Nine Eleven
Der Tag, der die Welt veränderte
Elmar Theveßen, Terrorismusexperte des ZDF, zeigt hier, wie tiefgreifend sich die Welt seit dem 11. September 2001 verändert hat. Auf der Basis neuester Erkenntnisse schildert er noch einmal die dramatischen Stunden. Und er hinterfragt die Verschwörungstheorien.
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Produktinformationen zu „Nine Eleven “
Elmar Theveßen, Terrorismusexperte des ZDF, zeigt hier, wie tiefgreifend sich die Welt seit dem 11. September 2001 verändert hat. Auf der Basis neuester Erkenntnisse schildert er noch einmal die dramatischen Stunden. Und er hinterfragt die Verschwörungstheorien.
Klappentext zu „Nine Eleven “
'Anlässlich des 10. Jahrestages der Anschläge vom 11. September legt Elmar Theveßen, Terrorismus-Experte des ZDF, eine Bilanz dieses Jahrzehnts vor. Er zeigt, wie tiefgreifend "Nine Eleven" die Welt verändert hat. Aufgrund neuester Erkenntnisse zur Vorgeschichte und zum Ablauf jenes Tages schildert er noch einmal die dramatischen Stunden und hinterfragt die Verschwörungstheorien und Legenden, die sich um diesen beispiellosen Anschlag ranken.Die Terroranschläge lösten zwei Kriege aus, denen Zehntausende von Soldaten und Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Ein dritter Krieg gegen den internationalen Terrorismus hält die Welt in Atem. Das Sicherheitsgefühl der westlichen Gesellschaften ist dauerhaft beeinträchtigt, Gesetze wurden verschärft, Bürgerrechte eingeschränkt. Das Eingreifen der USA im Irak und in Afghanistan hat den Mittleren Osten destabilisiert und ein gefährliches Wettrüsten in Gang gesetzt. Auch die Weltwirtschaft und die internationalen Finanzmärkte sind seit 9/11 nicht mehr zur Ruhe gekommen. Börsencrashs, Konjunktureinbrüche und Finanzkrisen sorgten für ein Jahrzehnt beispielloser Destabilität.
Überzeugend führt Theveßen die einschneidenden Veränderungen des zurückliegenden Jahrzehnts auf den 11. September 2001 zurück. Das heute allgemein empfundene Ende des Zeitalters westlicher Vorherrschaft begann an jenem Tag.
Lese-Probe zu „Nine Eleven “
Nine Eleven von Elmar TheveßenPROLOG:
EIN TAG WIE KEIN ANDERER?
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Der Tag, der die Welt verändert, kommt am 7. Mai 1999. Als Protagonisten der Ereignisse gehen die USA und China in die Geschichte ein. Der Schauplatz des Geschehens ist die Hauptstadt Serbiens. Um 23.45 Uhr Ortszeit wirft ein amerikanischer Tarnkappenbomber drei satellitengesteuerte Lenkbomben auf die chinesische Botschaft in Belgrad ab. Bei dem Angriff sterben drei chinesische Journalisten, einige Dutzend Angestellte werden verletzt. Die Welt hält den Atem an. Würde es jetzt zu einer Konfrontation zwischen zwei Großmächten kommen? Mitten in der Bombenkampagne der NATO gegen das serbische Regime von Slobodan Miloševic´ haben die USA einen großen Fehler begangen. Auf einer Stadtkarte für Touristen hatte der amerikanische Geheimdienst CIA nach dem jugoslawischen Direktorat für Versorgung und Nachschub gesucht und die vermeintlichen Zielkoordinaten an das US-Verteidigungsministerium weitergereicht. Das Pentagon übermittelte die Daten an die Bordcomputer des Bombers. Das Unheil nahm seinen Lauf. Natürlich war die chinesische Regierung empört, die amerikanische zerknirscht, aber deshalb - da waren sich beide einig - würde nicht gleich ein neuer Weltkrieg ausbrechen. Die USA entschuldigten sich und zahlten Entschädigung, die Chinesen akzeptierten.
Warum dieser Tag dennoch die Welt veränderte? Wenn die CIA nicht solch einen katastrophalen Fehler gemacht hätte, dann wäre Osama bin Laden in diesen Tagen gestorben und mit ihm wohl auch der Plan für die Anschläge vom 11. September 2001. Auf dem Schreibtisch des US-Präsidenten lag nämlich ein Dossier über den genauen Aufenthaltsort des Anführers der Al-Qaida, der aus amerikanischer Sicht ohne jeden Zweifel den Tod verdient hatte. Ein Jahr zuvor hatte er der Supermacht in einem Interview mit dem Fernsehsender ABC in einer Höhle in Afghanistan den Krieg erklärt. Im August 1998 ließ bin Laden dann seine Selbstmordattentäter angreifen. Bei den Anschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania starben 250 Menschen. Für die Anhänger des globalen Dschihads - und die gingen damals schon in die Tausende - war es so etwas wie ein Geburtstagsgeschenk, denn fast auf den Tag genau zehn Jahre zuvor hatte bin Laden die Al-Qaida gegründet, um nach der Vertreibung der »gottlosen« Sowjets aus Afghanistan die Kreuzfahrer - vor allem die Amerikaner - aus der arabischen Welt zurückzudrängen. Als Antwort auf die brutalen Anschläge in Ostafrika schickte US-Präsident Clinton 66 Cruise-MissileRaketen auf den Weg in die Trainingslager der Al-Qaida am Hindukusch, doch die Terroristen waren für ein paar Tage in die Höhlenverstecke in den Bergen gezogen.
Und nun, Anfang Mai 1999, bot sich dem Anführer der freien Welt eine einmalige Chance: Informanten der CIA in Afghanistan beobachteten Osama bin Laden bei seinen Aktivitäten in und um Kandahar. Dreimal innerhalb von 36 Stunden meldeten sie, in welchem Haus der Terroristenführer gerade zu finden war. Das US-Militär hatte seine Cruise-Missile-Raketen parat, um ihm den Weg ins Paradies zu weisen. Clinton musste nur den Befehl für den Angriff geben. Aber konnte man der CIA noch trauen nach dem Desaster in Belgrad? Was, wenn bei der Attacke Dutzende von Unschuldigen sterben würden, unter ihnen viele Frauen und Kinder? Dreimal kam die Order aus dem Weißen Haus, nicht zu feuern. Dass diese Chance verpasst wurde, hat die Welt in der Tat verändert. Denn Osama bin Laden hatte gerade grünes Licht für seinen Angriff gegeben und war in diesen Tagen rege mit den Planungen für Nine Eleven beschäftigt. Er selbst wählte die jungen Männer aus, die am 11. September 2001 Amerika und die freie Welt angreifen sollten.
