. Helen Boyle schnippt mit den Fingern, bis ihre Sekretärin aus dem Vorzimmer hereinschaut. Unsere Heldin wickelt beide Hände um die Sprechmuschel, zeigt mit dem Hörer auf den Polizeifunkscanner und sagt: "Code neun-elf."
Und Mona, die Sekretärin, sagt achselzuckend: "Und?"
Und sie soll das im Codebuch nachschlagen.
Und Mona sagt: "Immer mit der Ruhe. Das ist ein Ladendieb."
Mörder, Selbstmörder, Serienkiller, Drogenopfer, man kann nicht warten, bis diese Sachen auf den Titelseiten der Zeitungen erscheinen. Man darf nicht zulassen, dass ein anderer einem beim nächsten Coup zuvorkommt.
Helen wünscht sich, der neue Besitzer von Crestwood Terrace Nr. 325 würde mal für eine Minute den Mund halten.
Natürlich erschien die Botschaft auf dem Fußboden des Wohnzimmers. Seltsam ist bloß, dass das Baby
... mehr
normalerweise erst in der dritten Nacht zu schreien anfängt.
Erst die Phantombotschaft, dann die ganze Nacht lang Babygeschrei. Wenn die Besitzer lange genug durchhalten, rufen sie nach einer Woche wieder an und erzählen von dem Gesicht, das sich im Wasser der Badewanne spiegelt. Ein zerknautschtes, runzliges Gesicht mit dunklen, leeren Augenhöhlen.
Die dritte Woche bringt Phantomschatten, die an den Wänden des Esszimmers kreisen, wenn alle um den Tisch sitzen. Danach könnte durchaus noch mehr passieren, aber bislang hat niemand eine vierte Woche durchgehalten.
Zu dem neuen Besitzer sagt Helen Hoover Boyle: "Wenn Sie nicht bereit sind, vor Gericht zu gehen und zu beweisen, dass das Haus unbewohnbar ist, wenn Sie nicht absolut hundertprozentig beweisen können, dass die früheren Besitzer von diesen Vorgängen wussten|..." Sie sagt: "Ich kann Ihnen nur raten." Sie sagt: "Wenn Sie, nachdem Sie so viel Staub aufgewirbelt haben, diesen Prozess verlieren, ist das Haus praktisch wertlos."
Crestwood Terrace Nr. 325 ist kein schlechtes Haus: englischer Tudorstil, neueres Dach mit Wärmedämmung, vier Schlafzimmer, dreieinhalb Bäder. Ein Pool.
Unsere Heldin braucht nicht erst auf dem Datenblatt nachzusehen. Sie hat dieses Haus in den letzten zwei Jahren schon sechsmal verkauft.
Ein anderes Haus, das im traditionellen Neuengland-Stil am Eton Court - sechs Schlafzimmer, vier Bäder, Eingangsbereich mit Kieferntäfelung und Blut an den Küchenwänden -, hat sie in den letzten vier Jahren achtmal verkauft.
Zu dem neuen Besitzer sagt sie: "Bleiben Sie am Apparat, bin gleich wieder da", und drückt dann auf den roten Knopf.
Helen trägt ein weißes Kostüm und weiße Schuhe, aber nicht schneeweißer Farbe.
Eher das Weiß der Abfahrtspiste in Banff, mit einem Wagen samt Chauffeur, der unten am Hang steht, vierzehn Gepäckstücken gleicher Farbe und einer Suite im Hotel Lake Louise.
In Richtung Tür sagt unsere Heldin: "Mona? Mondstrahl?" Lauter sagt sie:
"Geistermädchen?"
Sie trommelt mit ihrem Kuli auf dem gefalteten Zeitungsblatt auf ihrem Schreibtisch herum und sagt: "Ein Nagetier mit fünf Buchstaben?"
Der Scanner, mit dem sie den Polizeifunk abhört, gurgelt, murmelt und bellt, und nach jedem Satz sagt er "Roger?". Und noch einmal: "Roger?"
Helen Boyle ruft: "Mit diesem Kaffee können Sie auch nichts reißen."
In einer Stunde muss sie ein Haus im Queen-Anne-Stil vorführen, fünf Schlafzimmer, Einliegerwohnung für die Schwiegermutter, zwei Gaskamine und spät abends im Spiegel des Schminkzimmers das Gesicht eines Mannes, der sich mit Barbituraten das Leben genommen hat. Danach eine Halbgeschossranch mit Gaszentralheizung, tiefer gelegter Sitzecke und den wiederkehrenden Phantomschüssen eines Doppelmordes, der sich vor über zehn Jahren zugetragen hatte. Das alles steht in ihrem dicken Terminkalender, der in rotes Leder oder etwas Ähnliches gebunden ist. Darin verzeichnet sie alles.
