Neue Gedanken - neues Gehirn
Die Wissenschaft der Neuroplastizität beweist, wie unser Bewusstsein das Gehirn verändert
Naturwissenschaft am Wendepunkt: Die Grundlagen der Gehirnphysiologie müssen neu definiert werden.<br /><br />Lange Zeit hielt man das Gehirn des Menschen für unveränderlich - vergleichbar der Hardware eines Computers. Inzwischen...
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Produktinformationen zu „Neue Gedanken - neues Gehirn “
Naturwissenschaft am Wendepunkt: Die Grundlagen der Gehirnphysiologie müssen neu definiert werden.<br />
<br />Lange Zeit hielt man das Gehirn des Menschen für unveränderlich - vergleichbar der Hardware eines Computers. Inzwischen sprechen viele wissenschaftliche Erkenntnisse dagegen. Damit nähert sich die Wissenschaft des Nervensystems dem spirituellen Weltbild des Ostens, das davon ausgeht, dass der Geist die Materie beherrscht. Die Implikationen dessen, was Wissenschaftler heute als "Neuroplastizität" bezeichnen, sind revolutionär. Die renommierte Wissenschaftsjournalistin Sharon Begley beschreibt hier die spannende Entwicklung der Neurowissenschaften, die durch Zusammenarbeit mit Meditationsmeistern herauszufinden versuchen, wie und in welchem Maße Gedanken und Emotionen unser Gehirn beeinflussen. Buddhistische Erfahrungen belegen: Wir können Depression in Freude verwandeln und Aggression in Mitgefühl. Das heißt: Wir sind nicht Opfer unserer Gene, sondern selbst verantwortlich für unser Denken und Fühlen.<br />
<br />. Eindrucksvolle Bestätigung buddhistischer Bewusstseins- und Meditationserfahrungen.<br />
<br />. Hervorragender Wissenschaftsjournalismus: Die atemberaubenden Konsequenzen der "Neuroplastizität".<br />
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Klappentext zu „Neue Gedanken - neues Gehirn “
Lange Zeit hielt man das Gehirn des Menschen für unveränderlich, vergleichbar der Hardware eines Computers. Inzwischen sprechen viele wissenschaftliche Erkenntnisse dagegen. Damit nähert sich die Wissenschaft des Nervensystems dem spirituellen Weltbild des Ostens, das davon ausgeht, dass der Geist die Materie beherrscht. Die Implikationen dessen, was Wissenschaftler heute als "Neuroplastizität" bezeichnen, sind revolutionär. Die renommierte Wissenschaftsjournalistin Sharon Begley beschreibt hier die spannende Entwicklung der Neurowissenschaften, die durch Zusammenarbeit mit Meditationsmeistern herauszufinden versuchen, wie und in welchem Maße Gedanken und Emotionen unser Gehirn beeinflussen. Buddhistische Erfahrungen belegen: Wir können Depression in Freude verwandeln und Aggression in Mitgefühl. Das heißt: Wir sind nicht Opfer unserer Gene, sondern selbst verantwortlich für unser Denken und Fühlen. Eindrucksvolle Bestätigung buddhistischer Bewusstseins und Meditationserfahrungen.Hervorragender Wissenschaftsjournalismus: Die atemberaubenden Konsequenzen der "Neuroplastizität".
Lese-Probe zu „Neue Gedanken - neues Gehirn “
Geleitwort des Dalai LamasSchon fast zwanzig Jahre sind vergangen, seit die erste "Mind and Life"-Konferenz in Dharamsala stattgefunden hat. Einige Persönlichkeiten, die maßgeblich am Zustandekommen dieses Dialogs zwischen dem Buddhismus und der modernen Wissenschaft beteiligt waren, wie Robert Livingston und Francesco Varela, weilen inzwischen nicht mehr unter uns. Dennoch bin ich mir sicher, dass sie ihre Begeisterung mit den herausragenden Wissenschaftlern, Meditationsmeistern, Mönchen und anderen Teilnehmern an diesen Konferenzen teilen und stolz auf das sind, was bislang durch unsere Gespräche erreicht worden ist.
Obgleich die moderne Wissenschaft und die Tradition der buddhistischen Meditationspraxis sehr verschiedene historische, kulturelle und intellektuelle Ursprünge haben, verfügen beide auch über viele Gemeinsamkeiten. Auf die eine oder andere Weise haben beide Traditionen das Ziel, dem Menschen das Leben zu erleichtern. Beide lehnen die Vorstellung absoluter Gegebenheiten ab, sei es als Existenz eines transzendenten Schöpfers oder einer unveränderbaren Seele, und befassen sich stattdessen mit dem realen Leben und den natürlichen Gesetzen von Ursache und Wirkung. Beide Traditionen gehen empirisch an das Wissen heran. Ein grundlegendes buddhistisches Prinzip besagt, dass der menschliche Geist ein ungeheures Potenzial zur Transformation hat. Im Gegensatz dazu war die Wissenschaft bis vor Kurzem noch der Meinung, dass der Geist seinen Sitz und Ursprung im Gehirn hat, das seine Struktur in der frühen Kindheit erhält und sich hinterher nur noch wenig verändert.