Nine Eleven ist gleichzeitig schreckliche Wirklichkeit und historischer Mythos geworden. Fast jeder erinnert sich, wo er an diesem Tag von den grausigen Nachrichten aus den USA erfahren hat. Die apokalyptischen Bilder aus New York und Washington haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Welt eingebrannt. Die Ereignisse dieses Tages haben viele Menschen, ihr Leben und auch den Lauf der Zeit dramatisch verändert. Katalytische oder kathartische Ereignisse der Weltgeschichte - in diese Kategorie fällt Nine Eleven sicher, der 8. Mai 1999 dagegen nicht - können manchmal ein komplettes Umdenken bewirken. Der Erste Weltkrieg beispielsweise veränderte die Regeln der Interaktion zwischen den Nationalstaaten. Unter dem Eindruck des Krieges und seiner zahllosen Opfer schufen die USA und ihre Verbündeten den Völkerbund, der allerdings scheiterte und später von den Vereinten Nationen abgelöst wurde. Ein alter Satz Regeln aus einem alten System sollte durch neue Standards ersetzt werden. Genau das Gleiche geschah auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem zerstörten und mit Schande beladenen Deutschland. Aus einer militaristischen Diktatur ging eine starke und verlässliche Demokratie hervor. Der Schrecken wurde als Chance und das Chaos als Gelegenheit begriffen, um die Welt im Fluss der Ereignisse zu verändern, zum Besseren zu formen.
Doch das katalytische Ereignis kann auch zum Gegenteil führen, wenn die Beteiligten überreagieren und auf längst veraltete Regeln und Denkmuster zurückgreifen, die mit der neuen Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen sind. Genau solch eine Überreaktion hat Nine Eleven hervorgerufen, der Tag, der die Welt veränderte. Dieses Buch will diesen Wandel beschreiben, analysieren und dabei hinterfragen, ob alles wirklich so kommen musste. Denn dramatische Ereignisse bieten den Akteuren der Politik, aber auch den betroffenen Menschen Möglichkeiten, sich für einen neuen Weg zu entscheiden. Der naheliegendste ist dabei nicht immer der beste und schon gar nicht der einzige, um zum Ziel zu gelangen. Wer im dichten Wald an einer Lichtung steht, mag auf den ersten Blick nur die angelegten Wege erkennen, obwohl noch weitere von hier wegführen, die vielleicht nicht so bequem zu begehen und weniger augenfällig sind.
Die unterschiedliche Wahrnehmung dieses Tages spiegelt sich in den Äußerungen von führenden Politikern aus den Monaten nach dem 11. September 2001. Da ist zum Beispiel die amerikanische Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, die mir im Interview sagte: »Wir Amerikaner werden nie wieder so sein wie früher. Weil wir den unschuldigen Glauben an unsere Unverletzbarkeit verloren haben. Wir werden unser Leben nicht einfach weiterführen können, als wäre nichts geschehen.« Aus diesen Worten sprechen Trauma und Schuldgefühl einer Regierung, die ihr Land nicht schützen konnte, obwohl sie die Chance dazu gehabt hätte. Und die Angst, dass so etwas noch einmal geschieht. Diese Angst wurde zum beherrschenden Prinzip der amerikanischen Politik, und sie war so stark, dass sie eine Entschlossenheit erzeugte, die nicht hinterfragt werden durfte, eine Blindheit für abweichende Meinungen und alternative Optionen, eine Politik ohne Rücksicht auf Verluste und ein Weltbild, das die Welt in Gut und Böse aufteilte. Die Auswirkungen auf das Regelwerk und die Standards von Frieden und Krieg waren gravierend, denn von nun an bestimmte die Doppelmoral das Feld der Außenpolitik. Robert Cooper, ein enger Berater des britischen Premierministers Tony Blair, forderte etwa in einem Essay: »Untereinander sollten wir uns an die Gesetze halten, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir die Gesetze des Dschungels anwenden.«
Angst, Schuldgefühle und rücksichtslose Entschlossenheit verhinderten, dass die eigentlich notwendige Schlussfolgerung aus Nine Eleven gezogen wurde: dass nämlich nicht allein die Auswüchse des Terrors und ihre Protagonisten, sondern vor allem seine Ursachen bekämpft werden müssen. Der damalige Außenminister Joschka Fischer sagte in einem Interview mit dem ZDF: »Die Lektion des 11. September ist, dass wir tatsächlich in der Einen Welt leben. Wenn dem aber so ist, dann müssen wir diese Eine Welt auch bewusst gestalten. Und da es gleichzeitig ein Wertekonflikt ist, geht es um unsere Werte, also inwieweit diese Eine Welt denn tatsächlich möglichst gerechte Lebenschancen für die wachsende Menschheit auf demokratischer, auf menschenrechtlicher, auf einer wirtschaftlichen und sozialen Grundlage eröffnet. Denn wenn nicht, werden wir es mit immer wiederkehrenden Herausforderungen bis hin zur Bedrohung des Weltfriedens zu tun haben.«
War Nine Eleven wirklich eine Chance der Geschichte? Ich will dieser Frage nachgehen. Dabei stehen der 11. September selbst, seine Vorgeschichte und die Neuausrichtung der Politik in den Wochen danach im Zentrum des ersten Abschnitts. Der detaillierte Blick auf die Geschehnisse zeigt, wie tief die Ohnmacht Amerikas und seiner Führung am Tag der Angriffe war. Sie hätten verhindert werden können, wenn die US-Regierung in den Monaten zuvor die Warnungen ernst genommen hätte. Nur aus dieser Gesamtschau werden die Entscheidungsprozesse nachvollziehbar, die zu neuen, zweifelhaften Standards für den Umgang mit den globalen Bedrohungen führten.
