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Zwei Frauen und ein Baby
Ally ist glücklich verheiratet, hat zwei kleine Kinder und jede Menge Geldsorgen. Miranda ist kinderlos, mit einem Millionär verheiratet und lebt in einem Haus wie aus dem Hochglanzmagazin. Die beiden Frauen...
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Zwei Frauen und ein Baby
Ally ist glücklich verheiratet, hat zwei kleine Kinder und jede Menge Geldsorgen. Miranda ist kinderlos, mit einem Millionär verheiratet und lebt in einem Haus wie aus dem Hochglanzmagazin. Die beiden Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein - dabei sind sie Schwestern. Ally hat schon vor Jahren aufgehört, sich mit Miranda zu vergleichen. Doch eines Tages bittet Miranda sie um einen Liebesdienst der besonderen Art: Ally soll ihr perfektes Leben noch ein kleines bisschen perfekter machen. Mit einem Baby. Als Leihmutter. Und so ganz nebenbei all ihre Geldsorgen vergessen. Natürlich ist Ally empört. Natürlich lehnt sie ab. Und natürlich fragt sie sich schon wenig später, ob es denn wirklich so schlimm wäre, wenn ...
"Eine unterhaltsame und bewegende Lektüre"
Daily Mail
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Neun Monate Lieferzeit von Zoë BarnesProlog
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Ein sehr gewöhnlicher Montagmorgen am gar nicht begehrten Ende von Cheltenham ... Mum, ich finde meine Unterhose nicht«, jaulte eine Jungenstimme über das Gebrabbel des Zeichentrickkanals im Küchenfernseher hinweg.
Ally Bennett wandte den Kopf halb zu ihrem Sohn, während sie automatisch die beiden Butterbrotdosen weiter befüllte und den uralten Toaster im Blick behielt, der die Brotscheiben binnen einer Nanosekunde von anämisch in verkohlt verwandeln konnte. Eine Haarsträhne war margarineverschmiert, doch das war nichts Neues.
»Welche Unterhose? Ich hatte dir eine aufs Bett gelegt.«
»Die doch nicht. Ich will meine Little-Britain-Unterhose!«, erwiderte der siebenjährige Kyle in einem Tonfall, als wäre jedwede andere Unterwäsche schlechterdings untragbar. »Meine beste Unterhose.« Er stand in seinem Schulhemd und dem Pullover, kombiniert mit einer Pyjamahose auf Halbmast in der Küchentür.
»Tja, die ist nicht in der Wäsche«, antwortete seine Mutter, »also habe ich keinen Schimmer, wo du sie gelassen hast. Zieh einfach die an, die ich dir rausgelegt habe.«
»Aber die will ich nicht!«
»Pech, Kyle.«
Eine deutliche Trotznote schlich sich in die Unterhaltung ein. »Aber ich will ...«
Ruhig widmete Ally sich wieder ihrer Sandwichfertigung und würgte ihren Sohn so mitten im Satz ab. Mit einem Schulkind, einer Tochter im Kleinkindalter und einem Ehemann, die allesamt bis halb neun versorgt und aus dem Haus sein mussten, konnte man sich keinerlei Unterbrechung der täglichen Routine leisten. Nicht einmal von Lieblingsunterwäsche. »Zieh die Unterhose an«, sagte sie mit einem winzigen Hauch von Strenge.
»Jetzt, oder der Schokopudding heute Abend ist gestrichen.« Unter mürrischem Gemurmel schlurfte ihr Ältester nach oben, während seine dreijährige Schwester Josie eifrig mit ihren Cornflakes herumspritzte, von denen es einige in ihren Mund schafften, der Großteil jedoch auf dem Boden landete. Jeden Morgen herrschte in der Brookfield Road 22 Chaos, doch Ally nahm es gelassen. Nein, um ganz ehrlich zu sein, sie liebte es. Manche Leute warfen ihr womöglich vor, ihr würde es an Ehrgeiz fehlen, aber so ein Leben war immer schon ihr Traum gewesen: ein Ehemann, den sie liebte, ein eigenes Heim und zwei wichtige Jobs - als Teilzeitlehrerin und Vollzeit-Mum.
Okay, ein bisschen mehr Geld wäre sicher nicht verkehrt, und in die gesellschaftlichen Kreise ihrer großen Schwester würde sie gewiss nie aufsteigen, doch was machte das? Sie kamen zurecht. Ally würde um nichts auf der Welt mit ihrer hochnäsigen Single-Schwester Miranda tauschen wollen. Luke Bennett kam gähnend in die Küche, er war noch dabei, sein Arbeitshemd anzuziehen. Eine sandfarbene Locke fiel ihm über ein Auge. Er sah eigentlich ziemlich gut aus, wenn auch auf eine zerknüllte Art; egal was Ally anstellte, seine Sachen wirkten stets ungebügelt. Luke war einer von jenen Männern, die schon um sieben Uhr morgens einen Fünf-Uhr- Schatten haben konnten: Ganz gleich wie oft er sich rasierte, er sah immer aus, als hätte er das Rasieren ausfallen lassen. Was für ein Glück, dass man von Sozialarbeitern bei der Obdachlosenhilfe gemeinhin kein geschniegeltes Äußeres verlangte. Und außerdem liebte Ally ihn genau so, wie er war. Sie hatte dem schicken Banker-Typ noch nie etwas abgewinnen können; und erst recht nicht dem »Metrosexuellen«, der sich heimlich an der Feuchtigkeitscreme seiner Frau vergriff.
»Hi, Schatz.« Luke drückte Ally und gab ihr einen kitzelnden Kuss in den Nacken. »Was ist mit Kyle los? Er zieht ein Gesicht wie ein verdroschener Hintern.«
»Seine Unterhose ist weg.«
»Wie? Schon wieder? Wie kann man seine Unterhose verlieren?« Luke trat versehentlich in eine Milchpfütze und schüttelte seinen Hausschuh. »Josie!«
Die Kleine hielt ihrem Dad den Löffel entgegen und grinste. Luke betrachtete seinen durchnässten Schuh, als auch schon der Kater Ungenannt herbeigetrottet kam und anfing, das Leder sauberzulecken. »Ach, na wenigstens ist es nur Milch.«
»Dann sehen wir mal, ob wir doch noch ein bisschen Frühstück in dich hineinbekommen«, sagte Ally, die wie alle Mütter Augen im Hinterkopf hatte. Mit einer schwungvollen Bewegung schnappte sie sich Josies Cornflakes-Schale und gab ihr in Streifen geschnittenen Toast. »Iss die lieber. Du magst Toasty-Soldiers. Kyle! Frühstück. Jetzt!« Luke zog einige Umschläge aus seiner Hosentasche. »Die Post ist da. Hauptsächlich Werbung. Ah, und ein Brief für dich.« Er wedelte mit dem Umschlag vor ihrem Gesicht. »Oho, guck mal, ein Poststempel aus Wiltshire!«
Ally stöhnte. Sie kannten nur zwei Menschen in Wiltshire, und einer davon arbeitete zurzeit in Dubai. Der andere war Miranda.
»Mach du ihn auf«, sagte sie und schmierte Marmelade auf Kyles Toast, als der in die Küche gelaufen kam. »Meine Finger sind klebrig.«
»Feiges Huhn.«
»Ja, ich geb's ja zu.«
»Ist der Brief von Tante Miranda?«, flötete Kyle höchst interessiert. »Kommt sie uns besuchen? Wann kommt sie?« Gütiger, ich hoffe gar nicht, dachte Ally und bekam prompt ein schlechtes Gewissen, weil eine Schwester so etwas nicht denken durfte. Sie glaubte allerdings nicht, dass sich ihr Minderwertigkeitskomplex schon von Mirandas letztem Besuch erholt hatte. Ginge es indes nach ihren Kindern, war die reiche Tante Miranda jederzeit in Cheltenham willkommen. Sicher gab es nicht viele andere Kinder, deren Tanten sie mit derart teuren Geschenken zuschütteten.
Luke antwortete nicht. Er war zu sehr mit dem Lesen beschäftigt und lachte leise. »Aber hallo ...«
»Aber hallo was?«, fragte Ally neugierig.
»Was sagst du zu diesem Mr Schicki-Micki?« Luke gab ihr ein Foto von einem dunkelhaarigen schlanken Mann im Anzug, dessen fast smaragdgrüne Augen allein vom Bild Ally magnetisch anzogen. Er war nicht im klassischen Sinne gut aussehend, aber auffällig. Und er hatte dieses anziehende Etwas, bei dem eine Frau hingucken und nie wieder weggucken wollte.
Ally zuckte betont lässig mit den Schultern. »Er ist ... okay, schätze ich. Wer ist das? Wieder einer von Mirandas Schauspielerfreunden oder so?«
Luke lachte. »Ob du es glaubst oder nicht, der Kerl ist ein schwerreicher Bauunternehmer, der ein eigenes Polo-Team besitzt. Ach ja, und er ist auch der künftige Mr Miranda.«
»Was?« Ungläubig riss Ally die Augen weit auf. »Sie hat mit keinem Wort ...«
»Und dennoch, Schatz, wird es Zeit, dass du dir einen Hut kaufst. Deine heiß und innig geliebte Schwester kommt endlich unter die Haube.«
Dies sollte die Verlobungsparty schlechthin werden, und es tummelten sich Massen von Designer-gekleideten Klonen auf hohen Absätzen in der Overbury Suite. Trotzdem überragte Allys Schwester sie buchstäblich alle wie ein ein Meter achtzig großer Strahl purer Schönheit.
Miranda Morris war die Sorte Frau, die wie auf unsichtbaren Rädern durch einen Raum glitt. Sie war überdies die ärgerliche Sorte Frau, die niemals über etwas stolperte, mit der falschen Gabel aß oder in irgendwelchen Momenten weniger als atemberaubend aussah - mit oder ohne Make-up. Die Sorte Frau, von der Allys bester Freund Zee einmal spitz behauptete, sie würde sogar Kartoffelchips mit Messer und Gabel essen.