Praktizierende Buddhisten, die damit vertraut sind, wie der Geist funktioniert, wissen schon seit Langem, dass er durch Training transformiert werden kann. Neu und aufregend ist, dass Wissenschaftler nun herausgefunden haben, dass geistiges Training auch das Gehirn verändern kann. Das Gehirn entwickelt sich in Reaktion auf wiederholte Aktivitätsmuster, sodass seine Form tatsächlich ein
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Ausdruck des Lebens ist, das wir führen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Auswirkungen unserer alltäglichen Gewohnheiten auf unser Leben, zeigt aber auch das positive Potenzial von Disziplin und spiritueller Praxis. Der Beweis, dass wichtige Gehirnabschnitte, wie zum Beispiel die Sehrinde, ihre Funktionsweise bestimmten Lebensumständen anpassen können, offenbart eine erstaunliche Formbarkeit, die nicht für möglich gehalten wurde, solange man die Gehirnaktivität rein mechanistisch interpretierte.
Forschungsergebnisse, die zeigen, dass das Ausmaß mütterlicher Liebe und körperlichen Kontakts mit dem Kind verschiedene genetische Reaktionen hervorrufen kann, machen deutlich, welche Bedeutung die Kindererziehung hat, wenn wir eine harmonische Gesellschaft schaffen wollen. Auf der anderen Seite ist es sehr ermutigend zu wissen, dass therapeutische Methoden denjenigen Menschen helfen können, die aufgrund von Vernachlässigung in der Kindheit Schwierigkeiten damit haben, Wärme und Mitgefühl für ihre Mitmenschen zu empfinden. Wenn darüber berichtet wird, dass die normale Funktion durch Therapie wiederhergestellt werden kann, dann handelt es sich um aufregende, innovative Entdeckungen. Auch gibt es inzwischen eine positive Antwort auf eine Frage, mit der ich mich schon seit Jahren beschäftige. Forscher haben nämlich herausgefunden, dass das, was die Menschen denken, tatsächlich ihr Gehirn verändert.
Wie viele Leser vielleicht wissen, interessiere ich mich nicht nur für die Wissenschaft, sondern bin auch ein leidenschaftlicher Gärtner. Aber die Gartenarbeit ist von vielen Faktoren abhängig. Man kann viel Zeit darauf verwenden, den Boden vorzubereiten, behutsam die Samen in die Erde zu bringen, sie regelmäßig zu gießen und ihr Wachstum zu beobachten. Und doch gibt es Einflüsse, die wir nicht kontrollieren können, besonders nicht an einem Ort wie Dharamsala, wo ich lebe und wo es manchmal sehr heiß und feucht ist und viel Regen fällt. Diese Einflüsse können dazu führen, dass all unsere Mühe vergeblich war. Es ist daher eine besondere Freude, und andere Gärtner werden dies sicherlich bestätigen, wenn die Pflanzen, um die man sich so gesorgt hat, auch tatsächlich blühen und gedeihen. In Bezug auf die Forschungsergebnisse im Bereich der Neuroplastizität (die auf unserer Konferenz vorgetragen und diskutiert wurden und die in diesem Buch festgehalten sind) empfinde ich solch ein Gefühl der Freude, denn wir haben einen Wendepunkt erreicht. Buddhismus und moderne Wissenschaft fangen an, sich gegenseitig zu befruchten, mit großen praktischen Auswirkungen auf das menschliche Wohlergehen.
Ein bedeutender tibetischer Lehrer hat einmal gesagt, eine der erstaunlichsten Eigenschaften des Geistes bestünde darin, dass er transformiert werden kann. Die Forschungsergebnisse, die in diesem Buch präsentiert werden, bestätigen, dass gezieltes Geistestraining das menschliche Gehirn nachweisbar verändert. Die Auswirkungen dieser Erkenntnis werden sich nicht auf unser Wissen über den Geist beschränken. Sie haben eine praktische Bedeutung für unser Bildungs- und Gesundheitswesen und unterstreichen, wie wichtig es ist, ein Leben nach ethischen Grundsätzen zu führen.
Das "Mind and Life"-Institut ist zu einem bedeutenden Netzwerk von Wissenschaftlern, Gelehrten und interessierten Laien geworden, denen daran liegt, eine sowohl kontemplative und mitfühlende als auch streng experimentelle und empirische Wissenschaft des Geistes ins Leben zu rufen. Wir hoffen, dass eine solche Wissenschaft einen positiven Einfluss auf Medizin, Neurowissenschaft, Psychologie, Bildungswesen und die menschliche Entwicklung haben wird. Ich persönlich glaube, dass die Arbeit des Instituts sehr wertvoll ist, und ich danke nicht nur den Wissenschaftlern, die keine Zeit und Mühen gescheut haben, um ihre Forschungsergebnisse vorzustellen, sondern auch denjenigen, die unsere Treffen und Konferenzen organisieren und koordinieren. Ein Teil der Aufgabe des Instituts besteht auch darin, für allgemeinverständliche Publikationen unserer Konferenzprotokolle zu sorgen, sodass das, was als halbprivate Gespräche stattfindet, auch einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. Ich danke daher an dieser Stelle besonders Sharon Begley dafür, dass sie aus dem Material der Konferenz 2004 ein attraktives Buch gemacht hat, das die Vorarbeiten, Gespräche und Ergebnisse mit großer Genauigkeit wiedergibt. Ich bin zuversichtlich, dass die bahnbrechenden Entdeckungen, über die sie berichtet, großen Einfluss darauf haben, wie wir unsere Zukunft gestalten, und so zu einer positiven Entwicklung der Menschheit beitragen werden.