Im zweiten Abschnitt geht es um die Bedeutung der Ereignisse für unsere Zeit. Denn die Folgen von Nine Eleven sind zwei regionale Kriege, die bis heute andauern, und ein dritter globaler - gegen den Terrorismus -, der die Welt noch lange in Atem halten wird und der die Menschen rund um den Globus betrifft, weil sie mitten auf dem Schlachtfeld dieses Kampfes leben. Hunderttausende Soldaten und Zivilisten sind diesen Kriegen schon zum Opfer gefallen. Der »War on Terrorism« geriet gleichzeitig zum Angriff auf die Menschen- und Bürgerrechte. Entführung, Folter und Mord wurden im Namen der Freiheit begangen, intern mit juristischen Winkelzügen als Selbstverteidigung gerechtfertigt und mit allen Mitteln vertuscht. Die Verschärfung der Sicherheitsgesetze, der Ausbau des Überwachungsstaates und das Aufblähen des Behördenapparats kennzeichnen die ersten Jahre nach den Attacken. Die Datensammelwut und die Rufe nach mehr Sicherheitsmaßnahmen finden kein Ende und bringen doch nicht mehr Sicherheit. Hier zeigt sich, wie sehr der Alptraum vom 11. September auch Macht über unser Alltagsleben gewinnt, in dem die Angst vor der Bedrohung zum ständigen Begleiter und zum Bremsklotz für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Weiterentwicklung wird. Dies ist umso bedenklicher, als Nine Eleven unser Wirtschafts- und Finanzsystem geschwächt und - so meine These - die Krise der Jahre 2008 bis 2010 mit verursacht hat.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den Lügen und Irrtümern rund um den 11. September und räumt mit den gängigen Verschwörungstheorien auf, die dank eines erschreckenden Maßes an Naivität, Ignoranz und Gewissenlosigkeit und den technischen Möglichkeiten, die das Internet bietet, weltweit immer mehr Anhänger finden. Die wilde Entschlossenheit ihrer Verfechter entspringt zum Teil auch der Enttäuschung und Wut darüber, dass die Politik der Gewalt der Terroristen fast ausschließlich mit Gegengewalt begegnete. Tatsächlich wäre eine Reaktion möglich und angemessen gewesen, in der Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Sicherheit in Einklang gebracht worden wären. Wie diese hätte aussehen können, möchte ich in dem Kapitel »Die verpasste Chance« skizzieren.
Als Folge der Anschläge ist eine neue Weltordnung entstanden, die sich unter dem Eindruck der begangenen Fehler nun dynamisch weiterentwickelt. Dies ist Gegenstand des vierten Abschnitts. Die Attentäter von Nine Eleven und ihr Anstifter, Osama bin Laden, wollten eine neue Weltordnung erzwingen, als sie die wirtschaftlichen und politischen Zentren der letzten verbliebenen Supermacht angriffen. Ihr Ziel war, einen Kampf der Kulturen zu provozieren, und im Moment sieht es ganz so aus, als hätten sie damit Erfolg. Damit ihre Absicht am Ende doch noch ins Leere läuft, wäre eine multilaterale Offensive für eine gerechtere und demokratischere Welt dringend erforderlich. In dieser Hinsicht bieten die Ereignisse des sogenannten arabischen Frühlings, die von jungen Leuten dominierten Reform- und Revolutionsbewegungen in zahlreichen Ländern Nordafrikas, eine wohl einmalige Chance der Geschichte. Sie bergen freilich auch ein großes Risiko: Sollten sich die Reformer nicht durchsetzen, könnte es zu einer Radikalisierung ungeahnten Ausmaßes kommen.
Immerhin gibt es heute mächtige Politiker, die bereit sind umzusteuern, allen voran US-Präsident Barack Obama. Er will der angstgetriebenen Einschüchterungspolitik der Bush-Ära die positive und kooperative Gestaltungskraft einer Supermacht entgegensetzen, die mit aufstrebenden Staaten wie China, Russland, Indien, Brasilien und anderen Schwellenländern eng zusammenarbeitet. Amerika braucht solche neuen Verbündeten angesichts der Herausforderungen einer globalisierten Welt. Der Kampf um die Ressourcen der Erde - Energie, Wasser und Nahrung - hat sich dramatisch verschärft. An den Brennpunkten der Weltpolitik streben Regierungen nach dem Besitz von Atomwaffen. Terroristen, die sich auf eine pervertierte Version des Islam berufen, suchen nach Massenvernichtungsmitteln für den Endkampf gegen den Westen. Und all das ist Sprengstoff für die multiethnischen Gesellschaften in Europa und den USA. Gleichzeitig wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer, und mit ihr wächst die Gefahr eines gewalttätigen Extremismus. Vor diesem Hintergrund sind die zunehmende Vernetzung der Staaten und ihre gegenseitige, wirtschaftliche Abhängigkeit der wirksamste Schutz vor der Eskalation von Konflikten. Wir können von Glück sagen, dass die USA unter Barack Obama eine Kursänderung vorgenommen haben, doch wir sollten uns keinen Illusionen hingeben. Seine dialogbereite und gestaltende Politik verbindet er mit der eiskalten Entschlossenheit, auch die militärischen Fähigkeiten der US-Streitkräfte zu nutzen. Mit bewaffneten Drohnen machen Special Forces und CIA gemeinsam weltweit Jagd auf Terroristen. Und in der Nacht zum 2. Mai 2011 ließ er das ausführen, was Bill Clinton zwölf Jahre zu vor versäumt hatte: Ein Spezialkommando erschoss Osama bin Laden in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad. Verdeckte Operationen waren und sind das wichtigste Werkzeug im Kampf gegen den Terrorismus der Al-Qaida, die trotz des Verlusts ihres Anführers nichts an Gefährlichkeit verloren hat.
Auch Deutschland muss sich entscheiden, ob und wie es die neue Weltordnung des 21. Jahrhunderts mitgestalten will. Nach Nine Eleven ließen sich Politik und Gesellschaft von der Angst und dem Aktionismus der US-Regierung anstecken oder gaben sich der naiven und falschen Hoffnung hin, dass Deutschland im globalen Krieg gegen den Terrorismus außerhalb des Schlachtfelds liegt. Dennoch waren wir an den Kriegen und Konflikten beteiligt und haben uns die Hände schmutzig gemacht im Spagat zwischen dem Streben nach Sicherheit und dem Erhalt von Menschen- und Bürgerrechten. Um die wichtigen Fragen kann sich Deutschland jetzt nicht mehr herumdrücken. Es muss seine nationalen Interessen definieren und die Mittel, mit denen es sie durchsetzen will - in der Welt, aber auch im eigenen Land. Denn das eine lässt sich vom anderen nicht trennen. Das verkrampfte Miteinander der Kulturen in unserer Gesellschaft, der wachsende Graben zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen und die Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die von vermeintlich Intellektuellen oder dem sogenannten Bildungsbürgertum salonfähig gemacht werden, befördern die Radikalisierung junger Männer, die von Deutschland aus in den globalen Dschihad ziehen.