Ach ja, und sie hatte genug Geld, um für den Rest ihres Lebens in Manolo Blahniks herumzulaufen. Folglich ließ sich unschwer erraten, was ein Mann in ihr sehen mochte. Und doch konnte Ally nicht umhin, ein klein wenig Mitleid mit Gavin zu empfinden. Schließlich hatte Ally ihre Kindheit in einem Zimmer mit Miranda verbracht, und es war ... nun ja ... eine Erfahrung gewesen, die sie nicht unbedingt wiederholen wollte. Gavin Hesketh musste ziemlich hart im Nehmen sein, dass er ernsthaft erwog, dauerhaft ein Schlafzimmer mit Miranda zu teilen. Nach Jahren in ihrem Schatten hätte Ally ihre große Schwester wohl hassen müssen, aber das Verblüffende war, dass niemand
Miranda hasste. Ally vermutete, dass es genetisch ausgeschlossen war. Trotzdem war dies die Frau, die als Kind wirklich alles bekam, was sie verlangte, und die nie auch nur einen Funken Dankbarkeit gegenüber ihren wenig begüterten Eltern oder der zu kurz gekommenen Schwester zeigte. Dann war sie auf die Medizinische Hochschule abgeschwirrt, die sie nach ein paar Jahren hinschmiss, um eine Karriere als international gefragtes Model einzuschlagen, und posierte und schmollte sich ein Bankkonto herbei, dass exponential größer war als ihr extrem kesser Hintern.
Heute, im reifen Alter von siebenunddreißig Jahren, betätigte sich das Mädchen, das keinen Knopf annähen, geschweige denn ein Ei kochen konnte, als erfolgreiche Innenarchitektin und verbrachte den Rest ihrer Zeit mit »Wohltätigkeitsarbeit«, die (wie Luke anmerkte) hauptsächlich aus dem Ausrichten vornehmer Dinnerpartys für Lokalgrößen bestand. Alles in Mirandas Leben war so unsagbar einfach. Ally fragte sich, ob es nun anders würde, da sie auch an jemand anderen denken
müsste. Aber bei Miranda traf das wohl eher nicht zu. Ally hatte ihr Make-up fertig nachgebessert, richtete sich auf und betrachtete ihr Spiegelbild im großzügigen Vorraum der Damentoilette. Nicht allzu schlecht für eine dreißigjährige zweifache Mutter: halbwegs annehmbare Brüste, hübsches goldblondes Haar und kaum Schwabbelbauch. Dennoch fiel es schwer, sich nicht ausgegrenzt zu fühlen, wenn man Rock und Top vom letzten Jahr trug und alle anderen in der aktuellen Prada-Kollektion herumliefen. Ally war noch nicht ganz in dem Stadium angekommen, in dem sie aus lauter Verzweiflung die abgelegten Sachen ihrer Schwester annahm. Und das nicht bloß, weil Miranda ungefähr doppelt so groß und halb so fett war. Nein, sie hätte einfach zu sehr das Gefühl, als würde sich die Geschichte wiederholen.
Ihr Leben lang hatte Ally sich wie ein Nachzügler gefühlt. Ihre Eltern hatten acht Jahre lang versucht, ein Baby zu bekommen, als Miranda ihren dramatischen Auftritt hinlegte. Und vom ersten Tag an war Miranda immer »die Besondere« in der Familie gewesen. Es half natürlich, dass sie das schönste Baby aller Zeiten war, die Klügste des Jahrgangs in der Schule und brillant in allem und jedem, was sie anfasste, ob Makramee oder Panzerfahren. Vor allem aber war sie das Goldene Kind, das Baby, von dem Maureen und Clive gefürchtet hatten, dass sie es nie bekommen würden. Als dann sieben Jahre später vollkommen unerwartet Ally geboren wurde, kurz nachdem ihre Mum sämtliche Babysachen weggegeben hatte, hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Nicht dass mit Ally irgendwas nicht stimmte, ganz und gar nicht. Sie war gesund, absolut vorzeigbar und überdurchschnittlich intelligent. Aber verglichen mit ihrer großen Schwester war sie, nun ja, ein bisschen ... gewöhnlich. Und wie konnte sie neben Miranda etwas anderes sein?
Ein letzter Tupfer Lippenstift, dann begab Ally sich zurück zur Party. Sie kam allerdings nur wenige Meter weit auf dem Hotelflur, da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.
»Alison?« Verwundert blieb sie stehen und drehte sich um.
»Du bist doch Alison, nicht? Ich habe mir die Namen und Gesichter noch nicht alle gemerkt.« Der große, dunkle und irgendwie gut aussehende Gavin Hesketh kam auf sie zu. »Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe. Ich wollte mich nur für euer Verlobungsgeschenk bedanken.«
Ally wusste nicht, wohin mit ihren Händen, und war seltsam nervös, weil diese fast unheimlich strahlenden grünen Augen sie ansahen. Sie lösten eine Gänsehaut bei ihr aus. Eine angenehme, wohlgemerkt. »Ähm, prima, das ist schön. Und gern geschehen.«
»Ich dachte bloß, dass Miranda ein bisschen ... also, seien wir ehrlich, so sehr ich sie auch liebe, sie kann manchmal ein bisschen unsensibel sein.«
Ally zog eine Braue hoch. Vielleicht war Schönling Gavin doch nicht blind vor lauter Lust. Normalerweise waren Mirandas Verehrer so hin und weg von ihr, dass sie die wahre Miranda erst erkannten, nachdem sie schon eine ganze Weile abserviert waren. »Ach, glaubst du das?«, fragte sie mit einem Anflug von Amüsiertheit.
Er lachte. »Ich weiß es. Und du bist ihre Schwester, also ist es dir erst recht bewusst. Ich schätze, du hast schon mehr von Mirandas ›Direktheit‹ eingesteckt, als du dich erinnern kannst. Jedenfalls fand ich, dass ihre Reaktion auf euer Geschenk sehr ungehörig war. Die handgestickten Tischdecken sind wirklich sehr schön, und sie zu sticken war sicher eine Riesenarbeit.« Er ergriff ihre Hand, nur für wenige Sekunden, und Ally konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich wünschte, dass er sie sofort losließ oder dass er sie für immer festhielt. Sie wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, denn diese grünen Augen würden zweifellos die Wahrheit erkennen: Dass er Gefühle in ihr auslöste, die überhaupt nicht schwägerinnenkonform waren.
»I-ich ... äh ... geh mal lieber«, stammelte sie schließlich. Nun sah sie doch zu ihm auf und bemerkte ein wahrlich nicht unangenehmes Knistern zwischen ihnen.
»Ja, ist wohl besser«, antwortete Gavin nach einem Moment. Also hatte er es auch gespürt.
Cheltenham, drei Jahre später ...
Gavin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch und versuchte, nicht die Melodie mitzusummen, die ihm ins Ohr träufelte. Er war es nicht gewöhnt, in einer Warteschleife zu hängen. Das mied er bewusst, indem er sich Anrufe von seiner Sekretärin vermitteln ließ. Bei diesem ging es nicht, denn er wollte nicht, dass Karen etwas erfuhr, was sie eventuell Miranda gegenüber erwähnte und damit alles zum Platzen brachte. Leider war das alte Sprichwort nur allzu wahr: Wollte man, dass etwas richtig gemacht wurde, machte man es lieber selbst.
Die elektronische Fahrstuhlmusik brach abrupt ab, und eine körperlose weibliche Stimme erklang am anderen Ende. »Ich habe mit Mr Sallis gesprochen, Sir, und er fragt, ob Sie nicht ein Festzelt auf dem Anwesen vorziehen würden? Die meisten Leute ...«
»Ja, aber ich bin nicht die meisten Leute«, fiel er ihr schroff ins Wort. »Also erklären Sie Mr Sallis bitte noch einmal, dass ich entweder das Haus für das ganze Wochenende bekomme oder mich gezwungen sehe, die Feierlichkeiten an einen anderen Ort zu verlegen.«
Oben auf dem Dachboden der Brookfield Road 22 zupfte sich Ally einen klebrigen Spinnfaden von der Nasenspitze und nieste. »Erklär mir doch nochmal, warum ich mich von dir hier raufzerren ließ, Zee.«
»Warum?« Zebedee Goldman, dessen Name sehr viel exotischer klang, als er selbst war, grinste ihr durch ein Zickzack aus staubigen Dachsparren zu. Er sah eher wie einer von Fagins Gassenjungen aus, nicht wie ein fünfunddreißigjähriger alleinerziehender Vater. »Weil du pleite bist und keiner Schatzsuche widerstehen kannst. Genau wie ich.«
»Schatz?«, höhnte Ally. »Auf meinem Dachboden?«
»Na ja ... Krempel, der jedenfalls noch gut genug ist, um ihn auf dem Flohmarkt zu verticken. Der gilt doch auch als Schatz, nicht?«
Ally ließ ihre puppenblauen Augen skeptisch über den Boden schweifen: Augen, die manche Leute verleiteten, sie zu unterschätzen. Männer zumeist. »Ich raube dir ja ungern die Illusion, aber das hier ist ein Ex-Sozialbau aus den Fünfzigern. Die letzten Bewohner hielten Hühner im Schuppen. Ich bezweifle, dass sie für schlechte Zeiten einen Picasso auf dem Dachboden verstaut haben.«
Zee, der gerade in einem eingeknickten, verstaubten Pappkarton wühlte, in dem anscheinend nur kaputte Teekannen und alte Legoteile waren, richtete sich auf. »Tja, aber das kannst du nicht wissen, solange du nicht nachgesehen hast. Hast du die Sendung auf Channel Six letzte Woche gesehen? Über die Frau, die ein Pergament aus dem Mittelalter in einem alten Schreibtisch gefunden hat? Und den Typen, der auf seinem Klo eine Ikone hängen hatte? Das könnten wir sein, nächstes Jahr um diese Zeit.«
Ally schüttelte den Kopf und schmunzelte über Zees kindischen Enthusiasmus. Sie liebte Zee auf eine schwesterliche, freundschaftliche Art. Sie beide hatten sich auf Anhieb verstanden, als sie sich erstmals im Kindergarten ihrer jeweiligen Kinder begegneten, und seitdem verwickelte er Ally unentwegt in seine Pläne, Sperrmüll zu Geld zu machen. Allerdings musste man auch seinen Hut vor einem jungverwitweten Vater ziehen, der seinen gut bezahlten Job als Buchgestalter aufgab, um als Freiberufler zu arbeiten, der hin und wieder Krimskrams auf eBay verkaufte, nur damit er mehr Zeit für seine Tochter hatte.
Im Laufe der Jahre hatten Zee und Luke sich auch angefreundet, und mittlerweile mutete es fast komisch an, dass Luke einmal misstrauisch wegen der engen Freundschaft zwischen Zee und Ally gewesen war. Jeder, der halbwegs aufmerksam hinsah, erkannte sofort, dass es nicht diese Art Beziehung war. Außerdem fand Ally ihren Freund ungefähr so anziehend wie einen einohrigen Teddybären.