September 2006
Vorwort von Daniel Goleman
Als Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, sich im Oktober 2004 für eine Woche mit einer Handvoll von Neurowissenschaftlern an seiner indischen Residenz in Dharamsala traf, ging es um das Thema "Neuroplastizität" - die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern. Bis vor Kurzem wäre es noch unvorstellbar gewesen, dass dieses Thema Gegenstand einer ernsthaften wissenschaftlichen Diskussion sein könnte. Ein Jahrhundert lang lautete das herrschende Dogma der Neurowissenschaft, dass das Gehirn sich in der frühen Kindheit bildet und später nicht mehr verändert.
Aber durch die Weiterentwicklung der Forschung landete auch diese Annahme, wie schon so viele andere wissenschaftliche "Tatsachen", im Mülleimer der Geschichte. In der Neurowissenschaft gibt es mittlerweile einen aufblühenden Forschungszweig, in dem untersucht wird, wie sich das Gehirn im Laufe des Lebens immer wieder neu strukturiert. Dieses Buch ist eine hervorragende Einführung in diese neue, vielversprechende Wissenschaft.
Besonders faszinierend an den Gesprächen, die hier wiedergegeben werden, sind ihre Teilnehmer. Viele weltweit führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Neuroplastizität reisten um den halben Globus nach Indien, um ihre Forschungsergebnisse mit dem Dalai Lama zu diskutieren. Der Grund: Die meditative Praxis der buddhistischen Mönche und Meditationsmeister bot den Neurowissenschaftlern die einmalige Gelegenheit, eine natürlich auftretende Form von Neuroplastizität zu untersuchen. Seit Jahrtausenden schon erforschen die Meditationsmeister die Veränderbarkeit des Gehirns. Sie haben das, was sie herausfanden, systematisiert und als Anleitungen und Lehren an zukünftige Generationen weitergegeben, bis auf den heutigen Tag.
Eine der Fragen, die der Dalai Lama stellte, war besonders provokativ und lautete: Kann das Denken das Gehirn verändern? Im Laufe der Jahre hatte er diesen Punkt in Gesprächen mit Wissenschaftlern immer wieder vorgebracht und meistens eine ablehnende Antwort erhalten. Was nicht weiter verwundert, denn eine der grundlegenden Annahmen der Neurowissenschaft besteht darin, dass geistige Prozesse durch die Aktivität des Gehirns zustande kommen. Das Gehirn erzeugt und beeinflusst den Geist und nicht umgekehrt. Aber die Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vorgestellt werden, legen den Schluss nahe, dass die Kausalkette in beide Richtungen verläuft und eine systematische geistige Aktivität auch zu physischen Veränderungen in der Gehirnstruktur führt.
Wie weitreichend diese Entdeckung ist, kann bislang niemand sagen. Aber allein die Tatsache, dass Neurowissenschaftler anfangen, diese Möglichkeit anzuerkennen, ist eine zweite Revolution des Denkens in diesem Bereich: Das Gehirn verändert seine Struktur nicht nur unaufhörlich im Verlauf des Lebens, wir können diesen Prozess auch aktiv mitgestalten. Ein weiteres Prinzip der Neurowissenschaft wird damit in Frage gestellt. Es ist die Annahme, dass geistige Vorgänge wie Wahrnehmung und Aufmerksamkeit starren Beschränkungen unterliegen. Der Buddhismus lehrt, dass man diese Beschränkungen durch geeignetes Training überwinden kann.
Wie stark unsere neuralen Systeme verändert werden können, zeigte uns Richard Davidson, Neurowissenschaftler an der Universität von Wisconsin, der diesen speziellen Dialog vorbereitet hatte. Mit Hilfe des Dalai Lamas hatte er eine Anzahl buddhistischer Meditationsmeister (mit 15 000 bis 55 000 Stunden Meditationspraxis) gefunden, die sich in seinem Labor verschiedenen Tests unterzogen. Davidson präsentierte den teilnehmenden Wissenschaftlern seine Forschungsergebnisse. Sie machten deutlich, dass diese Meister während der Meditation über das Mitgefühl Gehirnbereiche aktivierten, die für positive Gefühle und die Bereitschaft zum Handeln verantwortlich sind, und zwar in einem Ausmaß, das noch nie zuvor beobachtet worden war. Die Annahme, dass unser geistiger Apparat festen Beschränkungen unterliegt, ist damit nicht länger haltbar.
Dieses Buch ist das zehnte in einer Reihe von Veröffentlichungen, mit denen die Dialoge des "Mind and Life"-Instituts (für mehr Informationen siehe Anhang und www.MindandLife.org) einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Gegründet durch den verstorbenen, aus Chile stammenden Neurowissenschaftler Francesco Varela, der in Paris lehrte, und den amerikanischen Geschäftsmann Adam Engle, arbeitet das Institut bei der Planung seines Programms eng mit dem Dalai Lama zusammen. Ursprünglich bestand die zentrale Aufgabe des Instituts darin, wissenschaftliche Dialoge wie die Konferenz zu organisieren, über die in diesem Buch berichtet wird. Dies ist auch weiterhin eine seiner Hauptaufgaben. Die Aktivitäten des Instituts umfassen inzwischen jedoch auch ein jährlich stattfindendes Seminar für Hochschulabsolventen über die Forschungsinhalte, die in den Dialogen diskutiert werden, hauptsächlich auf dem Gebiet der kognitiven Neurowissenschaft. Das Institut vermittelt auch Forschungsstipendien an junge Wissenschaftler, die in diesem Bereich arbeiten wollen.
