Mein Dämon ist ein Stubenhocker
Aus dem Tagebuch eines Behinderten
Maximilian Dorner ist jung und begabt, gut aussehend und erfolgreich. Er genoss das Leben und hatte ehrgeizige Pläne. Dann war plötzlich alles anders.
Vor zwei Jahren erfuhr Dorner, dass er Multiple Sklerose hat und sein restliches Leben...
Vor zwei Jahren erfuhr Dorner, dass er Multiple Sklerose hat und sein restliches Leben...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mein Dämon ist ein Stubenhocker “
Maximilian Dorner ist jung und begabt, gut aussehend und erfolgreich. Er genoss das Leben und hatte ehrgeizige Pläne. Dann war plötzlich alles anders.
Vor zwei Jahren erfuhr Dorner, dass er Multiple Sklerose hat und sein restliches Leben auf starke Medikamente und Hilfe angewiesen sein wird. Dorner ist behindert - und fühlt sich auch so. "Ich bin ein Mann von vierunddreißig Jahren. Ich möchte nicht, wenn ich im Rollstuhl, mit Krücken oder sonst wie humpelnd, stolpernd, torkelnd zu einer Party komme, allen die Laune verderben, damit die Gäste während einer Schweigeminute über die Musikauswahl für ihr eigenes Begräbnis nachdenken können. Da ist mir die pragmatische Reaktion einer verschleiert dreinblickenden Frau doch lieber, die bei einer solchen Party abwechselnd auf meinen Stock und auf mich starrte. Entschuldigend sagte ich: "Ich habe eine Nervenkrankheit und kann nicht mehr ohne Hilfsmittel gehen." Sie brauchte ein paar Sekunden, um die Information zu verarbeiten, rang mit sich. Schließlich entgegnete sie: "Ach, wie unpraktisch! Gerade auf einer Stehparty."
Für die größte Behinderung hält Maximilian Dorner das Schweigen und Verstecken - gleich von wem, behindert oder nicht. In seinem "Tagebuch eines Behinderten" schreibt er daher über die Fragen seines neuen Alltags: Schaffe ich noch den Weg bis zur nächsten Ampel? Können Brille, Stock oder Rollstuhl ein Teil von mir werden? Bin ich nun der Typ mit dem Stock oder der mit den braunen Augen? Warum fahr ich Wahnsinniger jetzt nach Lanzarote? Und woran messe ich Erfolg? Warum schäme ich mich eigentlich - und muss ich jetzt tapfer sein? Wie kommt es, dass meine Behinderung solche Kräfte freisetzt?
Maximilian Dorner hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben - offen, ebenso klug wie komisch und mit messerscharfer Beobachtungsgabe.
Vor zwei Jahren erfuhr Dorner, dass er Multiple Sklerose hat und sein restliches Leben auf starke Medikamente und Hilfe angewiesen sein wird. Dorner ist behindert - und fühlt sich auch so. "Ich bin ein Mann von vierunddreißig Jahren. Ich möchte nicht, wenn ich im Rollstuhl, mit Krücken oder sonst wie humpelnd, stolpernd, torkelnd zu einer Party komme, allen die Laune verderben, damit die Gäste während einer Schweigeminute über die Musikauswahl für ihr eigenes Begräbnis nachdenken können. Da ist mir die pragmatische Reaktion einer verschleiert dreinblickenden Frau doch lieber, die bei einer solchen Party abwechselnd auf meinen Stock und auf mich starrte. Entschuldigend sagte ich: "Ich habe eine Nervenkrankheit und kann nicht mehr ohne Hilfsmittel gehen." Sie brauchte ein paar Sekunden, um die Information zu verarbeiten, rang mit sich. Schließlich entgegnete sie: "Ach, wie unpraktisch! Gerade auf einer Stehparty."