Sie blies die dicke Staubschicht von einem Papierstapel.
»Oho, guck mal, Cheltenham-Courant-Ausgaben von 1953. Und ein paar halbleere Lackdosen. Alles unterschiedliche Farben natürlich.«
»Kein Problem«, versicherte Zee ihr. »Wir gießen die alle in eine Dose, rühren einmal um und verticken sie für 50 Pence. Regenbogenlack. Sehr postmodern.«
Ally lachte. Tatsächlich hatte sie sich zu dem Glauben verleiten lassen, ein privater Flohmarkt könnte sich lohnen, nur war schwer vorstellbar, dass irgendjemand so blöd war, gutes Geld für diesen Quatsch rauszuwerfen. »Wohl eher sehr schwachsinnig. Aber Luke findet es sicher gut, wegen Recycling und so.«
»Was ist das denn?«, rief Zee und hielt eine flache, lederbezogene Kiste in die Höhe, die er in der alten Wäschetruhe unterm Dachfenster gefunden hatte. Bevor Ally antworten konnte, hatte er den kleinen Kasten geöffnet und stieß einen Pfiff aus.
»Hey, die sehen echt gut aus. Was immer das auch sein mag.«
»Warte mal.« Vorsichtig stakste sie über die Bodendielen zu ihm und bemühte sich, nicht daran zu denken, wie ihr Vater früher einmal im Bademantel auf die falsche Dachbodendiele getreten war und Allys Freundinnen in den Genuss kamen, ein Paar sehr haarige Beine durch die Decke baumeln zu sehen.
Zee beäugte seinen Fund prüfend. »Ich schätze, die sind aus massivem Silber. Die müssen irgendwem was wert sein.« Sanft, aber bestimmt nahm Ally ihm den Kasten ab, klappte ihn zu und legte ihn zurück in die Kommode. »Sind sie, meiner Schwester.«
»Häh?«
»Es sind antike Kaviarlöffel mit Elfenbeingriff«, erklärte Ally. »Ein Hochzeitsgeschenk von Miranda.«
»Ah, verstehe. Dann bist du nicht selbst losgezogen und hast dir die Dinger gekauft?«
Ally schmunzelte, weil allein der Gedanke lächerlich war.
»Machst du Witze? Sie hat sie in einem Antiquitätenladen entdeckt, ausgerechnet in Genf, und - zieh dir das rein - sie dachte, ›die wären ganz praktisch.‹ Ehrlich, das waren ihre Worte.«
»Kaviarlöffel?«
»Kaviarlöffel.«
»Ich frage mich, wofür die praktisch sein sollen.« Zee fuhr sich durch die staubigen braunen Locken. »Und hat Luke nicht sowieso was gegen Elfenbein?«
»Er will das Zeug nicht im Haus haben, deshalb bewahren wir die Löffel hier oben auf. Aber selbst wenn er keine ethischen Bedenken hätte, was sollen wir wohl mit Löffeln, die zu klein sind, um damit Baked Beans zu essen? So oder so traue ich mich nicht, sie loszuwerden, und immer, wenn Miranda in der Nähe ist, hole ich den Kasten nach unten.«
Zee runzelte die Stirn.
»Würde sie denn nicht verstehen, dass du die verkaufst? Schließlich habt ihr Kinder und könnt ein bisschen Geld gebrauchen.«
Ally schloss den Deckel der Eichentruhe mit einem deutlichen Rumms. »Auch wenn es feige wirken mag, darauf will ich es lieber nicht ankommen lassen.«
Gavins Pläne nahmen Gestalt an. Noch am Vormittag konnte er den Besitzer von Nether Grantley Hall überreden, ihm Haus und Privatgrundstück für das gesamte Wochenende zu überlassen,
und das für ein Drittel weniger, als Gavin zu zahlen bereit gewesen wäre. Natürlich hätten sie die Party auch zu Hause geben können, nur wäre es eine erbärmlich kleine Veranstaltung geworden. In der luxuriös ausgebauten Scheune der Heskeths mit ihren acht Schlafzimmern wäre es schwierig geworden, zwanzig Übernachtungsgäste unterzubringen, an die über zweihundert übrigen Gäste gar nicht zu denken. Außerdem war es Mirandas Vierzigster, und der sollte etwas Besonderes sein. Wie Gavin zu sagen pflegte: Wer Vermögen und Stil besitzt, muss beides hier und da auch mal zeigen.
Alles in allem war es gut, dass sich die Dinge so reibungslos fügten, denn Gavin hielt grundsätzlich nichts von einem Plan B. Ein Notfallplan war schlicht nicht seine Art. Er bekam das, was er wollte, denn alles andere war zweitklassig und mithin inakzeptabel.
Diese Philosophie hatte Gavin Heskeths Immobiliengeschäft binnen fünf Jahren aus einem Einfamilienhaus in Swindon in den Megareichtum katapultiert. Dort draußen gab es massenhaft Leute, die gern Gavin Hesketh wären; er jedoch würde nicht im Traum mit einem von ihnen tauschen wollen. Ihm machte es viel zu viel Spaß, er selbst zu sein.
Die Entertainment-Agentur rief ihn auf dem Handy an, als er mittags ein leichtes Sushi an seinem Schreibtisch aß und die Zahlen für das neue Tagungszentrum durchging, das er bauen wollte. Man soll niemals eine Sache tun, wenn man gleichzeitig zwei tun kann, lautete Gavins Motto; und schaffte man drei parallel, umso besser. Wer nicht ständig auf dem Sprung war, Chancen zu ergreifen, dem wurden sie von anderen weggeschnappt.
»Ah, Mr Bergstrom, hi«, sagte er und klemmte sich das Telefon unters Kinn. »Haben Sie mein Orchester?«
»Ich kann Ihnen eine sehr gute Vierziger-Nostalgie-Combo anbieten, Sir. ›White Cliffs of Dover‹ und all die alten Schlager. Gute Musiker, sehr geschmackvoll und mit Originalkostümen und der passenden Ausstattung.«
»Ich sagte Zwanziger.«
»Um ehrlich zu sein, Mr Hesketh, sind die Zwanziger derzeit etwas aus der Mode. Die werden einfach nicht gebucht, wenn Sie verstehen. Wie wäre es mit einem Elvis-Auftritt? Die sind immer sehr beliebt.« Gavin stöhnte genervt. Anscheinend tummelten sich nichts als Amateure in dieser Welt. »Verschwenden wir nicht unsere Zeit, Mr Bergstrom. Ich will ein Zwanzigerjahre-Orchester für Sonnabend, mitsamt Sängern und Tänzern. Und ich bin bereit, dafür zu bezahlen. Fliegen Sie Leute aus Vegas ein, wenn es sein muss. Und falls Sie das nicht können, finden Sie jemanden, der es kann.«
In den Büros von ChelShel, Cheltenhams Obdachlosenhilfe in der Henrietta Street, schlugen die Uhren anders. Lukes Klient mittleren Alters war weit weniger wählerisch als Gavin Hesketh. Er wäre mit jeder Lösung glücklich, die ihm noch eine Nacht in einem stinkenden Ladeneingang ersparte.
Hoffnungsvoll blickte er auf, als Luke in das kleine Büro zurückkam, das er sich mit Chas, dem anderen Sozialarbeiter, teilte.
Doch sogleich schwand all seine Hoffnung dahin. »Haben Sie kein Zimmer für mich gefunden?«
Lukes bedauernde Miene sagte alles. »Tut mir leid, Jake. In dieser Gegend gibt es nur wenige Unterkünfte, und die sind alle voll.«
»Na, prima.«
»Aber vielleicht wird etwas für morgen Abend frei. Kommen Sie morgen Vormittag wieder, dann sehe ich, ob ich etwas finde.«
»Mache ich das nicht immer?« Langsam raffte Jake seine armseligen Sachen zusammen. Luke beobachtete ihn frustriert und voller Mitgefühl.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Jake, aber wir wissen beide, wie es ist. Sie entsprechen nicht den blöden Behördenvorgaben für Härtefälle. Sie sind nicht unter sechzehn, nicht schwanger oder alleinerziehend, oder über fünfundsechzig oder psychisch krank ...«
»Im Klartext heißt das also, weil ich es schaffe, irgendwie über die Runden zu kommen, ohne mir die Pulsadern aufzuschlitzen, müssen die gar nichts für mich tun.«
Luke versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, denn leider hatte Jake recht. Vor lauter Wut hätte Luke gegen die Wand boxen können.
»Nun ... sagen wir, Ihr Fall hat keine Priorität.« Jake stand auf und schwang sich seinen Rucksack auf die Schulter. »Leute wie ich haben nie Priorität, nicht? Wir sind mehr wie ein störender Fleck an der Straßenecke.« An der Tür drehte er sich noch einmal um, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen. »Wenn Sie mich fragen, müsste mein Sohn bei der Behörde arbeiten. Der scheint jedenfalls genauso zu denken wie die.«
Mehrere Sekunden verstrichen, bis die Tür leise hinter ihm ins Schloss gefallen war, dann zischte Luke ein »Scheiße« vor sich hin und trat den Papierkorb quer durch den Raum. Klappernd landete er kopfüber an der Wand. »Dir ist klar, dass du nicht der Schulmeister des Universums bist, oder?«, bemerkte eine leise Stimme hinter ihm. »Manchmal kannst du die Welt nicht zwingen, sich so zu verhalten, wie sie es deiner Meinung nach sollte.«
»Ach nein?«
»Nein, und du weißt, dass ich recht habe.« Die Worte kamen von einem Mann in den Vierzigern, der
Jeans, Arbeitsstiefel und ein altes Star-Wars-T-Shirt trug und mit dem betagten Kopierer kämpfte. ChelShel bekam nur wenig öffentliche Förderung, und es wurde sogar geraunt, dass es dem Gemeinderat ganz recht war, so die Zahl der Notunterkünfte für Obdachlose niedrig zu halten. Schließlich wollte man das Problem der zunehmenden Verarmung am liebsten unter den Teppich kehren. Die Stadt würde alles tun, um die wohlhabenden Touristen nicht abzuschrecken, die zu den zahlreichen Festivals nach Cheltenham gereist kamen. Luke hegte den Verdacht, dass die Gemeinde mehr Geld für Hängeblumenkörbe an den Straßenlaternen ausgab als für die gut sechzig Leute, die jede Nacht auf der Straße schlafen mussten.