Jedes Buch, das eine der "Mind and Life"-Konferenzen zum Inhalt hat, hat seine eigene Form und seinen eigenen Charakter, abhängig von der Art der Gespräche und den Stärken des jeweiligen Autors. Sharon Begley, eine der weltweit führenden Wissenschaftsjournalistinnen, hat ihre einzigartige Begabung eingebracht, um ein aufregendes Forschungsgebiet ins Scheinwerferlicht zu rücken. Sie nutzt die Dialoge als Ausgangspunkt für eine sorgfältige und lebendig geschriebene Untersuchung der wissenschaftlichen Entwicklung auf diesem Gebiet bis hin zu den Forschungsergebnissen, die in Dharamsala vorgestellt wurden. Das Resultat geht weit über das hinaus, was auf dieser Konferenz diskutiert wurde. Begley beschreibt die Entwicklung und den aktuellen Forschungsstand auf dem Gebiet der Neuroplastizität - eine der aufregendsten wissenschaftlichen Revolutionen unserer Zeit.
Kapitel 1
Können wir uns verändern? Das überholte Dogma vom fest verdrahteten Gehirn
Die nordindische Stadt Dharamsala besteht aus einem oberen und einem unteren Stadtteil. Die wolkenverhangenen Gipfel des Dhauladhar-Gebirges ("weiße Berge") liegen hinter den beiden Stadtteilen wie eine Nackenrolle im Bett eines Riesen, während das Kangra-Tal, das von einem britischen Kolonialbeamten als "Urbild ländlicher Ruhe und Schönheit" beschrieben wurde, sich bis in die Ferne erstreckt. Das obere Dharamsala ist auch als Mc-Leod Ganj bekannt. Gegründet im 19. Jahrhundert zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft als Stützpunkt in den Bergen, wurde die geschäftige kleine Ansiedlung (die nach David McLeod, dem damaligen britischen Vizegouverneur des Punjab, benannt wurde) direkt auf einem Bergkamm errichtet, sodass man auf den steilen, matschigen Pfaden zwischen den Gästehäusern die Trittsicherheit einer Ziege haben muss und besser höllisch aufpasst, sich im Dunkeln nicht den Knöchel zu vertreten oder in einen Abgrund zu stürzen.
Kühe trotten über Kreuzungen, an denen Straßenhändler am Boden hocken vor Tüchern, auf denen sich Gemüse und Getreide stapelt, und Taxis ein Mutprobenspiel mit dem entgegenkommenden Verkehr machen, in dem der jenige seine Mannesehre verliert, der auf der einzigen, nur eine Fahrspur breiten Straße der Stadt zuerst mit seinem Wagen ausweicht. Die Straße schlängelt sich an Bettlern und heiligen Männern vorbei, die kaum mehr als ein Lendentuch tragen und aussehen, als hätten sie seit einer Woche nichts gegessen. Dennoch halten sie jedem Fremden, der vorbeikommt und seine Geschwindigkeit auch nur ein wenig verlangsamt, einen Computerausdruck entgegen, auf dem all ihre Nöte feinsäuberlich aufgelistet sind. Barfüßige Kinder stürzen sich wie aus dem Nichts auf den westlichen Besucher und betteln: "Bitte, Madam, hungriges Baby, hungriges Baby." Sie zeigen dabei vage auf die vielen Bretterbuden rechts und links der Straße.
Wenn man von der gefliesten Terrasse des Chonor House, eines der Gästehäuser, blickt, liegt einem die ganze Stadt zu Füßen. Sobald die Sonne aufgegangen ist, murmeln die rotbraun gekleideten Mönche ihre Gebete und die heiligen Männer kauern in den Seitengassen und singen Om mani padme hum ("Gepriesen sei der Juwel im Lotus"). Gebetstücher flattern an den Zweigen und tragen die tibetischen Worte Mögen alle fühlenden Wesen glücklich und zufrieden sein in den Wind. Wenn man sie sieht, denkt man: Wohin der Wind auch immer wehen mag, mögen diejenigen, die die Gebete empfangen, von ihrem Leid befreit werden.
Während der untere Stadtteil von Dharamsala fast ausschließlich von Indern bewohnt wird, leben in McLeod Ganj (mit Ausnahme von ein paar westlichen Aussteigern und spirituellen Suchern) fast nur tibetische Flüchtlinge, die Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama, ins Exil gefolgt sind. Viele von denen, die in Tibet blieben und nicht selbst fliehen konnten, schmuggelten ihre kleinen Kinder über die Grenze nach Dharamsala, wo sie nun im tibetischen Kinderdorf leben, das nur zehn Minuten oberhalb der Stadt liegt. Der Preis, den die Eltern dafür zahlen, dass ihre Kinder innerhalb der tibetischen Kultur aufwachsen und damit die Tradition und Identität Tibets aufrechterhalten und ihre eigene Geschichte davor bewahren, von der chinesischen Besatzung ausgelöscht zu werden, besteht darin, dass sie ihre Söhne und Töchter niemals wiedersehen.
Nachdem der Dalai Lama den kommunistischen Truppen Chinas entkommen war, die acht Jahre zuvor in Tibet eingefallen waren, ist McLeod Ganj seit 1959 seine Heimat und gleichzeitig Hauptquartier der tibetischen Regierung. Bis heute wird sein Wohnsitz, der gleich an der Hauptverkehrskreuzung liegt, wo Busse wenden und Taxifahrer auf ihre Passagiere warten, rund um die Uhr von indischen Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag bewacht. Am Eingang befindet sich eine kleine Hütte, deren bescheidenes Äußeres im krassen Gegensatz zum martialischen Auftreten der Wachen steht. Vom Wartezimmer aus, das gerade mal Platz für ein kleines Sofa hat und wo in einem Holzregal und auf einem kleinen Kaffeetisch abgegriffene Publikationen liegen, kommt man durch eine Tür in den Kontrollraum, wo alles, was man bei sich hat (Taschen, Notebooks, Kameras, Tonbandgeräte) durchleuchtet wird, ehe man in eine Kabine muss, die an beiden Seiten Vorhänge hat und in der man von tibetischen Sicherheitsbeamten von oben bis unten abgetastet wird.