Sie nimmt noch einen Schluck Kaffee und sagt: "Wie nennen Sie diese Brühe?
Schweizer Armeemokka? Kaffee, der nicht nach Kaffee schmeckt, ist keiner."
Mona tritt mit verschränkten Armen in die Tür und sagt: "Was?"
Und Helen sagt: "Sehen Sie sich mal" - sie schiebt ein paar Datenblätter auf ihrer Kladde zusammen -, "sehen Sie sich mal Willmont Place Nr. 4673 an. Ein Haus im holländischen Kolonialstil mit Wintergarten, vier Schlafzimmern, zwei Bädern und schwerem Mord."
Der Polizeifunk sagt: "Roger?"
"Tun Sie nur das Übliche", sagt Helen, schreibt die Adresse auf einen Notizzettel und hält ihn ihr hin. "Keine Bedenken zerstreuen. Keinen Salbei verbrennen. Nichts exorzieren."
Mona nimmt den Zettel und sagt: "Bloß die Vibrations checken?"
Helen zerteilt mit einer Hand die Luft und sagt: "Ich will nicht, dass irgendjemand durch irgendwelche Tunnel auf irgendein Licht zugeht. Diese Freaks sollen hier bleiben, genau auf dieser astralen Ebene hier. Punkt." Sie blickt auf ihre Zeitung und sagt: "Zum Totsein haben sie noch eine ganze Ewigkeit. Dann können sie noch mal fünfzig Jahre in dem Haus rumhängen und mit Ketten rasseln."
Helen Hoover Boyle starrt das blinkende Wartelicht an und sagt: "Was haben Sie gestern in dem spanischen Sechs-Schlafzimmer-Haus gespürt?"
Und Mona verdreht die Augen. Sie schiebt die Kinnlade vor, pustet einen Seufzer senkrecht in die aufflatternden Haare vor ihrer Stirn und sagt: "Dort ist definitiv Energie zu spüren. Eine subtile Präsenz. Aber der Grundriss ist wunderbar." Eine schwarze Seidenschnur schlingt sich ihr um den Hals und verschwindet im Mundwinkel.
Und unsere Heldin sagt: "Scheiß auf den Grundriss."
Vergiss diese Traumhäuser, die du alle fünfzig Jahre nur einmal verkaufst.
Vergiss diese Kuschelnester. Und scheiß auf subtil: kalte Stellen, seltsame Ausdünstungen, reizbare Haustiere. Was sie brauchte, war Blut, das von den Wänden troff. Eiskalte unsichtbare Hände, die Kinder nachts aus dem Bett zerrten. Rote Augen, die im Dunkeln am Fuß der Kellertreppe leuchteten. Das und ein anständig wirkendes Äußeres.
Der Bungalow, Elm Street Nr. 521: vier Schlafzimmer, Originalausstattung und Schreie auf dem Dachboden.
Das Normandie-Haus Weston Heights Nr. 7645: Bogenfenster, Anrichteraum, bleiverglaste Schiebetüren und eine Leiche, die mit zahlreichen Stichwunden auf dem Flur in der oberen Etage umgeht.
Das Ranchhaus Levee Place Nr. 248 - fünf Schlafzimmer, viereinhalb Bäder, gemauerte Veranda: Dort wird seit einer Abflussreinigervergiftung regelmäßig Blut an die Wand des Elternschlafzimmers gehustet.
Immobilienmakler sprechen in solchen Fällen von belasteten Häusern. Das sind Häuser, die nie verkauft werden, weil niemand sie gern vorführt. Kein Makler will jemanden dorthin einladen und das Risiko eingehen, dort auch nur eine Minute allein zu verbringen. Andere Häuser dieser Art werden alle sechs Monate immer wieder aufs Neue verkauft, weil niemand dort leben kann. Eine ganze Reihe dieser Häuser, zwanzig oder dreißig mit Exklusivvertrag, und Helen brauchte nicht mehr den Polizeifunk abzuhören. Sie könnte aufhören, die Todesanzeigen und Polizeiberichte nach Morden und Selbstmorden zu durchforsten. Sie müsste Mona nicht mehr losschicken, um jeder möglichen Spur nachzugehen. Sie könnte einfach die Beine hochlegen und ein Huftier mit fünf Buchstaben suchen.
"Außerdem können Sie meine Sachen aus der Reinigung abholen", sagt sie. "Und besorgen Sie anständigen Kaffee." Sie zeigt mit dem Kuli auf Mona und sagt: "Und aus Respekt vor professionellem Verhalten: Lassen Sie diese kleinen Rastadinger zu Hause."
Mona zieht an der schwarzen Seidenschnur, bis ihr ein Quarzkristall aus dem Mund ploppt, glänzend und feucht. Sie bläst darauf und sagt: "Das ist ein Kristall.