Mürrisch setzte er sich wieder hin. »Ist ja schon gut, Chas. Ich schätze, du willst mir jetzt wieder erzählen, dass Priester immer und in allem recht haben.«
Chas lachte. »Falls ja, glaub mir lieber nicht. Die bringen uns bei, so zu reden, wie wir reden. Auf die Weise fühlen sich alle anderen gut und sicher, und am Ende sind wir diejenigen, die sich wundern.«
»Gut und sicher dürfte Jake sich wohl kaum fühlen«, sagte Luke. »Ich meine, da hat der arme Kerl endlich ein Dach über dem Kopf, eine Wohnung, die er sich mit seinem Sohn teilt. Und dann zieht die Freundin vom Sohn mit ein, und auf einmal heißt es, ›Ich weiß ja, dass du nirgends hinkannst, Dad, aber wir kriegen ein Baby, also kannst du bitte deinen Kram packen und abschwirren?‹ Wohltätigkeit fängt zu Hause an, ja? Mann, was für ein ausgemachter Schwachsinn!«
Er rieb sich das stoppelige Kinn, während ihm ein Gedanke durch den Kopf ging, der ihn schon eine Weile umtrieb. »Vielleicht könnte ich ...« Chas stellte ihm stumm einen Becher Kaffee hin.
»Ah, danke.« Er sah zu Chas. »Wir haben doch den Abstellraum.«
Der Priester hielt sofort eine Hand in die Höhe. »Vergiss es, Luke. Nicht einmal du bringst sämtliche Obdachlosen in Cheltenham in deiner Doppelhaushälfte in Whaddon unter. Und die reizende Alison hätte dazu gewiss auch das eine oder andere zu sagen.«
Luke stellte sich Allys Reaktion vor, wenn er ihren Abstellraum - den sie irgendwann zu einem Arbeitszimmer umbauen wollten - in eine Notunterkunft verwandeln würde. Chas hatte wahrscheinlich recht. »Tja, ich gebe den Mann nicht auf«, erklärte er, während er in seiner Schreibtischschublade nach seinem kleinen schwarzen Adressbuch mit nützlichen Kontakten tastete. »Hier muss es jemanden geben, den ich überreden kann, etwas zu tun.« Chas zuckte mit den Schultern. »Nur zu, ich wünsch dir viel Glück.«
In dem Moment klingelte das Bürotelefon, und Chas nahm ab. »ChelShel? Ja, sicher, Augenblick. Luke, eine Miranda für dich.«
Chas hatte die göttliche Miranda und deren Entourage an schönen Menschen mit riesigen leeren Häusern bislang nicht kennengelernt. Der Mann hatte wahrlich etwas verpasst. Lukes Hand verkrampfte sich unwillkürlich, als er nach dem Hörer griff.
»Hallo, Miranda. Wie geht's?«
»Ach, du weißt ja, viel zu viel zu tun. Die neue Tapetenkollektion kommt am Montag raus, und ich habe das Gefühl, keine zwei Sekunden zum Luftschnappen zu haben.«
»Ah, wirklich?« Luke war bewusst, wie sarkastisch er klang. Leider förderte Miranda verlässlich seine schlechtesten Eigenschaften zu Tage. »Hier ist übrigens auch einiges los. Was hältst du von ein paar Mietern für eure dritte Garage, die ihr nie benutzt?«
»Wie bitte?«
»Uns rennen hier Obdachlose die Bude ein, die dringend Notunterkünfte brauchen. Ich denke, wir könnten ein halbes Dutzend von denen in eurer Garage unterbringen, wenn ich einen Tischler schicke, der ein paar Sperrholztrennwände einzieht.«
Es entstand eine Pause, während Miranda überlegte, ob er scherzte; dann beschloss sie offenbar, dass es ein Scherz gewesen sein musste, denn so gemein konnte Luke unmöglich sein, und sie kicherte wie eine atemlose Sechzehnjährige. »Ach, du bist witzig, Luke! Erstaunlich, wie du dir deinen Humor bewahrst, wo du an solch einem tristen Ort arbeitest. Hör mal, ich habe ganz aufregende Neuigkeiten für dich. Die muntern dich auf.«
Du ziehst auf den Mond, dachte Luke. »Ach was?«, sagte er laut.
»Ja! Weißt du, Gavin organisiert eine gigantische Party zu meinem Vierzigsten nächsten Monat, von der ich offiziell natürlich nichts weiß, weil sie eine Überraschung sein soll.«
»Das ist ... ähm ... nett von ihm«, murmelte Luke, der in seinem Buch nach jemandem, irgendwem blätterte, der ihm einen Gefallen schuldete. »Und was genau kann ich für dich tun?«
»Tja, du kannst Alison sagen, dass ihr euch das ganze Wochenende um meinen Geburtstag freihalten müsst, denn ich habe gehört, dass es sehr extravagant wird, und da dürft ihr selbstverständlich keine Minute verpassen.«
»Wir werden uns bemühen«, antwortete Luke. Dumm wie er war, hatte er gehofft, es gäbe ein kurzes Familientreffen, und danach könnte er nach Hause und die Fußball-Highlights im Fernsehen sehen. »Aber mit der Arbeit, dem Haushalt und dem Hin- und Herchauffieren der Kinder zu ihren Clubs und so ...«
»Du wirst mehr als dein Bestes geben, Schätzchen. Ihr seid dabei.« Diesen Dominaton beherrschte Miranda aus dem Effeff.
»Und du wirst noch etwas für mich tun, nicht wahr, Luke?«, ergänzte sie schnurrend.
»Das wäre?«, fragte er ein bisschen ängstlich.
»Du ziehst dir etwas ... Nettes an, ja? Nur dieses eine Mal.«
»Palmen«, wiederholte Gavin, der vorsichtig zur Stalltür hinauslugte, ob seine Frau auch nicht in Hörweite war. Die Luft war rein. »Ich will Palmen, und zwar reichlich.«
»Echte oder künstliche?«, fragte die Stimme im Handy.
»Echte natürlich! Wofür halten Sie mich? Für billig? Eingeborenenhütten, Lianen, ach, und einige von diesen Paradiesvögeln und so.«
»Die Bäume und die Hütten sind kein Problem«, versicherte ihm die Stimme. »Zufällig haben wir noch welche vom Bühnenbild des Tarzan-Musicals letztes Jahr im Bristol Hippodrome. Die tropischen Arten hingegen könnten schwierig werden. Es gibt heutzutage eine Menge Regeln und Beschränkungen.«
Gavin machte mehrmals »hmm« und »mhm«, was bei ihm selten vorkam. Gut möglich, dass das mit den Vorschriften stimmte, aber ...
»Verfluchte Bürokratie. Na, okay, besorgen Sie alles, was Sie kriegen können. Oh, und ein Tigerbaby.«
»Ein was?«
»Sie haben mich verstanden. Beschaffen Sie ein niedliches. Meine Frau liebt Tiger.«
»Ähm ... die sind ein bisschen schwer zu bekommen, Gav. Gefährdete Spezies und so.«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass Sie selbst losziehen und eines einfangen sollen. Leihen Sie eins oder so. Vermietet der Londoner Zoo die nicht tageweise?«
»Ich könnte Ihnen einen von Damien Hirsts Haien besorgen.«
»Ein Tigerbaby. Oder Sie sind gefeuert.« Keine Kompromisse, sagte Gavin sich. Mirandas Geburtstagswochenende musste vollkommen werden, absolut vollkommen, als wäre es ihrem Lieblingsbuch entsprungen. Und das würde er hinkriegen, denn alles andere ließ er nicht zu. Miranda rief an, als Ally nach dem nachmittäglichen Unterricht zur Haustür hereingestolpert kam, gefolgt von den meckernden Kindern und mit etwa tausend Einkaufstüten behängt, die ihr langsam die Arme auf anderthalbfache Länge dehnten.
Sie warf alles auf den Küchentisch, angelte den Kater von seinem üblichen Schlafplatz, der ehedem eine Obstschale war, und griff nach dem Wandtelefon. »Hallo? Ja?«
»Bist du das, Ally?«, fragte Miranda. »Aber was rede ich denn? Natürlich bist du's! Wer sonst spricht die Vokale so komisch aus?«
»Was?«
»Deine Vokale. Die sind ziemlich betont. Du weißt schon, sehr ... nach Gloucestershire klingend.«
»Meinst du gewöhnlich?« Ally streckte ihr die Zunge raus, was Miranda leider nicht sehen konnte. »Vielen Dank auch. Wenn ich mich recht erinnere«, fügte sie hinzu, während sie versuchte, eine Familienpackung Chips in den Küchenschrank zu quetschen, »hast du dich genauso angehört, bevor du dieses Wohltätigkeitsdings mit Joanna Lumley gemacht hast.« Mirandas Lachen plätscherte wie Kristallwasser an einem Berghang. »Ach, Ally, du bist so witzig! Ein echter Brüller.« Wie auf Kommando erscholl ein ohrenbetäubendes Kreischen, das ihr das linke Trommelfell zu zerreißen drohte. »Was um Himmels willen machen deine Kinder? Die sind schrecklich ... laut.«
»Das sind Kinder nun mal«, erwiderte Ally mit einem strengen Blick zu ihrer ungebärdigen Brut. »Bloß normaler Kinderkram. Genau genommen ist es ein Fechtkampf mit Selleriestangen.«
»Ah, wie kreativ. Also, hör zu, es geht um meine Party nächste Woche.«
»Deine ... Überraschungsparty?«, fragte Ally grinsend. »Die, von der du nichts wissen sollst?«
»Ach, Gav weiß, dass ich Bescheid weiß, und wir beide wollen, dass sie vollkommen wird. Außerdem bin ich viel besser im Organisieren solcher Veranstaltungen als er. Also, ich wollte dir nur schon mal sagen, wie der Dresscode ist.« Ally stand der Mund offen. »Wieso Dresscode? Ich dachte, das wird eine Familienfeier.«
»Nun, ein bisschen mehr wird es schon, Süße. Ich werde ja nicht jedes Jahr vierzig, Gott sei Dank. Tatsächlich habe ich überlegt, nächstes Jahr wieder zu neununddreißig zurück-zugehen und dann rückwärts zu zählen. Wie dem auch sei, für den Samstag ist ein Kostümfest geplant, aber keine Sorge, ich lasse euch und den Kindern die Kostüme nähen.«
»Was?!«
»Von einer wunderbaren Designerin. Du wirst begeistert sein, wenn du die Sachen siehst, garantiert.« Ally sank auf einen der Küchenstühle, blinzelte ungläubig und brauchte dringend Schokolade. »Kostüme?«, wiederholte sie matt. »Ich wollte eigentlich zum Schlussverkauf bei Matalan.«
Übersetzung: Sabine Schilasky
© 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ein sehr gewöhnlicher Montagmorgen am gar nicht begehrten Ende von Cheltenham ... Mum, ich finde meine Unterhose nicht«, jaulte eine Jungenstimme über das Gebrabbel des Zeichentrickkanals im Küchenfernseher hinweg.