Wenn man alle Kontrollen überstanden hat, steigt man auf einem Asphaltpfad aufwärts, bis man auf weiteres indisches Wachpersonal mit Maschinenpistolen stößt, das im Schatten faulenzt. In der weitläufigen Außenanlage wachsen Kiefern und Rhododendronbüsche; aus Keramiktöpfen quillt violette Bougainvillea, und safranfarbene Tagetes umgeben die großzügig geschnittenen Gebäude. Das erste zur Rechten ist ein einstöckiges Haus, in dem sich das Empfangszimmer des Dalai Lamas befindet. Es wird ebenfalls von einem indischen Soldaten mit einer automatischen Waffe beschützt. Dahinter befindet sich die tibetische Bibliothek samt Archiv und weiter bergan das zweistöckige Privathaus des Dalai Lamas, in dem er schläft, meditiert und die meisten Mahlzeiten einnimmt. Zur Linken befindet sich ein alter Palast, in dem der Dalai Lama gewohnt hat, als seine gegenwärtige Residenz noch nicht gebaut war. In dem Palast finden meistens Einweihungen von geistlichen Würdenträgern statt, aber in den nächsten fünf Tagen sollte hier in einem großen Saal ein einzigartiges Zusammentreffen stattfinden. Auf Initiative des "Mind and Life"-Instituts kamen dort im Oktober 2004 führende Gelehrte der buddhistischen und der westlichen wissenschaftlichen Tradition zusammen, um sich mit zwei Fragen zu beschäftigen, die Philosophen und Wissenschaftler schon seit Jahrhunderten bewegen: Kann das Gehirn verändert werden, und welche geistige Kraft kann dies bewirken?
Das Dogma der UnveränderbarkeitBis vor wenigen Jahren hatten sich Neurowissenschaftler diese Frage noch nicht einmal gestellt, weil - fast so lange, wie es eine Wissenschaft des Gehirns gibt - in Lehrbüchern, Wissenschaftsseminaren und topaktuellen Forschungsstudien immer die gleiche Idee wiederholt wurde.
Forschungsergebnisse, die zeigen, dass das Ausmaß mütterlicher Liebe und körperlichen Kontakts mit dem Kind verschiedene genetische Reaktionen hervorrufen kann, machen deutlich, welche Bedeutung die Kindererziehung hat, wenn wir eine harmonische Gesellschaft schaffen wollen. Auf der anderen Seite ist es sehr ermutigend zu wissen, dass therapeutische Methoden denjenigen Menschen helfen können, die aufgrund von Vernachlässigung in der Kindheit Schwierigkeiten damit haben, Wärme und Mitgefühl für ihre Mitmenschen zu empfinden. Wenn darüber berichtet wird, dass die normale Funktion durch Therapie wiederhergestellt werden kann, dann handelt es sich um aufregende, innovative Entdeckungen. Auch gibt es inzwischen eine positive Antwort auf eine Frage, mit der ich mich schon seit Jahren beschäftige. Forscher haben nämlich herausgefunden, dass das, was die Menschen denken, tatsächlich ihr Gehirn verändert.
Wie viele Leser vielleicht wissen, interessiere ich mich nicht nur für die Wissenschaft, sondern bin auch ein leidenschaftlicher Gärtner. Aber die Gartenarbeit ist von vielen Faktoren abhängig. Man kann viel Zeit darauf verwenden, den Boden vorzubereiten, behutsam die Samen in die Erde zu bringen, sie regelmäßig zu gießen und ihr Wachstum zu beobachten. Und doch gibt es Einflüsse, die wir nicht kontrollieren können, besonders nicht an einem Ort wie Dharamsala, wo ich lebe und wo es manchmal sehr heiß und feucht ist und viel Regen fällt. Diese Einflüsse können dazu führen, dass all unsere Mühe vergeblich war. Es ist daher eine besondere Freude, und andere Gärtner werden dies sicherlich bestätigen, wenn die Pflanzen, um die man sich so gesorgt hat, auch tatsächlich blühen und gedeihen. In Bezug auf die Forschungsergebnisse im Bereich der Neuroplastizität (die auf unserer Konferenz vorgetragen und diskutiert wurden und die in diesem Buch festgehalten sind) empfinde ich solch ein Gefühl der Freude, denn wir haben einen Wendepunkt erreicht. Buddhismus und moderne Wissenschaft fangen an, sich gegenseitig zu befruchten, mit großen praktischen Auswirkungen auf das menschliche Wohlergehen.
Ein bedeutender tibetischer Lehrer hat einmal gesagt, eine der erstaunlichsten Eigenschaften des Geistes bestünde darin, dass er transformiert werden kann. Die Forschungsergebnisse, die in diesem Buch präsentiert werden, bestätigen, dass gezieltes Geistestraining das menschliche Gehirn nachweisbar verändert. Die Auswirkungen dieser Erkenntnis werden sich nicht auf unser Wissen über den Geist beschränken. Sie haben eine praktische Bedeutung für unser Bildungs- und Gesundheitswesen und unterstreichen, wie wichtig es ist, ein Leben nach ethischen Grundsätzen zu führen.