Mein Freund - Oyster - hat mir den geschenkt."
Und Helen sagt: "Sie haben einen Freund, der Oyster heißt?"
Und Mona lässt den Kristall fallen, sodass er vor ihrer Brust baumelt, und sagt:
"Er sagt, der soll mich beschützen." Der Kristall macht einen dunklen feuchten Fleck auf ihre orangefarbene Bluse.
"Ach, und bevor Sie gehen", sagt Helen, "holen Sie mir Bill oder Emily Burrows ans Telefon."
Helen drückt wieder auf die Haltetaste und sagt: "Entschuldigen Sie." Sie sagt, es gebe hier zwei eindeutige Möglichkeiten. Der neue Besitzer könne ausziehen, einfach einen Zessionsvertrag unterschreiben, und schon habe die Bank das Haus am Hals.
"Oder", sagt unsere Heldin, "Sie übertragen das Recht, Ihr Haus zu verkaufen, exklusiv auf mich, natürlich vertraulich. Das wäre dann eine Westentaschenausschreibung, wie wir das nennen."
Und vielleicht sagt der neue Besitzer dieses Mal Nein. Aber wenn erst einmal diese abscheuliche Fratze im Badewasser zwischen seinen Beinen erschienen ist, wenn die Schatten an den Wänden zu wandern beginnen, tja, dann sagen sie schließlich alle Ja.
Am Telefon sagt der neue Besitzer: "Und Sie verraten den anderen Käufern nichts von dem Problem?"
Und Helen sagt: "Packen Sie gar nicht erst alles aus. Wir erzählen den Leuten einfach, dass Sie gerade ausziehen."
Falls jemand fragt, sagen Sie, man habe Sie in eine andere Stadt versetzt. Sagen Sie, Sie hätten dieses Haus geliebt.
Sie sagt: "Alles andere bleibt unser kleines Geheimnis."
Aus dem Vorzimmer sagt Mona: "Ich habe Bill Burrows auf Leitung zwei."
Und der Polizeifunk sagt: "Roger?"
Unsere Heldin drückt auf den nächsten Knopf und sagt: "Bill?"
Sie flüstert Mona das Wort Kaffee zu. Sie dreht ruckartig den Kopf zum Fenster und flüstert: "Gehen Sie."
Der Polizeifunk sagt: "Alles Roger?"
Das war Helen Hoover Boyle. Unsere Heldin. Inzwischen tot, aber nicht tot.
Irgendein Tag aus ihrem Leben. Es war das Leben, das sie führte, bevor dann ich auftauchte. Vielleicht ist das eine Liebesgeschichte, vielleicht auch nicht.
Hängt davon ab, wie sehr ich mir selbst glauben kann.
Es geht hier um Helen Hoover Boyle. Wie sie mich verfolgte. Ähnlich wie einem ein Song nicht aus dem Kopf gehen will. Wie man sich das Leben ausmalt. Wie man sich von allem faszinieren lässt. Wie die Vergangenheit einen in jeden Tag der Zukunft begleitet.
Dies ist. Das ist. Es ist alles zusammen, Helen Hoover Boyle.
Wir alle sind Jäger und Gejagte.
An diesem, dem letzten gewöhnlichen Tag ihres normalen Lebens, sagt unsere Heldin ins Telefon: "Bill Burrows?"
Sie sagt: "Holen Sie bitte Emily an den Nebenapparat, denn ich habe soeben nämlich das ideale Haus für Sie beide gefunden."
Sie schreibt das Wort "Pferd" und sagt: "Wie ich höre, sind die Verkäufer sehr angeregt."
1
Das Dumme an jeder Geschichte ist, dass man sie erst hinterher erzählt.
Selbst ein ausführlicher Bericht im Radio, in dem die Homeruns und Strikeouts alle geschildert werden, selbst das kommt mit einigen Minuten Verzögerung.
Selbst eine Live-Reportage im Fernsehen kommt mit ein paar Sekunden Verspätung.
Selbst Schall und Licht sind nicht schneller, als sie sind.
Ein weiteres Problem ist der Erzähler. Das Wer, Was, Wo, Wann und Warum des Berichterstatters. Die Verzerrung durch das Medium. Wie der Bote die Fakten formt. Was Journalisten den "Gatekeeper" nennen. Darstellung ist alles.
Die Geschichte hinter der Geschichte.
Wo ich dies erzähle: in dem einen oder dem anderen Café. Wo ich, Kapitel für Kapitel, dieses Buch schreibe: in allen möglichen Klein- und Großstädten und Käffern am Arsch der Welt.
Gemeinsam ist allen diesen Orten, dass dort Wunder geschehen. Man liest davon in den Schundgazetten: Heilungen und Erscheinungen, Wunder, von denen die seriöse Presse nie etwas berichtet.