Ally Bennett wandte den Kopf halb zu ihrem Sohn, während sie automatisch die beiden Butterbrotdosen weiter befüllte und den uralten Toaster im Blick behielt, der die Brotscheiben binnen einer Nanosekunde von anämisch in verkohlt verwandeln konnte. Eine Haarsträhne war margarineverschmiert, doch das war nichts Neues.
»Welche Unterhose? Ich hatte dir eine aufs Bett gelegt.«
»Die doch nicht. Ich will meine Little-Britain-Unterhose!«, erwiderte der siebenjährige Kyle in einem Tonfall, als wäre jedwede andere Unterwäsche schlechterdings untragbar. »Meine beste Unterhose.« Er stand in seinem Schulhemd und dem Pullover, kombiniert mit einer Pyjamahose auf Halbmast in der Küchentür.
»Tja, die ist nicht in der Wäsche«, antwortete seine Mutter, »also habe ich keinen Schimmer, wo du sie gelassen hast. Zieh einfach die an, die ich dir rausgelegt habe.«
»Aber die will ich nicht!«
»Pech, Kyle.«
Eine deutliche Trotznote schlich sich in die Unterhaltung ein. »Aber ich will ...«
Ruhig widmete Ally sich wieder ihrer Sandwichfertigung und würgte ihren Sohn so mitten im Satz ab. Mit einem Schulkind, einer Tochter im Kleinkindalter und einem Ehemann, die allesamt bis halb neun versorgt und aus dem Haus sein mussten, konnte man sich keinerlei Unterbrechung der täglichen Routine leisten. Nicht einmal von Lieblingsunterwäsche. »Zieh die Unterhose an«, sagte sie mit einem winzigen Hauch von Strenge.
»Jetzt, oder der Schokopudding heute Abend ist gestrichen.« Unter mürrischem Gemurmel schlurfte ihr Ältester nach oben, während seine dreijährige Schwester Josie eifrig mit ihren Cornflakes herumspritzte, von denen es einige in ihren Mund schafften, der Großteil jedoch auf dem Boden landete. Jeden Morgen herrschte in der Brookfield Road 22 Chaos, doch Ally nahm es gelassen. Nein, um ganz ehrlich zu sein, sie liebte es. Manche Leute warfen ihr womöglich vor, ihr würde es an Ehrgeiz fehlen, aber so ein Leben war immer schon ihr Traum gewesen: ein Ehemann, den sie liebte, ein eigenes Heim und zwei wichtige Jobs - als Teilzeitlehrerin und Vollzeit-Mum.
Okay, ein bisschen mehr Geld wäre sicher nicht verkehrt, und in die gesellschaftlichen Kreise ihrer großen Schwester würde sie gewiss nie aufsteigen, doch was machte das? Sie kamen zurecht. Ally würde um nichts auf der Welt mit ihrer hochnäsigen Single-Schwester Miranda tauschen wollen. Luke Bennett kam gähnend in die Küche, er war noch dabei, sein Arbeitshemd anzuziehen. Eine sandfarbene Locke fiel ihm über ein Auge. Er sah eigentlich ziemlich gut aus, wenn auch auf eine zerknüllte Art; egal was Ally anstellte, seine Sachen wirkten stets ungebügelt. Luke war einer von jenen Männern, die schon um sieben Uhr morgens einen Fünf-Uhr- Schatten haben konnten: Ganz gleich wie oft er sich rasierte, er sah immer aus, als hätte er das Rasieren ausfallen lassen. Was für ein Glück, dass man von Sozialarbeitern bei der Obdachlosenhilfe gemeinhin kein geschniegeltes Äußeres verlangte. Und außerdem liebte Ally ihn genau so, wie er war. Sie hatte dem schicken Banker-Typ noch nie etwas abgewinnen können; und erst recht nicht dem »Metrosexuellen«, der sich heimlich an der Feuchtigkeitscreme seiner Frau vergriff.
»Hi, Schatz.« Luke drückte Ally und gab ihr einen kitzelnden Kuss in den Nacken. »Was ist mit Kyle los? Er zieht ein Gesicht wie ein verdroschener Hintern.«
»Seine Unterhose ist weg.«
»Wie? Schon wieder? Wie kann man seine Unterhose verlieren?« Luke trat versehentlich in eine Milchpfütze und schüttelte seinen Hausschuh. »Josie!«
Die Kleine hielt ihrem Dad den Löffel entgegen und grinste. Luke betrachtete seinen durchnässten Schuh, als auch schon der Kater Ungenannt herbeigetrottet kam und anfing, das Leder sauberzulecken. »Ach, na wenigstens ist es nur Milch.«
»Dann sehen wir mal, ob wir doch noch ein bisschen Frühstück in dich hineinbekommen«, sagte Ally, die wie alle Mütter Augen im Hinterkopf hatte. Mit einer schwungvollen Bewegung schnappte sie sich Josies Cornflakes-Schale und gab ihr in Streifen geschnittenen Toast. »Iss die lieber. Du magst Toasty-Soldiers. Kyle! Frühstück. Jetzt!« Luke zog einige Umschläge aus seiner Hosentasche. »Die Post ist da. Hauptsächlich Werbung. Ah, und ein Brief für dich.« Er wedelte mit dem Umschlag vor ihrem Gesicht. »Oho, guck mal, ein Poststempel aus Wiltshire!«
Ally stöhnte. Sie kannten nur zwei Menschen in Wiltshire, und einer davon arbeitete zurzeit in Dubai. Der andere war Miranda.
»Mach du ihn auf«, sagte sie und schmierte Marmelade auf Kyles Toast, als der in die Küche gelaufen kam. »Meine Finger sind klebrig.«
»Feiges Huhn.«
»Ja, ich geb's ja zu.«
»Ist der Brief von Tante Miranda?«, flötete Kyle höchst interessiert. »Kommt sie uns besuchen? Wann kommt sie?« Gütiger, ich hoffe gar nicht, dachte Ally und bekam prompt ein schlechtes Gewissen, weil eine Schwester so etwas nicht denken durfte. Sie glaubte allerdings nicht, dass sich ihr Minderwertigkeitskomplex schon von Mirandas letztem Besuch erholt hatte. Ginge es indes nach ihren Kindern, war die reiche Tante Miranda jederzeit in Cheltenham willkommen. Sicher gab es nicht viele andere Kinder, deren Tanten sie mit derart teuren Geschenken zuschütteten.
Luke antwortete nicht. Er war zu sehr mit dem Lesen beschäftigt und lachte leise. »Aber hallo ...«
»Aber hallo was?«, fragte Ally neugierig.
»Was sagst du zu diesem Mr Schicki-Micki?« Luke gab ihr ein Foto von einem dunkelhaarigen schlanken Mann im Anzug, dessen fast smaragdgrüne Augen allein vom Bild Ally magnetisch anzogen. Er war nicht im klassischen Sinne gut aussehend, aber auffällig. Und er hatte dieses anziehende Etwas, bei dem eine Frau hingucken und nie wieder weggucken wollte.
Ally zuckte betont lässig mit den Schultern. »Er ist ... okay, schätze ich. Wer ist das? Wieder einer von Mirandas Schauspielerfreunden oder so?«
Luke lachte. »Ob du es glaubst oder nicht, der Kerl ist ein schwerreicher Bauunternehmer, der ein eigenes Polo-Team besitzt. Ach ja, und er ist auch der künftige Mr Miranda.«
»Was?« Ungläubig riss Ally die Augen weit auf. »Sie hat mit keinem Wort ...«
»Und dennoch, Schatz, wird es Zeit, dass du dir einen Hut kaufst. Deine heiß und innig geliebte Schwester kommt endlich unter die Haube.«
Dies sollte die Verlobungsparty schlechthin werden, und es tummelten sich Massen von Designer-gekleideten Klonen auf hohen Absätzen in der Overbury Suite. Trotzdem überragte Allys Schwester sie buchstäblich alle wie ein ein Meter achtzig großer Strahl purer Schönheit.
Miranda Morris war die Sorte Frau, die wie auf unsichtbaren Rädern durch einen Raum glitt. Sie war überdies die ärgerliche Sorte Frau, die niemals über etwas stolperte, mit der falschen Gabel aß oder in irgendwelchen Momenten weniger als atemberaubend aussah - mit oder ohne Make-up. Die Sorte Frau, von der Allys bester Freund Zee einmal spitz behauptete, sie würde sogar Kartoffelchips mit Messer und Gabel essen.
Ach ja, und sie hatte genug Geld, um für den Rest ihres Lebens in Manolo Blahniks herumzulaufen. Folglich ließ sich unschwer erraten, was ein Mann in ihr sehen mochte. Und doch konnte Ally nicht umhin, ein klein wenig Mitleid mit Gavin zu empfinden. Schließlich hatte Ally ihre Kindheit in einem Zimmer mit Miranda verbracht, und es war ... nun ja ... eine Erfahrung gewesen, die sie nicht unbedingt wiederholen wollte. Gavin Hesketh musste ziemlich hart im Nehmen sein, dass er ernsthaft erwog, dauerhaft ein Schlafzimmer mit Miranda zu teilen. Nach Jahren in ihrem Schatten hätte Ally ihre große Schwester wohl hassen müssen, aber das Verblüffende war, dass niemand
Miranda hasste. Ally vermutete, dass es genetisch ausgeschlossen war. Trotzdem war dies die Frau, die als Kind wirklich alles bekam, was sie verlangte, und die nie auch nur einen Funken Dankbarkeit gegenüber ihren wenig begüterten Eltern oder der zu kurz gekommenen Schwester zeigte. Dann war sie auf die Medizinische Hochschule abgeschwirrt, die sie nach ein paar Jahren hinschmiss, um eine Karriere als international gefragtes Model einzuschlagen, und posierte und schmollte sich ein Bankkonto herbei, dass exponential größer war als ihr extrem kesser Hintern.