Das "Mind and Life"-Institut ist zu einem bedeutenden Netzwerk von Wissenschaftlern, Gelehrten und interessierten Laien geworden, denen daran liegt, eine sowohl kontemplative und mitfühlende als auch streng experimentelle und empirische Wissenschaft des Geistes ins Leben zu rufen. Wir hoffen, dass eine solche Wissenschaft einen positiven Einfluss auf Medizin, Neurowissenschaft, Psychologie, Bildungswesen und die menschliche Entwicklung haben wird. Ich persönlich glaube, dass die Arbeit des Instituts sehr wertvoll ist, und ich danke nicht nur den Wissenschaftlern, die keine Zeit und Mühen gescheut haben, um ihre Forschungsergebnisse vorzustellen, sondern auch denjenigen, die unsere Treffen und Konferenzen organisieren und koordinieren. Ein Teil der Aufgabe des Instituts besteht auch darin, für allgemeinverständliche Publikationen unserer Konferenzprotokolle zu sorgen, sodass das, was als halbprivate Gespräche stattfindet, auch einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. Ich danke daher an dieser Stelle besonders Sharon Begley dafür, dass sie aus dem Material der Konferenz 2004 ein attraktives Buch gemacht hat, das die Vorarbeiten, Gespräche und Ergebnisse mit großer Genauigkeit wiedergibt. Ich bin zuversichtlich, dass die bahnbrechenden Entdeckungen, über die sie berichtet, großen Einfluss darauf haben, wie wir unsere Zukunft gestalten, und so zu einer positiven Entwicklung der Menschheit beitragen werden.
September 2006
Vorwort von Daniel Goleman
Als Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, sich im Oktober 2004 für eine Woche mit einer Handvoll von Neurowissenschaftlern an seiner indischen Residenz in Dharamsala traf, ging es um das Thema "Neuroplastizität" - die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern. Bis vor Kurzem wäre es noch unvorstellbar gewesen, dass dieses Thema Gegenstand einer ernsthaften wissenschaftlichen Diskussion sein könnte. Ein Jahrhundert lang lautete das herrschende Dogma der Neurowissenschaft, dass das Gehirn sich in der frühen Kindheit bildet und später nicht mehr verändert.
Aber durch die Weiterentwicklung der Forschung landete auch diese Annahme, wie schon so viele andere wissenschaftliche "Tatsachen", im Mülleimer der Geschichte. In der Neurowissenschaft gibt es mittlerweile einen aufblühenden Forschungszweig, in dem untersucht wird, wie sich das Gehirn im Laufe des Lebens immer wieder neu strukturiert. Dieses Buch ist eine hervorragende Einführung in diese neue, vielversprechende Wissenschaft.
Besonders faszinierend an den Gesprächen, die hier wiedergegeben werden, sind ihre Teilnehmer. Viele weltweit führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Neuroplastizität reisten um den halben Globus nach Indien, um ihre Forschungsergebnisse mit dem Dalai Lama zu diskutieren. Der Grund: Die meditative Praxis der buddhistischen Mönche und Meditationsmeister bot den Neurowissenschaftlern die einmalige Gelegenheit, eine natürlich auftretende Form von Neuroplastizität zu untersuchen. Seit Jahrtausenden schon erforschen die Meditationsmeister die Veränderbarkeit des Gehirns. Sie haben das, was sie herausfanden, systematisiert und als Anleitungen und Lehren an zukünftige Generationen weitergegeben, bis auf den heutigen Tag.
Eine der Fragen, die der Dalai Lama stellte, war besonders provokativ und lautete: Kann das Denken das Gehirn verändern? Im Laufe der Jahre hatte er diesen Punkt in Gesprächen mit Wissenschaftlern immer wieder vorgebracht und meistens eine ablehnende Antwort erhalten. Was nicht weiter verwundert, denn eine der grundlegenden Annahmen der Neurowissenschaft besteht darin, dass geistige Prozesse durch die Aktivität des Gehirns zustande kommen. Das Gehirn erzeugt und beeinflusst den Geist und nicht umgekehrt. Aber die Forschungsergebnisse, die in diesem Buch vorgestellt werden, legen den Schluss nahe, dass die Kausalkette in beide Richtungen verläuft und eine systematische geistige Aktivität auch zu physischen Veränderungen in der Gehirnstruktur führt.
Wie weitreichend diese Entdeckung ist, kann bislang niemand sagen. Aber allein die Tatsache, dass Neurowissenschaftler anfangen, diese Möglichkeit anzuerkennen, ist eine zweite Revolution des Denkens in diesem Bereich: Das Gehirn verändert seine Struktur nicht nur unaufhörlich im Verlauf des Lebens, wir können diesen Prozess auch aktiv mitgestalten. Ein weiteres Prinzip der Neurowissenschaft wird damit in Frage gestellt. Es ist die Annahme, dass geistige Vorgänge wie Wahrnehmung und Aufmerksamkeit starren Beschränkungen unterliegen. Der Buddhismus lehrt, dass man diese Beschränkungen durch geeignetes Training überwinden kann.