Diese Woche ist es die Heilige Jungfrau von Welburn, New Mexico. Vorige Woche ist sie dort über die Hauptstraße geschwebt. Die langen roten und schwarzen Dreadlocks hinter ihr herflatternd, barfuß und schmutzig, trug sie einen in zwei Brauntönen bedruckten Indianerrock und ein rückenfreies Jeanstop. Das alles steht im World Miracles Report, der in jedem amerikanischen Supermarkt gleich neben der Kasse zu finden ist.
Und hier wäre ich also, eine Woche zu spät. Immer einen Schritt hinterher. Post festum.
Die Fliegende Jungfrau hatte rosa lackierte Fingernägel mit weißen Spitzen, von einigen Zeugen als Französische Maniküre bezeichnet. Die Fliegende Jungfrau hatte eine Dose Insektenspray bei sich und schrieb damit an den blauen Himmel von New Mexico:
Kriegt keine Kinder mehr (Sic)
Dann ließ sie die Dose fallen. Sie ist schon auf dem Weg zum Vatikan. Zur Analyse. Man kann schon Postkarten zu dem Ereignis kaufen. Sogar Videos.
Fast alles, was man kaufen kann, kommt hinterher. Gefangen. Tot. Gekocht.
In den Souvenirvideos schüttelt die Fliegende Jungfrau die Spraydose. Sie schwebt über der Hauptstraße und winkt der Menge zu. Aus ihrer Achselhöhle sprießt ein Büschel brauner Haare. Als sie zu schreiben beginnt, hebt ein Windstoß ihren Rock, und die Fliegende Jungfrau trägt darunter kein Höschen. Sie ist zwischen den Beinen rasiert.
Ich schreibe diese Geschichte von heute in einer Raststätte in Welburn, New Mexico, und rede mit Augenzeugen. Bei mir sitzt Sarge, ein verrunzelter alter irischer Cop. Auf dem Tisch zwischen uns liegt die Lokalzeitung, und man sieht die Überschrift einer dreispaltigen Anzeige:
Achtung an alle Kunden von Polstermöbelgeschäften
In der Anzeige heißt es: "Wenn aus Ihren neuen Polstermöbeln giftige Spinnen ausgeschlüpft sind, können Sie an einer Sammelklage teilnehmen." Dazu eine Telefonnummer, aber die bringt nichts.
Die lose Haut an Sarges Hals ist von der Art, die, wenn man einmal hineinkneift, bleibt wie sie ist. Er muss erst einen Spiegel finden, um die Haut wieder flach zu drücken.
Draußen fahren die Leute immer noch in die Stadt. Kniend beten sie um eine zweite Erscheinung. Sarge legt seine Pranken zusammen und tut so, als würde er beten, blickt aber aus dem Fenster; sein Halfter ist aufgeschnallt, seine Pistole geladen und zum Skeetschießen bereit.
Als sie ihren Text an den Himmel geschrieben hatte, blies die Fliegende Jungfrau den Leuten Kusshände zu. Machte mit zwei Fingern das Friedenszeichen. Schwebte über den Bäumen, hielt mit einer Hand den Rock unten, schüttelte ihre roten und schwarzen Dreadlocks und winkte. Amen. Und weg war sie, hinter den Bergen, hinterm Horizont. Weg.
Trotzdem kann man nicht allem trauen, was in der Zeitung steht.
Die Fliegende Madonna: Das war kein Wunder.
Es war Magie.
Es gibt keine Heiligen. Es gibt nur Zauber.
Sarge und ich, wir sind nicht hier, um etwas zu bezeugen. Wir sind Hexenjäger.
Aber diese Geschichte handelt nicht vom Hier und Jetzt. Ich, Sarge, die Fliegende Jungfrau. Helen Hoover Boyle. Was ich hier schreibe, ist die Geschichte, wie wir uns kennen gelernt haben. Wie wir hierher gekommen sind.
Copyright © in der Verlagsgruppe Random House
Erst die Phantombotschaft, dann die ganze Nacht lang Babygeschrei. Wenn die Besitzer lange genug durchhalten, rufen sie nach einer Woche wieder an und erzählen von dem Gesicht, das sich im Wasser der Badewanne spiegelt. Ein zerknautschtes, runzliges Gesicht mit dunklen, leeren Augenhöhlen.
Die dritte Woche bringt Phantomschatten, die an den Wänden des Esszimmers kreisen, wenn alle um den Tisch sitzen. Danach könnte durchaus noch mehr passieren, aber bislang hat niemand eine vierte Woche durchgehalten.