Zehn Jahre nach Nine Eleven müssen wir uns der Wirklichkeit stellen. Haben wir nicht in vielen Dingen genau das Gegenteil von dem erreicht, was wir uns vorgenommen hatten? Der Irakkrieg hat möglicherweise mehr Todesopfer gefordert als das brutale Regime von Saddam Hussein. Seine Nachfolger in Bagdad setzen in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner weiter auf Gewalt. Von einer positiven Strahlkraft für die Region, die vom Irak ausgehen sollte, kann keine Rede sein. Die Welt ist nicht sicherer geworden, sondern unsicherer. Die Glaubwürdigkeit des westlichen Wertesystems ist durch Doppelmoral, Folter und Krieg zutiefst erschüttert; das einstige Vorbild Amerika verhasster denn je. Menschen- und Bürgerrechte werden mit Füßen getreten, die Freiheit zugunsten der Überwachung weiter eingeschränkt. Internationale Einrichtungen wie die UN und die NATO sind beschädigt, internationale Konventionen ausgehöhlt.
Afghanistan ist immer noch eines der ärmsten Länder der Erde mit einer instabilen und korrupten Regierung. Im Land tobt ein Krieg, den wir viel zu spät als solchen begriffen haben und den wir nun beenden wollen. Dafür lassen wir ausgerechnet jene wieder an die Macht, aus deren menschenverachtenden Praktiken wir die afghanischen Frauen und Kinder befreien wollten. Pakistan unterstützt eifrig den Terror in seinen Nachbarländern. Al-Qaida ist zur Weltanschauung geworden, die immer mehr Anhänger findet, und es spielt überhaupt keine Rolle, dass Osama bin Laden nun tot ist. Für all das haben wir mehrere Billionen Euro ausgegeben und mit einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bezahlt. Was kann Deutschland, was kann Europa, was kann der Rest der Welt zu einer Politik beitragen, deren Ergebnisse weniger desaströs ausfallen und unsere guten Absichten nicht so offenkundig konterkarieren? Solange dies nicht gelingt, drängt sich eine andere, provokante und politisch inkorrekte Frage auf: Was ist die größere Bedrohung für unsere Welt und unser Wertesystem - Al-Qaida oder unsere Reaktion auf ihre Verbrechen?
Diese Frage beschäftigt mich seit vielen Jahren aus zwei Gründen. Im Mai 2001 habe ich einen Beitrag für Frontal21, das investigative Magazin des ZDF gemacht, für den ich die Spur der Al-Qaida in Deutschland untersucht hatte. Dabei ahnte ich nicht, wie nahe wir damals schon den Hintergründen zu Nine Eleven gekommen waren, denn wir berichteten auch über den Mann, der knapp zwei Jahre zuvor die Hamburger Terrorzelle für die Trainingslager Osama bin Ladens in Afghanistan begeistert hatte. Das erkannten wir natürlich erst bei den Recherchen nach dem 11. September 2001. In den Wochen nach den Anschlägen in den USA verfügte ich über die notwendigen Bilder, Informationen und Zugänge zu den Sicherheitsbehörden und fand mich deshalb plötzlich mit schöner Regelmäßigkeit als »Terrorismusexperte« im Studio wieder, der die Zusammenhänge erläutern sollte. Und von eben diesen Zusammenhängen fanden sich immer mehr. Selbst meine alten Magazinberichte für die Sendung Bonn direkt über Razzien in Deutschland bei den Unterstützern der sogenannten Metrobombenanschläge in Paris 1994 hingen mit Al-Qaida zusammen.
In dieser Zeit - um die Jahreswende 2001/2002 - meldete sich ein Informant bei mir, dessen Erzählungen der zweite Grund für meine Faszination am Thema sind. José B., so nannte er sich, war schon Mitte der 90er Jahre vom französischen Geheimdienst DGSE (Direction générale de la sécurité extérieure) in die Trainingslager der Al-Qaida am Hindukusch geschickt worden. Dort, so sagte der Algerier mir, habe er zwei wesentliche Grundzüge des globalen Dschihadismus verstanden: Es geht nie um den Kampf gegen westliche Werte, sondern ausschließlich um den Kampf gegen die Taten des Westens und die Taten der angeblich korrupten Regime in islamischen Ländern. Und zweitens: »Für die Terroristen spielt Zeit keine Rolle, nur das Ziel. Sie bereiten sich in Ruhe vor. Und wenn du draufgehst oder verhaftet wirst, dann macht es halt der nächste.« Diese Erkenntnisse und viele Details seiner Erlebnisse hatte José B. dem französischen, später auch dem britischen und dem deutschen Geheimdienst erzählt, lange bevor er sie mir weitergab. Die Ermittler - und auch die Politiker in Europa und den USA - wussten seit Jahren unendlich viel über diese heraufziehende Bedrohung, aber sie handelten nicht danach, weil ihnen die Zusammmenhänge nicht klar waren.
Dieses Buch soll die Zusammenhänge offenlegen. Es basiert auf umfangreichen Recherchen und intensiven Gesprächen mit führenden Politikern, hochrangigen Militärs, einflussreichen Wirtschaftsmanagern und Entscheidungsträgern von Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten, unter ihnen Angela Merkel, Donald Rumsfeld, John Ashcroft, Condoleezza Rice, Gerhard Schröder, Otto Schily, Pervez Musharraf und der ehemalige NSA/CIA-Chef Michael Hayden. Bei zahlreichen Sachverhalten müssen die Namen der Informanten ungenannt bleiben, weil sie um den Schutz ihrer Identität gebeten haben. Vieles von dem, was in diesem Buch steht, stammt aber auch aus Artikeln und Büchern, die jedermann zugänglich sind. Dabei habe ich einen Großteil dieser Informationen mit Hilfe der oben genannten Quellen verifizieren können. An manchen Stellen bleibt ein Rest von Unsicherheit: Zwar passten die Informationen zu den übrigen Rechercheergebnissen, sie konnten aber nicht unabhängig bestätigt werden. Das betrifft insbesondere Informationen aus nachrichtendienstlichen Kreisen, die sich ihrerseits wiederum auf Gewährsmänner beziehen, die entweder nicht namentlich genannt sind oder deren Zuverlässigkeit sich nicht unabhängig bestätigen ließ.