Wie stark unsere neuralen Systeme verändert werden können, zeigte uns Richard Davidson, Neurowissenschaftler an der Universität von Wisconsin, der diesen speziellen Dialog vorbereitet hatte. Mit Hilfe des Dalai Lamas hatte er eine Anzahl buddhistischer Meditationsmeister (mit 15 000 bis 55 000 Stunden Meditationspraxis) gefunden, die sich in seinem Labor verschiedenen Tests unterzogen. Davidson präsentierte den teilnehmenden Wissenschaftlern seine Forschungsergebnisse. Sie machten deutlich, dass diese Meister während der Meditation über das Mitgefühl Gehirnbereiche aktivierten, die für positive Gefühle und die Bereitschaft zum Handeln verantwortlich sind, und zwar in einem Ausmaß, das noch nie zuvor beobachtet worden war. Die Annahme, dass unser geistiger Apparat festen Beschränkungen unterliegt, ist damit nicht länger haltbar.
Dieses Buch ist das zehnte in einer Reihe von Veröffentlichungen, mit denen die Dialoge des "Mind and Life"-Instituts (für mehr Informationen siehe Anhang und www.MindandLife.org) einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Gegründet durch den verstorbenen, aus Chile stammenden Neurowissenschaftler Francesco Varela, der in Paris lehrte, und den amerikanischen Geschäftsmann Adam Engle, arbeitet das Institut bei der Planung seines Programms eng mit dem Dalai Lama zusammen. Ursprünglich bestand die zentrale Aufgabe des Instituts darin, wissenschaftliche Dialoge wie die Konferenz zu organisieren, über die in diesem Buch berichtet wird. Dies ist auch weiterhin eine seiner Hauptaufgaben. Die Aktivitäten des Instituts umfassen inzwischen jedoch auch ein jährlich stattfindendes Seminar für Hochschulabsolventen über die Forschungsinhalte, die in den Dialogen diskutiert werden, hauptsächlich auf dem Gebiet der kognitiven Neurowissenschaft. Das Institut vermittelt auch Forschungsstipendien an junge Wissenschaftler, die in diesem Bereich arbeiten wollen.
Jedes Buch, das eine der "Mind and Life"-Konferenzen zum Inhalt hat, hat seine eigene Form und seinen eigenen Charakter, abhängig von der Art der Gespräche und den Stärken des jeweiligen Autors. Sharon Begley, eine der weltweit führenden Wissenschaftsjournalistinnen, hat ihre einzigartige Begabung eingebracht, um ein aufregendes Forschungsgebiet ins Scheinwerferlicht zu rücken. Sie nutzt die Dialoge als Ausgangspunkt für eine sorgfältige und lebendig geschriebene Untersuchung der wissenschaftlichen Entwicklung auf diesem Gebiet bis hin zu den Forschungsergebnissen, die in Dharamsala vorgestellt wurden. Das Resultat geht weit über das hinaus, was auf dieser Konferenz diskutiert wurde. Begley beschreibt die Entwicklung und den aktuellen Forschungsstand auf dem Gebiet der Neuroplastizität - eine der aufregendsten wissenschaftlichen Revolutionen unserer Zeit.
Kapitel 1
Können wir uns verändern? Das überholte Dogma vom fest verdrahteten Gehirn
Die nordindische Stadt Dharamsala besteht aus einem oberen und einem unteren Stadtteil. Die wolkenverhangenen Gipfel des Dhauladhar-Gebirges ("weiße Berge") liegen hinter den beiden Stadtteilen wie eine Nackenrolle im Bett eines Riesen, während das Kangra-Tal, das von einem britischen Kolonialbeamten als "Urbild ländlicher Ruhe und Schönheit" beschrieben wurde, sich bis in die Ferne erstreckt. Das obere Dharamsala ist auch als Mc-Leod Ganj bekannt. Gegründet im 19. Jahrhundert zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft als Stützpunkt in den Bergen, wurde die geschäftige kleine Ansiedlung (die nach David McLeod, dem damaligen britischen Vizegouverneur des Punjab, benannt wurde) direkt auf einem Bergkamm errichtet, sodass man auf den steilen, matschigen Pfaden zwischen den Gästehäusern die Trittsicherheit einer Ziege haben muss und besser höllisch aufpasst, sich im Dunkeln nicht den Knöchel zu vertreten oder in einen Abgrund zu stürzen.
Kühe trotten über Kreuzungen, an denen Straßenhändler am Boden hocken vor Tüchern, auf denen sich Gemüse und Getreide stapelt, und Taxis ein Mutprobenspiel mit dem entgegenkommenden Verkehr machen, in dem der jenige seine Mannesehre verliert, der auf der einzigen, nur eine Fahrspur breiten Straße der Stadt zuerst mit seinem Wagen ausweicht. Die Straße schlängelt sich an Bettlern und heiligen Männern vorbei, die kaum mehr als ein Lendentuch tragen und aussehen, als hätten sie seit einer Woche nichts gegessen. Dennoch halten sie jedem Fremden, der vorbeikommt und seine Geschwindigkeit auch nur ein wenig verlangsamt, einen Computerausdruck entgegen, auf dem all ihre Nöte feinsäuberlich aufgelistet sind. Barfüßige Kinder stürzen sich wie aus dem Nichts auf den westlichen Besucher und betteln: "Bitte, Madam, hungriges Baby, hungriges Baby." Sie zeigen dabei vage auf die vielen Bretterbuden rechts und links der Straße.
Wenn man von der gefliesten Terrasse des Chonor House, eines der Gästehäuser, blickt, liegt einem die ganze Stadt zu Füßen. Sobald die Sonne aufgegangen ist, murmeln die rotbraun gekleideten Mönche ihre Gebete und die heiligen Männer kauern in den Seitengassen und singen Om mani padme hum ("Gepriesen sei der Juwel im Lotus"). Gebetstücher flattern an den Zweigen und tragen die tibetischen Worte Mögen alle fühlenden Wesen glücklich und zufrieden sein in den Wind. Wenn man sie sieht, denkt man: Wohin der Wind auch immer wehen mag, mögen diejenigen, die die Gebete empfangen, von ihrem Leid befreit werden.