Zu dem neuen Besitzer sagt Helen Hoover Boyle: "Wenn Sie nicht bereit sind, vor Gericht zu gehen und zu beweisen, dass das Haus unbewohnbar ist, wenn Sie nicht absolut hundertprozentig beweisen können, dass die früheren Besitzer von diesen Vorgängen wussten|..." Sie sagt: "Ich kann Ihnen nur raten." Sie sagt: "Wenn Sie, nachdem Sie so viel Staub aufgewirbelt haben, diesen Prozess verlieren, ist das Haus praktisch wertlos."
Crestwood Terrace Nr. 325 ist kein schlechtes Haus: englischer Tudorstil, neueres Dach mit Wärmedämmung, vier Schlafzimmer, dreieinhalb Bäder. Ein Pool.
Unsere Heldin braucht nicht erst auf dem Datenblatt nachzusehen. Sie hat dieses Haus in den letzten zwei Jahren schon sechsmal verkauft.
Ein anderes Haus, das im traditionellen Neuengland-Stil am Eton Court - sechs Schlafzimmer, vier Bäder, Eingangsbereich mit Kieferntäfelung und Blut an den Küchenwänden -, hat sie in den letzten vier Jahren achtmal verkauft.
Zu dem neuen Besitzer sagt sie: "Bleiben Sie am Apparat, bin gleich wieder da", und drückt dann auf den roten Knopf.
Helen trägt ein weißes Kostüm und weiße Schuhe, aber nicht schneeweißer Farbe.
Eher das Weiß der Abfahrtspiste in Banff, mit einem Wagen samt Chauffeur, der unten am Hang steht, vierzehn Gepäckstücken gleicher Farbe und einer Suite im Hotel Lake Louise.
In Richtung Tür sagt unsere Heldin: "Mona? Mondstrahl?" Lauter sagt sie:
"Geistermädchen?"
Sie trommelt mit ihrem Kuli auf dem gefalteten Zeitungsblatt auf ihrem Schreibtisch herum und sagt: "Ein Nagetier mit fünf Buchstaben?"
Der Scanner, mit dem sie den Polizeifunk abhört, gurgelt, murmelt und bellt, und nach jedem Satz sagt er "Roger?". Und noch einmal: "Roger?"
Helen Boyle ruft: "Mit diesem Kaffee können Sie auch nichts reißen."
In einer Stunde muss sie ein Haus im Queen-Anne-Stil vorführen, fünf Schlafzimmer, Einliegerwohnung für die Schwiegermutter, zwei Gaskamine und spät abends im Spiegel des Schminkzimmers das Gesicht eines Mannes, der sich mit Barbituraten das Leben genommen hat. Danach eine Halbgeschossranch mit Gaszentralheizung, tiefer gelegter Sitzecke und den wiederkehrenden Phantomschüssen eines Doppelmordes, der sich vor über zehn Jahren zugetragen hatte. Das alles steht in ihrem dicken Terminkalender, der in rotes Leder oder etwas Ähnliches gebunden ist. Darin verzeichnet sie alles.
Sie nimmt noch einen Schluck Kaffee und sagt: "Wie nennen Sie diese Brühe?
Schweizer Armeemokka? Kaffee, der nicht nach Kaffee schmeckt, ist keiner."
Mona tritt mit verschränkten Armen in die Tür und sagt: "Was?"
Und Helen sagt: "Sehen Sie sich mal" - sie schiebt ein paar Datenblätter auf ihrer Kladde zusammen -, "sehen Sie sich mal Willmont Place Nr. 4673 an. Ein Haus im holländischen Kolonialstil mit Wintergarten, vier Schlafzimmern, zwei Bädern und schwerem Mord."
Der Polizeifunk sagt: "Roger?"
"Tun Sie nur das Übliche", sagt Helen, schreibt die Adresse auf einen Notizzettel und hält ihn ihr hin. "Keine Bedenken zerstreuen. Keinen Salbei verbrennen. Nichts exorzieren."
Mona nimmt den Zettel und sagt: "Bloß die Vibrations checken?"
Helen zerteilt mit einer Hand die Luft und sagt: "Ich will nicht, dass irgendjemand durch irgendwelche Tunnel auf irgendein Licht zugeht. Diese Freaks sollen hier bleiben, genau auf dieser astralen Ebene hier. Punkt." Sie blickt auf ihre Zeitung und sagt: "Zum Totsein haben sie noch eine ganze Ewigkeit. Dann können sie noch mal fünfzig Jahre in dem Haus rumhängen und mit Ketten rasseln."
Helen Hoover Boyle starrt das blinkende Wartelicht an und sagt: "Was haben Sie gestern in dem spanischen Sechs-Schlafzimmer-Haus gespürt?"
Und Mona verdreht die Augen. Sie schiebt die Kinnlade vor, pustet einen Seufzer senkrecht in die aufflatternden Haare vor ihrer Stirn und sagt: "Dort ist definitiv Energie zu spüren. Eine subtile Präsenz. Aber der Grundriss ist wunderbar." Eine schwarze Seidenschnur schlingt sich ihr um den Hals und verschwindet im Mundwinkel.