Natürlich sind manche Angaben, auf die ich mich stütze, auch das Produkt einer interessengesteuerten Öffentlichkeitsarbeit. Gerade offizielle Quellen lassen das Wirken der Entscheidungsträger in möglichst günstigem Licht erscheinen. Fehler haben hier in der Regel nur die »anderen« gemacht. Es ist verständlich, dass niemand eine Mitschuld für die rund 3000 Todesopfer am 11. September und die vielen Toten in den Jahren danach tragen will. Und die, die jetzt in der Verantwortung stehen und die neue Weltordnung mitgestalten, müssen erst noch beweisen, das sie gelernt haben aus Nine Eleven, dem Tag, der die Welt veränderte.
Der Tag, der die Welt verändert, kommt am 7. Mai 1999. Als Protagonisten der Ereignisse gehen die USA und China in die Geschichte ein. Der Schauplatz des Geschehens ist die Hauptstadt Serbiens. Um 23.45 Uhr Ortszeit wirft ein amerikanischer Tarnkappenbomber drei satellitengesteuerte Lenkbomben auf die chinesische Botschaft in Belgrad ab. Bei dem Angriff sterben drei chinesische Journalisten, einige Dutzend Angestellte werden verletzt. Die Welt hält den Atem an. Würde es jetzt zu einer Konfrontation zwischen zwei Großmächten kommen? Mitten in der Bombenkampagne der NATO gegen das serbische Regime von Slobodan Miloševic´ haben die USA einen großen Fehler begangen. Auf einer Stadtkarte für Touristen hatte der amerikanische Geheimdienst CIA nach dem jugoslawischen Direktorat für Versorgung und Nachschub gesucht und die vermeintlichen Zielkoordinaten an das US-Verteidigungsministerium weitergereicht. Das Pentagon übermittelte die Daten an die Bordcomputer des Bombers. Das Unheil nahm seinen Lauf. Natürlich war die chinesische Regierung empört, die amerikanische zerknirscht, aber deshalb - da waren sich beide einig - würde nicht gleich ein neuer Weltkrieg ausbrechen. Die USA entschuldigten sich und zahlten Entschädigung, die Chinesen akzeptierten.
Warum dieser Tag dennoch die Welt veränderte? Wenn die CIA nicht solch einen katastrophalen Fehler gemacht hätte, dann wäre Osama bin Laden in diesen Tagen gestorben und mit ihm wohl auch der Plan für die Anschläge vom 11. September 2001. Auf dem Schreibtisch des US-Präsidenten lag nämlich ein Dossier über den genauen Aufenthaltsort des Anführers der Al-Qaida, der aus amerikanischer Sicht ohne jeden Zweifel den Tod verdient hatte. Ein Jahr zuvor hatte er der Supermacht in einem Interview mit dem Fernsehsender ABC in einer Höhle in Afghanistan den Krieg erklärt. Im August 1998 ließ bin Laden dann seine Selbstmordattentäter angreifen. Bei den Anschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania starben 250 Menschen. Für die Anhänger des globalen Dschihads - und die gingen damals schon in die Tausende - war es so etwas wie ein Geburtstagsgeschenk, denn fast auf den Tag genau zehn Jahre zuvor hatte bin Laden die Al-Qaida gegründet, um nach der Vertreibung der »gottlosen« Sowjets aus Afghanistan die Kreuzfahrer - vor allem die Amerikaner - aus der arabischen Welt zurückzudrängen. Als Antwort auf die brutalen Anschläge in Ostafrika schickte US-Präsident Clinton 66 Cruise-MissileRaketen auf den Weg in die Trainingslager der Al-Qaida am Hindukusch, doch die Terroristen waren für ein paar Tage in die Höhlenverstecke in den Bergen gezogen.
Und nun, Anfang Mai 1999, bot sich dem Anführer der freien Welt eine einmalige Chance: Informanten der CIA in Afghanistan beobachteten Osama bin Laden bei seinen Aktivitäten in und um Kandahar. Dreimal innerhalb von 36 Stunden meldeten sie, in welchem Haus der Terroristenführer gerade zu finden war. Das US-Militär hatte seine Cruise-Missile-Raketen parat, um ihm den Weg ins Paradies zu weisen. Clinton musste nur den Befehl für den Angriff geben. Aber konnte man der CIA noch trauen nach dem Desaster in Belgrad? Was, wenn bei der Attacke Dutzende von Unschuldigen sterben würden, unter ihnen viele Frauen und Kinder? Dreimal kam die Order aus dem Weißen Haus, nicht zu feuern. Dass diese Chance verpasst wurde, hat die Welt in der Tat verändert. Denn Osama bin Laden hatte gerade grünes Licht für seinen Angriff gegeben und war in diesen Tagen rege mit den Planungen für Nine Eleven beschäftigt. Er selbst wählte die jungen Männer aus, die am 11. September 2001 Amerika und die freie Welt angreifen sollten.
Nine Eleven ist gleichzeitig schreckliche Wirklichkeit und historischer Mythos geworden. Fast jeder erinnert sich, wo er an diesem Tag von den grausigen Nachrichten aus den USA erfahren hat. Die apokalyptischen Bilder aus New York und Washington haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Welt eingebrannt. Die Ereignisse dieses Tages haben viele Menschen, ihr Leben und auch den Lauf der Zeit dramatisch verändert. Katalytische oder kathartische Ereignisse der Weltgeschichte - in diese Kategorie fällt Nine Eleven sicher, der 8. Mai 1999 dagegen nicht - können manchmal ein komplettes Umdenken bewirken. Der Erste Weltkrieg beispielsweise veränderte die Regeln der Interaktion zwischen den Nationalstaaten. Unter dem Eindruck des Krieges und seiner zahllosen Opfer schufen die USA und ihre Verbündeten den Völkerbund, der allerdings scheiterte und später von den Vereinten Nationen abgelöst wurde. Ein alter Satz Regeln aus einem alten System sollte durch neue Standards ersetzt werden. Genau das Gleiche geschah auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem zerstörten und mit Schande beladenen Deutschland. Aus einer militaristischen Diktatur ging eine starke und verlässliche Demokratie hervor. Der Schrecken wurde als Chance und das Chaos als Gelegenheit begriffen, um die Welt im Fluss der Ereignisse zu verändern, zum Besseren zu formen.
Doch das katalytische Ereignis kann auch zum Gegenteil führen, wenn die Beteiligten überreagieren und auf längst veraltete Regeln und Denkmuster zurückgreifen, die mit der neuen Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen sind. Genau solch eine Überreaktion hat Nine Eleven hervorgerufen, der Tag, der die Welt veränderte. Dieses Buch will diesen Wandel beschreiben, analysieren und dabei hinterfragen, ob alles wirklich so kommen musste. Denn dramatische Ereignisse bieten den Akteuren der Politik, aber auch den betroffenen Menschen Möglichkeiten, sich für einen neuen Weg zu entscheiden. Der naheliegendste ist dabei nicht immer der beste und schon gar nicht der einzige, um zum Ziel zu gelangen. Wer im dichten Wald an einer Lichtung steht, mag auf den ersten Blick nur die angelegten Wege erkennen, obwohl noch weitere von hier wegführen, die vielleicht nicht so bequem zu begehen und weniger augenfällig sind.