Für die größte Behinderung hält Maximilian Dorner das Schweigen und Verstecken - gleich von wem, behindert oder nicht. In seinem "Tagebuch eines Behinderten" schreibt er daher über die Fragen seines neuen Alltags: Schaffe ich noch den Weg bis zur nächsten Ampel? Können Brille, Stock oder Rollstuhl ein Teil von mir werden? Bin ich nun der Typ mit dem Stock oder der mit den braunen Augen? Warum fahr ich Wahnsinniger jetzt nach Lanzarote? Und woran messe ich Erfolg? Warum schäme ich mich eigentlich - und muss ich jetzt tapfer sein? Wie kommt es, dass meine Behinderung solche Kräfte freisetzt?
Maximilian Dorner hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben - offen, ebenso klug wie komisch und mit messerscharfer Beobachtungsgabe.
Klappentext zu „Mein Dämon ist ein Stubenhocker “
Maximilian Dorner ist jung und begabt - und seit zwei Jahren ist er behindert. Das hat sein Leben von Grund auf verändert. In seinem Tagebuch schreibt er über die Fragen, die sein neuer Alltag ihm stellt: Schaffe ich den Weg bis zur nächsten Ampel? Wieso schäme ich mich vor mir selbst? Bin ich der Typ mit dem Stock oder der mit den sanften Augen? Warum ist mein Dämon ein Stubenhocker, der am liebsten im Tarnanzug schläft? Dorners Antworten sind mal mild und leise, mal traurig, oft sehr komisch und immer messerscharf beobachtet. Er hat ein besonderes Buch über einen zutiefst menschlichen Zustand geschrieben - in einem bisher unbekannten Tonfall.
Lese-Probe zu „Mein Dämon ist ein Stubenhocker “
Mein Dämon ist ein Stubenhocker von Maximilian Dorner LESEPROBE September
Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,
Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben,
Als meinen Schatten in der Sonne spähn
Und meine eigne Missgestalt erörtern.
1. September
»Mach schneller!«
Der betrunkene Penner überholt ungeduldig einen jungen Mann vor sich. Dieser bleibt für einen Augenblick stehen, als wolle er etwas erwidern, senkt den Blick aber gleich wieder. Ganz in Schwarz gekleidet, Anfang dreißig mit einem jungenhaften Gesicht, Dreitagebart und einer Intellektuellenbrille. Mit der einen Hand zieht er ein Rollköfferchen hinter sich her über den unebenen Bürgersteig. Mit der anderen stützt er sich auf einen schwarzen Holzstock. Das Köfferchen und der Stock passen nicht so richtig zusammen.
Er bewegt sich langsam, mit schleppenden Schritten, den Mund zusammengekniffen. Das rechte Bein zieht er leicht nach. Anscheinend beschäftigt ihn etwas, unhörbar murmelt er in sich hinein. Vielleicht ein Schauspieler oder ein Vertreter.
... mehr
Alle Augenblicke sieht er zu der ungefähr zweihundert Meter entfernten Ampel wie zu einem Gipfelkreuz. Mit dieser Geschwindigkeit wird er sein Ziel nie erreichen, gleichgültig, wo er hin möchte. Fast scheint es so, als ob er es darauf anlegen würde. Statt einen Zahn zuzulegen, wird er langsamer, trödelt wie ein Schulkind. Fünf Meter vor der Ampel bleibt er auf den Stock gestützt stehen. Tränen laufen ihm über die Wangen. Doch gleichzeitig grinst er.
Kopfschüttelnd torkelt der Penner in eine andere Richtung davon und murmelt:
»So ein Spinner.«
Ich wische mir mit dem Ärmel meines Jacketts das Gesicht ab. Sich in andere Menschen hineinzuversetzen, wie meine Schwester rät, führt nicht zwangsläufig zu erfreulichen Einsichten. Für die letzten Meter umfasse ich mit festem Griff meinen Stock. Die werde ich auch noch schaffen. Und wenn ich krieche.