Und unsere Heldin sagt: "Scheiß auf den Grundriss."
Vergiss diese Traumhäuser, die du alle fünfzig Jahre nur einmal verkaufst.
Vergiss diese Kuschelnester. Und scheiß auf subtil: kalte Stellen, seltsame Ausdünstungen, reizbare Haustiere. Was sie brauchte, war Blut, das von den Wänden troff. Eiskalte unsichtbare Hände, die Kinder nachts aus dem Bett zerrten. Rote Augen, die im Dunkeln am Fuß der Kellertreppe leuchteten. Das und ein anständig wirkendes Äußeres.
Der Bungalow, Elm Street Nr. 521: vier Schlafzimmer, Originalausstattung und Schreie auf dem Dachboden.
Das Normandie-Haus Weston Heights Nr. 7645: Bogenfenster, Anrichteraum, bleiverglaste Schiebetüren und eine Leiche, die mit zahlreichen Stichwunden auf dem Flur in der oberen Etage umgeht.
Das Ranchhaus Levee Place Nr. 248 - fünf Schlafzimmer, viereinhalb Bäder, gemauerte Veranda: Dort wird seit einer Abflussreinigervergiftung regelmäßig Blut an die Wand des Elternschlafzimmers gehustet.
Immobilienmakler sprechen in solchen Fällen von belasteten Häusern. Das sind Häuser, die nie verkauft werden, weil niemand sie gern vorführt. Kein Makler will jemanden dorthin einladen und das Risiko eingehen, dort auch nur eine Minute allein zu verbringen. Andere Häuser dieser Art werden alle sechs Monate immer wieder aufs Neue verkauft, weil niemand dort leben kann. Eine ganze Reihe dieser Häuser, zwanzig oder dreißig mit Exklusivvertrag, und Helen brauchte nicht mehr den Polizeifunk abzuhören. Sie könnte aufhören, die Todesanzeigen und Polizeiberichte nach Morden und Selbstmorden zu durchforsten. Sie müsste Mona nicht mehr losschicken, um jeder möglichen Spur nachzugehen. Sie könnte einfach die Beine hochlegen und ein Huftier mit fünf Buchstaben suchen.
"Außerdem können Sie meine Sachen aus der Reinigung abholen", sagt sie. "Und besorgen Sie anständigen Kaffee." Sie zeigt mit dem Kuli auf Mona und sagt: "Und aus Respekt vor professionellem Verhalten: Lassen Sie diese kleinen Rastadinger zu Hause."
Mona zieht an der schwarzen Seidenschnur, bis ihr ein Quarzkristall aus dem Mund ploppt, glänzend und feucht. Sie bläst darauf und sagt: "Das ist ein Kristall.
Mein Freund - Oyster - hat mir den geschenkt."
Und Helen sagt: "Sie haben einen Freund, der Oyster heißt?"
Und Mona lässt den Kristall fallen, sodass er vor ihrer Brust baumelt, und sagt:
"Er sagt, der soll mich beschützen." Der Kristall macht einen dunklen feuchten Fleck auf ihre orangefarbene Bluse.
"Ach, und bevor Sie gehen", sagt Helen, "holen Sie mir Bill oder Emily Burrows ans Telefon."
Helen drückt wieder auf die Haltetaste und sagt: "Entschuldigen Sie." Sie sagt, es gebe hier zwei eindeutige Möglichkeiten. Der neue Besitzer könne ausziehen, einfach einen Zessionsvertrag unterschreiben, und schon habe die Bank das Haus am Hals.
"Oder", sagt unsere Heldin, "Sie übertragen das Recht, Ihr Haus zu verkaufen, exklusiv auf mich, natürlich vertraulich. Das wäre dann eine Westentaschenausschreibung, wie wir das nennen."
Und vielleicht sagt der neue Besitzer dieses Mal Nein. Aber wenn erst einmal diese abscheuliche Fratze im Badewasser zwischen seinen Beinen erschienen ist, wenn die Schatten an den Wänden zu wandern beginnen, tja, dann sagen sie schließlich alle Ja.
Am Telefon sagt der neue Besitzer: "Und Sie verraten den anderen Käufern nichts von dem Problem?"
Und Helen sagt: "Packen Sie gar nicht erst alles aus. Wir erzählen den Leuten einfach, dass Sie gerade ausziehen."
Falls jemand fragt, sagen Sie, man habe Sie in eine andere Stadt versetzt. Sagen Sie, Sie hätten dieses Haus geliebt.
Sie sagt: "Alles andere bleibt unser kleines Geheimnis."