Heute, im reifen Alter von siebenunddreißig Jahren, betätigte sich das Mädchen, das keinen Knopf annähen, geschweige denn ein Ei kochen konnte, als erfolgreiche Innenarchitektin und verbrachte den Rest ihrer Zeit mit »Wohltätigkeitsarbeit«, die (wie Luke anmerkte) hauptsächlich aus dem Ausrichten vornehmer Dinnerpartys für Lokalgrößen bestand. Alles in Mirandas Leben war so unsagbar einfach. Ally fragte sich, ob es nun anders würde, da sie auch an jemand anderen denken
müsste. Aber bei Miranda traf das wohl eher nicht zu. Ally hatte ihr Make-up fertig nachgebessert, richtete sich auf und betrachtete ihr Spiegelbild im großzügigen Vorraum der Damentoilette. Nicht allzu schlecht für eine dreißigjährige zweifache Mutter: halbwegs annehmbare Brüste, hübsches goldblondes Haar und kaum Schwabbelbauch. Dennoch fiel es schwer, sich nicht ausgegrenzt zu fühlen, wenn man Rock und Top vom letzten Jahr trug und alle anderen in der aktuellen Prada-Kollektion herumliefen. Ally war noch nicht ganz in dem Stadium angekommen, in dem sie aus lauter Verzweiflung die abgelegten Sachen ihrer Schwester annahm. Und das nicht bloß, weil Miranda ungefähr doppelt so groß und halb so fett war. Nein, sie hätte einfach zu sehr das Gefühl, als würde sich die Geschichte wiederholen.
Ihr Leben lang hatte Ally sich wie ein Nachzügler gefühlt. Ihre Eltern hatten acht Jahre lang versucht, ein Baby zu bekommen, als Miranda ihren dramatischen Auftritt hinlegte. Und vom ersten Tag an war Miranda immer »die Besondere« in der Familie gewesen. Es half natürlich, dass sie das schönste Baby aller Zeiten war, die Klügste des Jahrgangs in der Schule und brillant in allem und jedem, was sie anfasste, ob Makramee oder Panzerfahren. Vor allem aber war sie das Goldene Kind, das Baby, von dem Maureen und Clive gefürchtet hatten, dass sie es nie bekommen würden. Als dann sieben Jahre später vollkommen unerwartet Ally geboren wurde, kurz nachdem ihre Mum sämtliche Babysachen weggegeben hatte, hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Nicht dass mit Ally irgendwas nicht stimmte, ganz und gar nicht. Sie war gesund, absolut vorzeigbar und überdurchschnittlich intelligent. Aber verglichen mit ihrer großen Schwester war sie, nun ja, ein bisschen ... gewöhnlich. Und wie konnte sie neben Miranda etwas anderes sein?
Ein letzter Tupfer Lippenstift, dann begab Ally sich zurück zur Party. Sie kam allerdings nur wenige Meter weit auf dem Hotelflur, da hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.
»Alison?« Verwundert blieb sie stehen und drehte sich um.
»Du bist doch Alison, nicht? Ich habe mir die Namen und Gesichter noch nicht alle gemerkt.« Der große, dunkle und irgendwie gut aussehende Gavin Hesketh kam auf sie zu. »Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe. Ich wollte mich nur für euer Verlobungsgeschenk bedanken.«
Ally wusste nicht, wohin mit ihren Händen, und war seltsam nervös, weil diese fast unheimlich strahlenden grünen Augen sie ansahen. Sie lösten eine Gänsehaut bei ihr aus. Eine angenehme, wohlgemerkt. »Ähm, prima, das ist schön. Und gern geschehen.«
»Ich dachte bloß, dass Miranda ein bisschen ... also, seien wir ehrlich, so sehr ich sie auch liebe, sie kann manchmal ein bisschen unsensibel sein.«
Ally zog eine Braue hoch. Vielleicht war Schönling Gavin doch nicht blind vor lauter Lust. Normalerweise waren Mirandas Verehrer so hin und weg von ihr, dass sie die wahre Miranda erst erkannten, nachdem sie schon eine ganze Weile abserviert waren. »Ach, glaubst du das?«, fragte sie mit einem Anflug von Amüsiertheit.
Er lachte. »Ich weiß es. Und du bist ihre Schwester, also ist es dir erst recht bewusst. Ich schätze, du hast schon mehr von Mirandas ›Direktheit‹ eingesteckt, als du dich erinnern kannst. Jedenfalls fand ich, dass ihre Reaktion auf euer Geschenk sehr ungehörig war. Die handgestickten Tischdecken sind wirklich sehr schön, und sie zu sticken war sicher eine Riesenarbeit.« Er ergriff ihre Hand, nur für wenige Sekunden, und Ally konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich wünschte, dass er sie sofort losließ oder dass er sie für immer festhielt. Sie wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, denn diese grünen Augen würden zweifellos die Wahrheit erkennen: Dass er Gefühle in ihr auslöste, die überhaupt nicht schwägerinnenkonform waren.
»I-ich ... äh ... geh mal lieber«, stammelte sie schließlich. Nun sah sie doch zu ihm auf und bemerkte ein wahrlich nicht unangenehmes Knistern zwischen ihnen.
»Ja, ist wohl besser«, antwortete Gavin nach einem Moment. Also hatte er es auch gespürt.
Cheltenham, drei Jahre später ...
Gavin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch und versuchte, nicht die Melodie mitzusummen, die ihm ins Ohr träufelte. Er war es nicht gewöhnt, in einer Warteschleife zu hängen. Das mied er bewusst, indem er sich Anrufe von seiner Sekretärin vermitteln ließ. Bei diesem ging es nicht, denn er wollte nicht, dass Karen etwas erfuhr, was sie eventuell Miranda gegenüber erwähnte und damit alles zum Platzen brachte. Leider war das alte Sprichwort nur allzu wahr: Wollte man, dass etwas richtig gemacht wurde, machte man es lieber selbst.
Die elektronische Fahrstuhlmusik brach abrupt ab, und eine körperlose weibliche Stimme erklang am anderen Ende. »Ich habe mit Mr Sallis gesprochen, Sir, und er fragt, ob Sie nicht ein Festzelt auf dem Anwesen vorziehen würden? Die meisten Leute ...«
»Ja, aber ich bin nicht die meisten Leute«, fiel er ihr schroff ins Wort. »Also erklären Sie Mr Sallis bitte noch einmal, dass ich entweder das Haus für das ganze Wochenende bekomme oder mich gezwungen sehe, die Feierlichkeiten an einen anderen Ort zu verlegen.«
Oben auf dem Dachboden der Brookfield Road 22 zupfte sich Ally einen klebrigen Spinnfaden von der Nasenspitze und nieste. »Erklär mir doch nochmal, warum ich mich von dir hier raufzerren ließ, Zee.«
»Warum?« Zebedee Goldman, dessen Name sehr viel exotischer klang, als er selbst war, grinste ihr durch ein Zickzack aus staubigen Dachsparren zu. Er sah eher wie einer von Fagins Gassenjungen aus, nicht wie ein fünfunddreißigjähriger alleinerziehender Vater. »Weil du pleite bist und keiner Schatzsuche widerstehen kannst. Genau wie ich.«
»Schatz?«, höhnte Ally. »Auf meinem Dachboden?«
»Na ja ... Krempel, der jedenfalls noch gut genug ist, um ihn auf dem Flohmarkt zu verticken. Der gilt doch auch als Schatz, nicht?«
Ally ließ ihre puppenblauen Augen skeptisch über den Boden schweifen: Augen, die manche Leute verleiteten, sie zu unterschätzen. Männer zumeist. »Ich raube dir ja ungern die Illusion, aber das hier ist ein Ex-Sozialbau aus den Fünfzigern. Die letzten Bewohner hielten Hühner im Schuppen. Ich bezweifle, dass sie für schlechte Zeiten einen Picasso auf dem Dachboden verstaut haben.«
Zee, der gerade in einem eingeknickten, verstaubten Pappkarton wühlte, in dem anscheinend nur kaputte Teekannen und alte Legoteile waren, richtete sich auf. »Tja, aber das kannst du nicht wissen, solange du nicht nachgesehen hast. Hast du die Sendung auf Channel Six letzte Woche gesehen? Über die Frau, die ein Pergament aus dem Mittelalter in einem alten Schreibtisch gefunden hat? Und den Typen, der auf seinem Klo eine Ikone hängen hatte? Das könnten wir sein, nächstes Jahr um diese Zeit.«
Ally schüttelte den Kopf und schmunzelte über Zees kindischen Enthusiasmus. Sie liebte Zee auf eine schwesterliche, freundschaftliche Art. Sie beide hatten sich auf Anhieb verstanden, als sie sich erstmals im Kindergarten ihrer jeweiligen Kinder begegneten, und seitdem verwickelte er Ally unentwegt in seine Pläne, Sperrmüll zu Geld zu machen. Allerdings musste man auch seinen Hut vor einem jungverwitweten Vater ziehen, der seinen gut bezahlten Job als Buchgestalter aufgab, um als Freiberufler zu arbeiten, der hin und wieder Krimskrams auf eBay verkaufte, nur damit er mehr Zeit für seine Tochter hatte.
Im Laufe der Jahre hatten Zee und Luke sich auch angefreundet, und mittlerweile mutete es fast komisch an, dass Luke einmal misstrauisch wegen der engen Freundschaft zwischen Zee und Ally gewesen war. Jeder, der halbwegs aufmerksam hinsah, erkannte sofort, dass es nicht diese Art Beziehung war. Außerdem fand Ally ihren Freund ungefähr so anziehend wie einen einohrigen Teddybären.
Sie blies die dicke Staubschicht von einem Papierstapel.
»Oho, guck mal, Cheltenham-Courant-Ausgaben von 1953. Und ein paar halbleere Lackdosen. Alles unterschiedliche Farben natürlich.«
»Kein Problem«, versicherte Zee ihr. »Wir gießen die alle in eine Dose, rühren einmal um und verticken sie für 50 Pence. Regenbogenlack. Sehr postmodern.«
Ally lachte. Tatsächlich hatte sie sich zu dem Glauben verleiten lassen, ein privater Flohmarkt könnte sich lohnen, nur war schwer vorstellbar, dass irgendjemand so blöd war, gutes Geld für diesen Quatsch rauszuwerfen. »Wohl eher sehr schwachsinnig. Aber Luke findet es sicher gut, wegen Recycling und so.«
»Was ist das denn?«, rief Zee und hielt eine flache, lederbezogene Kiste in die Höhe, die er in der alten Wäschetruhe unterm Dachfenster gefunden hatte. Bevor Ally antworten konnte, hatte er den kleinen Kasten geöffnet und stieß einen Pfiff aus.