Seit zwei Jahren, und im Verborgenen wohl viel länger, habe ich Multiple Sklerose. Die Bezeichnung ist so hässlich wie die Sache selbst. Seitdem ist das Gehen für mich keine Selbstverständlichkeit mehr, das Tasten, das Sehen, das Gleichgewicht. Die Unbeschwertheit verflogen, der Abenteuergeist gezügelt (wenigstens das, seufzen meine Eltern). Nun ja, nicht ganz, sonst hätte ich nicht wider besseres Wissen die U-Bahn genommen, nur um mir ein bisschen Normalität vorzugaukeln. – Wieder einmal habe ich mich um hundert Meter verschätzt, auf dem Weg zu Freunden. Sie wohnen in dem Altbau hinter der verdammten Ampel, es sind nur noch zehn Meter. Aber es sind zehn Meter zu viel, sie fordern meinen ganzen Willen. Die leichte Steigung wird zu einem kaum überwindbaren Hindernis.
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?« Auf einer Wanderung von Stuttgart ans Meer hat es mir geholfen, die beiden Psalm-Verse als Mantra zu wiederholen, wenn die Füße bereits müde waren, aber der nächste Ort noch fern. Vor vier Jahren habe ich zum ersten Mal erlebt, was es heißt, bis an die Grenzen zu gehen, auch wenn das damals vierzig Kilometer waren und nicht wie heute vierhundert Meter. Im Rückblick erscheint es mir wie eine Übung für den Ernstfall. Ich zehre von diesen Erfahrungen. Immerhin brauche ich heute keinen Marathon mehr zu laufen, um zu wissen, wie sich völlige Erschöpfung anfühlt.
Die abenteuerliche Welt um mich herum ist wieder auf Kinderdimensionen geschrumpft. Freunde fahren nach Südamerika, klettern im Himalaja herum oder lassen sich von asiatischen Mücken zerstechen. Ich winke ab: Mir reicht ein Park ohne Bank oder eben der nicht endende Bürgersteig neben dieser dicht befahrenen Straße. Aber die neuen Abenteuer sind nicht mehr die eines tollkühnen Jungen. Hinzu kommt das Bewusstsein, dass dies viele Jahre – wahrscheinlich sogar noch schlimmer – so weitergehen soll, muss. Lebenslänglich.
Woher kommt mir Hilfe?
Das Rollköfferchen fühlt sich an wie eine Fußfessel, die hinter mir herschleift. Aber ich bin kein entflohener Häftling, vor mir liegt nicht die Freiheit in der untergehenden Sonne der Prärie, sondern nur der Döner Grill West in Stuttgart. Das rechte Bein reagiert verzögert, ein trotziges Kind. Jeder Schritt ist eine Qual, den Fuß hochheben, nach vorne schlanzen, das Gleichgewicht verlagern. Es ist ganz großes Theater, allerdings nur in meinem kranken Kopf. Alle Versuche, es jemandem zu erklären, scheiterten bis gekommen stellt sich heraus, dass mir die Freunde nur den Briefkastenschlüssel gegeben haben. Ich muss laut lachen. Mein Retter hüpft die Treppen hinunter und mit dem Schlüssel wieder herauf.
»Sind Sie krank?«, fragt er mich.
»Nein, ich bin behindert.«
»Wirklich? Das sieht man gar nicht.« Und nach einer Pause setzt er hinzu: »Aber das ist nicht so schlimm.«
2. September
Am Sonntagmorgen warte ich auf der zerschlissenen Ledercouch, bis meine Freunde aufstehen. Eine zerfledderte Schulbibel liegt quer über den Asien-Reiseführern im Bücherschrank, der Buchblock mit Kugelschreiberornamenten verziert. Ich ziehe sie heraus, um den Psalm mit den Bergen nachzuschlagen.
»Nimm und lies!«: Augustinus fand so auf den rechten Weg, nachdem ein Nachbarsjunge ihn mit diesem Ausruf ermuntert hatte, die Bibel aufzuschlagen und die erstbeste Stelle auf sich zu beziehen. Vielleicht gelingt mir das auch. Es muss ja nicht gleich zur Heiligsprechung führen. Also schließe ich die Augen, lasse die Seiten durch die Hände schnurren – und schummle nur insofern, als ich im hinteren Drittel stoppe: Das Neue Testament scheint mir sicherer.