Die unterschiedliche Wahrnehmung dieses Tages spiegelt sich in den Äußerungen von führenden Politikern aus den Monaten nach dem 11. September 2001. Da ist zum Beispiel die amerikanische Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, die mir im Interview sagte: »Wir Amerikaner werden nie wieder so sein wie früher. Weil wir den unschuldigen Glauben an unsere Unverletzbarkeit verloren haben. Wir werden unser Leben nicht einfach weiterführen können, als wäre nichts geschehen.« Aus diesen Worten sprechen Trauma und Schuldgefühl einer Regierung, die ihr Land nicht schützen konnte, obwohl sie die Chance dazu gehabt hätte. Und die Angst, dass so etwas noch einmal geschieht. Diese Angst wurde zum beherrschenden Prinzip der amerikanischen Politik, und sie war so stark, dass sie eine Entschlossenheit erzeugte, die nicht hinterfragt werden durfte, eine Blindheit für abweichende Meinungen und alternative Optionen, eine Politik ohne Rücksicht auf Verluste und ein Weltbild, das die Welt in Gut und Böse aufteilte. Die Auswirkungen auf das Regelwerk und die Standards von Frieden und Krieg waren gravierend, denn von nun an bestimmte die Doppelmoral das Feld der Außenpolitik. Robert Cooper, ein enger Berater des britischen Premierministers Tony Blair, forderte etwa in einem Essay: »Untereinander sollten wir uns an die Gesetze halten, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir die Gesetze des Dschungels anwenden.«
Angst, Schuldgefühle und rücksichtslose Entschlossenheit verhinderten, dass die eigentlich notwendige Schlussfolgerung aus Nine Eleven gezogen wurde: dass nämlich nicht allein die Auswüchse des Terrors und ihre Protagonisten, sondern vor allem seine Ursachen bekämpft werden müssen. Der damalige Außenminister Joschka Fischer sagte in einem Interview mit dem ZDF: »Die Lektion des 11. September ist, dass wir tatsächlich in der Einen Welt leben. Wenn dem aber so ist, dann müssen wir diese Eine Welt auch bewusst gestalten. Und da es gleichzeitig ein Wertekonflikt ist, geht es um unsere Werte, also inwieweit diese Eine Welt denn tatsächlich möglichst gerechte Lebenschancen für die wachsende Menschheit auf demokratischer, auf menschenrechtlicher, auf einer wirtschaftlichen und sozialen Grundlage eröffnet. Denn wenn nicht, werden wir es mit immer wiederkehrenden Herausforderungen bis hin zur Bedrohung des Weltfriedens zu tun haben.«
War Nine Eleven wirklich eine Chance der Geschichte? Ich will dieser Frage nachgehen. Dabei stehen der 11. September selbst, seine Vorgeschichte und die Neuausrichtung der Politik in den Wochen danach im Zentrum des ersten Abschnitts. Der detaillierte Blick auf die Geschehnisse zeigt, wie tief die Ohnmacht Amerikas und seiner Führung am Tag der Angriffe war. Sie hätten verhindert werden können, wenn die US-Regierung in den Monaten zuvor die Warnungen ernst genommen hätte. Nur aus dieser Gesamtschau werden die Entscheidungsprozesse nachvollziehbar, die zu neuen, zweifelhaften Standards für den Umgang mit den globalen Bedrohungen führten.
Im zweiten Abschnitt geht es um die Bedeutung der Ereignisse für unsere Zeit. Denn die Folgen von Nine Eleven sind zwei regionale Kriege, die bis heute andauern, und ein dritter globaler - gegen den Terrorismus -, der die Welt noch lange in Atem halten wird und der die Menschen rund um den Globus betrifft, weil sie mitten auf dem Schlachtfeld dieses Kampfes leben. Hunderttausende Soldaten und Zivilisten sind diesen Kriegen schon zum Opfer gefallen. Der »War on Terrorism« geriet gleichzeitig zum Angriff auf die Menschen- und Bürgerrechte. Entführung, Folter und Mord wurden im Namen der Freiheit begangen, intern mit juristischen Winkelzügen als Selbstverteidigung gerechtfertigt und mit allen Mitteln vertuscht. Die Verschärfung der Sicherheitsgesetze, der Ausbau des Überwachungsstaates und das Aufblähen des Behördenapparats kennzeichnen die ersten Jahre nach den Attacken. Die Datensammelwut und die Rufe nach mehr Sicherheitsmaßnahmen finden kein Ende und bringen doch nicht mehr Sicherheit. Hier zeigt sich, wie sehr der Alptraum vom 11. September auch Macht über unser Alltagsleben gewinnt, in dem die Angst vor der Bedrohung zum ständigen Begleiter und zum Bremsklotz für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Weiterentwicklung wird. Dies ist umso bedenklicher, als Nine Eleven unser Wirtschafts- und Finanzsystem geschwächt und - so meine These - die Krise der Jahre 2008 bis 2010 mit verursacht hat.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den Lügen und Irrtümern rund um den 11. September und räumt mit den gängigen Verschwörungstheorien auf, die dank eines erschreckenden Maßes an Naivität, Ignoranz und Gewissenlosigkeit und den technischen Möglichkeiten, die das Internet bietet, weltweit immer mehr Anhänger finden. Die wilde Entschlossenheit ihrer Verfechter entspringt zum Teil auch der Enttäuschung und Wut darüber, dass die Politik der Gewalt der Terroristen fast ausschließlich mit Gegengewalt begegnete. Tatsächlich wäre eine Reaktion möglich und angemessen gewesen, in der Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Sicherheit in Einklang gebracht worden wären. Wie diese hätte aussehen können, möchte ich in dem Kapitel »Die verpasste Chance« skizzieren.