Während der untere Stadtteil von Dharamsala fast ausschließlich von Indern bewohnt wird, leben in McLeod Ganj (mit Ausnahme von ein paar westlichen Aussteigern und spirituellen Suchern) fast nur tibetische Flüchtlinge, die Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama, ins Exil gefolgt sind. Viele von denen, die in Tibet blieben und nicht selbst fliehen konnten, schmuggelten ihre kleinen Kinder über die Grenze nach Dharamsala, wo sie nun im tibetischen Kinderdorf leben, das nur zehn Minuten oberhalb der Stadt liegt. Der Preis, den die Eltern dafür zahlen, dass ihre Kinder innerhalb der tibetischen Kultur aufwachsen und damit die Tradition und Identität Tibets aufrechterhalten und ihre eigene Geschichte davor bewahren, von der chinesischen Besatzung ausgelöscht zu werden, besteht darin, dass sie ihre Söhne und Töchter niemals wiedersehen.
Nachdem der Dalai Lama den kommunistischen Truppen Chinas entkommen war, die acht Jahre zuvor in Tibet eingefallen waren, ist McLeod Ganj seit 1959 seine Heimat und gleichzeitig Hauptquartier der tibetischen Regierung. Bis heute wird sein Wohnsitz, der gleich an der Hauptverkehrskreuzung liegt, wo Busse wenden und Taxifahrer auf ihre Passagiere warten, rund um die Uhr von indischen Soldaten mit Maschinenpistolen im Anschlag bewacht. Am Eingang befindet sich eine kleine Hütte, deren bescheidenes Äußeres im krassen Gegensatz zum martialischen Auftreten der Wachen steht. Vom Wartezimmer aus, das gerade mal Platz für ein kleines Sofa hat und wo in einem Holzregal und auf einem kleinen Kaffeetisch abgegriffene Publikationen liegen, kommt man durch eine Tür in den Kontrollraum, wo alles, was man bei sich hat (Taschen, Notebooks, Kameras, Tonbandgeräte) durchleuchtet wird, ehe man in eine Kabine muss, die an beiden Seiten Vorhänge hat und in der man von tibetischen Sicherheitsbeamten von oben bis unten abgetastet wird.
Wenn man alle Kontrollen überstanden hat, steigt man auf einem Asphaltpfad aufwärts, bis man auf weiteres indisches Wachpersonal mit Maschinenpistolen stößt, das im Schatten faulenzt. In der weitläufigen Außenanlage wachsen Kiefern und Rhododendronbüsche; aus Keramiktöpfen quillt violette Bougainvillea, und safranfarbene Tagetes umgeben die großzügig geschnittenen Gebäude. Das erste zur Rechten ist ein einstöckiges Haus, in dem sich das Empfangszimmer des Dalai Lamas befindet. Es wird ebenfalls von einem indischen Soldaten mit einer automatischen Waffe beschützt. Dahinter befindet sich die tibetische Bibliothek samt Archiv und weiter bergan das zweistöckige Privathaus des Dalai Lamas, in dem er schläft, meditiert und die meisten Mahlzeiten einnimmt. Zur Linken befindet sich ein alter Palast, in dem der Dalai Lama gewohnt hat, als seine gegenwärtige Residenz noch nicht gebaut war. In dem Palast finden meistens Einweihungen von geistlichen Würdenträgern statt, aber in den nächsten fünf Tagen sollte hier in einem großen Saal ein einzigartiges Zusammentreffen stattfinden. Auf Initiative des "Mind and Life"-Instituts kamen dort im Oktober 2004 führende Gelehrte der buddhistischen und der westlichen wissenschaftlichen Tradition zusammen, um sich mit zwei Fragen zu beschäftigen, die Philosophen und Wissenschaftler schon seit Jahrhunderten bewegen: Kann das Gehirn verändert werden, und welche geistige Kraft kann dies bewirken?
Das Dogma der UnveränderbarkeitBis vor wenigen Jahren hatten sich Neurowissenschaftler diese Frage noch nicht einmal gestellt, weil - fast so lange, wie es eine Wissenschaft des Gehirns gibt - in Lehrbüchern, Wissenschaftsseminaren und topaktuellen Forschungsstudien immer die gleiche Idee wiederholt wurde.
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Autoren-Porträt von Sharon Begley
Wissenschaftsautorin Sharon Begley ist bekannt für ihre Fähigkeit, komplexe Theorien einfach, allgemein verständlich und spannend zu erklären. Als Wissenschaftsredakteurin schreibt sie für das "Wall Street Journal" und war davor 25 Jahre lang für die Zeitschrift "Newsweek" tätig. Die erfahrene Autorin verfügt über ein breites Fachwissen und schrieb für die Zeitschrift "Newsweek". Viele ihrer Arbeiten wurden mit Preisen ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sharon Begley
- 2007, 512 Seiten, Maße: 14,7 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Burkhard Hickisch
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442337380
- ISBN-13: 9783442337385
Rezension zu „Neue Gedanken - neues Gehirn “
"Buddhisten glauben, dass Gedanken und Gefühle das Hirn umformen können. Ein spannender und sehr informativer Überblick über den Stand der Forschung zum plastischen Gehirn."
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