Mit dem Zeigefinger fahre ich über die Zeilen, zähle bis drei und halte an. Ich muss laut lachen: »Da brachte man einen Gelähmten zu ihm, er wurde von vier Männern getragen.« – Punktlandung bei der »Heilung des Gelähmten«.
Da sich im Haus alle um Jesus drängeln und dort kein Durchkommen ist, haben die vier kurzerhand das Dach abgedeckt und lassen den Gelähmten auf seiner Bahre hinunter. Pragmatiker haben mir immer imponiert. Jesus scheint verwundert in seiner Predigt innezuhalten, jedenfalls blickt er zu den vieren hoch, er sieht ihren Glauben, heißt es. Wie sie atemlos durch das Loch in der Decke lugen, die Seile in der Hand. Es hat etwas von Vordrängeln, aber charmant. Jeder beobachtet jeden in diesem Augenblick: Jesus schaut auf die vier Männer; das Volk und die Schriftgelehrten, die aus heiterem Himmel aufgetaucht sind, mustern Jesus. Wen der Gelähmte ansieht, bleibt offen. Wahrscheinlich starrt er auf den Boden. Mir an seiner Stelle wäre die Situation unglaublich peinlich.
Unvermittelt sagt Jesus in die Stille: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. – Hallo?! Verwechselt er da nicht etwas? Vor ihm liegt ein Gelähmter und nicht Maria Magdalena. Was haben dessen Sünden mit der Lähmung zu schaffen? Ist er gelähmt, weil er ein Sünder ist, die Behinderung also eine Strafaktion Gottes? Obwohl ich die Passage dreimal durchlese, erschließt sie sich mir nicht. Im Gegenteil, es wird noch unverständlicher. Als ob die Angelegenheit nicht schon verzwickt genug wäre, geht es bei der anschließenden Diskussion zwischen Jesus und den Schriftgelehrten gar nicht mehr um den Gelähmten, sondern um die berechtigte Frage, ob und wer wen von Sünden freisprechen darf. Als ob man das nicht später klären könnte. Das Ganze erinnert an eine Chefarztvisite, bei der nicht der Kranke im Mittelpunkt steht, sondern der Oberarzt. Jesus kürzt schließlich die Diskussion ab, indem er den Gelähmten heilt und nach Hause schickt. Der nimmt seine Bahre und geht davon. Über die vier Männer oben erfährt man nichts weiter. Das umstehende Volk applaudiert wie in einer Talkshow. Alle geraten außer sich und rufen: So etwas haben wir bisher nicht gesehen.
Ich klappe die Bibel zu und stelle sie zurück zu den Reiseführern ins Regal. Doch der behauptete Zusammenhang zwischen Behinderung und Sünde lässt mich nicht los: Ist die Behinderung die notwendige Folge meiner Sünden? Dann muss ich einiges auf dem Kerbholz haben. © Zabert Sandmann Verlag
Kopfschüttelnd torkelt der Penner in eine andere Richtung davon und murmelt:
»So ein Spinner.«
Ich wische mir mit dem Ärmel meines Jacketts das Gesicht ab. Sich in andere Menschen hineinzuversetzen, wie meine Schwester rät, führt nicht zwangsläufig zu erfreulichen Einsichten. Für die letzten Meter umfasse ich mit festem Griff meinen Stock. Die werde ich auch noch schaffen. Und wenn ich krieche.