Als Folge der Anschläge ist eine neue Weltordnung entstanden, die sich unter dem Eindruck der begangenen Fehler nun dynamisch weiterentwickelt. Dies ist Gegenstand des vierten Abschnitts. Die Attentäter von Nine Eleven und ihr Anstifter, Osama bin Laden, wollten eine neue Weltordnung erzwingen, als sie die wirtschaftlichen und politischen Zentren der letzten verbliebenen Supermacht angriffen. Ihr Ziel war, einen Kampf der Kulturen zu provozieren, und im Moment sieht es ganz so aus, als hätten sie damit Erfolg. Damit ihre Absicht am Ende doch noch ins Leere läuft, wäre eine multilaterale Offensive für eine gerechtere und demokratischere Welt dringend erforderlich. In dieser Hinsicht bieten die Ereignisse des sogenannten arabischen Frühlings, die von jungen Leuten dominierten Reform- und Revolutionsbewegungen in zahlreichen Ländern Nordafrikas, eine wohl einmalige Chance der Geschichte. Sie bergen freilich auch ein großes Risiko: Sollten sich die Reformer nicht durchsetzen, könnte es zu einer Radikalisierung ungeahnten Ausmaßes kommen.
Immerhin gibt es heute mächtige Politiker, die bereit sind umzusteuern, allen voran US-Präsident Barack Obama. Er will der angstgetriebenen Einschüchterungspolitik der Bush-Ära die positive und kooperative Gestaltungskraft einer Supermacht entgegensetzen, die mit aufstrebenden Staaten wie China, Russland, Indien, Brasilien und anderen Schwellenländern eng zusammenarbeitet. Amerika braucht solche neuen Verbündeten angesichts der Herausforderungen einer globalisierten Welt. Der Kampf um die Ressourcen der Erde - Energie, Wasser und Nahrung - hat sich dramatisch verschärft. An den Brennpunkten der Weltpolitik streben Regierungen nach dem Besitz von Atomwaffen. Terroristen, die sich auf eine pervertierte Version des Islam berufen, suchen nach Massenvernichtungsmitteln für den Endkampf gegen den Westen. Und all das ist Sprengstoff für die multiethnischen Gesellschaften in Europa und den USA. Gleichzeitig wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer, und mit ihr wächst die Gefahr eines gewalttätigen Extremismus. Vor diesem Hintergrund sind die zunehmende Vernetzung der Staaten und ihre gegenseitige, wirtschaftliche Abhängigkeit der wirksamste Schutz vor der Eskalation von Konflikten. Wir können von Glück sagen, dass die USA unter Barack Obama eine Kursänderung vorgenommen haben, doch wir sollten uns keinen Illusionen hingeben. Seine dialogbereite und gestaltende Politik verbindet er mit der eiskalten Entschlossenheit, auch die militärischen Fähigkeiten der US-Streitkräfte zu nutzen. Mit bewaffneten Drohnen machen Special Forces und CIA gemeinsam weltweit Jagd auf Terroristen. Und in der Nacht zum 2. Mai 2011 ließ er das ausführen, was Bill Clinton zwölf Jahre zu vor versäumt hatte: Ein Spezialkommando erschoss Osama bin Laden in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad. Verdeckte Operationen waren und sind das wichtigste Werkzeug im Kampf gegen den Terrorismus der Al-Qaida, die trotz des Verlusts ihres Anführers nichts an Gefährlichkeit verloren hat.
Auch Deutschland muss sich entscheiden, ob und wie es die neue Weltordnung des 21. Jahrhunderts mitgestalten will. Nach Nine Eleven ließen sich Politik und Gesellschaft von der Angst und dem Aktionismus der US-Regierung anstecken oder gaben sich der naiven und falschen Hoffnung hin, dass Deutschland im globalen Krieg gegen den Terrorismus außerhalb des Schlachtfelds liegt. Dennoch waren wir an den Kriegen und Konflikten beteiligt und haben uns die Hände schmutzig gemacht im Spagat zwischen dem Streben nach Sicherheit und dem Erhalt von Menschen- und Bürgerrechten. Um die wichtigen Fragen kann sich Deutschland jetzt nicht mehr herumdrücken. Es muss seine nationalen Interessen definieren und die Mittel, mit denen es sie durchsetzen will - in der Welt, aber auch im eigenen Land. Denn das eine lässt sich vom anderen nicht trennen. Das verkrampfte Miteinander der Kulturen in unserer Gesellschaft, der wachsende Graben zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen und die Zunahme von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die von vermeintlich Intellektuellen oder dem sogenannten Bildungsbürgertum salonfähig gemacht werden, befördern die Radikalisierung junger Männer, die von Deutschland aus in den globalen Dschihad ziehen.
Zehn Jahre nach Nine Eleven müssen wir uns der Wirklichkeit stellen. Haben wir nicht in vielen Dingen genau das Gegenteil von dem erreicht, was wir uns vorgenommen hatten? Der Irakkrieg hat möglicherweise mehr Todesopfer gefordert als das brutale Regime von Saddam Hussein. Seine Nachfolger in Bagdad setzen in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner weiter auf Gewalt. Von einer positiven Strahlkraft für die Region, die vom Irak ausgehen sollte, kann keine Rede sein. Die Welt ist nicht sicherer geworden, sondern unsicherer. Die Glaubwürdigkeit des westlichen Wertesystems ist durch Doppelmoral, Folter und Krieg zutiefst erschüttert; das einstige Vorbild Amerika verhasster denn je. Menschen- und Bürgerrechte werden mit Füßen getreten, die Freiheit zugunsten der Überwachung weiter eingeschränkt. Internationale Einrichtungen wie die UN und die NATO sind beschädigt, internationale Konventionen ausgehöhlt.
Afghanistan ist immer noch eines der ärmsten Länder der Erde mit einer instabilen und korrupten Regierung. Im Land tobt ein Krieg, den wir viel zu spät als solchen begriffen haben und den wir nun beenden wollen. Dafür lassen wir ausgerechnet jene wieder an die Macht, aus deren menschenverachtenden Praktiken wir die afghanischen Frauen und Kinder befreien wollten. Pakistan unterstützt eifrig den Terror in seinen Nachbarländern. Al-Qaida ist zur Weltanschauung geworden, die immer mehr Anhänger findet, und es spielt überhaupt keine Rolle, dass Osama bin Laden nun tot ist. Für all das haben wir mehrere Billionen Euro ausgegeben und mit einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bezahlt. Was kann Deutschland, was kann Europa, was kann der Rest der Welt zu einer Politik beitragen, deren Ergebnisse weniger desaströs ausfallen und unsere guten Absichten nicht so offenkundig konterkarieren? Solange dies nicht gelingt, drängt sich eine andere, provokante und politisch inkorrekte Frage auf: Was ist die größere Bedrohung für unsere Welt und unser Wertesystem - Al-Qaida oder unsere Reaktion auf ihre Verbrechen?