»Hey, die sehen echt gut aus. Was immer das auch sein mag.«
»Warte mal.« Vorsichtig stakste sie über die Bodendielen zu ihm und bemühte sich, nicht daran zu denken, wie ihr Vater früher einmal im Bademantel auf die falsche Dachbodendiele getreten war und Allys Freundinnen in den Genuss kamen, ein Paar sehr haarige Beine durch die Decke baumeln zu sehen.
Zee beäugte seinen Fund prüfend. »Ich schätze, die sind aus massivem Silber. Die müssen irgendwem was wert sein.« Sanft, aber bestimmt nahm Ally ihm den Kasten ab, klappte ihn zu und legte ihn zurück in die Kommode. »Sind sie, meiner Schwester.«
»Häh?«
»Es sind antike Kaviarlöffel mit Elfenbeingriff«, erklärte Ally. »Ein Hochzeitsgeschenk von Miranda.«
»Ah, verstehe. Dann bist du nicht selbst losgezogen und hast dir die Dinger gekauft?«
Ally schmunzelte, weil allein der Gedanke lächerlich war.
»Machst du Witze? Sie hat sie in einem Antiquitätenladen entdeckt, ausgerechnet in Genf, und - zieh dir das rein - sie dachte, ›die wären ganz praktisch.‹ Ehrlich, das waren ihre Worte.«
»Kaviarlöffel?«
»Kaviarlöffel.«
»Ich frage mich, wofür die praktisch sein sollen.« Zee fuhr sich durch die staubigen braunen Locken. »Und hat Luke nicht sowieso was gegen Elfenbein?«
»Er will das Zeug nicht im Haus haben, deshalb bewahren wir die Löffel hier oben auf. Aber selbst wenn er keine ethischen Bedenken hätte, was sollen wir wohl mit Löffeln, die zu klein sind, um damit Baked Beans zu essen? So oder so traue ich mich nicht, sie loszuwerden, und immer, wenn Miranda in der Nähe ist, hole ich den Kasten nach unten.«
Zee runzelte die Stirn.
»Würde sie denn nicht verstehen, dass du die verkaufst? Schließlich habt ihr Kinder und könnt ein bisschen Geld gebrauchen.«
Ally schloss den Deckel der Eichentruhe mit einem deutlichen Rumms. »Auch wenn es feige wirken mag, darauf will ich es lieber nicht ankommen lassen.«
Gavins Pläne nahmen Gestalt an. Noch am Vormittag konnte er den Besitzer von Nether Grantley Hall überreden, ihm Haus und Privatgrundstück für das gesamte Wochenende zu überlassen,
und das für ein Drittel weniger, als Gavin zu zahlen bereit gewesen wäre. Natürlich hätten sie die Party auch zu Hause geben können, nur wäre es eine erbärmlich kleine Veranstaltung geworden. In der luxuriös ausgebauten Scheune der Heskeths mit ihren acht Schlafzimmern wäre es schwierig geworden, zwanzig Übernachtungsgäste unterzubringen, an die über zweihundert übrigen Gäste gar nicht zu denken. Außerdem war es Mirandas Vierzigster, und der sollte etwas Besonderes sein. Wie Gavin zu sagen pflegte: Wer Vermögen und Stil besitzt, muss beides hier und da auch mal zeigen.
Alles in allem war es gut, dass sich die Dinge so reibungslos fügten, denn Gavin hielt grundsätzlich nichts von einem Plan B. Ein Notfallplan war schlicht nicht seine Art. Er bekam das, was er wollte, denn alles andere war zweitklassig und mithin inakzeptabel.
Diese Philosophie hatte Gavin Heskeths Immobiliengeschäft binnen fünf Jahren aus einem Einfamilienhaus in Swindon in den Megareichtum katapultiert. Dort draußen gab es massenhaft Leute, die gern Gavin Hesketh wären; er jedoch würde nicht im Traum mit einem von ihnen tauschen wollen. Ihm machte es viel zu viel Spaß, er selbst zu sein.
Die Entertainment-Agentur rief ihn auf dem Handy an, als er mittags ein leichtes Sushi an seinem Schreibtisch aß und die Zahlen für das neue Tagungszentrum durchging, das er bauen wollte. Man soll niemals eine Sache tun, wenn man gleichzeitig zwei tun kann, lautete Gavins Motto; und schaffte man drei parallel, umso besser. Wer nicht ständig auf dem Sprung war, Chancen zu ergreifen, dem wurden sie von anderen weggeschnappt.
»Ah, Mr Bergstrom, hi«, sagte er und klemmte sich das Telefon unters Kinn. »Haben Sie mein Orchester?«
»Ich kann Ihnen eine sehr gute Vierziger-Nostalgie-Combo anbieten, Sir. ›White Cliffs of Dover‹ und all die alten Schlager. Gute Musiker, sehr geschmackvoll und mit Originalkostümen und der passenden Ausstattung.«
»Ich sagte Zwanziger.«
»Um ehrlich zu sein, Mr Hesketh, sind die Zwanziger derzeit etwas aus der Mode. Die werden einfach nicht gebucht, wenn Sie verstehen. Wie wäre es mit einem Elvis-Auftritt? Die sind immer sehr beliebt.« Gavin stöhnte genervt. Anscheinend tummelten sich nichts als Amateure in dieser Welt. »Verschwenden wir nicht unsere Zeit, Mr Bergstrom. Ich will ein Zwanzigerjahre-Orchester für Sonnabend, mitsamt Sängern und Tänzern. Und ich bin bereit, dafür zu bezahlen. Fliegen Sie Leute aus Vegas ein, wenn es sein muss. Und falls Sie das nicht können, finden Sie jemanden, der es kann.«
In den Büros von ChelShel, Cheltenhams Obdachlosenhilfe in der Henrietta Street, schlugen die Uhren anders. Lukes Klient mittleren Alters war weit weniger wählerisch als Gavin Hesketh. Er wäre mit jeder Lösung glücklich, die ihm noch eine Nacht in einem stinkenden Ladeneingang ersparte.
Hoffnungsvoll blickte er auf, als Luke in das kleine Büro zurückkam, das er sich mit Chas, dem anderen Sozialarbeiter, teilte.
Doch sogleich schwand all seine Hoffnung dahin. »Haben Sie kein Zimmer für mich gefunden?«
Lukes bedauernde Miene sagte alles. »Tut mir leid, Jake. In dieser Gegend gibt es nur wenige Unterkünfte, und die sind alle voll.«
»Na, prima.«
»Aber vielleicht wird etwas für morgen Abend frei. Kommen Sie morgen Vormittag wieder, dann sehe ich, ob ich etwas finde.«
»Mache ich das nicht immer?« Langsam raffte Jake seine armseligen Sachen zusammen. Luke beobachtete ihn frustriert und voller Mitgefühl.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Jake, aber wir wissen beide, wie es ist. Sie entsprechen nicht den blöden Behördenvorgaben für Härtefälle. Sie sind nicht unter sechzehn, nicht schwanger oder alleinerziehend, oder über fünfundsechzig oder psychisch krank ...«
»Im Klartext heißt das also, weil ich es schaffe, irgendwie über die Runden zu kommen, ohne mir die Pulsadern aufzuschlitzen, müssen die gar nichts für mich tun.«
Luke versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, denn leider hatte Jake recht. Vor lauter Wut hätte Luke gegen die Wand boxen können.
»Nun ... sagen wir, Ihr Fall hat keine Priorität.« Jake stand auf und schwang sich seinen Rucksack auf die Schulter. »Leute wie ich haben nie Priorität, nicht? Wir sind mehr wie ein störender Fleck an der Straßenecke.« An der Tür drehte er sich noch einmal um, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen. »Wenn Sie mich fragen, müsste mein Sohn bei der Behörde arbeiten. Der scheint jedenfalls genauso zu denken wie die.«
Mehrere Sekunden verstrichen, bis die Tür leise hinter ihm ins Schloss gefallen war, dann zischte Luke ein »Scheiße« vor sich hin und trat den Papierkorb quer durch den Raum. Klappernd landete er kopfüber an der Wand. »Dir ist klar, dass du nicht der Schulmeister des Universums bist, oder?«, bemerkte eine leise Stimme hinter ihm. »Manchmal kannst du die Welt nicht zwingen, sich so zu verhalten, wie sie es deiner Meinung nach sollte.«
»Ach nein?«
»Nein, und du weißt, dass ich recht habe.« Die Worte kamen von einem Mann in den Vierzigern, der
Jeans, Arbeitsstiefel und ein altes Star-Wars-T-Shirt trug und mit dem betagten Kopierer kämpfte. ChelShel bekam nur wenig öffentliche Förderung, und es wurde sogar geraunt, dass es dem Gemeinderat ganz recht war, so die Zahl der Notunterkünfte für Obdachlose niedrig zu halten. Schließlich wollte man das Problem der zunehmenden Verarmung am liebsten unter den Teppich kehren. Die Stadt würde alles tun, um die wohlhabenden Touristen nicht abzuschrecken, die zu den zahlreichen Festivals nach Cheltenham gereist kamen. Luke hegte den Verdacht, dass die Gemeinde mehr Geld für Hängeblumenkörbe an den Straßenlaternen ausgab als für die gut sechzig Leute, die jede Nacht auf der Straße schlafen mussten.
Mürrisch setzte er sich wieder hin. »Ist ja schon gut, Chas. Ich schätze, du willst mir jetzt wieder erzählen, dass Priester immer und in allem recht haben.«
Chas lachte. »Falls ja, glaub mir lieber nicht. Die bringen uns bei, so zu reden, wie wir reden. Auf die Weise fühlen sich alle anderen gut und sicher, und am Ende sind wir diejenigen, die sich wundern.«
»Gut und sicher dürfte Jake sich wohl kaum fühlen«, sagte Luke. »Ich meine, da hat der arme Kerl endlich ein Dach über dem Kopf, eine Wohnung, die er sich mit seinem Sohn teilt. Und dann zieht die Freundin vom Sohn mit ein, und auf einmal heißt es, ›Ich weiß ja, dass du nirgends hinkannst, Dad, aber wir kriegen ein Baby, also kannst du bitte deinen Kram packen und abschwirren?‹ Wohltätigkeit fängt zu Hause an, ja? Mann, was für ein ausgemachter Schwachsinn!«
Er rieb sich das stoppelige Kinn, während ihm ein Gedanke durch den Kopf ging, der ihn schon eine Weile umtrieb. »Vielleicht könnte ich ...« Chas stellte ihm stumm einen Becher Kaffee hin.