Seit zwei Jahren, und im Verborgenen wohl viel länger, habe ich Multiple Sklerose. Die Bezeichnung ist so hässlich wie die Sache selbst. Seitdem ist das Gehen für mich keine Selbstverständlichkeit mehr, das Tasten, das Sehen, das Gleichgewicht. Die Unbeschwertheit verflogen, der Abenteuergeist gezügelt (wenigstens das, seufzen meine Eltern). Nun ja, nicht ganz, sonst hätte ich nicht wider besseres Wissen die U-Bahn genommen, nur um mir ein bisschen Normalität vorzugaukeln. – Wieder einmal habe ich mich um hundert Meter verschätzt, auf dem Weg zu Freunden. Sie wohnen in dem Altbau hinter der verdammten Ampel, es sind nur noch zehn Meter. Aber es sind zehn Meter zu viel, sie fordern meinen ganzen Willen. Die leichte Steigung wird zu einem kaum überwindbaren Hindernis.
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?« Auf einer Wanderung von Stuttgart ans Meer hat es mir geholfen, die beiden Psalm-Verse als Mantra zu wiederholen, wenn die Füße bereits müde waren, aber der nächste Ort noch fern. Vor vier Jahren habe ich zum ersten Mal erlebt, was es heißt, bis an die Grenzen zu gehen, auch wenn das damals vierzig Kilometer waren und nicht wie heute vierhundert Meter. Im Rückblick erscheint es mir wie eine Übung für den Ernstfall. Ich zehre von diesen Erfahrungen. Immerhin brauche ich heute keinen Marathon mehr zu laufen, um zu wissen, wie sich völlige Erschöpfung anfühlt.
Die abenteuerliche Welt um mich herum ist wieder auf Kinderdimensionen geschrumpft. Freunde fahren nach Südamerika, klettern im Himalaja herum oder lassen sich von asiatischen Mücken zerstechen. Ich winke ab: Mir reicht ein Park ohne Bank oder eben der nicht endende Bürgersteig neben dieser dicht befahrenen Straße. Aber die neuen Abenteuer sind nicht mehr die eines tollkühnen Jungen. Hinzu kommt das Bewusstsein, dass dies viele Jahre – wahrscheinlich sogar noch schlimmer – so weitergehen soll, muss. Lebenslänglich.
Woher kommt mir Hilfe?
Das Rollköfferchen fühlt sich an wie eine Fußfessel, die hinter mir herschleift. Aber ich bin kein entflohener Häftling, vor mir liegt nicht die Freiheit in der untergehenden Sonne der Prärie, sondern nur der Döner Grill West in Stuttgart. Das rechte Bein reagiert verzögert, ein trotziges Kind. Jeder Schritt ist eine Qual, den Fuß hochheben, nach vorne schlanzen, das Gleichgewicht verlagern. Es ist ganz großes Theater, allerdings nur in meinem kranken Kopf. Alle Versuche, es jemandem zu erklären, scheiterten bis gekommen stellt sich heraus, dass mir die Freunde nur den Briefkastenschlüssel gegeben haben. Ich muss laut lachen. Mein Retter hüpft die Treppen hinunter und mit dem Schlüssel wieder herauf.
»Sind Sie krank?«, fragt er mich.
»Nein, ich bin behindert.«
»Wirklich? Das sieht man gar nicht.« Und nach einer Pause setzt er hinzu: »Aber das ist nicht so schlimm.«
2. September
Am Sonntagmorgen warte ich auf der zerschlissenen Ledercouch, bis meine Freunde aufstehen. Eine zerfledderte Schulbibel liegt quer über den Asien-Reiseführern im Bücherschrank, der Buchblock mit Kugelschreiberornamenten verziert. Ich ziehe sie heraus, um den Psalm mit den Bergen nachzuschlagen.
»Nimm und lies!«: Augustinus fand so auf den rechten Weg, nachdem ein Nachbarsjunge ihn mit diesem Ausruf ermuntert hatte, die Bibel aufzuschlagen und die erstbeste Stelle auf sich zu beziehen. Vielleicht gelingt mir das auch. Es muss ja nicht gleich zur Heiligsprechung führen. Also schließe ich die Augen, lasse die Seiten durch die Hände schnurren – und schummle nur insofern, als ich im hinteren Drittel stoppe: Das Neue Testament scheint mir sicherer.