Diese Frage beschäftigt mich seit vielen Jahren aus zwei Gründen. Im Mai 2001 habe ich einen Beitrag für Frontal21, das investigative Magazin des ZDF gemacht, für den ich die Spur der Al-Qaida in Deutschland untersucht hatte. Dabei ahnte ich nicht, wie nahe wir damals schon den Hintergründen zu Nine Eleven gekommen waren, denn wir berichteten auch über den Mann, der knapp zwei Jahre zuvor die Hamburger Terrorzelle für die Trainingslager Osama bin Ladens in Afghanistan begeistert hatte. Das erkannten wir natürlich erst bei den Recherchen nach dem 11. September 2001. In den Wochen nach den Anschlägen in den USA verfügte ich über die notwendigen Bilder, Informationen und Zugänge zu den Sicherheitsbehörden und fand mich deshalb plötzlich mit schöner Regelmäßigkeit als »Terrorismusexperte« im Studio wieder, der die Zusammenhänge erläutern sollte. Und von eben diesen Zusammenhängen fanden sich immer mehr. Selbst meine alten Magazinberichte für die Sendung Bonn direkt über Razzien in Deutschland bei den Unterstützern der sogenannten Metrobombenanschläge in Paris 1994 hingen mit Al-Qaida zusammen.
In dieser Zeit - um die Jahreswende 2001/2002 - meldete sich ein Informant bei mir, dessen Erzählungen der zweite Grund für meine Faszination am Thema sind. José B., so nannte er sich, war schon Mitte der 90er Jahre vom französischen Geheimdienst DGSE (Direction générale de la sécurité extérieure) in die Trainingslager der Al-Qaida am Hindukusch geschickt worden. Dort, so sagte der Algerier mir, habe er zwei wesentliche Grundzüge des globalen Dschihadismus verstanden: Es geht nie um den Kampf gegen westliche Werte, sondern ausschließlich um den Kampf gegen die Taten des Westens und die Taten der angeblich korrupten Regime in islamischen Ländern. Und zweitens: »Für die Terroristen spielt Zeit keine Rolle, nur das Ziel. Sie bereiten sich in Ruhe vor. Und wenn du draufgehst oder verhaftet wirst, dann macht es halt der nächste.« Diese Erkenntnisse und viele Details seiner Erlebnisse hatte José B. dem französischen, später auch dem britischen und dem deutschen Geheimdienst erzählt, lange bevor er sie mir weitergab. Die Ermittler - und auch die Politiker in Europa und den USA - wussten seit Jahren unendlich viel über diese heraufziehende Bedrohung, aber sie handelten nicht danach, weil ihnen die Zusammmenhänge nicht klar waren.
Dieses Buch soll die Zusammenhänge offenlegen. Es basiert auf umfangreichen Recherchen und intensiven Gesprächen mit führenden Politikern, hochrangigen Militärs, einflussreichen Wirtschaftsmanagern und Entscheidungsträgern von Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten, unter ihnen Angela Merkel, Donald Rumsfeld, John Ashcroft, Condoleezza Rice, Gerhard Schröder, Otto Schily, Pervez Musharraf und der ehemalige NSA/CIA-Chef Michael Hayden. Bei zahlreichen Sachverhalten müssen die Namen der Informanten ungenannt bleiben, weil sie um den Schutz ihrer Identität gebeten haben. Vieles von dem, was in diesem Buch steht, stammt aber auch aus Artikeln und Büchern, die jedermann zugänglich sind. Dabei habe ich einen Großteil dieser Informationen mit Hilfe der oben genannten Quellen verifizieren können. An manchen Stellen bleibt ein Rest von Unsicherheit: Zwar passten die Informationen zu den übrigen Rechercheergebnissen, sie konnten aber nicht unabhängig bestätigt werden. Das betrifft insbesondere Informationen aus nachrichtendienstlichen Kreisen, die sich ihrerseits wiederum auf Gewährsmänner beziehen, die entweder nicht namentlich genannt sind oder deren Zuverlässigkeit sich nicht unabhängig bestätigen ließ.
Natürlich sind manche Angaben, auf die ich mich stütze, auch das Produkt einer interessengesteuerten Öffentlichkeitsarbeit. Gerade offizielle Quellen lassen das Wirken der Entscheidungsträger in möglichst günstigem Licht erscheinen. Fehler haben hier in der Regel nur die »anderen« gemacht. Es ist verständlich, dass niemand eine Mitschuld für die rund 3000 Todesopfer am 11. September und die vielen Toten in den Jahren danach tragen will. Und die, die jetzt in der Verantwortung stehen und die neue Weltordnung mitgestalten, müssen erst noch beweisen, das sie gelernt haben aus Nine Eleven, dem Tag, der die Welt veränderte.
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Autoren-Porträt von Elmar Theveßen
Elmar Theveßen, geboren 1967 in Viersen, 1991 - 1995 im ZDF-Studio Bonn tätig, u.a. als Verantwortlicher Redakteur der Sendung "Bonn direkt". 1995 - 2001 ZDF-Korrespondent in Washington, anschließend u.a. Reporter bei "Frontal 21". Seit 2007 stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Hauptredaktion Aktuelles beim ZDF. Terrorismusexperte seines Senders.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elmar Theveßen
- 2011, 347 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Propyläen
- ISBN-10: 354907381X
- ISBN-13: 9783549073810
Rezension zu „Nine Eleven “
»Das Buch von Elmar Theveßen sticht aus der Menge heraus.« HANDELSBLATT, 26.08.2011 »Klartext formuliert auch ZDF-Terrorexperte Elmar Theveßen in seinem sehr faktenreichen, lesenswerten Buch.« GENERAL ANZEIGER, 24.08.2011 »Mit pointierten Analysen und einem detaillierten Blick auf die Geschehnisse schildert er die einschneidenden Veränderungen des zurückliegenden Jahrzehnts, beleuchtet deren Ursachen, moniert fatale Versäumnisse und zieht die für ihn wichtigste Lehre aus 'dem Tag, der die Welt veränderte': 'Nie wieder dürfen wir uns von dem ohnmächtigen Gefühl der Angst leiten oder lähmen lassen.« KIELER NACHRICHTEN, 26.08.11 »Ein Geschichtsbuch, das sich wohltuend abhebt von all den gehetzt wirkenden Dokumentationen, die anlässlich des Jahrestages der Terroranschläge im Fernsehen liefen oder den Büchermarkt überfluteten.« LITERATURZEIT, Radio Bremen, 11.09.2011
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