Aus dem Vorzimmer sagt Mona: "Ich habe Bill Burrows auf Leitung zwei."
Und der Polizeifunk sagt: "Roger?"
Unsere Heldin drückt auf den nächsten Knopf und sagt: "Bill?"
Sie flüstert Mona das Wort Kaffee zu. Sie dreht ruckartig den Kopf zum Fenster und flüstert: "Gehen Sie."
Der Polizeifunk sagt: "Alles Roger?"
Das war Helen Hoover Boyle. Unsere Heldin. Inzwischen tot, aber nicht tot.
Irgendein Tag aus ihrem Leben. Es war das Leben, das sie führte, bevor dann ich auftauchte. Vielleicht ist das eine Liebesgeschichte, vielleicht auch nicht.
Hängt davon ab, wie sehr ich mir selbst glauben kann.
Es geht hier um Helen Hoover Boyle. Wie sie mich verfolgte. Ähnlich wie einem ein Song nicht aus dem Kopf gehen will. Wie man sich das Leben ausmalt. Wie man sich von allem faszinieren lässt. Wie die Vergangenheit einen in jeden Tag der Zukunft begleitet.
Dies ist. Das ist. Es ist alles zusammen, Helen Hoover Boyle.
Wir alle sind Jäger und Gejagte.
An diesem, dem letzten gewöhnlichen Tag ihres normalen Lebens, sagt unsere Heldin ins Telefon: "Bill Burrows?"
Sie sagt: "Holen Sie bitte Emily an den Nebenapparat, denn ich habe soeben nämlich das ideale Haus für Sie beide gefunden."
Sie schreibt das Wort "Pferd" und sagt: "Wie ich höre, sind die Verkäufer sehr angeregt."
1
Das Dumme an jeder Geschichte ist, dass man sie erst hinterher erzählt.
Selbst ein ausführlicher Bericht im Radio, in dem die Homeruns und Strikeouts alle geschildert werden, selbst das kommt mit einigen Minuten Verzögerung.
Selbst eine Live-Reportage im Fernsehen kommt mit ein paar Sekunden Verspätung.
Selbst Schall und Licht sind nicht schneller, als sie sind.
Ein weiteres Problem ist der Erzähler. Das Wer, Was, Wo, Wann und Warum des Berichterstatters. Die Verzerrung durch das Medium. Wie der Bote die Fakten formt. Was Journalisten den "Gatekeeper" nennen. Darstellung ist alles.
Die Geschichte hinter der Geschichte.
Wo ich dies erzähle: in dem einen oder dem anderen Café. Wo ich, Kapitel für Kapitel, dieses Buch schreibe: in allen möglichen Klein- und Großstädten und Käffern am Arsch der Welt.
Gemeinsam ist allen diesen Orten, dass dort Wunder geschehen. Man liest davon in den Schundgazetten: Heilungen und Erscheinungen, Wunder, von denen die seriöse Presse nie etwas berichtet.
Diese Woche ist es die Heilige Jungfrau von Welburn, New Mexico. Vorige Woche ist sie dort über die Hauptstraße geschwebt. Die langen roten und schwarzen Dreadlocks hinter ihr herflatternd, barfuß und schmutzig, trug sie einen in zwei Brauntönen bedruckten Indianerrock und ein rückenfreies Jeanstop. Das alles steht im World Miracles Report, der in jedem amerikanischen Supermarkt gleich neben der Kasse zu finden ist.
Und hier wäre ich also, eine Woche zu spät. Immer einen Schritt hinterher. Post festum.
Die Fliegende Jungfrau hatte rosa lackierte Fingernägel mit weißen Spitzen, von einigen Zeugen als Französische Maniküre bezeichnet. Die Fliegende Jungfrau hatte eine Dose Insektenspray bei sich und schrieb damit an den blauen Himmel von New Mexico:
Kriegt keine Kinder mehr (Sic)
Dann ließ sie die Dose fallen. Sie ist schon auf dem Weg zum Vatikan. Zur Analyse. Man kann schon Postkarten zu dem Ereignis kaufen. Sogar Videos.
Fast alles, was man kaufen kann, kommt hinterher. Gefangen. Tot. Gekocht.
In den Souvenirvideos schüttelt die Fliegende Jungfrau die Spraydose. Sie schwebt über der Hauptstraße und winkt der Menge zu. Aus ihrer Achselhöhle sprießt ein Büschel brauner Haare. Als sie zu schreiben beginnt, hebt ein Windstoß ihren Rock, und die Fliegende Jungfrau trägt darunter kein Höschen. Sie ist zwischen den Beinen rasiert.