Mit dem Zeigefinger fahre ich über die Zeilen, zähle bis drei und halte an. Ich muss laut lachen: »Da brachte man einen Gelähmten zu ihm, er wurde von vier Männern getragen.« – Punktlandung bei der »Heilung des Gelähmten«.
Da sich im Haus alle um Jesus drängeln und dort kein Durchkommen ist, haben die vier kurzerhand das Dach abgedeckt und lassen den Gelähmten auf seiner Bahre hinunter. Pragmatiker haben mir immer imponiert. Jesus scheint verwundert in seiner Predigt innezuhalten, jedenfalls blickt er zu den vieren hoch, er sieht ihren Glauben, heißt es. Wie sie atemlos durch das Loch in der Decke lugen, die Seile in der Hand. Es hat etwas von Vordrängeln, aber charmant. Jeder beobachtet jeden in diesem Augenblick: Jesus schaut auf die vier Männer; das Volk und die Schriftgelehrten, die aus heiterem Himmel aufgetaucht sind, mustern Jesus. Wen der Gelähmte ansieht, bleibt offen. Wahrscheinlich starrt er auf den Boden. Mir an seiner Stelle wäre die Situation unglaublich peinlich.
Unvermittelt sagt Jesus in die Stille: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. – Hallo?! Verwechselt er da nicht etwas? Vor ihm liegt ein Gelähmter und nicht Maria Magdalena. Was haben dessen Sünden mit der Lähmung zu schaffen? Ist er gelähmt, weil er ein Sünder ist, die Behinderung also eine Strafaktion Gottes? Obwohl ich die Passage dreimal durchlese, erschließt sie sich mir nicht. Im Gegenteil, es wird noch unverständlicher. Als ob die Angelegenheit nicht schon verzwickt genug wäre, geht es bei der anschließenden Diskussion zwischen Jesus und den Schriftgelehrten gar nicht mehr um den Gelähmten, sondern um die berechtigte Frage, ob und wer wen von Sünden freisprechen darf. Als ob man das nicht später klären könnte. Das Ganze erinnert an eine Chefarztvisite, bei der nicht der Kranke im Mittelpunkt steht, sondern der Oberarzt. Jesus kürzt schließlich die Diskussion ab, indem er den Gelähmten heilt und nach Hause schickt. Der nimmt seine Bahre und geht davon. Über die vier Männer oben erfährt man nichts weiter. Das umstehende Volk applaudiert wie in einer Talkshow. Alle geraten außer sich und rufen: So etwas haben wir bisher nicht gesehen.
Ich klappe die Bibel zu und stelle sie zurück zu den Reiseführern ins Regal. Doch der behauptete Zusammenhang zwischen Behinderung und Sünde lässt mich nicht los: Ist die Behinderung die notwendige Folge meiner Sünden? Dann muss ich einiges auf dem Kerbholz haben. © Zabert Sandmann Verlag
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Autoren-Porträt von Maximilian Dorner
Maximilian Dorner, 1973 in München geboren, studierte Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie und arbeitet heute als Opernregisseur und Lektor.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maximilian Dorner
- 2008, 3. Aufl., 165 Seiten, Maße: 12,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ZS - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
- ISBN-10: 3898831981
- ISBN-13: 9783898831987
- Erscheinungsdatum: 03.03.2008
Rezension zu „Mein Dämon ist ein Stubenhocker “
"Ein furioses Buch. Einer der begabtesten Jungautoren Bayerns." Welt am Sonntag"Offen, ehrlich und mit viel Humor" Hallo Deutschland (ZDF)"Das coolste Buch seit langem." in München "Ein kluges, tiefgehendes, aber vor allem humorvolles Buch darüber, wie es ist, sich mit Anfang 30 gebrechlich wie ein Rentner zu fühlen." Maxi"Sehr persönlich, wortgewandt und pointiert greift er auch Tabuthemen auf." Gesundheit. Das Magazin für Lebensqualität "... ein aufregendes, lohnendes Buch" Berliner Zeitung
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