»Ah, danke.« Er sah zu Chas. »Wir haben doch den Abstellraum.«
Der Priester hielt sofort eine Hand in die Höhe. »Vergiss es, Luke. Nicht einmal du bringst sämtliche Obdachlosen in Cheltenham in deiner Doppelhaushälfte in Whaddon unter. Und die reizende Alison hätte dazu gewiss auch das eine oder andere zu sagen.«
Luke stellte sich Allys Reaktion vor, wenn er ihren Abstellraum - den sie irgendwann zu einem Arbeitszimmer umbauen wollten - in eine Notunterkunft verwandeln würde. Chas hatte wahrscheinlich recht. »Tja, ich gebe den Mann nicht auf«, erklärte er, während er in seiner Schreibtischschublade nach seinem kleinen schwarzen Adressbuch mit nützlichen Kontakten tastete. »Hier muss es jemanden geben, den ich überreden kann, etwas zu tun.« Chas zuckte mit den Schultern. »Nur zu, ich wünsch dir viel Glück.«
In dem Moment klingelte das Bürotelefon, und Chas nahm ab. »ChelShel? Ja, sicher, Augenblick. Luke, eine Miranda für dich.«
Chas hatte die göttliche Miranda und deren Entourage an schönen Menschen mit riesigen leeren Häusern bislang nicht kennengelernt. Der Mann hatte wahrlich etwas verpasst. Lukes Hand verkrampfte sich unwillkürlich, als er nach dem Hörer griff.
»Hallo, Miranda. Wie geht's?«
»Ach, du weißt ja, viel zu viel zu tun. Die neue Tapetenkollektion kommt am Montag raus, und ich habe das Gefühl, keine zwei Sekunden zum Luftschnappen zu haben.«
»Ah, wirklich?« Luke war bewusst, wie sarkastisch er klang. Leider förderte Miranda verlässlich seine schlechtesten Eigenschaften zu Tage. »Hier ist übrigens auch einiges los. Was hältst du von ein paar Mietern für eure dritte Garage, die ihr nie benutzt?«
»Wie bitte?«
»Uns rennen hier Obdachlose die Bude ein, die dringend Notunterkünfte brauchen. Ich denke, wir könnten ein halbes Dutzend von denen in eurer Garage unterbringen, wenn ich einen Tischler schicke, der ein paar Sperrholztrennwände einzieht.«
Es entstand eine Pause, während Miranda überlegte, ob er scherzte; dann beschloss sie offenbar, dass es ein Scherz gewesen sein musste, denn so gemein konnte Luke unmöglich sein, und sie kicherte wie eine atemlose Sechzehnjährige. »Ach, du bist witzig, Luke! Erstaunlich, wie du dir deinen Humor bewahrst, wo du an solch einem tristen Ort arbeitest. Hör mal, ich habe ganz aufregende Neuigkeiten für dich. Die muntern dich auf.«
Du ziehst auf den Mond, dachte Luke. »Ach was?«, sagte er laut.
»Ja! Weißt du, Gavin organisiert eine gigantische Party zu meinem Vierzigsten nächsten Monat, von der ich offiziell natürlich nichts weiß, weil sie eine Überraschung sein soll.«
»Das ist ... ähm ... nett von ihm«, murmelte Luke, der in seinem Buch nach jemandem, irgendwem blätterte, der ihm einen Gefallen schuldete. »Und was genau kann ich für dich tun?«
»Tja, du kannst Alison sagen, dass ihr euch das ganze Wochenende um meinen Geburtstag freihalten müsst, denn ich habe gehört, dass es sehr extravagant wird, und da dürft ihr selbstverständlich keine Minute verpassen.«
»Wir werden uns bemühen«, antwortete Luke. Dumm wie er war, hatte er gehofft, es gäbe ein kurzes Familientreffen, und danach könnte er nach Hause und die Fußball-Highlights im Fernsehen sehen. »Aber mit der Arbeit, dem Haushalt und dem Hin- und Herchauffieren der Kinder zu ihren Clubs und so ...«
»Du wirst mehr als dein Bestes geben, Schätzchen. Ihr seid dabei.« Diesen Dominaton beherrschte Miranda aus dem Effeff.
»Und du wirst noch etwas für mich tun, nicht wahr, Luke?«, ergänzte sie schnurrend.
»Das wäre?«, fragte er ein bisschen ängstlich.
»Du ziehst dir etwas ... Nettes an, ja? Nur dieses eine Mal.«
»Palmen«, wiederholte Gavin, der vorsichtig zur Stalltür hinauslugte, ob seine Frau auch nicht in Hörweite war. Die Luft war rein. »Ich will Palmen, und zwar reichlich.«
»Echte oder künstliche?«, fragte die Stimme im Handy.
»Echte natürlich! Wofür halten Sie mich? Für billig? Eingeborenenhütten, Lianen, ach, und einige von diesen Paradiesvögeln und so.«
»Die Bäume und die Hütten sind kein Problem«, versicherte ihm die Stimme. »Zufällig haben wir noch welche vom Bühnenbild des Tarzan-Musicals letztes Jahr im Bristol Hippodrome. Die tropischen Arten hingegen könnten schwierig werden. Es gibt heutzutage eine Menge Regeln und Beschränkungen.«
Gavin machte mehrmals »hmm« und »mhm«, was bei ihm selten vorkam. Gut möglich, dass das mit den Vorschriften stimmte, aber ...
»Verfluchte Bürokratie. Na, okay, besorgen Sie alles, was Sie kriegen können. Oh, und ein Tigerbaby.«
»Ein was?«
»Sie haben mich verstanden. Beschaffen Sie ein niedliches. Meine Frau liebt Tiger.«
»Ähm ... die sind ein bisschen schwer zu bekommen, Gav. Gefährdete Spezies und so.«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass Sie selbst losziehen und eines einfangen sollen. Leihen Sie eins oder so. Vermietet der Londoner Zoo die nicht tageweise?«
»Ich könnte Ihnen einen von Damien Hirsts Haien besorgen.«
»Ein Tigerbaby. Oder Sie sind gefeuert.« Keine Kompromisse, sagte Gavin sich. Mirandas Geburtstagswochenende musste vollkommen werden, absolut vollkommen, als wäre es ihrem Lieblingsbuch entsprungen. Und das würde er hinkriegen, denn alles andere ließ er nicht zu. Miranda rief an, als Ally nach dem nachmittäglichen Unterricht zur Haustür hereingestolpert kam, gefolgt von den meckernden Kindern und mit etwa tausend Einkaufstüten behängt, die ihr langsam die Arme auf anderthalbfache Länge dehnten.
Sie warf alles auf den Küchentisch, angelte den Kater von seinem üblichen Schlafplatz, der ehedem eine Obstschale war, und griff nach dem Wandtelefon. »Hallo? Ja?«
»Bist du das, Ally?«, fragte Miranda. »Aber was rede ich denn? Natürlich bist du's! Wer sonst spricht die Vokale so komisch aus?«
»Was?«
»Deine Vokale. Die sind ziemlich betont. Du weißt schon, sehr ... nach Gloucestershire klingend.«
»Meinst du gewöhnlich?« Ally streckte ihr die Zunge raus, was Miranda leider nicht sehen konnte. »Vielen Dank auch. Wenn ich mich recht erinnere«, fügte sie hinzu, während sie versuchte, eine Familienpackung Chips in den Küchenschrank zu quetschen, »hast du dich genauso angehört, bevor du dieses Wohltätigkeitsdings mit Joanna Lumley gemacht hast.« Mirandas Lachen plätscherte wie Kristallwasser an einem Berghang. »Ach, Ally, du bist so witzig! Ein echter Brüller.« Wie auf Kommando erscholl ein ohrenbetäubendes Kreischen, das ihr das linke Trommelfell zu zerreißen drohte. »Was um Himmels willen machen deine Kinder? Die sind schrecklich ... laut.«
»Das sind Kinder nun mal«, erwiderte Ally mit einem strengen Blick zu ihrer ungebärdigen Brut. »Bloß normaler Kinderkram. Genau genommen ist es ein Fechtkampf mit Selleriestangen.«
»Ah, wie kreativ. Also, hör zu, es geht um meine Party nächste Woche.«
»Deine ... Überraschungsparty?«, fragte Ally grinsend. »Die, von der du nichts wissen sollst?«
»Ach, Gav weiß, dass ich Bescheid weiß, und wir beide wollen, dass sie vollkommen wird. Außerdem bin ich viel besser im Organisieren solcher Veranstaltungen als er. Also, ich wollte dir nur schon mal sagen, wie der Dresscode ist.« Ally stand der Mund offen. »Wieso Dresscode? Ich dachte, das wird eine Familienfeier.«
»Nun, ein bisschen mehr wird es schon, Süße. Ich werde ja nicht jedes Jahr vierzig, Gott sei Dank. Tatsächlich habe ich überlegt, nächstes Jahr wieder zu neununddreißig zurück-zugehen und dann rückwärts zu zählen. Wie dem auch sei, für den Samstag ist ein Kostümfest geplant, aber keine Sorge, ich lasse euch und den Kindern die Kostüme nähen.«
»Was?!«
»Von einer wunderbaren Designerin. Du wirst begeistert sein, wenn du die Sachen siehst, garantiert.« Ally sank auf einen der Küchenstühle, blinzelte ungläubig und brauchte dringend Schokolade. »Kostüme?«, wiederholte sie matt. »Ich wollte eigentlich zum Schlussverkauf bei Matalan.«
Übersetzung: Sabine Schilasky
© 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Zoe Barnes
Zoë Barnes wurde in Liverpool geboren. Sie trat als Sängerin auf und arbeitete als Übersetzerin aus dem Französischen. 1999 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Bumps! und erfand damit das Genre des frechen, modernen Frauenromans. Auch ihre weiteren 11 Romane fanden international begeisterte Leserinnen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Zoe Barnes
- 2012, 1, 368 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009035
- ISBN-13: 9783868009033
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