Ich schreibe diese Geschichte von heute in einer Raststätte in Welburn, New Mexico, und rede mit Augenzeugen. Bei mir sitzt Sarge, ein verrunzelter alter irischer Cop. Auf dem Tisch zwischen uns liegt die Lokalzeitung, und man sieht die Überschrift einer dreispaltigen Anzeige:
Achtung an alle Kunden von Polstermöbelgeschäften
In der Anzeige heißt es: "Wenn aus Ihren neuen Polstermöbeln giftige Spinnen ausgeschlüpft sind, können Sie an einer Sammelklage teilnehmen." Dazu eine Telefonnummer, aber die bringt nichts.
Die lose Haut an Sarges Hals ist von der Art, die, wenn man einmal hineinkneift, bleibt wie sie ist. Er muss erst einen Spiegel finden, um die Haut wieder flach zu drücken.
Draußen fahren die Leute immer noch in die Stadt. Kniend beten sie um eine zweite Erscheinung. Sarge legt seine Pranken zusammen und tut so, als würde er beten, blickt aber aus dem Fenster; sein Halfter ist aufgeschnallt, seine Pistole geladen und zum Skeetschießen bereit.
Als sie ihren Text an den Himmel geschrieben hatte, blies die Fliegende Jungfrau den Leuten Kusshände zu. Machte mit zwei Fingern das Friedenszeichen. Schwebte über den Bäumen, hielt mit einer Hand den Rock unten, schüttelte ihre roten und schwarzen Dreadlocks und winkte. Amen. Und weg war sie, hinter den Bergen, hinterm Horizont. Weg.
Trotzdem kann man nicht allem trauen, was in der Zeitung steht.
Die Fliegende Madonna: Das war kein Wunder.
Es war Magie.
Es gibt keine Heiligen. Es gibt nur Zauber.
Sarge und ich, wir sind nicht hier, um etwas zu bezeugen. Wir sind Hexenjäger.
Aber diese Geschichte handelt nicht vom Hier und Jetzt. Ich, Sarge, die Fliegende Jungfrau. Helen Hoover Boyle. Was ich hier schreibe, ist die Geschichte, wie wir uns kennen gelernt haben. Wie wir hierher gekommen sind.
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Autoren-Porträt von Chuck Palahniuk
Der amerikanische Autor Chuck Palahniuk, geb. 1962, träumte lange davon, Schriftsteller zu werden. Doch erst ein persönlicher Einschnitt in seinem Leben gab ihm schließlich den Impuls, seinen Traum zu verwirklichen. Seit seinem Überraschungserfolg 'Fight Club' genießt Palahniuk nicht nur bei zahlreichen Lesern Kultstatus, er hat sich mit seinen folgenden Romanen auch in die Riege amerikanischer Bestsellerautoren geschrieben. Chuck Palahniuk lebt in Portland, Oregon.Werner Schmitz wurde 2011 mit dem "Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis" ausgezeichnet. Er wurde für seine Übersetzungen zeitgenössischer amerikanischer Literatur, insbesondere für seine Übertragung der Romane Paul Austers geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Chuck Palahniuk
- 2004, 1, 254 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmitz, Werner
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442545692
- ISBN-13: 9783442545698
Rezension zu „Lullaby “
"Wäre Palahniuk, 42, nicht mit einem unnachahmlichen, ins Zynisch-Nihilistische driftenden Witz begabt, er hätte als einer jener Apokalyptiker enden können, die an der Speaker's Corner im Londoner Hyde Park auf Bretterkisten stehen: Auch 'Lullaby' ist vor allem eine Tirade gegen den Wahnsinn der Welt - aber eine so brillante, dass man glatt glaubt, Worte könnten töten."SPIEGEL Szene
"Seine bisherigen Romane haben Chuck Palahniuk, einen Amerikaner französisch-russischer Abstammung, zum Kultautor gemacht. Nun hat der 42-jährige Schriftsteller mit 'Lullaby' eine brillante Satire auf die Reizüberflutung in der modernen Informationsgesellschaft vorgelegt, die nicht nur von einer originellen Idee lebt, sondern auch von der pointierten Sprache und einem Witz, der sich aus mehreren Kulturen nährt.
Es gibt, so besagt die Geschichte, ein afrikanisches Wiegenlied, das jeden, der es gesungen hört, tötet. Die Bedrohung ist unerhört, deshalb macht sich der Reporter Carl auf eine phantastische Reise durch Amerika, um der unheimlichen Bedrohung Einhalt zu gebieten. Die Faszination dieses Romans liegt in dem Gegensatz zwischen der realistischen, harten Sprache und den surrealen Geschehnissen. Berühmt wurde Palahniuk mit dem Buch 'Fight Club', das mittlerweile verfilmt ist.
dpa
"Palahnuik hat mit seinem scharfen Erzählton zweifellos einen Nerv getroffen, der nicht mehr nur eine kultische Subkultur-Fraktion begeistert."
spiegel online
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